Lichtläufer - M.C. Winter - E-Book

Lichtläufer E-Book

M.C. Winter

0,0

Beschreibung

"Das mit uns..." Sarah ist sechzehn Jahre alt und liebt ihr Pferd Indian Summer über alles. Mit ihm nahm sie früher an Springturnieren teil - bis Jan in ihr Leben krachte. Seitdem hat sich vieles verändert. Mit Jans Stute Avalon ist Sarah auf dem Weg zurück in den Springparcours. Außerdem hat Jan Sarah geküsst - aber zusammen sind sie nicht. Kann Jan Sarah neben dem Leistungssport einen Platz in seinem Herzen einräumen? Teil 3 der Buchreihe SCHATTENSPRINGEN, bekannt von www.pferd.de

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 764

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Für die neuen Sterne Binou,

Fantast und Pauline. Passt

gut aufeinander auf…

Inhaltsverzeichnis

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Epilog

Prolog

Einmal, ich weiß nicht mehr genau, wie alt ich war, vielleicht zehn oder elf Jahre alt, war ich mit meiner Mutter im Dschungel. Nicht wirklich im Dschungel, sondern in einem Palmenhaus. Wir bestaunten die hohen Palmen und die bunten Blüten der exotischen Pflanzen. Ich erinnere mich noch gut an feuchte, schwüle Luft und den feinen Schleier aus Dunst, der in der Luft lag.

Wir kletterten einen künstlichen Wasserfall hinauf und traten in eine Höhle. Wie durch ein Fenster konnten wir durch eine Öffnung hinaus in das Tropenhaus schauen, sahen nur das Dunkel der Höhle und dahinter das satte Grün des Dschungels. Meine Mutter hatte nie über meinen Vater gesprochen und ich weiß nicht, warum sie es genau in diesem Augenblick tat. Er hatte nie zur Debatte gestanden. Nie. Aber in diesem Moment tat sie es. Zumindest vermutete ich, dass sie über ihn sprach. Heute ist mir klar, dass es das grüne Fenster in der dunklen Höhle war, dass die Erinnerung heraufbeschwor. Mein Vater hatte dunkle Augen, braune, mit einem grünen Fleck in der Iris. Ich hatte seine Augen geerbt.

„Weißt du, mein Herz“, hatte sie gesagt und gelächelt, „Irgendwann wird dieser Moment kommen…“

„Welcher Moment?“, hatte ich gefragt und ich hatte mit angesehen, wie das Lächeln in ihren Augen etwas anderem wich. Verletzlich sah sie aus, fast traurig.

„Du wirst diesen Jungen treffen.“ Sie hatte in mein Gesicht gesehen und leise gelacht. „Ich weiß was du denkst: Jungs sind blöd. Aber du wirst irgendwann jemanden treffen, der etwas in dir rührt… Vielleicht wirst du viele Frösche küssen, aber dann irgendwann, wirst du diesen einen Jungen treffen und alles wird sich ändern…“

Ich hatte nicht verstanden, was sie damit gemeint hatte. Noch viel weniger hatte ich verstanden, was sie meinte als sie sagte:

„Und dann, wenn es wirklich passt, mein Herz, dann wird es rauschen, das Meer…“

Meine Mum hatte mir lange in die Augen gesehen, bis sie sich abgewandt hatte. Heute – viele Jahre später – war ich einige Küsse und Frösche weiser und älter. Mein Meer hatte gerauscht wie ein laut tosender Ozean.

1

Regen. Immer noch. Seit Tagen nichts Anderes als Regen. Ich wusste gar nicht mehr wie ein blauer Himmel aussah. Es war so nass draußen, dass die Wege vollkommen aufgeweicht waren und selbst die Pflanzen mehr als genug Wasser für einen kompletten Sommer abbekommen hatten.

Vermutlich spiegelte Petrus nur meine Stimmung wider. Seit zwei Tagen lief auch ich rum wie sieben Tage Regenwetter. Und das lag nicht am Wetter. Es lag an Jan.

Sarah, hatte meine Mutter gesagt, du darfst nicht alles in dich reinfressen. Aber ich fraß gar nichts in mich hinein. Ich war nur verliebt. Gut, das war ich schon länger, aber mittlerweile war ich so über beide Ohren verliebt, dass mir mein Bauch weh tat, weil so viele Schmetterlinge darin waren. Allein, wenn ich an ihn dachte, flogen alle Schmetterlinge in meinem Bauch hektisch auf. An Jan. Der Junge mit den dunklen Haaren und diesen unglaublich mittelmeerblauen Augen. Fast schwarz.

Ja, ich war verliebt und verdammt verwirrt. Ich wusste wirklich nicht, wie ich mich ihm gegenüber im Augenblick verhalten sollte. Dreimal hatten wir uns geküsst und ich war mir sicher, dass alle drei Küsse irgendwie nicht zählten.

Beim ersten Mal war ich betrunken gewesen. Wir waren in Dortmund auf dieser Turnierparty gewesen und ich glaube, Jan hatte Angst gehabt, dass mich dieser Typ begrabschen würde. Jan hatte mich an sich gezogen, mir ganz tief in die Augen gesehen und mich dann mitten auf der Tanzfläche dieser Party geküsst.

Ganz sanft. Wie die Berührung eines Schmetterlingsflügels so sanft. Und dann hatte ich mich verhalten, wie die letzte Idiotin.

Der zweite Kuss war eigentlich nicht mehr als ein schüchternes Bussi gewesen und ich total betrunken. Vielleicht zehn Minuten nach dem ersten Kuss. Er hatte mich hoch zu meinem Hotelzimmer gebracht und so unglaublich verwirrt ausgesehen. Verwirrt und irritiert und vielleicht ein bisschen enttäuscht, weil ich ihn nach dem Kuss so dämlich zurückgestoßen hatte. Aber das hatte ich nicht.

Ich hatte nur gesehen, dass dieses Wochenende in Dortmund eine gewaltige Katastrophe werden würde. Leider hatte ich im Nachhinein recht behalten.

Vor meiner Hotelzimmertür hatte ich versucht Jan zu versichern, dass er alles richtig gemacht hatte. Dass es nicht perfekter hätte sein können. Was stimmte. Es war der perfekte allererste Kuss gewesen… und trotzdem hatte ich es verkackt. Ich hatte gewusst, dass die nächsten Tage eine echte Prüfung für ihn werden würden und ich hatte dabei leider recht behalten. Ich seufzte. Schob die Bilder weg, die sich mir übellaunig aufdrängten. Dieser kahle Flur irgendwo in der Westfalenhalle. Dieser Streit zwischen ihm und Basti. Dieser gewaltige Krampfanfall.

Ich schluckte schwer. Na toll. Du hast doch nicht wieder daran denken wollen. Das hat ja wunderbar geklappt

Der dritte Kuss war drei Tage her. Wir hatten uns am Freitag bei Jan mit Freunden aus unserer Klasse getroffen, um die Blechtrommel zu schauen. Diesen furchtbaren Film, bei dem dieser Pferdekopf aus der Ostsee gezogen wurde. Noch jetzt schüttelte es mich beim Gedanken an die Szene, wie die ganzen Aale auf den Sand geklatscht waren. Wir hatten Pizza gemacht und am Ende, als alle schon auf der Couch gesessen und auf den Film gewartet hatten, hatte ich ihm geholfen, die Küche aufzuräumen. Ich bekam wieder weiche Knie als ich daran dachte. Er hatte am Kühlschrank gelehnt und sich bedankt, dass ich in Dortmund für ihn da gewesen war. Auf dem Reitturnier war so viel Gutes passiert und viermal so viel Übles. Sein Krampfanfall zum Beispiel. Oder dieser gewaltige Streit mit seinem besten Freund.

Er war ganz langsam auf mich zugekommen, bevor er ewig vor mir gestanden hatte. Ich hatte auf der Küchenplatte gesessen und er hatte mir dann beide Hände auf die Knie gelegt. Die Stelle brannte bei jeder Erinnerung daran neu auf. Er hatte mein Gesicht in beide Hände genommen und mich so verflucht fordernd geküsst, dass ich alles andere um mich vergessen hatte. Er hatte so süß ausgesehen, als wir Luft geholt hatten. Total jung und verlegen und frei. Glücklich.

Dieser Zustand hatte noch nicht mal fünf Minuten angehalten. Dann hatte es an der Tür geklingelt und alles war den Bach runtergegangen.

Ich hatte keine Ahnung, ob er auch in mich verliebt war. Ich konnte es mir eigentlich nicht vorstellen. Ich war total durchschnittlich, schüchtern und auch nicht wirklich hübsch. Gut… ich wusste, dass er ein Faible für meine Haare hatte, aber das hatten viele. Ich hatte viel zu viele Haare auf dem Kopf, lange, braune Haare, die gelockt waren. Nicht so kringelig, sondern eher wellig. Meistens trug ich sie geflochten als Zopf, weil sie mir viel zu viel Arbeit machten. Ich wurde schon häufiger auf sie angesprochen… aber als hübsch empfand ich mich deshalb trotzdem nicht, wenn man mal von meinem verrückten Auge absah.

Und doch hatten wir uns geküsst. Dreimal.

Unwillkürlich fiel mein Blick auf das Bild auf meinem Schreibtisch, das an der Weihnachtsgala unserer Schule von einem Pressefotografen aufgenommen worden war. Auf dem Bild fand ich mich hübsch. Meine Beine sahen meterlang aus und meine Haare auch nicht wie ein explodierter Wuschelkopf.

Ich starrte aus dem Fenster. Noch immer regnete es, aber es schien ein bisschen aufzuklaren. Vielleicht sollte ich die Gunst der Stunde nutzen und in den Stall fahren. Die Wahrscheinlichkeit, dort auf Jan zu treffen, stand nicht so gut. Vielleicht war er heute Vormittag schon dort gewesen. Er hatte nämlich die Schule geschwänzt. Wegen Basti.

Seit Tagen versuchte ich die Sache mit Sebastian Hambach in meinem Kopf zu sortieren, aber das war gar nicht leicht. Basti war Jans bester Freund. Zumindest theoretisch. Praktisch lag die Sache ganz anders. Die zwei hatten über ein halbes Jahr kein vernünftiges Wort miteinander gesprochen. Basti hatte einen schweren Autounfall und einen Selbstmordversuch hinter sich und gab unsinnigerweise insgeheim Jan die Schuld – was Schwachsinn war. Gut, es war totaler Schwachsinn. Dann waren da Vorwürfe und Schuldgefühle und diese Sponsorenkiste, die zwischen beiden stand. Basti warf Jan vor, dass er ihm Sponsoren ausgespannt hatte. Es musste um eine ganze Menge Geld gegangen sein. Jan hatte davon angeblich nichts gewusst. Die Verträge waren von seinem Vater unterzeichnet worden und ich war mir sicher, dass Theo von Frankenthal nicht gewusst hatte, dass der Sponsor zuerst auf Basti zugekommen war. Jan war in der glücklichen Lage, auf einen Sponsor nicht angewiesen zu sein.

In Dortmund waren die beiden Jungs schließlich aufeinander getroffen wie zwei Naturgewalten. Sie hatten sich so angebrüllt, dass Jans Kopf und die Epilepsie darin im Anschluss Amok gelaufen waren. Ich hatte gewusst, dass Jan diese Krankheit hatte, aber mir war nicht klar gewesen, was für ein Miststück die Epilepsie wirklich war. Ich hatte gesehen, wie sie Jan mit einer alles zerstörenden Kraft überwältigt hatte und ihn über endlose Minuten in diesem gewaltigen Krampfanfall gefangen gehalten hatte. Paradoxerweise war es gerade Basti gewesen, der das Notfallmedikament aus Jans Jacke gezogen hatte; der Jans Vater angerufen hatte. Ich hatte nicht gewusst, wie ich hätte reagieren sollen.

Jan war danach total am Ende gewesen. So wie in Dortmund hatte ich ihn noch nie erlebt. Ich war fest davon ausgegangen, dass da nichts mehr an Freundschaft zu retten war.

Letzten Freitag hatte Basti also an Jans Haustür geklingelt – und damit hatte niemand gerechnet. Am allerwenigsten Jan. Ich hatte das Gefühl, dass Jan keine Ahnung hatte, was er hatte machen sollen. Seitdem hatte ich mit Jan im Stall kaum ein Wort gewechselt und außerdem hatte Jan heute wie gesagt in der Schule gefehlt.

Am Wochenende hatte ich die Jungs kurz im Stall gesehen. Sie hatten je einen der Hengste gesattelt und waren stundenlang im Gelände verschwunden – bei strömendem Regen. Wie es um die Freundschaft der Jungs stand, wusste ich nicht. Dass sie wieder miteinander redeten, war immerhin ein Anfang.

Ich selbst hatte keine Ahnung, was ich von Basti halten sollte. Ja, er sah ganz gut aus und meine Freundin Maica stand auf ihn, aber er hatte sich Jan gegenüber verhalten wie ein Arschloch. Er hatte ihn geschnitten, ihn vorsätzlich ignoriert, ihm Schuldgefühle eingeredet, ihm die Freundschaft gekündigt und ihm diesen Brief geschrieben. Den dämlichen Brief.

Allerdings war Basti jetzt seit dreieinhalb Tagen hier. Das relativierte meine gefasste Meinung von ihm ein wenig. Er war immer noch hier, also konnte ihm die Sache mit Jan nicht egal sein. Er konnte nicht so gefühlskalt und unempathisch sein, wie ich es mir vorstellte – oder? Immerhin war er hier.

„Hilft ja nichts“, murmelte ich. Ich zog mir Regenhose und Regenjacke über meine Klamotten und fuhr mit dem Rad in den Stall. Ich konnte den verdammten Regen nicht mehr sehen. Zehn Minuten fuhr ich bei Gegenwind am Wald entlang Richtung Silberburg und war froh, als ich den Hof erreichte. Ich lehnte mein Rad an die Stallwand und betrat das Gebäude durch den Hintereingang. Hier war es immerhin warm und trocken. Ich atmete tief ein und musste lächeln. Ich mochte den Geruch nach Heu, Stroh, Spänen und Pferd. Leise brummelnd hob ein besonderes Pferd den Kopf und schob den rotbraunen Kopf aus dem Fenster. Mein Pferd. Indian Summer. Iana war ein großer Fuchs mit breiter Blesse und weißen Beinen. Das beste Pferd der Welt. Iana war ein Springpferd und dank Jan siegreich in Klasse M und S-platziert. Ich war so stolz auf ihn. Unser Weg war nicht so einfach gewesen. Iana war im Grunde genommen zu groß und zu wuchtig für mich, aber ich liebte ihn aus ganzem Herzen. Im letzten Jahr war ich durch einen Sturz ziemlich verunsichert worden und hatte gar nichts mehr hinbekommen. Darauf hatte Jan mir seine Hilfe angeboten. Langsam bekam ich es im Kopf wieder auf die Kette.

Ich holte Karotten aus dem Sack in der Futterkammer und kraulte Iana gedankenversunken den Kopf, bis das vordere Tor geräuschvoll aufglitt. Und da waren sie also. Eingepackt in die Regenjacken hätte ich nicht sagen können, welcher der beiden Jungs wer war. Nur anhand der Pferde, die sie in den Stall führten, konnte ich einen Unterschied ausmachen. Der Apfelschimmel, den Basti führte, hieß Graf von Krolock, der elegante Rapphengst daneben war Excalibur. Jans Kracher. Im Moment das erfolgreichste Springpferd in Deutschland.

„Hallo“, grüßte ich die beiden. Basti nickte nur kurz und führte Krolli durch den Zwischengang in die Waschbox, während Jan Calli vor Indian Summers Box abstellte und mich ansah.

„Hey“, er musterte mich kurz und rang sich ein Lächeln ab, das ich am ehesten als entschuldigend interpretiert hätte. So, wie er jetzt vor mir stand, dachte ich wieder überdeutlich an Freitagabend. An den Abend, an dem wir uns geküsst hatten. Wieder geküsst hatten.

„Wie geht’s dir?“, fragte er dann leise und ich konnte nur mit den Schultern zucken. Was sollte ich denn auch sagen? Ich hatte mir geschworen, ihn nicht auf den Kuss in der Küche anzusprechen. Einen Teufel würde ich tun. Aber was sollte ich dann sonst sagen?

Dass ich mir den Kopf darüber zerbrach, was die beiden besprochen hatten und dass ich ihn vermisste und überhaupt wie verwirrt ich war?

Also sagte ich das erste, was mir in den Sinn kam: „Hast du vor, demnächst mal wieder in der Schule aufzutauchen?“ Vermutlich klang ich vorwurfsvoll. Ja, die beiden hatten was zu klären, aber ich konnte ihn doch nicht beim Schule schwänzen decken – zumal Mattes, dessen Vater der Stall gehörte und der auch in unsere Klasse ging, genau wusste, dass Jan keinen grippalen Infekt hatte, wie ich stammelnd und hochrot im Gesicht am Morgen erklärt hatte.

„Morgen, ja. Stand irgendwas Wichtiges an?“

„Mathe?“, sagte ich matt, „Wir schreiben morgen die Klausur, du erinnerst dich? Vektorrechnung und Parametergleichungen. Ich hab gar nichts verstanden.“

Jan stöhnte. „Na super. Wenn du schon nichts verstehst… Kacke.“ Er atmete tief durch und versenkte beide Hände in seinen Jackentaschen.

„Und wie geht’s dir?“, fragte ich, um die Stille zu unterbrechen. „Oder besser… euch?“

Jan sah kurz zur Waschbox und seufzte dann leise. Basti spritzte Krolli die Beine ab und achtete nicht auf uns. „Weiß nicht…“, murmelte er und lehnte sich gegen die Box hinter ihm. „Morgen fährt er heim…“

„Ist das gut?“

Wieder wanderte sein Blick zu Basti, diesmal länger und er zuckte mit den Schultern. „Ich weiß nicht. Ich kann es nicht einschätzen.“

„Wenn was ist, sagst du Bescheid, ja? Ich hör dir zu…“, flüsterte ich und wollte ihm noch so viel mehr sagen als das.

Mit einem Ruck stieß er sich dann von der Wand ab und begann, Callis Sattelgurt zu lösen. „Mathe, ja?“, sagte er dann etwas lauter und ich nickte. Dann veränderte sich etwas in seinem Blick und er sah zur Waschbox. Seine Augenbrauen hoben sich ein Stück, als ob ihm schlagartig etwas bewusst geworden wäre. „Sag mal, Sebastian…“, sagte er langsam und rieb sich das Kinn.

„Hm?“ Der blonde Junge hängte Krollis Sattel gerade über den Halter und sah Jan dann an. Sein Blick huschte unsicher zu mir, dann wieder zurück zu Jan.

„Du hast doch… diese kranke, perverse Ader an dir?“

Welche? Seine Freunde wie Dreck zu behandeln? Oh Gott, zum Glück hatte ich das nicht laut gedacht.

„Welche meinst du?“, fragte Basti und ich kam nicht umhin mich zu fragen, ob er zuvor das gleiche gedacht hatte wie ich.

„Diese Sache mit der Schule und den Zahlen.“

Basti sagte nichts, aber ich bildete mir ein, dass es um seine Mundwinkel zuckte. „Kann sein, ja?“

Jan nickte langsam. „Kennst du dich mit diesem Vektorenmist aus?“

Das Zucken wurde deutlicher. „War die Frage ernst gemeint?“

„Meinst du, du kannst mir das heute Abend verständlich erklären?“

„Meinst du, du schaffst es aufzupassen und nicht irgendwelche idiotischen Kommentare abzugeben?“ Und dann, tatsächlich, ein Lächeln. Ich hätte mich fast verschluckt. Ich hätte nie gedacht, dass Sebastian Hambach tatsächlich so lächeln konnte, dass ich es ihm abnahm.

„Ich verspreche es!“

Jetzt lachte er sogar so staubtrocken, dass ich sogar Sarkasmus dahinter vermutete. „Im Leben nicht…“ Ganz offensichtlich: trockener, fast staubiger Sarkasmus.

„Alter, es geht um meine Versetzung!“

„Bei dir geht es immer um deine Versetzung, Jan. Mathe ist echt leicht. Und total logisch.“

„Klar, du hast ja auch das Mastermind.“

Basti sah ihn an und zuckte mit den Schultern. „Ich nutze es nur effektiver als du.“

Dann ließ Jan die Schultern sinken und grinste. „Bin ich froh, dass wir wieder miteinander reden. Ich brauch dringend wieder jemanden, der das für mich versteht.“

Basti stand einen Moment reglos da. „Du bist in der Schule ganz schön abgekackt, was?“

Jan sah mich kurz an und grinste dann. „In Mathe? Frag nicht! Mega ist die Untertreibung des Jahres.“ Dann verschwand er in der Sattelkammer und ließ uns zurück.

„Bist du sowas wie ein Matheass?“, fragte ich, noch immer sichtlich irritiert über dieses Gespräch, vor allem über den Anflug von Ironie und Sarkasmus.

Basti zuckte mit den Schultern. „Weiß nicht. Ja. Vielleicht.“

„Vielleicht, ha! Dass ich nicht lache! 15 Punkte im Leistungskurs hat der“, hörte ich Jan aus der Sattelkammer. „Der ist ein Zahlenfreak. War er schon in der Grundschule.“

„Echt?“

Basti zuckte mit den Schultern.

„Ekelhaft.“ Jan schnitt eine Grimasse.

Der blonde Junge lächelte vorsichtig. „Ich mag‘s… Ich kann gut mit Zahlen… die sind logisch und… nicht so kompliziert…“ Dann senkte er den Blick und das Lächeln verschwand. „Erklärbar. Nicht so… wie…“ Dann brach er ab. Nicht so wie was? Das Leben?

„Krass“, machte ich nur, weil mir nicht mehr einfiel.

„Im Grunde genommen…“, sagte er leise, „…ist es ganz einfach mit den Vektoren. Du musst dir nur…“ Er atmete tief ein und sah prüfend zu Jan, der aus der Sattelkammer zurückkam. „Also… ich kann’s euch beiden ja erklären. Ist echt nicht wild.“

Ich zögerte und sah zu Jan, der uns von der Tür der Sattelkammer aus skeptisch beobachtete. Was ich von Basti hielt, wusste Jan. Und Basti hatte ich meine Meinung bei diesem legendären Turnier in Dortmund mehr als deutlich ins Gesicht gesagt. „Nein… schon okay… Ich hab‘s verstanden.“ So mehr oder weniger. Eher weniger. Aber das hätte ich ihm gegenüber nie zugegeben. Außerdem sah ich ihm an, wie unangenehm ihm das war.

„Stell dich nicht so an.“ Jan grinste. „Ich hab eine super Idee: Ich rufe Schrecki an und dann machst du einen Reihumschlag. Die checkt in Mathe in der Regel ja noch weniger als ich.“ Schrecki war Jans Lieblingskosenamen für Maica. Schrecki von Schreckschraube. Die zwei taten immer so, als könnten sie sich nicht leiden, aber ich wusste, dass das ganz anders war. Maica war toll. Ich kannte sie von den Turnieren und ich wusste, dass sie mit beiden Jungs befreundet war. Außerdem wohnte sie gar nicht so weit von uns entfernt.

Basti starrte ihn. „Ist das dein Ernst?“

Jan verharrte in seiner Bewegung und zögerte. „Ja, doch… schon…“ Sein Blick wanderte zu mir, dann zurück zu Basti. „War ja nur eine Idee…“

Basti zuckte mit den Schultern. „Mir egal“, sagte er leise und begann an Krolli herumzufummeln, damit er uns nicht weiter ansehen musste. Schließlich band er den Schimmel los und führte Krolli die Stallgasse hinunter in seine Box.

„Meinst du, das ist so eine gute Idee mit Maica?“, fragte ich leise. Jan sah Basti nach und legte den Kopf schief. „Maica ist immer eine gute Idee…“ Er seufzte leise. „Ich kann Mathe wirklich nicht – und sie auch nicht – und er ist sowas wie ein perfekter Mathetelefonjoker bei der Eine-Million-Euro-Frage. Das ist ne gute Idee… hoffe ich.“

„Hoffst du…?“

Er drehte den Kopf zu mir und lächelte knapp, bevor er sein Handy aus der Hosentasche zog. „Ich brauch ne Auszeit. Das war zu viel Psychoterror in den letzten Tagen.“ Ich sah ihm zu, wie er über das Display des Handys wischte und es dann kurz darauf an sein Ohr hielt. „Schräubchen, oh, du Herrin der Schrecklichkeit!“, grüßte er und hielt den Hörer für einen kurzen Moment weg von seinem Ohr. Ich hörte Maicas Stimme, lautes Gezeter und dann noch lauteres Gelächter. „Halt die Klappe und hör zu. Ich hab ne einmalige Gelegenheit für dich.“ Damit erläuterte er kurz, um was es ging und beobachtete Basti mit wachen Augen, der zurückkam und dann unschlüssig vor uns stehen blieb.

„Und?“, fragte ich.

„Sie hat noch ne Stunde Training und organisiert sich ein Taxi.“ Dann sah er Basti ernst an. „Ist das echt okay für dich?“ Ich hörte Sorgen in seiner Stimme. „Sonst sag ich ihr ab. Sie versteht das.“

Basti zuckte mit den Schultern. „Nein. Lass. Ist okay.“ Dann hellte sich seine Miene ein wenig auf. „Ich weiß, dass du ne Auszeit von mir brauchst. Dann meinetwegen mit Mathe und Weibern.“

Jan grinste. „Mathe und Weiber.“ Tiefes Durchatmen. „Und du kommst auch?“

„Ich weiß nicht…“

Jan sah mich fast schon flehentlich an und murmelte: „Sarah… bitte.“

Basti sah zwischen uns hin und her und ich wurde das Gefühl nicht los, dass ihn etwas plötzlich ziemlich zu amüsieren schien. „Jetzt stell dich wegen mir nicht so an. Ich weiß, dass du mich kacke findest, aber ich bin wirklich gut in Mathe. Und ich kann‘s erklären. Glaub mir.“

Perplex klappte mir der Unterkiefer nach unten – genau wie Jan. Wir starrten Basti beide an, der fast genauso erschrocken aussah wie Jan und ich zusammen. „Was?“, machte er und dann, ganz plötzlich, brachen wir alle drei lauthals in Gelächter aus.

Und so fand ich mich zwei Stunden später bei Jan in den Auen ein. Es war fast sechs und es regnete noch immer. Noch immer hatte ich keine Ahnung, was ich von Basti halten sollte, aber der Spruch vorhin hatte irgendetwas in mir gelöst.

Ich klingelte und bekam von Jan in Jogginghosen und Pulli die Tür geöffnet. „Komm rein, Maica ist noch nicht da.“

„Und sie kommt ernsthaft her?“

„Ich geh davon aus.“ Er schloss die Tür hinter mir und nahm mir meine Jacke ab.

„Mathe lernen…“, murmelte ich und folgte ihm ins Wohnzimmer. Der Kamin war an und das Radio spielte irgendeinen Popsong.

„Dir ist das ziemlich unangenehm hier zu sein, oder?“

Ich blieb stehen und zuckte hilflos mit den Schultern. „Unangenehm ist das falsche Wort…“ Doch, unangenehm traf es eigentlich ziemlich gut. „Ich weiß nicht, was ich hier soll.“

„Mathe lernen?“ Jan zwinkerte mir zu, wurde aber schnell wieder ernst. „Ich weiß, wie du dich fühlst. Mir geht es auch so seit Freitag.“ Ach ja, dachte ich und dachte wieder an diesen Kuss in seiner Küche. Jan blinzelte, zuckte dann aber mit den Schultern und sagte schnell: „Ich weiß auch nicht, wie ich mich ihm gegenüber verhalten soll.“ Also umschiffte er das Thema mit dem Kuss in etwa wie ich.

„Wo ist er?“

„Unter der Dusche.“ Der Spruch war ein seltsames Déjà-Vu. Damals hatte Maica hier unter der Dusche gestanden und ich hatte mich genauso unwohl in meiner Haut gefühlt wie jetzt.

„Und… morgen fährt er?“ Jan sah zur Treppe, die nach oben führte und zuckte mit den Schultern. „Keine Ahnung. Er hat ja theoretisch auch Schule.“

„Wissen seine Eltern, wo er ist?“

Jan seufzte leise. „Von ihm nicht… Aber ich hab sie angerufen. Ich glaube, er weiß das.“

„Du glaubst? Meinst du nicht, dass das…“ unverantwortlich ist?

Der Kerl kann dir in der Hand hoch gehen wie ein Chinaböller!

Zumindest traute ich Basti nicht über den Weg – Gelächter vorhin hin oder her. Vor allem traute ich seiner ganzen emotionalen Verfassung nicht.

„Das ist kompliziert… ich…“ Wieder dieser unbestimmte Blick zur Treppe. Er stand in einigem Abstand vor mir und ich konnte nicht glauben, dass wir uns vor drei Tagen, am Freitag, in der Küche geküsst hatten. Und das hatten wir. Aber es fühlte sich an, als sei das nie passiert. Und wenn, als sei es Jahrzehnte her. „Er baut keinen Scheiß mehr…“

„Bist du dir da sicher?“

„Nein“, er atmete durch und sah mir lange in die Augen. „Aber ich hoffe es.“

Dass er sich selbst widersprach wussten wir beide. Er wollte das glauben. Dennoch war er misstrauisch wie ich, wie jeder es gewesen wäre. Wieder dieser Blick. Der Blick, der mir ganz weiche Knie machte. Wieder dieses Blinzeln. Wieder der Drang, ihn zu umarmen, ihn zu küssen, mich von ihm küssen zu lassen. Und wieder Basti, der dazwischenfunkte. Diesmal, bevor irgendetwas passierte. Die Schritte auf der Treppe ließen uns beide zusammenzucken. Beide drehten wir die Köpfe. Basti stand auf der untersten Treppenstufe und sah zwischen uns hin und her. Aus seiner Miene wurde ich nicht schlau. Das Lachen von vorhin war weg. Er sah angespannt aus, wie schon die ganze Zeit über, was sich auch nicht änderte, als es kurz darauf an der Tür klingelte. Er sah zu Jan, der sich aus seiner Starre gerade löste, dann schüttelte er den Kopf. „Ich mach das schon“, sagte er leise. Noch einmal wanderte sein Blick zwischen uns hin und her, als ob er uns musterte, dann lief er den kurzen Flur entlang. Ich hörte, wie er die Haustür öffnete und sah, dass Jan mich wieder ansah. Wieder wie Freitag.

Der kurze Schrei an der Haustür durchbrach dann die peinliche Stille zwischen uns. „Oh mein Gott! Ich hab gedacht, Franky verarscht mich, als er gesagt hat, du wärst hier!“

Jan schloss die Augen. „Sarah, ich…“

„Sag nichts“, unterbrach ich ihn. „Komm schon. Wir gehen Mathe lernen!“ Ich drehte mich weg. Sonst würde das ohnehin nur in die Hose gehen. Dieser Blick von ihm machte mich nur weich und brach mir wieder das Herz. Also achtete ich darauf, meine Hände bei mir zu behalten, damit er mich nicht wieder umdrehen konnte und lief langsam Richtung Haustür.

Maica erinnerte mich immer ein wenig an die Sonne. Hell, warm und strahlend. Sie hing um Bastis Hals, stand auf Zehenspitzen und drückte ihm einen dicken Kuss auf die Wange. Er rührte sich keinen Millimeter und sah dabei nicht wirklich begeistert über die plötzliche Nähe aus. Er machte aber auch keine Anstalten sie von sich wegzuschieben. „Schön, dass du hier bist“, hörte ich sie sagen, bevor sie ihn losließ und sich umständlich aus ihrer schwarzen Jacke schälte. „Sahnebonbon!“ Damit tanzte sie auf mich zu, umarmte mich und warf Jan einen Handkuss zu. „Frankyherz!“ Dann vollführte sie eine Pirouette und sah uns auffordernd an. „Also? Was machen wir jetzt? Kino? Pizza? Ponys streicheln?“

„Mathe lernen. Hab ich doch gesagt“, sagte Jan trocken und sah zu, wie Maicas Gesicht sichtlich auseinanderfiel.

„Echt jetzt?“ Ungläubig klimperte sie mit ihren Wimpern. Ich nickte nur. „Ich hab gedacht, das war ein Scherz!“

„Hast du dein Mathebuch dabei?“, fragte Basti leichthin und legte den Kopf schief, als sie angewidert die Oberlippe hochzog.

„Das ist ein echt schlechter Witz. Wir haben noch nicht mal April! Franky, du verarscht mich doch. Ich lern mit euch doch nicht Mathe!“ Sie klang so, als hätte man sie aufgefordert Blutegel zu essen. Oder an den Schuhen eines Bauarbeiters zu schnuppern. Dann sah sie mich an, die auch nur mit den Schultern zucken konnte, und wurde ein wenig unsicher. „Oder?“

Abwehrend hob ich die Hände. „Ich verarsch dich garantiert nicht…“

Sie stöhnte leise. „Och man… echt jetzt? Und ich hab mich so gefreut auf euch… Ihr seid blöd…“

„Kannst ja wieder fahren…“, murmelte Basti, zwinkerte ihr aber zu. Ich hätte mich fast verschluckt. Sowas konnte der?

„Das hättest du wohl gerne, Blondie!“ Maica schlug ihm gegen die Brust. „Garantiert nicht. Lernt ihr mal Mathe. Ich mach mich dann lustig über euch.“

Das machte sie nicht. Wir saßen zu viert in der Küche am Tisch, Mathebücher, Blöcke und Mäppchen auf dem Tisch und Taschenrechner in der Hand. Maica hatte tatsächlich ihre Schulsachen dabei, allerdings nicht absichtlich, wie sie mehrfach angewidert betonte. Sie war direkt nach der Schule zu ihrem Tanztraining gegangen und präsentierte uns wie zum Beweis ihre Tanzschuhe. Satinriemchen und Stilettoabsatz. Ich konnte sie mir immer noch nicht tanzend in engen Glitzerkleidern vorstellen.

Am Ende des Abends bereute ich allerdings keine Sekunde, die ich hier verbracht hatte. Basti war wirklich gut in Mathe. Und er konnte es tatsächlich sehr verständlich erklären. Verständlich und anschaulich. Dennoch rauchten uns nach zwei Stunden die Köpfe und Basti sah seltsam gelöst und zufrieden aus. So angespannt er vorhin noch gewirkt hatte, die Beschäftigung mit Vektoren und Gleichungen und diesem ganzen Kram machte ihn wirklich locker. Er mochte das tatsächlich. Und während er auf einem Blatt Papier eine Skizze zeichnete – er war Linkshänder – leuchteten seine Augen hell auf. Er sah ganz anders aus in diesem Moment. Jünger, gelassener und glücklicher. Weniger zerrissen.

„Können wir jetzt bitte aufhören?“, fragte Maica trotzig und stützte ihren Kopf auf. „Ich mag nicht mehr. Mathe ist ein Arschloch.“ Vektoren hatte Maica noch nicht im Unterricht gehabt, trotzdem hatte Basti irgendetwas gefunden, was sie noch nicht kapiert hatte. Gleichungen mit zwei Unbekannten. Sie stand dabei total auf dem Schlauch.

„Ist es nicht“, Basti schmunzelte. „Es ist einfach logisch.“

„Ich geb dir gleich mal logisch“, murrte sie und warf mit ihrem Radiergummi nach ihm. „Und du bist mindestens genauso blöd wie Mathe. Mindestens!“

„Da kannst du dich mit Sarah zusammentun, die findet das auch“, sagte er ruhig und lehnte sich dann zurück. Ich starrte ihn an. War das wieder Sarkasmus? Oder Zynismus? Machte er sich gerade lustig über mich? Über das, was ich ihm da in Dortmund an den Kopf geknallt hatte? Seltsamerweise nahm ich es ihm nicht übel. Irgendwie… mochte ich das.

„Ja, aber das findet sie aus anderen Gründen“, gab sie leichthin zurück und grinste. „Man, Hambach, da wird sich doch nicht allmählich irgendeine lose Schraube wieder festdrehen?!“

„Wegen Mathe?“

„Nee, weil du dich allmählich wieder verhältst wie ein normaler Mensch und nicht wie diese gefühlslose Zombieversion von dir.“ Sie sah ihn offen und direkt an. „Die war verdammt gruselig.“

Zu meiner Überraschung erwiderte er ihren Blick genauso offen. „Ja… gruselig ist ein gutes Wort.“

„Warum bist du eigentlich hier?“ Maica lehnte sich jetzt auch zurück und ich fühlte mich wie die Zeugin in einem Kreuzverhör.

„Nach Dortmund hab ich gedacht, ihr guckt euch mit dem Allerwertesten nie wieder an. Und ich geh mal nicht von aus, dass ihr euren Kleinkrieg wegen sowas profanem wie Mathenachhilfe ad acta gelegt habt!“

Ich hielt den Atem an, genau wie Jan mir gegenüber. Das war ziemlich dünnes Eis, auf das sie sich hier begab.

„Das hab ich auch gedacht“, sagte Basti leise und jetzt hielt er ihrem Blick nicht mehr stand. „Ich weiß nicht… Ich…“ Er holte Luft und blies sie langsam wieder heraus. „Ich kann nicht mehr…“

Maica lächelte ihn offen an und stützte sich auf ihre Ellbogen. „Hey… Hasi… Ich verrate dir jetzt mal ein Geheimnis…“ Sie legte den Kopf schief und wartete, bis er sie ansah. Dann schmunzelte sie. „Das wissen wir. Wir wissen das alle. Ich weiß es, Franky weiß es. Selbst Sarah weiß es. Meine Eltern, deine, Alex, alle wissen, dass du nicht mehr kannst.“ Sie seufzte leise. „Und weißt du was? Das ist gar nicht schlimm.“

„Maica“, versuchte er sie zu unterbrechen, doch sie hob einen Finger und unterbrach ihn.

„Psst. Du hattest ein verfickt beschissenes letztes Jahr. Richtig verfickt beschissen. Dir darf es kacke gehen. Aber du darfst dich dadurch nicht so doll runterziehen lassen, dass wir Angst um dich haben müssen. Wir haben dich nämlich alle lieb.“

Ich fing Jans Blick auf. Er lächelte, zog die Schultern hoch.

Siehst du, sagte sein Blick, das hab ich gemeint. Sie tut ihm gut.

Maica strahlte Basti noch immer an. Warm und ehrlich, als sei sie der weiseste Mensch von allen – und vermutlich war sie das auch. „Seid ihr jetzt wieder Freunde? Du und Jan?“ Zum ersten Mal an diesem Tag nannte sie ihn nicht Franky.

Unsicher sah Basti zu Jan. „Weiß nicht…“

„Wir waren nie keine Freunde…“ Jan nickte ihm zu.

„Ihr seid so süß, ihr zwei. Wie ihr euch anstrahlt, weil ihr wieder miteinander redet…“ Sie klatschte begeistert in die Hände. „Ich hab euch so unglaublich lieb, das glaubt ihr gar nicht.“ Sie stand auf, flitzte um den Tisch und küsste erst Jan, dann Basti auf die Wangen. „Und alles andere kriegen wir schon hin. Das wird wieder. Hauptsache ihr seid wieder nett zu einander.“

„Weißt du, bei ihr klingt das so, als hätten wir uns wie Kindergartenkinder gestritten“, murmelte Basti und ich musste unwillkürlich lachen. Weit entfernt waren sie nicht vom Kindergarten gewesen. Und so wie Basti aussah, wusste er das auch. War das wirklich Sarkasmus in seiner Stimme gewesen? Allmählich fing ich an, ihn zu mögen. Okay, nicht gleich übertreiben, Sarah. Von mögen war keine Rede, aber manchmal blitzte kurz jemand auf, den ich vielleicht mögen könnte. Vielleicht. Eventuell. Irgendwann.

„Entschuldigt euch - mit Hand geben…“ Maica grinste breit und zufrieden. „Machen wir jetzt noch was, was nichts mit Mathe zu tun hat? Mein Papa holt mich erst um zehn ab.“

„Ich kann euch noch ein paar Gleichungen aufschreiben…“

„Welchen Teil von nichts mit Mathe hast du nicht verstanden, Blondie?“ Sie schüttelte sich und stand auf. „Also ich versuche mal diesen fantastischen Fernseher in Gang zu bringen. Sahnebonbon, mitkommen.“ Damit zog sie mich mit einer Kraft, die ich ihr nicht zugetraut hätte, vom Stuhl.

Der Film lief seit einer halben Stunde. Ein Teeniehorrorschocker. Bloodshocker 7 oder 8. Viel Blut, viele ziemlich bescheuerte Blondinen, viel Regen, noch mehr Blut. Ich saß in einer Ecke der Couch, Basti in der anderen. Neben mir mit einigem Abstand lümmelte Jan. Er schien zu dösen, lachte aber immer mal wieder tief und trocken, wenn die Hauptblondine eine besonders naive und vorhersehbare Entscheidung traf. Maica hatte die Knie angezogen und ein Kissen vor der Brust. Ich war mir nicht sicher, ob sie wirklich Angst hatte oder nur so tat, sie zuckte allerdings immer wieder zusammen, was die Jungs jedes Mal zum Lachen brachte.

Basti schien ein Faible für Filme zu haben. Das hatte ich schon am Freitag festgestellt, als er in unser Klassentreffen geplatzt war. B-Movie-Scheiß hatte Jan die Filme genannt, die Basti mochte. Horrorfilme schienen besonders seins zu sein.

Die charakteristische, psychedelische Musik setzte ein. Blondine Nummer drei stolperte „Hallo?! Ist da jemand?“ rufend durch den verwinkelten Keller, in dem natürlich das Licht aus war. Die Musik erreichte ihren Höhepunkt, der Killer sprang nach der obligatorischen Stille hinter einem Vorhang hervor und schlitzte der Blondine die Kehle auf. Kunstblut spritzte gegen die Kamera. Jan gähnte.

„Ihh!“, kiekste Maica und versteckte sich hinter dem Kissen.

Jan sah mich schräg an und grinste breit: „Oh, das bekommt sie irgendwann aufs Brot geschmiert, dass sie sich so anstellt.“

Basti warf Maica einen mindestens ebenso schrägen Blick zu und rollte fast belustigt die Augen.

Wie Brüder. Blutsbrüder. Allmählich begann ich zu verstehen, was die Jungs verband.

„Stell dich nicht so an…“

„Ich träum nach so Filmen immer schlecht“, maulte Maica.

„Jan macht dir danach sicher noch irgendeinen Mädchenfilm an. Was mit Cheerleadern oder so“, gab Basti trocken zurück.

„Sowas haben wir nicht.“ Jans Grinsen war breit wie lange nicht mehr. Er log. Ich wusste, dass die DVD-Sammlung durchaus auch mädchentaugliche Filme enthielt. Außerdem hatten Jan und sein Dad Netflix.

„Im Ernst jetzt. Ich bin noch total klein. Und unschuldig, ich bekomm wirklich Alpträume. Ich schlaf alleine im Dachgeschoss. Vor meinem Fenster ist ein Baum. Ich bilde mir dann immer ein, dass da irgendwelche Killer sitzen und mir auflauern…“

Vielleicht bildete ich es mir nur ein, aber sie war in den letzten Minuten eine ganze Ecke näher zu Basti gerutscht. Eine ganze Ecke näher. Und Jan schien es auch bemerkt zu haben, darauf schloss ich zumindest aufgrund seiner rechten, hochgezogenen Augenbraue.

„Du bist so ein Schisser.“ Basti lachte leise. Ich konnte nicht wirklich in Worte fassen, was hier gerade passierte, aber er taute regelrecht auf. Irgendetwas machte, dass er sich entspannte. Losließ. Durchatmete. Endlich wieder er selbst war. Oder zumindest für mich so aussah, als könnte er so gewesen sein, bevor all diese schrecklichen Dinge mit ihm passiert waren. Irgendetwas. Oder Irgendjemand.

Jan sah sehr zufrieden aus. Er schielt zu mir und zwinkerte mir zu. „Siehst du?“, flüsterte er und beugte sich zu mir hinüber. „Das hab ich vorhin gemeint…“

„Die Sache mit der Auszeit?“, gab ich leise zurück und sah ihn nicken.

„Ey! Wer flüstert, lügt!“ Maica warf ein Kissen nach uns. Sie traf Jan zwar am Hinterkopf, der hatte aber mindestens genauso schnell reagiert, über mich gegriffen und Maica mitten ins Gesicht getroffen.

„Man, Franky, das tut weh!“ Damit drehte sie sich zu Basti und schob schmollend die Unterlippe vor. „Er hat mir weh getan!“

Basti legte den Kopf schief und schmunzelte. „Oje, arme Maica…“ Sehr ruhig und sehr gelassen streckte er den Arm aus, legte ihr die Hand an die Wange und strich mit dem Daumen über den Wangenknochen. In diesem Moment hatte ich das Gefühl, ihr Herz schlagen zu hören. Sie verharrte einen Moment, dann sagte sie bestimmt: „Nimm die Hand da weg, Blondie!“

Jan kicherte verhalten und ich beobachtete fast gebannt, was weiter passierte. Basti zog die Hand zurück und musterte Maica kurz. Fast offensiv. Irgendetwas lief da gerade zwischen den beiden, aber ich konnte nicht sagen, was. Sie hatten mal was miteinander, das wusste ich. Ich wusste, dass sie vor dem ganzen Mist häufiger miteinander geknutscht hatten. Und ich wusste, dass Maica Basti noch immer mochte. Also… wirklich sehr gern mochte.

„Ach, du bist blöd“, sagte sie und wich seinem Blick schnell aus. Dann legte sie ihm die Hand auf die Brust, rollte sich neben ihm zusammen wie eine Katze und legte sich die Hand über ihre Augen, um die nächste Killerszene nicht sehen zu müssen. Wieder spritzte Blut und sie zuckte erneut zusammen. Basti schüttelte den Kopf, griff nach dem Kissen und legte es Maica über das Gesicht.

Ich war wirklich erstaunt, wie unbefangen sie sich ihm gegenüber verhielt. Gut, unbefangen war sie immer, aber sie ging so selbstverständlich mit ihm um, wie es selbst Jan nicht schaffte. Ich brauch ne Auszeit. War das die Auszeit?

Jan rutschte tiefer in die Couch und sah wieder zu mir. „Wann musst du heim?“

„Warum?“ Ich sah auf meine Uhr am Handgelenk. Kurz nach neun. Ich durfte bestimmt noch eine Weile wegbleiben. Meine Mutter war da nicht so streng.

Jan schmunzelte nur. „Nur so…“

Das Kissen vor Maicas Gesicht wanderte ein Stück hoch. Ganz still lag sie da, während der Killer dem nächsten Opfer auflauerte, einem typischen Hollywoodsunnyboy. Diesmal stach der Maskierte hinterrücks in den Rücken des Opfers, das Blut spritzte zu allen Seiten aus dem Typen heraus. Maica kiekste auf und schlug sich das Kissen zurück vors Gesicht. Basti tätschelte ihr beruhigend den Arm und ließ seine Hand schließlich auf ihrem Oberarm liegen.

Ich stützte mein Kinn auf mein angezogenes Knie und musste innerlich seufzen. Irgendwie kam mir das alles sehr bekannt vor. So bekannt, dass mein Bauch zu kribbeln begann.

Einen ganzen Moment lang passierte nichts, weder im Film noch am anderen Ende der Couch. Jan neben mir sah nicht mehr hin, aber er zählte leise von zwanzig rückwärts. Etwa, als er bei fünfzehn angekommen war, schob Maica ihre Hand über Bastis. Bei dreizehn schloss sich seine Hand um ihre. Bei zehn rückte sie ein wenig näher an ihn heran. Bei sieben drehte sie sich so, dass sie ihn ansehen konnte. Sechs, fünf und vier sahen sie sich nur an. Basti schmunzelte wieder, ein wenig herausfordernd.

Bei drei holte Maica tief Luft. Bei zwei hob Basti ein wenig die Augenbrauen. Als Jan bei eins angelangt war, sah er verdammt selbstzufrieden aus. Sie hatte Basti geküsst.

„Ich bin verdammt gut“, murmelte Jan und streckte sich.

„Krass“, machte ich nur und sah ihn grinsen. Basti und Maica registrierten uns gar nicht mehr. Der Killer im Film metzelte munter weiter, die Heldin stellte ihn in einer Fleischerei und durchlöcherte ihn mit einem Maschinengewehr. Das alles dauerte ungefähr siebeneinhalb Minuten ab Jans runtergezählter Eins. Der Abspann lief, Jan grinste noch immer.

Ich bekam das alles gerade nicht richtig zusammen. Die Knutscherei von Basti und Maica war ziemlich forsch und ich hätte das im Traum nicht erwartet. Nie. Er hatte ihr die Hand auf den Rücken gelegt und sie bekam gar nichts mehr von der Welt mit.

„Sarah, ich glaube, ich bring dich jetzt heim…“

„Was?“, irritiert sah ich ihn an, „Du musst mich nicht heimbringen…“

Jan lachte leise und stand auf. „Doch. Ich bring dich jetzt auf jeden Fall nach Hause. Die brauchen uns im Moment nicht.“ Er sprach in durchaus normaler Lautstärke, aber die zwei bekamen gar nichts mit.

Ich wurde fast rot, während ich die beiden heimlich beim Knutschen beobachtete. Jan hatte definitiv recht. Die brauchten uns wirklich nicht. Aber er musste mich nicht heimbringen. Den Weg würde ich schon alleine finden.

„Wenn du meinst…“, murmelte ich also und stand ebenfalls auf. Jan grinste, lief um die Couch herum und ging dann hinter den beiden in die Hocke. „Ich störe ungern, aber kommt ihr ne halbe Stunde ohne mich klar?“

„Hau ab…“ Maica.

„Ich bring Sarah heim, wenn was ist, ich hab das Handy dabei.“

„Geh weg.“ Wieder Maica.

„Seid brav und tut nichts, was ich nicht auch---“

„Tschüss Sarah…“, murmelte Maica zwischen zwei Küssen und Jan stand wieder auf. Er grinste mich schief an und nickte Richtung Tür. Im Flur zogen wir uns stillschweigend die Jacken an. Komisches Gefühl. Komischer Abend.

Jan griff nach seinem Schlüssel und schon standen wir in der kalten Nachtluft. „Bist du mit dem Rad da?“, fragte er leise und sah mein Nicken. Dann verschwand er kurz in der Garage und kam mit seinem Fahrrad heraus, während ich meines aufschloss. Jan sah an den Himmel und verzog das Gesicht. Die Wolken hatten zwar aufgehört ihren Inhalt über die Welt zu gießen, hingen aber immer noch regenschwer über der Stadt.

„Meinst du, das ist eine gute Idee, die beiden alleine zu lassen?“, fragte ich schließlich.

„Warum nicht? Die sind doch beschäftigt.“

„Ich weiß nicht…“ Ich zuckte mit den Schultern und wich seinem Blick aus.

„Was soll denn passieren?“ Er grinste. „Meinst du, sie wird schwanger?“

„Was? Nein!“ Soweit hatte ich überhaupt nicht gedacht.

Jan kicherte leise und schob sein Rad auf die Straße. Er machte keine Anstalten aufzusteigen. „Du bist niedlich.“ Jetzt grinste er, versenkte eine Hand in der Jackentasche und begann mit der anderen, sein Rad zu schieben.

Mit roten Ohren folgte ich ihm. Niedlich. Pff. „Ich mein ja nur. Es… ist Basti.“ Der Typ, wegen dem Jan vor einer Woche noch ausgeflippt war. Der Typ, wegen dem es ihm so unglaublich mies gegangen war. Der Typ, der der Grund war für so ziemlich alles, was Jan in den letzten Monaten beschäftigt hatte. Der Junge mit dem Suizidversuch.

Jan sah mich schräg von der Seite an. „Eben.“

„Wie: Eben? Was soll das denn heißen?“

„Sie tut ihm gut“, sagte er schlicht und lief ein wenig langsamer.

„Hast du sie deshalb angerufen?“ Weil du wusstest, dass die beiden knutschen würden? War Jan echt so berechnend?

„Nicht direkt…“ Er seufzte leise. „Das ist kompliziert…“

„Ich hab Zeit…“

Jan lächelte vorsichtig. „Ich weiß…“ Er schob sein Rad in einen dunklen Hohlweg, der am Bach entlangführte und nicht Richtung Hauptstraße. Es war ein Umweg. „Ich hab sie angerufen, weil ich ne Pause gebraucht habe… und er auch. Und das Partyspiel war immer wie ne Pause für ihn.“

„Welches Partyspiel?“

Jan grinste. „Warst du eben blind?“

„Ach, du meinst das Knutschen…“

Er nickte abwägend. „Das spielen sie immer auf Partys. Also auf den Turnierpartys. Zumindest haben sie es gespielt, bis zur EM letztes Jahr.“

Das wusste ich. Maica hatte es mir irgendwann erzählt. „Hast du sie aus Berechnung angerufen?“

Er zuckte mit den Schultern und kickte ein Steinchen vor sich aus dem Weg. „Weiß nicht. Ja, vielleicht. Wie schon gesagt: ich brauch ne Pause von dem Psychomist in seinem Kopf.“ Dann musste er schmunzeln. „Ja, ich glaube, wenn ich ehrlich bin, muss ich zugeben, dass ich davon ausgegangen bin… dass sie eventuell knutschen könnten.“

„Sie mag ihn…“ Das hatte sie mir erzählt.

„Ja, ich weiß.“

„Findest du das nicht unfair ihr gegenüber? Sie anzurufen, aus Berechnung, weil du hoffst, dass sie miteinander rummachen, weil du ne Pause brauchst?“

„Ich hab sie ja nicht dazu gezwungen.“

„Aber du weißt, dass sie ihn mag, und dass er sie … benutzt, um abzuschalten?“

„Ich hab nie gesagt, dass er sie benutzt.“

„Aber sie mag ihn und sie sind nicht zusammen.“ Nachdem es raus war, bereute ich meine Worte sofort. Ich sah seinen Blick. Die hochgezogenen Augenbrauen, aber auch den Schatten über seinen Augen.

„Man kann aber auch jemanden mögen – auch sehr – mit ihm rumknutschen und nicht mit ihm zusammen sein.“ Seine Worte trafen mich merkwürdig hart. Ich wusste nicht, ob er damit die beiden oder uns selbst meinte.

Der Schlag in die Magengrube saß auf jeden Fall.

Eine Weile sagte keiner von uns etwas und ich lauschte dem Knirschen des Kieses unter unseren Füßen nach.

Jan zuckte irgendwann mit den Schultern. „Vielleicht“, murmelte er leise und sah mich dann ziemlich lange an, „tut ihm das Knutschen mit ihr einfach gut… weil… also ich denke beim Knutschen eigentlich in der Regel nicht an meine Probleme…“

Darauf sagte ich nichts und bog nach links in das kurze Waldstück ein, das den Hohlweg mit dem Wohngebiet verband. Dumpf pochte das Gefühl von Freitag in meinem Bauch. Das Gefühl von vor Basti. Wie Jan mich angesehen hatte und mich an sich gezogen hatte. Mein ganzer Bauch kam in Aufruhr allein beim Gedanken daran. Wir hatten uns geküsst und wir waren nicht zusammen.

„Aber knutschen macht nicht, dass die Probleme verschwinden“, flüsterte ich und kratzte mit dem Daumen am Schaumstoff meines Lenkergriffs.

„Ich weiß“, gab er leise zurück und sah weiter vor sich auf den dunklen Weg. „Du glaubst gar nicht, wie anstrengend die letzten drei Tage waren.“ Er seufzte leise und sah auf den geschotterten Weg vor ihm. Wie sollte ich denn das verstehen? Wollte er auch diese Gedanken… wegküssen? „Er ist echt durch…“

„Was ist denn eigentlich passiert?“

Jan holte Luft und schwieg einen Moment. „Wie meinst du das?“

Es war kalt und meine Hände waren jetzt schon steif gefroren. Wo hatte ich nur die blöden Handschuhe hingelegt? „Naja… er ist hier, oder? Nach dem Wochenende in Dortmund hätte ich nicht damit gerechnet, das er jemals wieder mit dir spricht…“ Auch darüber hatten wir schon gesprochen. Oder hatte ich nur daran gedacht?

Jan zuckte mit den Schultern. „Ja… ich auch nicht“, sagte er leise, „Es gab wohl… ne riesige Auseinandersetzung mit seiner Mum. Die hat den Tod von Aileen mindestens genauso schlecht weggesteckt wie er und ist total depressiv. Sie merkt nicht, dass sie noch ein Kind hat, das lebt und dem es echt beschissen geht“, er schluckte und atmete tief aus. „Er meinte, er hätte darüber nachgedacht, wirklich einen… Schlussstrich zu ziehen.“

„Was?!“ Ich starrte Jan an.

Jan schüttelte den Kopf und schien einen Moment über seine nächsten Worte nachzudenken. „Zuhause muss es wohl eskaliert sein. So richtig. Seine Mutter und er hatten nie ein wirklich gutes Verhältnis. Bast war nie… so ein Vorzeigekind wie seine Schwester. Ja, er ist echt gut in der Schule, aber das kümmert ihn nicht viel und er hat schon immer eine Menge Blödsinn verzapft.“

„Was für Blödsinn?“

Jan sah mich kurz an und atmete durch. „Sex, Drugs und Rock n Roll.“

„Haha.“

„Kein Scherz. Mädchen, Hasch und Partys. Schon vor dem Unfall. Da kam es schon immer wieder zu Streits und Diskussionen mit seiner Mutter. Hausarrest und so. Hat ihn nicht viel gekümmert. Aileen hat da viel aufgefangen und…. ich sag mal: nachgesteuert. Sie hatte einen guten Einfluss auf ihn. Als sie gestorben ist, kam er damit gar nicht klar und seine Mum noch weniger.“

Jan atmete tief durch. „Ich hatte keine Ahnung, wie sie sich nach dem Unfall ihm gegenüber verhalten hat“, er sprach jetzt langsamer. „Er hat nie darüber gesprochen, wie es danach war. Klar, so… grob. Dass es scheiße ist, dass es schwierig ist, dass er keinen Bock mehr hat. Aber nie… irgendwas Konkretes… Das hat er jetzt erst erzählt.“ Sein Blick glitt weg und ich überlegte, ob er überlegte, was passiert wäre, wenn Basti damals eben doch darüber gesprochen hatte. „Er soll nicht so ein Drama veranstalten hat sie gesagt. Sie ist total abgekapselt in ihrer Trauerblase und sieht nicht, dass Bast nicht anders kann als so zu sein wie er gerade ist.“

„Wusstest du das vorher?“

Jan schüttelte den Kopf. „Nein…. Wobei, doch. Aber nicht in dem Umfang.“

„Okay…“

Er sah auf den dunklen Weg vor sich, dann zurück zu mir. Jan hob den Kopf. „Die zwei hatten nie ein richtig gutes Verhältnis zueinander“, wiederholte er träge und blieb stehen. „Das war schon früher schwer für ihn. Also vor… dem Unfall. Und danach…“ Er holte Luft, atmete langsam aus und schluckte. „Nach Oslo…“ Er schloss die Augen, „hat sie noch nicht mal Anstalten gemacht, ihm zu helfen oder zu verstehen, was in ihm vorging. Sie hat ihm einfach vorgeworfen, dass er keine Probleme hat, weil er ja lebt.“

„Das kann ich mir nicht vorstellen.“

„Sie war nicht bei ihm in der Reha. Sie hat ihn nicht einmal angerufen.“

„Was?“

„Der Rest ist nicht so wichtig… nur damit du verstehst, dass die zwei im Moment… nicht das beste Verhältnis haben.“

Jan lächelte matt. Dann stellte er sein Rad ab und setzte sich auf die Lehne einer Bank, die hier am Rand des Weges stand. „Sie ist schuld, dass er es nochmal versucht hat… versuchen wollte…“

Ich starrte Jan nur an. Das waren enorme Vorwürfe, die Jan da aussprach.

„Sie müssen sich gestritten haben, wegen irgendetwas. Sie… hat ihm ins Gesicht gesagt, dass es besser gewesen wäre, wenn er gestorben wäre bei dem Unfall. Sie hat ihm vorgeworfen, nichts zu können, nicht mal einen… erfolgreichen Suizid zu begehen.“

Jan schüttelte den Kopf. „Ich geh davon aus, dass ihm danach ne Sicherung durchgeknallt ist… Er macht sich ohnehin enorme Selbstvorwürfe, dass er den Unfall überlebt hat. Er hat nur Alpträume. Ich hab‘s jetzt drei Nächte lang gehört. Das ist so saukrass, was er nachts durchmacht… Der bekommt den Unfall immer noch nicht verarbeitet, obwohl das schon so lange her ist…“

„Oh nein… das… tut mir so leid…“ Langsam kam ich näher und stieg genauso langsam neben ihn auf die Lehne.

Ich starrte Jan an, unfähig irgendetwas zu sagen. Sowas konnte eine Mutter ihrem Kind doch nicht sagen. Und ich hatte in Dortmund genau in die gleiche Kerbe reingeschlagen. Du bist es nicht wert, dass Jan mit dir befreundet ist. Ich erstarrte. Ich war so blöd… Kippte auch noch Salz in die Wunde… Verdammt. Das hatte ich wirklich nicht gewollt.

Jan schwieg eine Weile. „Zum Glück ist nichts passiert… Aber dann ist er zum Bahnhof gefahren und ist in einen Zug gestiegen. Ich glaube, er ist wirklich aufgewacht… er hat sich vieles eingestanden, was er wohl vorher nicht gemacht hat…“ Er zuckte wieder mit den Schultern und sah auf meinen Fahrradlenker. „Er hat in der Therapie nicht mitgearbeitet. Nur oberflächlich. Um rauszukommen. Als sie ihn entlassen haben, hat er wohl direkt wieder mit dem Kiffen angefangen. Die Therapie zu Hause hat er abgebrochen. Würde ihm nichts bringen, hat er gemeint. Außerdem kommt er mit dem Therapeuten nicht klar.“

„Okay… aber kann er das einfach? Ich meine, seine Eltern sind doch für ihn verantwortlich. Muss das nicht mit ihnen abgesprochen sein? Tun die da nichts?“ Gut, ich hätte sagen sollen: Tut sein Vater denn nichts?

„Seine Mutter trauert eben noch total und ignoriert, was mit Basti los ist. Und sein Vater arbeitet halt und versucht aufzufangen was geht, aber das ist schwierig mit ner depressiven Frau und nem extrem kaputten Kind zuhause. Ich glaube, sein Vater hat keine Ahnung, wie schlecht es Basti wirklich geht.“

„Das ist schlimm…“

Jan nickte langsam. „Ist es… ja…“

Ich griff nach der Hand, die auf seinem Knie lag. Nahm sie ohne nachzudenken in meine und drückte sie sanft. Und ohne, dass ich etwas dagegen tun konnte, rutschten seine Finger wieder zwischen meine. Als wären sie nie woanders gewesen.

Wir saßen eine ganze Weile schweigend nebeneinander. Das war ganz schön kranker, harter Scheiß und ich konnte und wollte mir nicht vorstellen, was genau in Basti vorging oder wie sich das alles anfühlen musste.

Trotzdem, trotz all der schlimmen Dinge, hatte irgendetwas in ihm Klick gemacht. Er war hier. Bei Jan. Egal was ist, ich hör dir immer zu. Ich bin immer für dich da. Jans Worte nach dem Turnier in Dortmund schienen Basti doch berührt zu haben. Also war Basti nach der durchgebrannten Sicherung zu der Person gefahren, von der er gehofft hatte, dass sie da sein würde. Zu Jan. Und Jan war da gewesen. Seit Freitag.

Vielleicht hatte Jan ja den Kollateralschaden abgewendet.

„Jan, ich…“ begann ich und spürte, dass er mit seinen Gedanken weit weg war. Es dauerte einen Augenblick, bis er den Kopf hob und mich ansah.

„Was?“

Ich wollte etwas Sinnvolles sagen. Etwas, mit Gewicht. Vielleicht auch über uns sprechen. Über uns, weil unsere Finger so miteinander verschränkt waren, dass man sie sicher nur mit Gewalt würde trennen können. Aber darüber zu sprechen – jetzt, hier – das bekam ich nicht fertig.

Man kann aber auch jemanden mögen – auch sehr – mit ihm rumknutschen und nicht mit ihm zusammen sein. Hatte er das wirklich so gemeint? Und wenn, warum zum Teufel hielt er schon wieder meine Hand?

„Habt ihr… auch über den Brief gesprochen?“ Über den dämlichen Brief. Bastis Abrechnung mit Jan.

Er biss sich auf die Unterlippe und schien nachzudenken. „Nein. Müssen wir auch nicht. Ich glaube, er wollte mir weh tun, weil er wusste, dass er es vielleicht nochmal versuchen wird…“

„Aber das ist doch krank…“

„Weiß nicht… Vielleicht… Vielleicht auch nicht. Ich glaube, er wollte mich damit so verletzen, dass es mir nicht weh tut, wenn er… aufgibt.“ Ich spürte, dass es komplizierter war, als Jan mit Worten ausdrücken konnte. Bastis Beweggründe ihm diesen Brief geschrieben zu haben mussten sehr viel stärker ineinander verwoben gewesen sein, als ich mir vorstellen konnte.

„In… Oslo hat er mir… versprochen, dass er es nicht mehr versucht. Dass er keinen Scheiß mehr macht…“ Er zögerte diesmal noch deutlicher. „Ich vermute, er hat den Brief geschrieben, weil… er nicht wusste, ob er sein Versprechen halten wird…“ Er sah auf unsere Hände, die auf seinem Knie lagen. Vorsichtig bewegte er seine Finger und schloss die Augen. „Harter Stoff…“

Wir saßen lange nebeneinander, ohne dass einer etwas sagte. Seine Hand lag noch immer in meiner. Noch immer hämmerte dieser Satz in meinem Kopf.

Man kann aber auch jemanden mögen – auch sehr – mit ihm rumknutschen und nicht mit ihm zusammen sein.

Mittlerweile waren unsere Hände ganz kalt und irgendwann begann es wieder zu regnen. Nicht doll, aber genug, dass wir nass wurden. Es war stockdunkel hier im Hohlweg. Kein Mond schien, keine Laterne brannte. Ein bisschen unheimlich war es schon. Aber ich glaubte, Jan brauchte diese Dunkelheit gerade.

„Na komm…“ Er seufzte leise und stand auf. „Bevor wir klatschnass werden.“ Dann zog er seine Hand vorsichtig zurück. Ließ meine Hand los. Stand vor mir und streckte sich. Ich hörte seine Gelenke knacken. Mir wurde furchtbar kalt.

Schweigend liefen wir den restlichen Weg entlang, bis wir auf die beleuchtete Straße kamen. Zweimal mussten wir noch abbiegen, dann kam meine Straße in Sichtweite. Und dann lag das Haus von meiner Mutter und mir direkt vor uns.

Vorsichtig hob ich den Blick. Er sah mich an. Forschend, nachdenklich, abwartend. Vielleicht auch verunsichert. „Da wären wir…“

„Ja“, murmelte ich. Hier waren wir. Vor meiner Haustür. Ich stellte das Rad an die Hauswand und atmete tief durch. Da war wieder dieses Knistern in der Luft zwischen uns. Diese Spannung. Und mein Bauch flatterte bei der Erinnerung an den Moment, als die Spannung das letzte Mal gewichen war. Bei der Erinnerung an diese Küsse mit Jan… Die Erinnerung war süß und bitter zugleich. Ich konnte kaum glauben, dass der letzte Kuss noch nicht mal drei ganze Tage her war. Ob es ihm da ähnlich ging?

„Sarah“, begann er langsam, während er tief Luft holte. Langsam atmete er aus, sprach aber nicht weiter. Dann schluckte er. Er musste nicht weitersprechen, ich hatte ziemlich genau im Gefühl, was er sagen wollte.

Ich wollte nicht, dass er mich so ansah wie er es jetzt tat. „Jan… mach das nicht. Nicht jetzt.“ War ich bescheuert, das auszusprechen?

„Was soll ich nicht machen?“

„Mich so ansehen. Mich wieder so ansehen. Ich kann das nicht…“ So zerrissen.

„Was kannst du nicht?“ Er hob den Kopf.

Ich hatte ein Déjà-Vu. Nur dieses Mal nicht von den Küssen, sondern von einem ganz anderen Abend. Ich dachte an letztes Silvester. Er würde jetzt genau das gleiche machen wie damals. Und da hatte er mir das Herz gebrochen.

Versteh das nicht falsch. Ich mag dich. Ich mag dich wirklich.

Ich komm im Moment noch nicht mal mit mir alleine klar… Mein ganzes Leben ist aus dem Ruder gelaufen.

Es läuft nichts weg… ja?

Ich muss erst meinen Kopf frei kriegen, klar werden mit mir selbst und… mit Basti.

Ich hatte ihn so sehr gehasst in diesem Moment. Wirklich gehasst. Und jetzt stand er wieder genauso vor mir. Mit dem gleichen Blick in den Augen, nach diesen drei Küssen und wieder sah er so verdammt… traurig aus.

Ich sah auf unsere Hände und zuckte mit den Schultern. „Das. Das mit uns“, flüsterte ich. Was auch immer das war mit uns. „Ich kann das nicht schon wieder.“

Er runzelte die Stirn, während sein Blick meinem folgte. Hinab zu unseren dämlichen, schon wieder verschränkten Händen.

„Nicht… schon wieder…?“

„Du hast das schon mal gemacht. An Silvester. Und jetzt machst du es schon wieder. Du willst schon wieder sagen, dass du das nicht kannst. Das mit uns. Dass du noch immer zu sehr damit beschäftigt bist, die Sache mit dir und Basti auf die Kette zu bekommen – weil er dir verdammt wichtig ist und das verstehe ich. Ich verstehe, dass dich das Kraft kostet und vermutlich auch Zeit. Aber mich auch.“

„Sarah…“

„Ich verstehe das. Aber mich kostet das auch Kraft… das mit dir. Und ich kann mich nicht ständig von dir küssen lassen und deine Hand halten, weil es dich deine Probleme dann für einen Moment vergessen lässt.“ Ich war total bekloppt. Das sagte ich nicht ernsthaft!

Verwirrt legte er die Stirn in Falten. „Was?“

„Das…mit dir und mir…“

„Das mit uns…“, sagte er und ich sah zum wie sich auf seiner Stirn eine tiefe Falte bildete.

Ich nickte langsam. „Du hast mich geküsst…“ Er verstand nicht, was ich ihm sagen wollte, das sah ich ihm an. „Auf der Party… und am Freitag…“

Er öffnete und schloss den Mund und sah dann wieder auf unsere ineinander verschränkten Hände. „Hab ich… ja…“, sagte er dann leise.

Ich atmete tief durch und schluckte. „Du hast mich geküsst und es hat sich wirklich gut und richtig angefühlt. Aber plötzlich war Basti da. Du musst das mit ihm klar kriegen. Richtig klar. Du musst ihm jetzt ein Freund sein. Du musst für ihn da sein. Ich glaube, du bist der einzige, auf den er sich im Moment verlassen kann.“

Er starrte wieder hinunter zu unseren Händen und schluckte. „Ja… vielleicht…“

„Ich nehme dir das jetzt ab, okay? Du hast vorhin gesagt, man kann auch mit jemanden knutschen ohne mit ihm zusammen zu sein. Kann man. Aber ich kann das nicht… Ich kann keine Problem-vergessen-Strategie sein, okay? Ich kann das einfach nicht. Dafür bin ich nicht taff genug.“ Seine Hand um meine war nicht mehr kalt, sondern ganz warm. Sein Daumen malte Kreise auf meinem Handrücken. Ich hatte Gänsehaut und was ich ihm sagte, fühlte sich beschissen an. „Mich zu küssen löst deine Probleme nicht. Und ich kann nicht nur eine Ablenkung sein. Nicht daran zu denken, hilft ihm nicht und dir auch nicht… Du musst dich erst mal sortieren.“

Jan schluckte und schwieg eine ganze Weile. Eine sehr lange Weile. Dann nickte er langsam. „So fühlt sich das also an“, flüsterte er und sah mich an. Er lächelte vorsichtig.