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Der skrupellose Chef einer Baufirma beabsichtigt aus reiner Profitgier den Bau von Windrädern in einem Waldstück nahe Goslar. Damit zieht er den Zorn des Waldgottes Sucellus auf sich. Dessen Töchter, die Dryaden, sind nicht zimperlich und ziehen eine blutige Spur durch den Harz. Mick Steffens von der Kripo in Goslar ruft Jonas Drake sowie seinen Freund und Kollegen Yakup Melek zur Hilfe. Obwohl Drake seit Wochen damit beschäftigt ist, sein verschwundenes Kind zu finden, übernehmen die beiden, nicht ahnend, dass die Fälle miteinander verwoben sind. Als Jonas erfährt, dass seine zweite Tochter ebenfalls entführt wurde, bricht für ihn eine Welt zusammen. Zu allem Übel mischt noch eine finstere Macht mit. Doch die schlimmste Überraschung steht ihm noch bevor ... Eine spannende Dark-Fantasy Geschichte mit Horror-Elementen, in der sich ein fast vergessener Gott erhebt und gnadenlos gegen die Umweltzerstörer zu Felde zieht.
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Seitenzahl: 355
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H.E. Wolf , Jahrgang 1968, wuchs in Schleswig-Holstein auf und war in verschiedenen Branchen selbstständig, bevor er mit dem Schreiben anfing.
Nachdem er 2021 aus gesundheitlichen Gründen seine Selbstständigkeit aufgeben musste und der Berufswelt nicht mehr zur Verfügung stand, widmete er sich intensiv dem Schreiben von Romanen. Schon früher schrieb er Kurzgeschichten, aber erst seitdem regelmäßig. Seine Geschichten sind im Dark-Fantasy Bereich angesiedelt.
1. Der Kultplatz im Wald
2. Sucellus
3. Ratlos
4. Hilfe von ausserhalb
5. Pakt mit einem Gott
6. Außer Kontrolle
7. Nacht der Ereignisse
8. Die große Stunde einer Nonne
9. Trauer, Andacht und Auferstehung
10. Wiederkehr
11. Die Rache einer Dryade
Terrastone – Das Ende einer Welt
1. Hausverbot in der Hölle
2. Als der Tod vom Himmel kam
3. Der Plan der Meister
4. Totenglocken
5. Flucht nach vorn
6. Ein neues Leben
Oker, Harz.
Die Vermessungstechniker und ein Bautrupp fuhren mit ihren Baufahrzeugen den unebenen Waldweg entlang. Ihr Ziel war eine kleine Lichtung zwei Kilometer südwestlich von Oker, einem Stadtteil von Goslar, entfernt. Schmale Vertiefungen, die an Gräben erinnerten, säumten den beengten zweispurigen Pfad. Die acht Männer und Frauen des Vermessungstrupps in ihrem VW-Bus auf der unebenen Strecke ordentlich durchgeschüttelt. Jedes Schlagloch ließ das Fahrzeug ächzen und knacken. Dann hatten sie ihr Ziel erreicht. Erleichtert die erste Etappe hinter sich zu haben stiegen sie aus und reckten sich. Sie warteten noch auf die Bauleiter, die kurze Zeit später eintrafen.
Das Rauschen der Bäume im Wind, das Zwitschern der Kleinvögel und das Rascheln eines Igels im Laub waren die einzigen Geräusche, die zu vernehmen waren. Ein lauter werdendes Brummen durchbrach die harmonische Stille. Das Nageln der schweren Dieselmotoren verscheuchte die Waldbewohner. Rehe, Eichhörnchen, Vögel, alles flüchtete. Dann krochen die beiden Bagger die Steigung des Weges hinauf und positionierten sich hinter dem Buss der Vermesser, dicht gefolgt von den Transportern der Arbeiter.
„Na die lassen aber nichts anbrennen.“, murmelte Nina Zander, die technische Leiterin des Vermessungsbüros. Die schlanke Mittvierzigerin sah mit bösem Blick zu den Maschinen. Ihr war nicht wohl bei dem Gedanken daran hier die Plätze für die Errichtung von Windrädern freizugeben. Aber ihr Chef, Fred Kaiser, dem auch die Baufirma gehörte, war da gnadenlos. Wer seinen Befehlen nicht folgte, war seinen Job los. Das konnte Nina sich nicht leisten und so beugte sie sich seinem Willen. Für ihn zählte nur das Geld, Erfolg und noch mehr Geld. Bei ihren Kollegen war die Brünette mit den kurzen Haaren nicht sehr beliebt, weil sie zu oft versuchte die Natur in den Vordergrund zu rücken.
Das Vermessungsteam und die Arbeiter gingen durch eine vor kurzem geschlagene Schneise. Die gefällten Bäume lagen teilweise in Stücke zerlegt auf Stapeln, die die Gasse säumten.
Nach etwa zehn Minuten hatten sie die Lichtung erreicht.
Nina sah die Waldwiese zum ersten Mal in natura. Zuvor kannte sie sie nur von der Landkarte her. Zumindest glaubte sie es, bis sie diese Gegend in Erinnerungsfetzen wieder erkannte. Sie sah die moosbewachsenen Findlinge, die kreisförmig angeordnet waren.
Dann wurde sie blass. Sie erinnerte sich auf einmal, wo sie sich hier befanden. Sie betrat den Kreis und sah die unter Moos und Efeu versteckten Erhebungen. Nina kniete nieder und zog an dem Rankengewächs und kratzte das flächendeckende Grün weg. Darunter entdeckte sie drei Steine mit uralten Symbolen. Sie erhob sich und sprach ihren Chef an:
„Herr Kaiser, dies ist ein heiliger Platz. Wir dürfen diese Lichtung nicht zerstören.“
„Das ist mir scheißegal. Wir werden hier jetzt alles platt machen und das erste Fundament gießen!“, zischte er. Nina wusste, dass für ihren Chef das Thema damit durch war, denn er duldete keine Widerrede oder andere Meinung.
Doch jetzt beschloss sie, sich das erste Mal zu widersetzen. Sein Vorhaben an dieser Stelle ging ihr eindeutig zu weit und das konnte sie nicht zulassen.
„Nun gut ...“, sagte sie und zog ihr Handy aus der Jackentasche. Sie wählte eine Nummer.
„Zander hier, guten Tag. Spreche ich mit dem Amt für Bodendenkmalpflege?“ Ein heftiger Schlag traf sie am Kopf und sie sank bewusstlos zu Boden. Blut lief aus ihrer Nase und verteilte sich auf den Steinen. Der rote Lebenssaft sickerte in die uralten Vertiefungen.
„Die macht uns keine Schwierigkeiten mehr. Schafft sie weg und ... naja, ihr wisst schon!“, sagte Kaiser kalt und gab mit der Hand das Signal zu beginnen. Zwei Männer schleppten die bewusstlose Nina Zander zu einem Transporter. Die anderen Arbeiter warfen ihre Kettensägen an und fällten die Bäume um die Lichtung herum. Das Brüllen der Motorsägen vermischte sich mit den gequälten Schreien von Frauen. Keiner konnte sich erklären, woher die Schreie kamen aber das ignorierten alle. Die beiden Männer lachten.
„Gleich wird noch eine viel lauter schreien.“, sagte einer von ihnen und deutete auf die im Schnee hinter dem Transporter liegende Nina Zander.
Im selben Augenblick verdunkelte sich der Himmel. Donner grollte und Blitze zuckten, zeitgleich stieg Nebel auf. Die Arbeiter gerieten in Panik und rannten davon.
„Kommt zurück, ihr Weicheier!“, brüllte Fred Kaiser, aber niemand gehorchte ihm.
Der Nebel verdichtete sich und ein fahles Licht umhüllte die alte Waldwiese. Das Moos brach auf und der Efeu zog sich zurück. Darunter entstand ein leuchtendes Pentakel und unzählige Symbole. Schemenhafte Silhouetten umstellten das Gebilde.
Jetzt bekam es auch der skrupellose Firmenchef mit der Angst zu tun und suchte sein Heil in der Flucht.
„Wartet auf mich!“, brüllte er und rannte in dieselbe Richtung wie seine Arbeiter kurz zuvor.
Goslar, drei Tage später
Oberkommissar Mick Steffens durchwühlte seinen Schreibtisch nach der Akte mit dem aktuellen Fall. Er hatte sie nur überflogen und ihm grauste davor die Ermittlungen angenommen zu haben. Alleine die Bezeichnung Wald machte ihn nervös. Er dachte dabei einige Jahre zurück, als er mit seinem jetzt im Ruhestand befindlichen Freund und damaligen Kollegen Norbert Walter, dessen verlorene Tochter wieder fand. Sie war von seinen drei Kindern das einzige, welches den Mordanschlag eines verrückten Notarztes überlebte. Er lernte in der Nacht, in der der Mörder Walters Töchter seine gerechte Strafe bekam, Lisa, Norberts Zweitälteste kennen. Mittlerweile war er seit einem Jahr mit ihr verheiratet. Anfangs war es schwer für ihn, zu akzeptieren, dass seine Frau auch ihre Nichte Chrissy im gemeinsamen Haus einquartierte. Er hatte sich sogar daran gewöhnt, dass die beiden bei Vollmond zu Wölfen wurden, in die Wälder zogen und am Tag darauf mit frischen Brötchen grinsend wieder auftauchten.
Das Klingeln des Telefons riss ihn aus seinen Erinnerungen. Er nahm den Hörer ab.
„Steffens.“, meldete er sich.
„Guten Morgen Mick.“, begrüßte ihn sein Kollege Jan Kramer.
„Nina Zander ist aufgewacht und bedingt vernehmungsfähig.“
„Ja dann fahr ins Krankenhaus und erledige das.“
„Nee, mir wurde da etwas erzählt, das solltest du dir besser selbst anhören und auch anschauen, bevor du mich für einen ... komm einfach her.“, sagte Jan und beendete sofort das Gespräch. Mick sah den Telefonhörer ungläubig an.
„Na warte, Bürschchen. Ich glaube, wir müssen mal ein paar ernste Worte miteinander wechseln.“, brummelte er. Der Oberkommissar erhob sich, holte seine Waffe aus der oberen Schublade seines Schreibtischs und steckte sie in das Holster. Er nahm seine Jacke von der Stuhllehne, zog sie sich an und murmelte:
„Na dann mal auf zur lustigen Zeugenvernehmung.“
Nach zwanzig Minuten kam Mick am Krankenhaus an. Als er die Station erreichte, auf der Nina Zander lag, herrschte dort helle Aufregung. Ein Mann im weißen Kittel tigerte planlos auf und ab. Von seinem vorlauten Kollegen war nichts zu sehen. Mick stoppte den flitzenden Kittel, der sich als der behandelnde Arzt Nina Zanders ausgab, hielt ihm seinen Dienstausweis vor die Nase und fragte nach Jan Kramer.
„Der liegt in der Notaufnahme.“
„Bitte was?“ Das Entsetzen schien dem Kommissar ins Gesicht geschrieben.
„Ich weiß auch nicht, aber die Patientin ist urplötzlich total ausgerastet, hat Ihrem Kollegen eine Wasserflasche auf den Kopf geschlagen und war nicht mehr zu beruhigen. Nun versuchen wir, sie seit knapp dreißig Minuten zu bändigen, allerdings ohne Erfolg.“
Mick sah den Arzt ungläubig an. Er machte sich seine Gedanken und wurde immer unsicherer. In diesem Moment stürmten zwei Pfleger aus dem Zimmer, denen Möbel hinterherflogen, die an der gegenüberliegenden Wand zerschellten.
„Na das muss ja ein Prachtweib sein.“, murmelte der Oberkommissar.
„Wäre für mich ein Scheidungsgrund.“, sagte der Arzt kleinlaut.
„Dann lernen Sie mal meine Frau kennen, dann wandern Sie sogar aus.“, antwortete Mick frech grinsend. Er steuerte auf Nina Zanders Zimmer zu und schaute vorsichtig um die Ecke.
„Passen Sie auf sich auf.“, ermahnte ihn der Arzt. Mick ließ sich nicht aufhalten und stapfte in den Raum. Er sah eine verängstigte Schwester, die wimmernd in der Ecke kauerte. Das Zimmer sah aus wie ein Schlachtfeld. Zerfetzte Vorhänge, Möbeltrümmer die überall herumlagen und mittendrin ein Krankenbett. Darauf saß eine kurzhaarige Frau im Schneidersitz schwebend über der Liegefläche, die aus dem Fenster starrte.
„Guten Tag Frau Zander. Fertig mit umdekorieren? Können wir reden?“, fragte er die in der Luft sitzende Frau lässig. Er ging in die linke Ecke des Zimmers und half der Krankenschwester auf, die noch immer völlig verstört war. Er geleitete das Nervenbündel hinaus und wandte sich wieder der Patientin zu. Er wollte die Tür schließen und stellte fest, dass die samt Scharniere herausgerissen war und zerbrochen vor einem großen Wandschrank lag. Er zog eine Augenbraue hoch, lächelte amüsiert und murmelte:
„Okay, dann nicht.“ Er blieb einige Minuten stumm stehen und beobachtete die Patientin. Auf dem Flur kehrte Stille ein. Leises Getuschel drang an Micks Ohren. Dann hörte er hastige Schritte. Er drehte sich um, sah seinen Kollegen mit einem Kopfverband im Türrahmen und deutete ihm, sich ruhig zu verhalten. Er war erleichtert, dass es Jan den Umständen entsprechend gut ging. Die Frau drehte sich und nahm eine Position ein, als wolle sie ihn beobachten, doch ihre Augen waren geschlossen. Ein großes Pflaster an der rechten Schläfe verdeckte eine Wunde sowie ein schmaler Druckverband eine weitere am Hinterkopf. In diesem Moment verdunkelte sich der Himmel. Schwarze Wolken und Blitze zogen schlagartig auf. Das Fenster zerbarst und ein Sturm tobte durch das Zimmer. Mick hob seine Arme schützend vors Gesicht, um nicht von Splittern oder Scherben getroffen zu werden. Er wich ein paar Schritte zurück, bis er auf dem Flur stand. Erst jetzt bemerkte er, dass ihn der starke Wind und die Fensterteile gar nicht trafen. Er schaute sich um und stellte fest, dass sich das Unwetter nur in dem Zimmer abspielte. Eine finstere Stimme erklang. Sie war weiblich und männlich zugleich.
„Tritt näher, Mentor der Wolfskönigin!“, befahl sie. Wie in Trance schritt er auf die schwebende Frau zu.
Sie öffnete die Augen und Mick erschrak. Sie waren durchgehend weiß und leuchteten von innen heraus.
Komturei Tempeldorf, in der Nähe von Itzehoe
Der Tag neigte sich dem Ende zu. Die Dämmerung brach über das Land herein. Die Tage wurden stetig kürzer, der erste Schnee überzog die Kommende des Ritterordens mit einer weißen Decke. Hier lebten seit der Schlacht gegen das Böse auf der Ostseeinsel Fehmarn Templer, Bürger und gelegentlich auch Besucher. Die Einrichtung war zugleich eine Zuflucht für abtrünnige Dämonen, Hexen und anderen Wesen, die sich von der dunklen Seite abgewandt und sich dem Kampf gegen das Böse verschrieben hatten. Eine von ihnen war Delia, eine mächtige Ex-Dämonin, die bei Bedarf eine Brigade finsterer Kreaturen befehligte. Sie war auf dem Weg in den Speisesaal, um sich dort mit Jonas Drake, einem ihrer besten Freunde zu treffen. Als sie den großen Raum betrat, sah sie ihn schon mit seiner Frau Yasmina, der Tochter der Katzengöttin Bastet, Kaffee trinken.
„Na, ist hier noch ein Platz frei?“, fragte sie das Pärchen.
„Für dich doch immer, Süße.“, antworteten die beiden synchron und lächelten. Delia kam gleich zur Sache.
„Ich habe von dem Anruf gehört, Jonas. Bist du dir sicher, dass du da alleine hinwillst? Es klingt gefährlich.“
Er winkte ab.
„Winterurlaub im Harz, was soll denn da schon gefährlich sein? Entspannung pur. Außerdem fahre ich doch gar nicht alleine nach Goslar. Ich habe Yakup dabei.“
„Ja, genau das macht mir Angst. Zwei Halbe machen hierbei noch keinen Ganzen.“
„Willst du mir damit etwas bestimmtes sagen?“, fragte der Polizist lauernd mit hochgezogener Augenbraue.
„Naja, ihr seid noch nicht stark genug im Kampf gegen das Böse. Zwei Berettas und zwei sich daran festklammernde Polizisten sind nichts gegen eine mögliche Gefahr aus der Hölle.“
„Wir nehmen einen Teil der Ausrüstung mit. Cedric Drakes Henkersaxt, den Dolch von Caldor und Yasminas Chepesch sollten ausreichen. Außerdem haben wir unsere Amulette dabei.“
„Und du glaubst echt, das reicht aus?“
„Klar. Wir sind doch schon groß.“, sagte Jonas grinsend. Delia sah Yasmina hilfesuchend an. Die zuckte mit den Schultern.
„Was soll ich da sagen? Der ist so stur, das reicht für tausend Esel.“
„Toll Schatz! Ja, ich habe dich auch lieb.“, grummelte der Oberkommissar und sah in das hämisch grinsende Gesicht seiner Frau. Die Außentür des Speisesaals wurde geöffnet und Yakup kam herein.
„Was ein Mistwetter!“, motzte er und klopfte sich den Schnee von seinem Kutschermantel.
„Du brauchst dich gar nicht erst häuslich niederlassen. Schnapp dir die Tasche dort und dann gehts los.“, rief Jonas seinem Freund zu und deutete auf die große Sporttasche. Er nahm blitzartig den Kopf seiner Frau in beide Hände und leckte ihr einmal quer durchs Gesicht. Grinste frech und stiefelte zum Ausgang. Yasmina rief ihm noch hinterher:
„Was soll denn das jetzt? Erst heiß machen und dann abhauen? Frechheit!“
Jonas drehte sich um, winkte und warf ihr eine Kusshand zu. Dann schloss er die Tür von außen.
„Äh ... hab ich was verpasst?“, fragte Delia verwirrt. Yasmina schmunzelte.
„Das hat er sich von Sarah abgeschaut. Sie macht das, immer wenn sie Scheiße gebaut hat. Ich versuche es der kleinen immer abzugewöhnen, jetzt fängt dieser Lümmel damit an.“
„Ach ja ... Kinder.“, erwiderte Delia lachend.
Durch den anhaltenden Schneefall verlangsamte sich die Fahrt nach Goslar. Kurz hinter Hannover gerieten sie in einen Stau, der sich bis Hildesheim hinzog.
„Na wunderbar. Was schätzt du? Sind wir noch vorm Frühling da?“, meuterte Yakup.
„Mein Optimismus hält sich gerade in Grenzen. Aber wenn du artig bist, setze ich dich auf dem Rückweg bei Vanessa ab.“, witzelte Jonas.
„Großartig, dann können wir gemeinsam mit der Rassel um den Christbaum rennen.“, sagte der große Türke lachend.
„Das, mein Bester, glaube ich auch ohne Videobeweis.“
„Ja ja ...“, kam es kleinlaut zurück.
„Mal was anderes. Woher kennst du diesen Steffens, dass er dich anruft und anfordert?“
„Wir waren zusammen auf der Polizeischule und haben seitdem sporadischen Kontakt. Er erinnerte sich daran, dass ich mich schon als jugendlicher für unheimliche Phänomene interessiert habe. Vor ungefähr zehn Jahren kam er mit einer süßen Werwölfin und deren Nichte zusammen und ist seit einiger Zeit verheiratet.“
„Ein Dreier? Geil!“
„Depp! Die Nichte wohnt nur bei den beiden.“
„Äh ... Fettnäpfchen?“
„Aber hallo! Da wirst du ohne Rettungsring nichts mehr!“, erwiderte Jonas spöttisch lachend.
„Jedenfalls hatte er mich angerufen, weil in Oker merkwürdiges passierte und der Hammer kam im Krankenhaus. Mehr weiß ich bis jetzt auch nicht. Er wollte wohl meine Neugier wecken.“, fuhr Jonas fort.
„Was ihm ja eindeutig gelungen ist.“, erwiderte Yakup.
„Ja, jetzt fällt es mir wieder ein. Eine Patientin saß schwebend auf dem Bett und hatte weiße leuchtende Augen. Das war der Punkt, wo ich zugesagt habe.“, unterbrach Jonas die Stille.
„Erinnert ein wenig an unser Seelenhotel.“
„Nee, Conny hat weiße Haare, keine weißen Augen. Außerdem ist sie nur gefährlich wenn man sie reizt oder angreift. Die Dame im Krankenhaus war nur friedlich als Mick auftauchte.“
Yakup sah seinen Freund und Kollegen an und überlegte. Es beschlich ihn das Gefühl, dass es vielleicht doch besser gewesen wäre, eines der Mädels mitzunehmen. Jonas schaute zu ihm herüber. Er sah seinem Freund an, dass ihn etwas bedrückte.
„Kriegst du jetzt kalte Füße?“
„Nein, aber mir wäre wohler, wenn wir eine unserer magischen Luftpumpen, wie Anya so schön sagte, mitgenommen hätten.“ Jonas lachte.
„Du hast echt Glück, dass Delia und Ariel nicht hier sind. Die nehmen Anya den Spruch immer noch übel.“
„Kannst du es ihnen verdenken?“
„Nachdem Chaos welches die beiden in Wacken verursacht haben? Ja! Da ist die Äußerung doch eher harmlos.“
„Das sehen die Mädels aber anders.“
„Wenn es mal nicht so läuft, wie die beiden es gerne hätten, immer.“, beendete Jonas das Thema.
Nach endlos wirkenden sechs Stunden hatten die beiden ihr Ziel erreicht. Jonas lenkte den schwarzen Volvo S80 in den südlichen Teil des Stadtteils Oker. Abseits der Hauptstraße parkte er den Wagen vor einem Haus mit hellgelb-weisser Fassade. Yakup sah sich das Schild an.
„Bergrauschen. Ferienwohnungen ... Das ist mir schon zuviel Romantik für den Moment.“, sagte er mit einem schiefen Blick zu seinem Freund. Der Lachte.
„In Goslar ist alles belegt. Mick konnte uns nur noch hier eine Bude organisieren.“ Er sah sich das gepflegte Haus an und holte seine Reisetasche aus dem Kofferraum der schwedischen Limousine.
„Ehrlich gesagt würde ich jetzt auch lieber mit Yasmina kuscheln und den Zwergen beim scheiße bauen zusehen.“, murmelte Jonas. Yakup freute sich für seine Freunde. Seine Patentochter wuchs wie im Zeitraffer. Sie entsprach einem etwa zwölfjährigen Mädchen, war aber schon genauso flippig und verrückt wie Jonas erste Tochter in dem Alter, die von Alenya getötet wurde. Der Polizist und seine Frau benannten die kleine nach ihr, weil er Angst hatte sie öfter mit dem Namen seiner ermordeten Tochter anzusprechen. Er brachte es nicht übers Herz sie anders zu nennen. Zu groß war Jonas Angst sie mit einer Namensverwechslung zu verletzen. Wenn sie ein Jahr alt war, entsprach das einem menschlichen Alter von fünfzehn. Spätestens dann wollten Yasmina und Jonas sie darüber aufklären. Yakup lenkte das Gespräch auf Sarahs Zwillingsschwester.
„Ich ... ich weiß, es ist auch nicht gerade das tollste Thema, aber habt ihr schon etwas über oder von Luna gehört?“
Jonas sah seinen Freund ernst an und schüttelte mit dem Kopf. Er schaute an der Hausfassade hoch und antwortete leise:
„Lass uns darüber reden, wenn wir das Gepäck oben haben.“ Yakup entging nicht der Kloß im Hals des Polizisten. Luna verschwand vor zwei Monaten spurlos. Das war für Jonas, Yasmina und Sarah eine harte Nuss, über die sie bis jetzt mit niemand weiteren gesprochen hatten, auch mit ihm nicht. Dem großen Türken ging es genau so nahe wie den Eltern, da er die zwei Kinder in sein Herz geschlossen hatte. Auch die Patentanten der beiden, Ariel und Anya, sowie die Großmutter Bastet gerieten damals in totale Panik. Lunas Patenonkel, Pierre, schloss sich dem besorgten Kollektiv an.
Eine halbe Stunde später hatten sie den Wohnungsschlüssel empfangen, ihr Gepäck in der gemütlich eingerichteten und sehr gepflegten Ferienwohnung untergebracht. Jonas mischte zwei Havana-Cola, reichte seinem Freund einen der Longdrinks und setzte sich auf das Sofa. Er sah traurig aus und die Tränen standen ihm in den Augen.
„Yasmina war mit Anya und den Kindern auf dem Spielplatz am Cirencester Park, gleich nach dem shoppen. Sarah lief weinend zu ihrer Mutter, weil sie Luna nicht finden konnte. Trotz intensiver Suche fanden Mina und Anya sie nicht. Delia, Ariel und Caldor, sogar Conny kamen dazu. Aber es war vergebens. Selbst mit ihren magischen Fähigkeiten konnten sie die kleine nicht ausfindig machen.“
Jonas sah nachdenklich seinen Longdrink an und bewegte das Glas mit kreisenden Bewegungen in der Hand, bis das alkoholische Getränk einen kleinen Strudel bildete.
„Du glaubst gar nicht, wie es mir fehlt die beiden zu sehen, wie sie die Brüder in der Komturei zum Wahnsinn treiben. Ja, selbst die harten Krieger vermissen Luna.“, fügte er bedrückt hinzu.
Yakup überlegte einen Moment, dann schoss ihm eine Erinnerung an die damalige Sarah ins Gedächtnis.
„Könnte es sein, dass sie dahinter gekommen ist, wie man teleportiert und sich dabei verlaufen hat?“
„Wie kommst du denn jetzt darauf?“, fragte Jonas überrascht.
„Sarah hat dich damals oft so ausgetrickst und sich dann heimlich zu Ariel geschlichen. Wäre das so abwegig?“
„Du hast Recht! Das könnte tatsächlich sein.“, erwiderte der Oberkommissar hoffnungsvoll.
„Damit wäre die Chance gleich um einiges höher, dass Luna noch lebt.“ Er hob sein Smartphone vom Tisch und wollte seine Frau anrufen, da nahm Yakup ihm das Gerät aus der Hand und reichte seinem Freund das eigene.
„Nimm meins, dann ist diese Leitung frei, falls Mick Steffens anruft.“ Jonas lächelte und nickte dankbar. Daran hatte er nicht gedacht. Er wählte die Nummer von Yasmina und nach dem dritten Freizeichen nahm sie das Gespräch an.
Das Schneeräumfahrzeug schob die weiße Masse von der schmalen asphaltierten Straße, die durch den Wald nahe Oker führte. Die beiden Männer, die diesen Auftrag ausführten, waren nicht begeistert, morgens um vier eine kaum befahrene Straße räumen zu müssen.
„Echt großes Kino! Da muss man nach nicht mal zwei Stunden Schlaf raus, nur damit ein paar Deppen Bäume umhauen können für diese hässlichen Propeller. Die merken noch nicht einmal, was die der Natur damit antun.“, maulte der Fahrer des Räumfahrzeugs. Der fünfzigjährige übergewichtige Mann war zwar nie sonderlich naturverbunden, aber er achtete und respektierte sie. Für diesen Irrsinn, Natur für Fortschritt zu vernichten hatte er nichts übrig.
„Ob wir uns darüber aufregen oder in China fällt ein Reissack um, die Bonzen da oben interessiert es doch eh nicht. Für die geht es nur um Geld, Geld und nochmal Geld!“, erwiderte sein Kollege. Er war fünf Jahre jünger als der Fahrer, arbeitete aber schon seit über zwei Jahrzehnten mit ihm zusammen. Sie waren ebenso lange miteinander befreundet.
„Wem sagst du das. Wenn ich nicht auf diesen Job angewiesen wäre, hätte ich diese Tour hier verweigert.“ Der Mann war so wütend, dass er nicht darauf achtete, wo er lang fuhr. Der schwere Unimog geriet ins Rutschen und dadurch rammte er einen Baum mit dem monströsen Schneepflug und entwurzelte ihn. Er stoppte das Fahrzeug und stellte den Motor ab, da vernahmen sie den langgezogenen Schrei einer Frau, die unter entsetzlichen Qualen leiden musste. Er klang wie aus weiter Ferne, jagte den Männern aber einen eiskalten Schauer über den Rücken. Sie sahen sich an und verließen das Fahrzeug. Kaum hatten sie Boden unter den Füßen, wurde der dem Beifahrer bereits wieder entzogen. Eine große knochige Hand umschloss ihn und hob ihn in die Höhe. Er schrie vor Panik. Der Fahrer sah dem Schauspiel entsetzt zu. Die Hand bestand aus Baumwurzeln, die mit Moos bedeckt war und kam aus dem verschneiten Waldboden. Sie schloss sich immer fester um den schreienden Mann, bis er keine Luft mehr bekam. Das monströse Gebilde schloss seine Faust nun komplett. Ein schmatzendes Geräusch, Blut, das in alle Richtungen spritzte und das Knacken brechender Knochen übertönte die Stille. Tödliche Stille. Die Pranke öffnete sich und ließ den zerquetschten toten Körper in den Schnee fallen. Innerhalb von Sekunden färbte der sich um die menschlichen Überreste herum rot.
Der Fahrer geriet in Panik. Hastig rannte er den Weg zurück, den er zuvor gefahren war. Er wollte nur noch schnell weg, raus aus dem Wald.
Keuchend blieb er stehen, beugte sich vornüber, stemmte seine Wurstfinger auf die Knie und rang nach Luft. Er konnte nicht mehr. Der erschöpfte Mann drehte sich um und sah neben dem Räumfahrzeug den roten Fleck im Schnee, der von den Scheinwerfen auf dem Dach angestrahlt wurde. Ein paar Meter entfernt entstand eine leuchtende Nebelwolke, die immer größer wurde. Noch immer nach Luft ringend sah er ängstlich und auch neugierig das Spektakel an, dass sich ihm bot. Er kramte nervös in der Seitentasche seiner orangen Warnjacke herum. Dann hatte er nach einer gefühlten Ewigkeit gefunden, wonach er suchte, sein Asthmaspray. Er nahm zwei Hübe aus dem kleinen Behälter und steckte ihn wieder zurück. Seine Atmung beruhigte sich wieder und er wollte sich erheben um davon zu laufen, aber sein Körper machte schlapp. Er sank auf die Knie und schloss innerlich mit seinem Leben ab. Eine zweite leuchtende Nebelwolke bildete sich neben ihm und eine Gestalt kam heraus. Sie hob den übergewichtigen Mann an den Oberarmen auf die Beine und hielt ihn fest. Nicht brutal aber stark genug um ihn an der Flucht zu hindern. Aus der ersten, weitaus größeren Wolke schritt eine unheimliche Kreatur heraus. Sie war erst nur als dunkles Schemen zu erkennen. Ein flatternder, zerfetzter Mantel, der an herabhängenden Seetang erinnerte, umhüllte die Gestalt. Auf dem Kopf trug sie ein Geweih mit zwölf Enden. Mit einem mannshohen Wanderstab, der auf Kopfhöhe endete, schritt sie auf ihn zu. Als die Kreatur direkt vor ihm stand, musste der Mann hochschauen, um ihr ins Gesicht sehen zu können. Bedrohlich betrachtete sie den verängstigten Fahrer des Räumfahrzeugs.
Der zitterte wie Espenlaub und konnte jetzt das Gesicht erkennen. Es hatte eine fast dreieckige Form. Ein Ziegenbart wuchs aus pergamentartiger Haut, die Augen glühten schwach rot, die Wangenknochen stachen hervor und aus den Schläfen wuchsen gedrehte Hörner. Sie erinnerten den Fahrer an Widderhörner. Er fasste all seinen Mut zusammen.
„Wer bist du?“, fragte er leise.
Die Gestalt beugte sich zu ihm herunter und sah ihm in die Augen. Modriger Atem traf ihn.
„Ich habe viele Namen. Satyr, Pan, Faun, Biel, aber hier nennt man mich ... Sucellus.“, antwortete das Wesen mit dunkler, fast beruhigender Stimme. Er deutete mit seiner knochigen Hand zu dem Fleischklumpen im Schnee, der bis vor ein paar Minuten noch ein Mensch war.
„Er könnte noch leben, wenn er nicht vor ein paar Tagen eines meiner Kinder getötet hätte!“, grollte die Gestalt zornig.
Der Fahrer des Räumfahrzeugs sah Sucellus ängstlich an. Entsetzt sah er zu dem Unimog und dem umgefahrenen Baum. Er erinnerte sich an den langgezogenen Schrei, dann schaute er wieder die Kreatur an.
„Es war ein Unfall, das wollte ich nicht.“, wimmerte er und zeigte auf den Baum neben den Resten seines Freundes.
„Was immer du mit mir vorhast, mach es bitte schnell.“, bibberte er. Die Kreatur verzog ihr düsteres Gesicht zu einem Lächeln.
„Vorher will ich dir noch etwas zeigen.“ Dann verschwamm alles um die drei herum und sie fanden sich auf einer Lichtung wieder. Der Übergewichtige sah sich um und erkannte eine uralte Kultstätte. Er hatte sowas Ähnliches schon mal in einer Dokumentation gesehen, aber hatte nicht gewusst, dass es so etwas auch hier im Harz gab. Gefällte Bäume lagen um den Ritualplatz herum. Sucellus deutete auf sie.
„Das waren einst drei meiner Töchter.“, sagte er zornig.
„Die, die das getan haben, werden dafür büßen. Und du hast die Wahl ob du dazu gehören willst!“
„Ich ... ich verstehe nicht ...“
Sucellus wurde deutlicher.
„Du hast die Wahl mir zu dienen, oder zu sterben.“
„Was bist du?“, fragte der Mann zaghaft.
„Ich bin der Gott des Waldes.“, knurrte das Wesen.
„Äh ... ich nehme Antwort A.“
„Dein Entschluss war ... weise.“
„Aufstehen, Langschläfer!“, rief Yakup mit zwei Bechern Kaffee bewaffnet ins Wohnzimmer stapfend. Er stellte sie auf dem Tisch ab, ging zu dem großen Fenster und zog die Vorhänge beiseite. Sonnenstrahlen fielen hinein und blendeten Jonas. Der zog sich die Bettdecke übers Gesicht und maulte:
„Alter! Du spielst mit deinem Leben, ist dir das eigentlich klar?“
„Ja ja, du mich auch. Nun beweg dich, wir haben zu tun.“
„Wecken vor zehn Uhr ist Körperverletzung!“, knurrte es unter der Decke hervor. Yakup lachte:
„Ja nee is klar. Guck mal aufn Tacho, es ist schon zwanzig vor eins.“
Die Bettdecke flog ruckartig zur Seite und Jonas saß kerzengerade auf der Sofakante. Ungläubig sah er auf den Wecker und entdeckte stattdessen einen kleinen Trümmerhaufen.
„Was ... ist das da?“, fragte er.
„Das Ergebnis deiner guten Laune um acht.“
„Wie meinen?“
„Nachdem das Teil rumquätzte hast du einmal draufgehauen und weitergepennt.“
„Ich glaube, du willst mir da etwas einreden, mein Freund.“
„Reagierst du zu Hause auch so aufs Wecken?“
„Nicht wirklich. Da werde ich ja mit Küsschen und Ohrläppchenknabbern geweckt.“, erwiderte Jonas frech grinsend.
„... oder von einem Mini-Minchen gepiesackt.“, fügte er hinzu.
Yakup schob ihm den Kaffeebecher zu und reichte seinem Freund eine Zigarette.
„Danke.“, sagte der und zündete sich den Glimmstängel an. Er sog daran und atmete den Rauch durch die Nase wieder aus. Ein Blick auf seine Armbanduhr verriet ihm, dass sein türkischer Freund ihn diesmal nicht veräppelt hatte. Es ging auf dreizehn Uhr zu.
„Oh man, ich glaube eine der Mischungen war schlecht.“ Er deutete auf die beiden leeren Flaschen Havana Club und die daneben liegenden Colaflaschen. Er zog eine Augenbraue hoch.
„Das war ich doch nicht alleine?“
„Nein nein, ich habe auch noch ein Glas voll abgrasen können.“, gab Yakup zurück.
„Dein Freund Mick hat zweimal angerufen. In der Nähe der Waldlichtung, wo vor ein paar Tagen eine Frau namens Nina Zander gefunden wurde, hat man heute Morgen einen Toten neben einem verlassenen Schneeräumfahrzeug entdeckt. Soll nur noch ein Haufen Matsch gewesen sein, der Gute.“
Jonas sah ihn groß an und wurde blass. Yakup verschwand kurz in der Küche und kam mit einem ovalen Servierteller, auf dem belegte Brötchen lagen zurück.
„Guten Hunger.“, sagte er und griff zu einem Mettbrötchen, in das er genüsslich hineinbiss.
Jonas sah seinen Freund ungläubig und entgeistert an.
„Weißt du, manchmal bist du echt eklig.“ Er zog es vor, nach dieser Nachricht auf den Mettbelag zu verzichten, und entschied sich für ein Brötchen mit Ei.
Eine Stunde später trafen die beiden sich mit Mick Steffens vorm Krankenhaus in Goslar. Auch wenn viele Jahre vergangen waren, verstanden sie sich auf Anhieb so wie damals. Jan Kramer war den beiden Itzehoer Kommissaren sofort sympathisch. Yakup deutete auf den Kopfverband des Polizisten.
„Neckischer Kopfschmuck. Wo bekommt man sowas?“
„Indem man einer Flasche zu nahe kommt, an der noch eine tobende Frau hängt. Diese Kopfbedeckung schenkt dir dann Tante oder Onkel Doktor.“
„Oh ... verheiratet?“, fragte Yakup.
„Nein, Gott bewahre. Ich bin doch nicht lebensmüde. Das war eine Patientin, die scheinbar nicht ganz dicht ist.“
„So schlimm?“
„Na was soll man sonst von einer Frau halten, die einen halben Meter über dem Bett schwebt, die Einrichtung mit geistigen Kräften wirbeln lässt und bei einen Exorzisten besser aufgehoben wäre statt bei einem Arzt?“
Eine junge blonde Frau näherte sich den Männern und hakte sich bei Jan ein.
„Redet ihr gerade über Nina Zander?“, mischte sie sich ein.
„Und Sie sind?“, fragte Jonas.
„Oh ... sorry. Ich bin Chrissy Walter, die Verlobte von Jan.“, stellte sich die kurzhaarige Blondine vor und reichte dem Kommissar die Hand. Plötzlich verzog sie das Gesicht zu einer Grimasse und nieste.
„Gesundheit! Erkältet?“
„Nein. Katzenhaarallergie.“, erwiderte sie.
Jonas meinte kurz zu erkennen, dass sie ihn mit bernsteinfarbenen Augen ansah. Sein Amulett, welches er unter seiner Kleidung trug erwärmte sich auf der Brust. Seine Nackenhaare stellten sich hoch.
„Haben Sie Katzen?“, fragte Chrissy lauernd.
„Ich ... äh ... drei.“, stammelte er. Sie kam so dicht an ihn ran, dass sie sein Kinn mit der Nasenspitze berührte. Sie sah ihm direkt in die Augen und da war es wieder, dieses rotgelbe Blitzen. Ihre Nasenflügel bewegten sich. Sie schnupperte an ihm, wie ein Hund der Witterung aufnahm. Sie legte ihre flache Hand auf seine Brust, genau auf die Stelle, an der sein Amulett hing. Sie lächelte und zeigte ihm ihre Handfläche. Sie war weder verbrannt noch gerötet. Hatte das Pentakel versagt? Dann fiel es ihm wie Schuppen von den Augen.
„Sie sind das Wolfsmädchen!“, flüsterte er.
„Gut erkannt, Gatte der Katzengöttin.“, erwiderte sie.
„Nein. Er ist mit ihrer Tochter verhei ... Moment mal. Woher wissen Sie das?“, warf Yakup ein.
„Sein Ruf stolpert ihm voraus. Und ich bin nicht das Wolfsmädchen, sondern die Königin der Wölfe.“ Sie ging zurück zu Jan.
Jonas war verunsichert und wusste nicht, was er von dieser Situation halten sollte, aber auch Chrissy war verwirrt davon. Sie sahen sich skeptisch an. Mick versuchte, die angespannte Lage zu beruhigen, und meinte:
„Bitte keine Feindseligkeiten. Wir sind doch alle auf derselben Seite oder etwa nicht?“
„Das wird sich noch zeigen.“, warf das Mädchen misstrauisch ein und zog sich ins Auto zurück, welches hinter ihr auf dem Parkstreifen stand.
„Tut mir leid, aber sie ist Fremden gegenüber anfangs immer sehr reserviert. Liegt wohl an ihrem Instinkt und ihren schlechten Erfahrungen mit Menschen.“, versuchte Mick zu erklären.
„Schon gut. Ich denke, über kurz oder lang wird sie verstehen, dass nicht alle Menschen gleich sind.“, erwiderte Jonas.
„Können wir uns jetzt vielleicht mal dem widmen, weshalb wir hier sind?“, warf Yakup ein.
„Ja, sicher.“ Mick war erleichtert, dass endlich ein Themenwechsel anstand. Es war ihm sichtlich unangenehm, wie sich Jonas und die Blondine begegneten.
„Jan, bleib du bei Chrissy. Wir gehen zu der Zander.“, sagte er. Sein Kollege zog sich zu dem Mädchen zurück. Er setzte sich auf den Fahrersitz und sah sie an.
„Warum warst du Drake gegenüber so feindselig? Er und sein Kollege sind doch hier um uns zu helfen.“ Sie schaute bedrückt in den Fußraum des BMW und sprach sehr leise.
„Es ist nichts Persönliches gegen ihn oder seine Familie. Aber ich kann nicht aus meiner Haut. Es ist nun mal so, dass Wölfe und Katzen nicht wirklich zueinander passen.“
„Dann versuch, über deinen Schatten zu springen. Hat sein Amulett dich verletzt?“ „Nein.“
„Dann wird er bestimmt gemerkt haben, dass du keine Feindin bist. Also zerstöre nicht das Bild, welches er von dir hat. Sprich mit ihm über deine Bedenken. Mick würde sich nicht mit Drake abgeben, wenn er für dich oder Lisa eine Gefahr wäre.“
Chrissy dachte über das nach, was ihr Verlobter gerade gesagt hatte, und es leuchtete ihr ein. Sie hatte schon von den beiden Männern gehört und auch, mit welchen Wesen er in die Schlacht gegen das Böse gezogen ist.
„Okay. Aber den Zeitpunkt überlässt du bitte mir.“
„Wenn du es nicht zu lange hinauszögerst, kann ich damit leben.“ Mit dieser Bemerkung schloss er das Thema vorerst ab.
St. Andreasberg, 40 km von Goslar entfernt
Der gelbe Paketwagen rumpelte langsam durch die 1500 Seelenstadt unweit der Stadt Braunlage. Der Fahrer, Thomas Hansen, sehnte sich nach seinem wohlverdienten Feierabend. Er hatte noch sechsunddreißig Kilometer vor sich bis zum Depot, dann war für ihn ein weiterer Arbeitstag zu Ende. Aus der Ferne sah er dunklen Rauch aufsteigen. Bäume verdeckten die Ursache. Nach der langgezogenen Rechtskurve würde er vielleicht erkennen, was da los war. Nach ein paar Minuten wurde die Straße für eine Weile gerade. Am Straßenrand stand ein dunkler VW Passat, älteren Baujahrs und eine wild winkende Frau. Thomas schaltete den Warnblinker ein und stoppte in sicherer Entfernung zu dem Pkw. Die Motorhaube stand offen und schwarzer Rauch kam heraus. Er griff sich den unter dem Beifahrersitz befestigten Feuerlöscher und stieg aus. Er lief an der Frau vorbei und sah kleine Flammen aus dem Motorraum schlagen. Der Paketbote löschte den Brand, dann wandte er sich der Fahrerin zu. Erst jetzt fiel ihm auf, dass es eine junge Brünette mit langen Haaren, schlanker Figur und einem engelsgleichen Gesicht war. Er lächelte sie an.
„Na da hatten Sie ja Glück, dass ich gerade hier entlang musste.“ Er schaute nochmal in den Motorraum und stellte schnell fest, dass da nichts mehr zu machen war. Der Zylinderkopf war geschmolzen. Bolzen und lange Schrauben ragten heraus.
„Der bewegt sich keinen Millimeter mehr. Ärgerlich.“, sagte er. Er war hin und weg von dem Anblick der jungen Frau. Sie trug einen knielangen Rock, eine weiße Bluse, die so weit offen war, dass er den Ansatz ihrer wohlgeformten Brüste sehen konnte. Darüber trug sie einen braunen Blazer, der zu dem gleichfarbigen Rock passte. Sie räusperte sich und lächelte amüsiert.
„Ich möchte Sie ja nur ungern unterbrechen, aber ich habe auch Augen.“
„Oh ...“, gab er ertappt zurück und wurde rot.
„Entschuldigen Sie.“ Er schloss die Motorklappe des Passats.
„Wenn Sie möchten, nehme ich Sie gerne ein Stück mit. In diesem Aufzug erkälten Sie sich höchstens noch. Von dort können Sie ja einen Abschleppdienst anrufen, der Ihren Wagen abholt.“, bot er ihr an. Sie lachte.
„Mir egal. Ist eh nicht meine Karre.“
„Äh ... mit Geliehenem geht man doch nicht so um.“
„Ist nicht geliehen. Der gehört meinem Ex.“, erwiderte sie schadenfroh grinsend.
„Wohin fahren Sie denn?“
„Nach Wernigerode zum Depot. Da steht mein Privatwagen.“
„Das trifft sich gut, denn da muss ich auch hin, geschäftlich.“ Er öffnete die Beifahrertür des Transporters und ließ die junge Frau einsteigen. Thomas wollte die Tür schließen, da bremste die Brünette ab.
„Sie sind aber kein Sittenstrolch, Lustmolch oder Mörder ... oder?“
„Nein, nur ein einfacher Single.“ Sie lachte und schloss die Tür. Er stieg ein und startete den Motor, dann griff er neben den Sitz und holte eine Edelstahlkanne und zwei Becher hervor. Er schaute nach rechts und sah die Brustwarzen, die im Stoff der Bluse kleine Beulen hinterließen.
„Sie frieren sicherlich, da ist ein Tee bestimmt angenehm.“, sagte er und reichte ihr beides. Sie zog den Blazer zusammen und wurde rot.
„Oh ... ist das so offensichtlich?“, fragte sie verlegen.
„Ich schweige.“, erwiderte er grinsend.
„Nächster Halt, Wernigerode.“, fügte er hinzu und das Fahrzeug setzte sich in Bewegung und die beiden plauderten während der Fahrt.
Goslar, Krankenhaus
Jonas, Yakup und Mick erreichten die Station, auf der Nina Zander lag. Kurz vor dem Patientenzimmer fing sie der behandelnde Arzt ab. Er wirkte nervös.
„Gut, dass Sie kommen, meine Herren.“
„Was ist passiert?“, fragte Mick und stürmte an ihm vorbei. Er sah in den Raum und fand ihn leer vor. Das Bett war zerwühlt, eine Fensterscheibe zerstört. Er ging ein paar Schritte zurück und schaute auf das Schild im Gang. Es hatte eine andere Nummer.
„Ja, es ist ein anderes. Trotzdem müssen wir nun zwei Räume renovieren lassen. Auch wenn wir versucht haben, Frau Zander aufzuhalten, sind wir froh sie los zu sein.“, sagte der Arzt.
„Großartig!“, maulte Mick und griff zu seinem Smartphone.
Er gab telefonisch eine Fahndung nach der ausgebüchsten Patientin raus. Der Oberkommissar sah den Weißkittel genervt an.
„Haben Sie eine Ahnung, wo sie hin wollte? Hat sie etwas in der Richtung gesagt?“
„Da haben Sie Glück, denn das hat sie tatsächlich. Sie sagte etwas von einem Ritualplatz und einem ... Meister.“
„Äh ... und nun?“, fragte Yakup.
„Nun ist es von Vorteil, dass wir Chrissy dabei haben. Sie kann Frau Zander finden.“
Jonas und Yakup sahen sich an und nickten.
„Sehr praktisch.“, äußerten sie sich synchron. Der große Türke griff sich den Schal der Frau, der über einer Stuhllehne hing. Er sah die restlichen Kleidungsstücke, nahm sie ebenfalls mit und sah den Arzt an.
„Die ist doch nicht nackt unterwegs, oder?“
„Die trägt bestimmt eines von diesen hässlichen Kleidchen, die es hier immer dazu gibt.“, warf Jonas ein. Die drei Polizisten ließen den Arzt einfach stehen.
„Und jetzt? Wer kümmert sich um die Rechnung? Wir haben keine Papiere von der Frau!“, rief er ihnen hinterher. Yakup drehte sich um.
„Finde ich toll, dass wir mal drüber gesprochen haben. Schönen Tag noch.“, dann verschwanden sie im Fahrstuhl. Der Arzt drehte sich um und blaffte eine Krankenschwester an:
„Schwester Tanja, bringen Sie mir ein Urlaubantragsformular!“
„Aber ...“
„Sofort!“, schrie er und verschwand in seinem Büro.
Am Parkplatz angekommen riss Yakup die Tür des Autos auf.
„Bevor du Jonas jetzt wieder anknurrst, wir brauchen deine Hilfe.“, grummelte er und hielt Chrissy die Kleidung der getürmten Patientin unter die Nase. Sie sah ihn mit großen Augen an.
„Na herrlich, endlich mal ein Kerl mit Ansage.“, gab sie schnippisch zurück.
„Was ist passiert?“
„Die Zander ist abgehauen. Wir müssen sie finden. Der Kittelträger da oben meinte, sie will zu einem Ritualdingenskirchens.“, maulte der Türke.
„Dafür hätten Sie ... äh ... du den Klamottenberg nicht mitbringen brauchen. Ich weiß, wo das ist.“
„Oh, woher ...“, Mick wurde von Chrissy unterbrochen.
„Ein altes Jagdrevier in dem Lisa und ich öfter unterwegs waren. Ist ein uralter heidnischer Platz.“
Die drei Polizisten sahen sich verdutzt an.
„Wollt ihr jetzt hier Wurzeln schlagen oder was?“, fragte das Mädchen in die Runde.
„Außerdem habe ich Hunger!“
„Hoffentlich nicht auf was rohes.“, äußerte Jonas sich. Chrissy lachte.
„Nein Katzenbändiger, du hast Schonzeit.“
Erleichtert nahm er mit Yakup und Mick auf dem Rücksitz platz. Jan startete den Motor, setzte das Blaulicht aufs Dach und fuhr los.
„Du musst mir nur sagen wo ich lang muss, Schatz.“
„Mit Ganovenorgel?“, fragte sie.
„Logo.“, antwortete er und schaltete die Sirene ein. Er folgte den Anweisungen seiner Verlobten und nach dreißig Minuten hatten sie die Lichtung erreicht.
Sie verließen das Auto und teilten sich auf. Von der verschwundenen Nina Zander fehlte jede Spur. Chrissy ging nochmal zum Wagen zurück, schnappte sich die Kleidung und nahm die Witterung auf. Sie hob ihre Nase in den kalten Winterwind, aber sie roch nichts.
„Jungs, wir können einpacken. Hier war und ist sie nicht.“, rief sie. Sie bekam keine Antwort.
„Na toll, Männer!“, grummelte sie. Ein Knacken ließ sie herumschnellen. Unbemerkt hatte sich jemand von hinten an sie herangeschlichen. Sie erschrak bei dem Anblick der Kreatur. Ein hageres dreieckiges Gesicht mit einem Ziegenbart und rotglühenden Augen sah sie stumm an. Die nach hinten gedrehten Hörner, die aus den Schläfen wuchsen, irritierten sie. Chrissy zeigte keine Angst. Sie musterte das Wesen von oben bis unten. Dann verwandelte sich die unheimliche Fratze der Kreatur langsam in das Gesicht eines alten Mannes mit weißgrauem wallenden Bart.
„Hab keine Angst, mein Kind.“, sprach das Wesen sanft mit dunkler Stimme.
„Halt! Keine Bewegung!“, peitschte der Ruf Jonas Drakes durch den Wald. Die Kreatur sah sich von vier bewaffneten Männern umzingelt. Sie lächelte belustigt.
„Was wollt ihr denn mit diesen Dingern gegen mich ausrichten?“ Das Geschöpf holte mit dem Arm aus, um die Polizisten mittels eines Hiebes zu entwaffnen, da stellte sich Chrissy ihm in den Weg.
„Nein! Tu es nicht!“, schrie sie das unbekannte Wesen an. Es hielt tatsächlich inne. Die Männer beließen es bei ihrer Haltung.
„Du hast wirklich Mut, kleines Mädchen. Das bewundere ich.“, grollte die unheimliche Gestalt.
„Weißt du eigentlich wer ich bin?“, fragte Chrissy siegessicher und herausfordernd. Ihre Augen blitzten für einen Augenblick bernsteinfarben auf.
„Ja, kleine Königin der Wölfin. Aber du solltest dir gründlich überlegen, ob du gegen mich aufbegehren willst. Dieses Mal werde ich Gnade walten lassen!“, zischte er schon weitaus aggressiver.
„Und wer bist du, dass du so gnädig bist?“ Ihre Frage klang so spöttisch, dass die Kreatur ihre Augen hellrot leuchten ließ und ihr Gesicht sich angsteinflößend verfinsterte. Die Gestalt veränderte ihre Größe auf fast drei Meter. Aus dem Kopf wuchs ein Geweih mit zwölf Enden. Nebel stieg auf und verteilte sich um alle Beteiligten herum. Die Sicht wurde schlechter, nur die Kreatur war klar zu erkennen. Sie breitete ihre Arme aus und Schnee wirbelte auf. Ein Schneesturm zog auf und umhüllte die Lichtung. Chrissy wich zurück. Ihr Instinkt riet ihr dazu, dieses Wesen nicht weiter zu reizen. Dann grollte die finstere tiefe Stimme:
„Ich bin Sucellus, der Gott des Waldes und dein Gebieter, kleine Chrissy! Du und deine Freunde habt die Wahl: verlasst diesen Ort oder sterbt!“ Die letzten Worte hallten in den Ohren aller nach, als würde sich die Stimme durch einen Tunnel entfernen.
Der Schneesturm und der Nebel verschwanden im selben Moment, ebenso Sucellus.
Jonas, Yakup, Mick und Jan sahen sich verblüfft um.