Schattogri - Ronald Kaduk - E-Book

Schattogri E-Book

Ronald Kaduk

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Beschreibung

In der Tradition von Homer und Dante geht es in dieser meditativ-philosophischen Erzählung um weit mehr als die Suche nach der verschwundenen Mutter. Auf seiner Reise durch das herbstlich-winterliche Frühmittelalter begegnet Baldur ganz unterschiedlichen Menschen und muss sich den großen existentiellen Fragen stellen. Er findet aber auch Liebe und unerwartete Antworten. Schattogri ist eine poetische Sinnsuche, die zugleich Trost und Wärme bietet.

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für Muna und Bela

ohne die es diese Geschichte nie gegeben hätte

Wer sucht, der geht leicht selber verloren.

Friedrich Nietzsche, Zarathustra

But you found what you wanted?

I have accepted what I found. Is that the same?

Evelyn Waugh, Helena

Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1

Kapitel 2

Die Geschichte des Mönchs

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

1

Wie froh bin ich, bald wieder daheim zu sein! Habe ich mir das doch alles ganz anders vorgestellt und weigere mich noch immer, dies als Niederlage zu begreifen. Wie ein Feldherr rede ich mir ein, dass die missliche Lage sicher etwas Gutes habe, dies noch nicht das Ende und die letzte Schlacht noch nicht geschlagen sei. Und kehre ich denn wirklich mit leeren Händen zurück? Bei dieser Frage gerate ich unweigerlich ins Philosophieren. Danach bin ich zumeist noch verwirrter, und dennoch begehe ich diesen Fehler immer wieder. Anton mag diese großen Fragen nicht. Er meint, das führe zu nichts und lenke vom Wesentlichen ab. Während ich neben Anton stehe und auf die im Mondlicht nur schemenhaft erkennbaren schneebedeckten Berge blicke, muss ich ihm Recht geben.

Erstaunlicherweise hat er fast immer recht. Ich weiß auch nicht, wie er das macht. Dabei hat er weniger von der Welt gesehen als ich und kann weder lesen noch schreiben. Dafür scheint er die richtigen Instinkte zu haben. Er hatte hier oben jedenfalls genug Zeit zum Nachdenken. Zudem ist er ein guter Zuhörer. Deshalb erzähle ich ihm gern meine Geschichte und versuche dabei, mich an das zu halten, was ich wirklich gesehen, gehört und gedacht habe. Zugleich weiß ich inzwischen besser als früher, dass man sich nicht immer auf seine Sinne verlassen kann und der Übergang zwischen der Wirklichkeit und dem Reich der Einbildung selbst ausgeruht und mit vollem Magen nicht immer ganz klar ist, so wie sich hier oben morgens und abends oftmals die Berge kaum von den Wolken unterscheiden lassen. Dabei hat Anton meine Geschichte bereits mehr als einmal gehört. Er ist eine so schlichte und gute Seele und ich wünschte, ich könnte sein wie er. Wie einfach wäre das Leben!

Anderen würde es in meiner Erzählung womöglich an dramatischen Wendungen fehlen, habe ich doch, so sehr ich dazu bereit war, weder mit Drachen und Löwen gekämpft noch mich mit dem Schwert in der Hand Schurken und Rittern entgegengestellt. Anspruchsvollere Zuhörer würden sich womöglich beschweren, dass nicht genug passiert. Denen erwidere ich: Ich bin zwar kein Odysseus, aber das ist die Geschichte meiner Suche und diese folgt nicht bestimmten Regeln. Wie langweilig wäre die Welt, wenn wir brav alle Regeln befolgen würden!

Dafür biete ich etwas anderes: Einblicke in mein Seelenleben. Nicht alles davon versteht Anton, und wenn ich redlich Rechenschaft vor mir ablege, erzähle ich diese Geschichte nicht nur ihm, sondern auch mir.

Und während ich noch einmal den Pfaden meiner bisherigen Reise folge, ahne ich, dass ich, ohne es zu wissen, vom ersten Tag an mehr als nur meine Mutter gesucht habe.

*

Es ist gar nicht so lange her, doch wenn ich nun daran zurückdenke, scheint es mir wie eine andere, längst untergegangene Welt, damals, als ich mich auf den Weg machte und diese Reise begann. Und obwohl alles nun schon so weit zurückliegt, kann ich mich noch gut an meine Empfindungen erinnern, selbst an meine Aufregung kurz vor der Abreise.

Bereits am Vorabend hatte ich alles gepackt und die wenigen Reisesachen lagen in meiner Schlafkammer gleich neben dem Bett, wollte ich doch mit möglichst wenig Gepäck reisen, um freier und beweglicher zu sein. Daher war es mir auch recht, dass Berta nicht mit mir kam. Es war kein Bauchgefühl, sondern eine kühle Verstandesentscheidung, die Suche ohne meine Schwester zu wagen. Vater hätte es ohnehin nicht gestattet. Ich hatte ihm versprochen, Mutter wiederzufinden, aber sein Blick verriet mir, dass er nicht daran glaubte. Ohne dass er es aussprach, wusste ich, dass mein Vater mir das nicht zutraute. Er war vielmehr davon überzeugt, dass weder Mutter noch ich zurückkehren würden und ihm dann nur noch Berta und seine Vögel blieben. Daher wollte er sie keinesfalls mit mir gehen lassen und ich konnte es ihm kaum verdenken.

Noch einmal war ich am Tag vor meiner Abreise gemeinsam mit Berta am See. Während wir von der Burg über die bereits abgeernteten Felder liefen, kam ein kühler Wind auf. Das nahe Birkenwäldchen war zwar noch grün und frisch wie im Sommer, aber der dunkle, feuchte Boden roch bereits nach Herbst. Während wir uns auf unserem Lieblingsfelsen am See auszogen, bat Berta mich erneut, mit der Suche bis zum Frühjahr zu warten. Niemand, sagte sie, beginne eine solche Reise im Herbst.

Uns war schon kalt, bevor wir uns auszogen. Frierend standen wir nackt auf dem kühlen Stein und blickten in das dunkelblaue, fast schwarze Wasser. Wie immer zählten wir gemeinsam bis drei und sprangen dann zusammen von dem Felsvorsprung. Ich öffnete die Augen erst unter Wasser und suchte meine Schwester. Endlich sah ich sie vor mir und bewunderte ihre eleganten Schwimmbewegungen. Sonst liebte ich dieses Gefühl, wenn die Kälte des Wassers scharf in den Kopf zog, sodass es beinahe schmerzte. Doch damals empfand ich es als unangenehm. Ich war noch nicht bereit für den Herbst. Rascher als sonst kletterten wir wieder auf den Felsen und kleideten uns zitternd an. Mir war kalt und ich wollte zurück zur Burg. Berta bat mich jedoch, noch ein wenig mit ihr auf dem Felsen zu verweilen. Sie nahm meine Hand und wir blickten zusammen über das dunkle Wasser auf das gegenüberliegende Ufer. Gelegentlich flatterte ein farbiges Herbstblatt wie ein kleiner Vogel auf das Wasser. Ein Blatt schwamm direkt unter unseren Füßen vorbei. Berta rieb sich die frierenden Arme und fragte mich, ob ich lieber ein Fisch oder ein Vogel wäre. Da wir beide, wie unser Vater, Vögel besonders liebten, nahm ich die Frage nicht ernst und antwortete, dass ich am liebsten ein Vogel wäre, der auch schwimmen und tauchen kann wie ein Fisch. Sie umarmte mich und erwiderte lachend: „Dann wärst du wohl am liebsten eine Ente, Baldur.“

Auf dem Heimweg sprachen wir wenig. Ich hatte Hunger und dachte an Mutters Apfelbrötchen. Wie gern hätte ich eines davon gegessen. Jörg mühte sich redlich, ähnliche Brötchen zu backen. Aber sie schmeckten einfach anders. Niemand kannte ihr Rezept. Wir wussten nicht einmal, woher sie das Rezept hatte.

Als wir an der Burg ankamen, verschwand die Sonne bereits hinter dem Wald. Dabei war es noch gar nicht spät. Ohne Berta davon wissen zu lassen, zweifelte ich nun selbst, ob es eine gute Idee sei, meine Suche so kurz vor dem Winter zu beginnen.

*

Das Abendessen war zugleich mein Abschiedsessen und Jörg hatte sich besondere Mühe gegeben. Ohnehin ein vorzüglicher Koch, zeigte er noch einmal seine ganze Kunst. Wie immer saßen wir gemeinsam im Speisesaal der Burg: mein Vater an der Stirnseite, rechts von ihm meine Schwester und Ubu der Stallknecht, links Jörg und ich. Die meinem Vater gegenüberliegende Seite des Tischs blieb leer. Dort war der Platz meiner Mutter.

Jörgs Rehbraten in Pilzsoße war makellos. Die Pilze hatten Berta und ich im nahen Wald gesammelt. Dazu gab es gebratene Forellen, frisch gebackenes Roggenbrot und kleine Eierkuchen mit Pflaumenmus. Vater hatte einen besseren Wein als gewöhnlich auf den Tisch stellen lassen. Als ich mir mehr von dem köstlichen Rehbraten nahm, merkte ich, dass mir der Wein rascher als gewohnt zu Kopf stieg und ich mich kaum noch darauf konzentrieren konnte, was mein Vater erzählte. Er nutzte unser letztes gemeinsames Mahl, mir noch einmal Ratschläge für die bevorstehende Reise zu erteilen:

Statt eines Schwertes sollte ich nur einen Jagddolch mit mir führen, der sei leichter und vielseitiger. Obst und rohes Gemüse sollte ich nur selbstgepflückt oder eigenhändig abgewaschen verzehren, denn ein verdorbener Magen sei auf Reisen verheerend. Die Goldmünzen sollte ich an mindestens drei verschiedenen Orten verstauen und Räubern bei einem Überfall nur den kleinsten Sack aushändigen. Sich mir anschließende Reisegefährten sollte ich mir sehr genau ansehen und überhaupt am besten möglichst meiden, denn Räuber und Diebe erkenne man nicht immer an ihrem Aussehen. Wenn ich nach einem Nachtlager fragte, solle ich nicht unbedingt das größte Haus im Dorf auswählen, da Reichtum oft geizig mache. Großzügige Menschen hätten keine Hofhunde oder wenn, dann seien diese friedlich. Nur Geizhälse wollten sich mit einem Kläffer ungebetene Gäste vom Leibe halten. Seine Ratschläge vermischte er immer wieder mit uns längst bekannten Reiseanekdoten.

Ich nickte, ohne ihm genau zuzuhören und nahm mir noch mehr von dem Wein.

Berta und Ubu interessierten sich ebenfalls wenig für die Ratschläge und Erinnerungen meines Vaters und unterhielten sich stattdessen über das Pferd meiner Schwester, welches seit einigen Tagen einen entzündeten Vorderhuf hatte.

Jörg hingegen widmete sich ganz dem Essen. Er bevorzugte es ohnehin, dass seine aufwendigen Kochkreationen schweigend und konzentriert genossen wurden. Es war ihm ein Gräuel, wenn wir kaum darauf achteten, was wir uns gerade in den Mund schoben.

Ohne dabei auf seine Worte zu achten, betrachtete ich meinen Vater. Er war noch immer eine eindrucksvolle Erscheinung, doch seine Schultern und Arme wirkten weniger kräftig als früher und mir schien, als ob sein Bart nach dem Verschwinden meiner Mutter noch grauer schimmerte.

Während mein Vater von einem Jugendabenteuer in einem fernen Gebirgszug tief im Osten des Reiches erzählte, bei dem er sich dank seines Pferdes vor dem Erfrieren retten konnte, dachte ich an meinen Besuch in der nahen Stadt. Ich hatte dort vor einigen Tagen gemeinsam mit Berta die letzten Bestellungen für meine Reise abgeholt: Einen leichten, aber warmen Wollmantel in einem dunklen Grünton, den ich sowohl ob seines guten Schnitts als auch wegen seiner Unempfindlichkeit gegen Schmutz und seiner Unauffälligkeit ausgewählt hatte. Meine Schwester hatte die Gelegenheit genutzt, für sich ein neues Kleid zu bestellen, welches noch vom Schneider angepasst werden musste. Während der Schneider die letzten Änderungen vornahm, ging ich meine neuen Reisehandschuhe abholen.

Das Geschäft des Handschuhmachers befand sich in einer schmalen und unauffälligen Gasse der Stadt. Niemand kam hier zufällig vorbei. So unscheinbar Laden und Werkstatt von außen aussahen, so überraschend groß und eindrucksvoll waren beide von innen. Der Meister saß an seinem Tisch und nähte an einem feinen Damenhandschuh. Auf dem Tisch saß eine Katze und schaute mich an. Ich war nicht sicher, ob ihr Blick Neugier oder Langeweile ausstrahlte. Gab es so etwas wie gelangweilte Neugierde? Es roch nach Leder. Ich mochte den Geruch und er schien etwas in mir auszulösen. Er machte mich weicher und empfindsamer.

Ich kannte den Handschuhmacher nur von den wenigen Besuchen in seinem Laden. So selten, wie meine Familie seine Dienste in Anspruch nahm, wäre es übertrieben von einer Vertrautheit zu reden, und doch fühlte ich eine Nähe und Verbundenheit. Er war noch älter als mein Vater und sein Kopf war vollkommen kahl. Seine Augen waren in dem faltigen Gesicht, unter den buschigen, vollkommen weißen Augenbrauen kaum zu sehen und schienen doch zu leuchten. Ich war bereits vor drei Wochen bei ihm, um die Bestellung aufzugeben, Maß nehmen zu lassen und ein passendes Leder auszusuchen. Die Katze hatte ich damals nicht bemerkt.

Meine neuen Handschuhe aus dem Regal holend, erkundigte er sich nach meinem Vater und meiner bevorstehenden Reise. Er kannte meine Mutter und wusste bereits von ihrem Verschwinden. Erneut lobte er die Schönheit ihrer Hände und wünschte mir viel Glück bei der Suche nach ihr. Die neuen Handschuhe passten hervorragend. Das Hirschleder war so weich und angenehm, dass ich sie gar nicht mehr ausziehen wollte und immer wieder an ihnen roch. Ich zahlte und wollte bereits wieder gehen, als er mich fragte, ob ich noch kurz Zeit hätte. Er wolle mir gern etwas zeigen. Und weil ich mir sicher war, dass Berta noch länger beim Schneider zubringen würde, stimmte ich zu.

Fast feierlich präsentierte er mir zwei Paar Handschuhe. Das eine Paar waren fein gearbeitete Fingerhandschuhe aus Ziegenleder mit farbig gestickten Verzierungen auf dem Handschuhrücken, das andere ein Paar grobe Fäustlinge aus Lammfell, wie Kutscher sie im Winter trugen. Der Meister ermutigte mich, beide anzuprobieren, und fragte mich dann nach meinem Urteil, welches das Bessere sei. Fragend blickte ich ihn an: ein edler Handschuh, der die Hand eines Königs schmücken könnte, und ein plumper Bauernhandschuh? Ungeduldig zeigte ich auf die Feinen und fragte ihn, was seine Frage bezwecke, die Antwort sei doch wohl klar. Der Meister lächelte und nahm mir beide Paare wieder ab. Fast zärtlich strich er über das Leder der Fingerhandschuhe:

„Ja, natürlich, dieser feine Ziegenlederhandschuh mit den Verzierungen und den fünf sauber gearbeiteten Fingern kostet mich mindestens drei Mal so viel Arbeitszeit wie dieser einfache Fäustling. Das Leder ist ebenfalls deutlich teurer. Und so verkaufe ich ihn auch für einen vielfachen Preis. Doch nun sag mir, welchen Handschuh du lieber hättest, wenn du im Winter den ganzen Tag draußen bist und dir Schnee und Wind um die Ohren pfeifen?“ Ich nickte verständig und dachte zugleich, dass ich schon daheim genug Ratschläge bekäme und nicht noch mehr davon brauchte. Doch der Meister ließ mich immer noch nicht gehen. Er blickte mich prüfend an und fragte, ob ich schon mal darüber nachgedacht hätte, warum Urin gelb sei; selbst wenn man den ganzen Tag klares Wasser trinke. Ich schüttelte den Kopf und wollte nun wirklich lieber gehen. Ich hatte die Klinke bereits in der Hand, als er mich noch fragte, ob ich schon einmal probiert hätte, einen Kopfstand zu machen und dabei ein Glas Wasser zu trinken. Ich solle es mal versuchen, auf meiner Reise hätte ich ja genug Zeit darüber nachzudenken. Vielleicht auch darüber, warum man selbst auf dem Rücken liegend pinkeln könne. Das sei doch wohl eigentlich nicht möglich, da alle Flüssigkeiten immer von oben nach unten flössen. Als ich ihn fragend anblickte, lächelte er kaum merklich und es schien mir, als ob mich auch seine Katze nun spöttisch musterte. Ihr Blick verunsicherte mich. Rasch verabschiedete ich mich und versprach, über seine Fragen nachzudenken.

*

Erneut bemühte ich mich, meinem Vater für einen Moment zuzuhören. Er erklärte mir gerade, dass es wichtig sei, nicht in Gräben zu übernachten, da sich die Feuchtigkeit dort sammle und dies schlecht für die Gelenke sei. Nur bei Sturm könne man von dieser Regel abweichen, da dann die Vorteile überwögen.

Ich schenkte mir vom Wein nach und dachte über die Fragen des Handschuhmachers nach. Vermutlich würde ich bei Aristoteles Antworten dazu finden. Ich erinnerte mich, wie erschrocken ich war, als ich einst als Kind nach einer Rote-Beete-Suppe draußen vor der Burg in den Schnee gepinkelt hatte. Der rote Urin hatte mich zum Weinen gebracht, denn ich dachte, ich würde innerlich verbluten. Ich nahm mir vor, morgen früh darauf zu achten, ob sich die Farbe des Urins auch veränderte, nachdem man große Mengen Rotwein getrunken hatte. Der Wein war kräftig und seine Farbe dunkler als Blut. Ich wurde immer betrunkener und verlor endgültig meine Geduld für weitere gute Ratschläge und seltsame Fragen.

Endlich bemerkte dies auch mein Vater. Er räusperte sich und meinte, es sei nun wohl an der Zeit, schlafen zu gehen. Morgen früh würde er sich von mir verabschieden. Damit stand er auf und ging in sein Zimmer. Sein Gang schien mir schwerer als gewöhnlich. Bevor er zu Bett ging, schrieb er oftmals noch an seinem Vogelbuch, allerdings nie lange, da er es für Verschwendung hielt, dafür zu viele Kerzen zu verbrauchen. Er hatte sich vorgenommen, den ersten vollständigen Überblick über alle Vogelarten im Reich zu verfassen, und arbeitete an diesem Vorhaben bereits mehrere Jahre. Berta und ich waren von seinen Studien weniger überzeugt, da er dazu immer wieder Vögel einfing und gelegentlich auch tötete. Achselzuckend meinte er dann, schließlich sei es ihm nur so möglich, im Dienste der Wissenschaft die besonderen Merkmale jeder Art genau zu beschreiben. Es erschien uns als ein seltsamer Widerspruch, Vögel zu lieben und doch nicht davor zurückzuschrecken, seltene Exemplare gelegentlich zu töten.

Nachdem Ubu und Jörg das restliche Essen abgeräumt und sich anschließend ebenfalls in ihre Kammern zurückgezogen hatten, blieben nur Berta und ich allein an der Tafel zurück. Scheinbar unbeteiligt saß sie mir gegenüber. Ich wusste, dass sie es mir übelnahm, mich nicht bei der Suche begleiten zu dürfen. Wir hatten in letzter Zeit oft darüber gestritten. Unseren letzten gemeinsamen Abend wollte ich gern versöhnlich mit ihr ausklingen lassen, auch wenn mir der Wein bereits schwer zu schaffen machte.

Berta war zwei Jahre jünger als ich; in den letzten Jahren war sie jedoch in Vielem eher wie eine große Schwester. Zum einen war sie für eine Frau erstaunlich groß gewachsen, zum anderen liebte sie es, über Dinge zu bestimmen und Verantwortung zu übernehmen. Seit dem Verschwinden unserer Mutter war dies noch ausgeprägter. Erst jetzt fiel mir auf, dass sie an diesem Abend keine Haube trug und ihre dunkelblonden, leicht lockigen Haare frei auf ihr grünes Hauskleid fielen. Unser Vater sah das nicht gern. Sie kam allmählich in das Alter, in dem sie sich einen Bräutigam suchen sollte. Auf den wenigen umliegenden Burgen gab es allerdings kaum Männer im heiratsfähigen Alter, und die Söhne der Kaufleute in der Stadt kamen für sie nicht infrage. Sie meinte, die meisten von ihnen könnten nicht mal vernünftig reiten oder einen Bären erlegen. Und nur weil jemand ein wenig Latein könne, sei er noch lange nicht gebildet oder gar interessant.

Wir saßen uns schweigend gegenüber. Gern hätte ich an unserem letzten Abend etwas Feierliches und Bedeutendes gesagt, aber ich wusste nicht, wie ich beginnen sollte, und so blickten wir einander nur über den Tisch hinweg an. Wir hatten beide dieselbe grau-grüne Augenfarbe. Manchmal, wenn ich in Bertas Augen schaute, bekam ich das Gefühl, mir selbst in die Augen zu sehen. Gelegentlich hatten wir uns früher zur Aufgabe gemacht, die Gedanken des Anderen zu erraten. Das war uns erstaunlich oft gelungen, und auch jetzt schienen wir genau zu wissen, was der Andere gerade dachte. Es war kein verlegenes, sondern ein vertrautes Schweigen. Irgendwann beendete ich es trotzdem und sagte, dass es heute schön mit ihr am See gewesen sei und dass ich sie vermissen würde. Sie nickte und lächelte ihr Berta-Lächeln, das alles bedeuten konnte. Dann bat sie mich kurz zu warten, denn sie habe noch ein Geschenk für mich. In der Zwischenzeit trank ich den verbleibenden Wein aus meinem Becher.

Das Esszimmer war der prunkvollste Raum der Burg. Der Boden war mit Fellen ausgelegt und auch die Wände zierten die Felle erlegter Hirsche und Bären. Zu jedem davon gab es eine Jagdgeschichte, die Vater uns mehr als einmal zum Besten gegeben hatte. Heute erschien mir der Raum trotzdem seltsam kahl. Fast so, als ob etwas fehlte. Dann erschien Berta mit ihrem Geschenk. Sie überreichte mir ein feines Wollhemd. Sie sagte, sie habe es selbst genäht und hoffe, dass es mich nicht nur wärmen, sondern auch beschützen würde. Ich probierte es sogleich an. Es passte ganz wunderbar; wie eine zweite Haut. Als ich sie dankend umarmte, kamen mir Tränen in die Augen. Verlegen zur Seite blickend erklärte ich, dass der Kaminrauch heute wohl stärker als sonst sei. Nach der Umarmung hielt sie meine Hand weiterhin fest und blickte mich ernst an: „Baldur, meiner Liebe kannst du stets gewiss sein. Daher darf ich es sagen: Ich glaube, ich wäre besser geeignet, Mutter zu finden. Du bist ein guter Bruder und hast ein gutes Herz. Doch fehlt es dir an jenen Eigenschaften, die ein solches Unternehmen erfordert. Es ist weniger fehlender Scharfsinn und fehlender Mut als fehlende Aufmerksamkeit und Wachsamkeit. Du magst ein passabler Vogelbeobachter sein, ein guter Menschenbeobachter bist du nicht. Sonst hättest du sicher bemerkt, dass Mutters Verschwinden vielleicht gar nicht so überraschend war, wie es schien.“

Noch immer hielt sie meine Hand. Ich sah sie fragend an, doch sie gab mir nur einen Kuss auf die Stirn, drehte sich um und ging in ihre Schlafkammer.

Ich blickte ihr nach und stand anschließend allein im Gang. Derlei Unklarheiten mochte ich nicht. Was meinte sie damit? Ich überlegte, ob ich ihr hinterhergehen sollte. Aber ich war inzwischen so betrunken, dass mir nicht nur das Denken, sondern auch das Laufen schwerfiel. Mühsam ging ich in meine Kammer und legte mich aufs Bett. Ich konnte nicht die Augen schließen, ohne dass sich alles drehte. Daher hielt ich sie gewaltsam offen und starrte auf mein winziges Fenster, hinter dem sich hell und klar ein leuchtendgelber Mond zeigte. Ich dachte über Bertas Worte, Vaters Ratschläge und die seltsamen Fragen des Handschuhmachers nach. Dabei fiel mir auf, dass der Mond und Urin dieselbe Farbe hatten. Ich liebte diese Erkenntnis. Womöglich war ich der Erste, dem diese Gemeinsamkeit aufgefallen war. Zufrieden mit mir schlief ich ein.

*

Bei meinem Abschied am nächsten Morgen wollte keine feierliche Stimmung aufkommen. Mein Kopf schmerzte und die Morgenluft war kalt und feucht. Fröstelnd umarmte ich meinen Vater und Berta, schüttelte Ubu und Jörg die Hand, saß auf und ritt los. Nur noch einmal blickte ich mich um und winkte. Die vertraute Burg mit dem etwas schief hängenden Tor und dem nicht besonders hohen Turm, in dem Berta und ich als Kinder immer am liebsten gespielt hatten, wirkte im frühen Licht dieses Herbsttages malerischer als sonst. Ich war gerührt, wie Vater und Berta gemeinsam mit Ubu und Jörg vor dem Tor standen und mir nachschauten. Dabei bemerkte ich, dass mein Vater eher nach oben als zu mir blickte. Meinem Pferd Suri die Mähne streichelnd folgte ich seinem Blick und sah einen Turmfalken, der unseren Burgturm weiträumig umkreiste. Ich hoffte, er würde dort nisten und ein Weibchen finden. Bei meiner Rückkehr könnte ich dann vielleicht Turmfalkenjunge sehen.

Mehr als einmal hatte ich in den vergangenen Wochen mit meinem Vater und Berta besprochen, wo ich am besten nach Mutter suchen solle. Eigentlich gab es nur zwei Möglichkeiten: jenseits der Stadt im Westen oder im Süden, wo irgendwann die großen Berge kämen. Vater und Berta waren sich einig, dass sie nicht in den Norden oder Osten verschwunden sei. Zwar gab es auch dort, mehrere Tagesreisen entfernt, einige Siedlungen. Aber was sollte sie dort, in dieser kaum besiedelten unwirtlichen Gegend, und wer hätte sie dorthin entführen sollen? Da auch in der Stadt und näheren Umgebung jede Spur von ihr fehlte, hatte ich mich entschlossen, weit im Süden, wo die vielbereisten Handelswege und großen Städte lagen, nach ihr zu suchen. Dort lag allerdings auch das gewaltige Gebirge.

In den ersten Dörfern, durch die ich kam, hatte niemand meine Mutter gesehen und es gab auch keinerlei Hinweise auf ihren möglichen Verbleib. Weil die Bauern zu unserem Lehen gehörten und mich kannten, wurde ich stets gut aufgenommen und musste mir um Unterkunft und Verpflegung keine Sorgen machen. Am dritten Tag gelangte ich schließlich in eine Gegend, in der ich nie zuvor war. Lange ritt ich durch einen gewaltigen Buchenwald, der immer wieder von Feuchtmooren durchzogen war. Ich achtete darauf, nicht vom Weg abzukommen, und bereitete mich bereits darauf vor, im Wald mein Nachtlager aufzuschlagen, als ich Rauch riechen konnte. Ich folgte dem Geruch, auch wenn ich dafür den Hauptweg verlassen musste. So traf ich auf einen schmalen Pfad und musste bald gar absteigen und Suri am Halfter führen. Zweige und Dornen schlugen mir entgegen. Kurz erwog ich, zum breiten Weg zurückkehren, doch meine Neugier war größer als meine Furcht. Schließlich gelangte ich an eine Lichtung, auf der eine einfache Hütte aus Lehm und Holz und ein Stall standen. Am Ende der Lichtung sah ich einen Fluss, an dem ein Mädchen gerade Wäsche zu waschen schien. Alles wirkte noch ärmlicher als in den Dörfern, die ich bisher gesehen hatte. Ich nahm mir vor, nur nach meiner Mutter zu fragen und dann rasch weiterzureiten. Das Mädchen hatte mich erblickt und kam auf mich zu. Sie war kaum älter als ich und hatte ein schmales, schönes Gesicht. Ihr Haar war blond und ihre Haut von einer fast durchscheinenden Helligkeit. Noch bevor einer von uns etwas sagen konnte, kam eine ältere Frau, offenbar die Mutter des Mädchens, aus der Hütte. Beide waren in schmutzige Lumpen gekleidet, die sie allerdings mit mehr Kunstfertigkeit trugen als gewöhnliche Bauern. So hatte die Alte um ihr sackartiges verschlissenes Kleid einen feinen roten Gürtel gebunden, und die Füße des Mädchens steckten in ein paar echten Lederstiefeln, wie sie sonst nur wohlhabende Herren oder Kaufleute besaßen. Entweder hatte sie ungewöhnlich große Füße oder die Stiefel mussten ihr viel zu groß sein. Ich dachte unwillkürlich an die Ratschläge meines Vaters und überprüfte durch unauffälliges Tasten, ob mein Geldbeutel noch fest an meinem Gürtel hing. Die anderen Geldbeutel hatte ich in den Satteltaschen versteckt. Unwillkürlich blickte ich mich nach meinem Pferd um. Dieses schien die Pause zu genießen und graste in der Nähe des Flusses. Möglichst unauffällig prüfte ich, ob mein Dolch noch an der richtigen Stelle hing, und nahm mir vor, achtsam zu sein. Dann berichtete ich vom Verschwinden meiner Mutter.

Während ich erzählte, befühlte das Mädchen ungeniert meinen Umhang. Ich versuchte es zu ignorieren. Immerhin waren ihre Hände vom Waschen am Fluss weniger dreckig als die ihrer Mutter. Bis auf Worte des Bedauerns konnten sie mir keinerlei Hinweise zum Verbleib meiner Mutter geben. Allerdings meinte die ältere Frau, nachdem sie ihren Kopf mehrfach hin und her gewiegt hatte, dass ich doch auch noch ihrem Vater von meiner Suche erzählen solle, vielleicht wisse dieser ja mehr. Dann führte sie mich in die Hütte.

Dort war es so dunkel, dass ich anfangs gar nichts sehen konnte. Nur langsam erkannte ich die Umrisse einer Feuerstelle und einiger Schlafplätze. Über allem lag der Gestank von Rauch und Ziege.

Aus der Ecke vernahm ich ein Räuspern. Beim Nähertreten gab das Dämmerlicht allmählich einen alten Mann frei, der eine mit Federn verzierte Fellmütze trug. Um sein Gesicht deutlich zu erkennen, war es zu dunkel, jedoch schien es von tiefen Falten durchzogen und ich ahnte, dass der Mann sehr alt sein musste. Er hatte ein Schafsfell um die Schultern gelegt. Die Frau brachte mir einen Schemel, sodass ich mich ihm gegenüber hinsetzen konnte. Ich hätte mich lieber draußen unterhalten, denn ich hatte das Gefühl, in der Hütte kaum Luft zum Atmen zu bekommen. Immerhin war es warm und so legte ich meinen Reisemantel ab und ließ ihn auf meinen Schoß gleiten. Dabei achtete ich darauf, dass er nicht den vollkommen verdreckten Boden berührte.

Der Mann schien mich trotz der Dunkelheit genau zu beobachten. Noch immer schwieg er. Das Mädchen bot mir Ziegenmilch und einen Apfel an. Ich begann zu schwitzen. Den Mantel auf dem Schoß, in der einen Hand eine Holzschale mit Milch, in der anderen Hand den Apfel, fühlte ich mich zunehmend unwohler. Der Ziegengeruch war so stark, dass ich kaum noch klar denken konnte. Immer wieder blickte ich mich um, konnte aber keine Ziegen in der Hütte entdecken. Ich wollte so schnell wie möglich hier raus. Zum Glück war es so dunkel, dass niemand zu bemerken schien, wie unwohl ich mich fühlte. Endlich begrüßte mich der Großvater und erkundigte sich nach meinem Begehr. Seine Stimme klang rau und zugleich seltsam melodisch. Fast schien er in Versen zu sprechen. Im Gegensatz zu der Frau und dem Mädchen schien er ernsthaft zu überlegen, ob er meine Mutter gesehen hatte. Ich hätte ihn gern gefragt, ob er jemals die Hütte verließ, dies schien mir allerdings unpassend. Der Alte erzählte mir, dass sich hier im Frühling und Sommer gelegentlich Reisende in den nahen Sümpfen verirrten. Zuweilen fänden sie dann die Leichen oder ihre herrenlos umherirrenden Pferde. Eine Frau, auf die die Beschreibung meiner Mutter passen würde, hätten sie in den letzten Monaten jedoch nicht im Moor gefunden. Ich wollte meine Erleichterung darüber ausdrücken, brachte aber nur ein kratzendes Räuspern heraus. Der Ziegengestank wurde nun von einer Rauchschwade der offenen Feuerstelle übertönt. Kurz fürchtete ich ohnmächtig zu werden. Der Alte fuhr fort und sagte, dass er mir eventuell trotzdem weiterhelfen könne. Er erinnere sich, im Frühsommer eine Frauenstimme im Wald gehört zu haben. Den Geräuschen nach war die Frau mit einer kleinen Gruppe von Reitern unterwegs, gesehen habe er jedoch niemanden. Aber es sei ein für die Jahreszeit ungewöhnlich kalter und nebliger Tag gewesen, deswegen war er ernstlich besorgt, dass die Reisegesellschaft sich im Moor verirren könnte. Diese hätten jedoch auf seine warnenden Rufe nicht reagiert, sondern seien in hohem Tempo weitergeritten. Sich über sein hageres Kinn streichend ergänzte er, es habe nach einer Gruppe von vier oder fünf Reitern geklungen, und er hätte sich gewundert, warum sie wohl bei Nebel in so großer Eile durch den Wald ritten; ganz im Gegensatz zu den wenigen Händlern, die den Weg gelegentlich entlangreisten und selbst bei guter Sicht stets mit großer Vorsicht darauf achteten, nicht vom rechten Weg abzukommen. Der Alte strich sich noch einmal über das Kinn und nickte dann mehrmals mit seinem Kopf, was offenbar bedeuten sollte, dass er mir nicht mehr dazu sagen könne.

Das erste Mal hatte ich nun einen, wenn auch unendlich vagen, Hinweis auf meine Mutter erhalten und spürte Hoffnung, ja, fast Glück. Schließlich hätte der Alte mir genauso gut erzählen können, dass eine der Leichen im Moor meiner Mutter ähnelte, und das Mädchen würde nun womöglich ohne Scham und schlechtes Gewissen die Kette meiner Mutter mit den kleinen roten Edelsteinen tragen. Dann wäre meine Suche bereits hier beendet gewesen. So aber gab es eine erste, wenngleich schwache Spur. Die Nachricht gab mir neuen Mut und ich fragte, ob wir nicht draußen weiterreden könnten, denn schließlich sei es doch ein so schöner Herbstabend. Überraschenderweise hatte der Alte nichts dagegen und so nahmen wir alle vor der Hütte Platz. Gierig atmete ich die frische Abendluft ein. Die noch warme Ziegenmilch schmeckte mir gleich viel besser und die Kombination mit dem Apfel passte unerwartet ganz vorzüglich. Beim Hinausgehen fiel mir auf, dass sich das Mädchen trotz der großen Stiefel sehr anmutig bewegte. Sicher konnte sie gut tanzen. Ich stellte mir vor, wie sie sich auf einem Erntefest zum Klang der Trommeln mit erhobenen Armen drehen würde, nicht in diesen Stiefeln und Lumpen, sondern barfuß und in einem schönen Sommerkleid.

Nachdem ich mein Pferd abgesattelt hatte, stellten das Mädchen und ihre Mutter mir immer neue Fragen zum Leben auf der Burg und in der Stadt. Und obwohl ich selbst bisher kaum etwas von der Welt gesehen hatte, fühlte ich mich ihnen gegenüber zunehmend wie ein weitgereister und weltgewandter Mann. Besonders interessiert waren sie an allen Einzelheiten zum Alltag von Berta, sogar von unserem Tuchmacher in der Stadt musste ich ihnen erzählen und die Schnitte und Farben ihrer Kleider beschreiben. Dabei fiel mir erst auf, wie wenig ich über Frauenkleider wusste. Oftmals fehlten mir die passenden Worte. Vermutlich hätten die beiden diese ohnehin nicht verstanden. Auch zu unserem früheren Unterricht bei Bruder Matthias stellten sie zahlreiche Fragen. Sie zeigten sich sichtlich beeindruckt, als ich erzählte, dass ich sogar Latein lesen und schreiben konnte. Ich antwortete gern und ausführlich auf all ihre Fragen, denn ich spürte, wie das Mädchen mich immer bewundernder anblickte. Zusammen mit der warmen Ziegenmilch verursachte dies ein wohliges Gefühl nicht nur in meinem Magen.

Sobald die Herbstsonne hinter den Bäumen verschwand, wurde es feucht und kühl und Mutter und Großvater zogen sich alsbald in die Hütte zurück. Das Mädchen, ihr Name war Branka, hatte unterdessen Brot und Ziegenkäse aus der Hütte gebracht und so saßen wir zu zweit auf der Bank, blickten auf die dunkler werdenden Bäume und unterhielten uns. Möglichst unverfänglich fragte ich sie, woher sie denn die schönen Stiefel und ihre Mutter den feinen roten Gürtel hätte. Ganz ohne Scheu erwiderte sie, dass diese von armen Seelen seien, die sich im nahen Moor verirrt hätten. Es habe sie einige Mühe gekostet, die Stiefel von den schon steifen Füßen zu streifen und zu reinigen, aber wie ich sehen könne, habe es sich gelohnt. Ich lobte die gute Qualität des Leders und aß nachdenklich von dem Ziegenkäse.

Es war längst entschieden, dass ich die Nacht hier verbringen würde, und die Mutter hatte mir bereits eine Schlafstelle im Haus angeboten. Nun fragte ich Branka, ob ich vielleicht im Stall übernachten dürfe, denn ich wolle ihrer Familie nicht in der kleinen Hütte zur Last fallen. Ein Dach über dem Kopf und ein Platz im Stroh würden mir reichen, schließlich hätte ich ja meinen wärmenden Reisemantel. Sie nickte kaum wahrnehmbar und ich hatte den Eindruck, dass sie dabei verlegen wurde. Unser Gespräch wollte nun nicht mehr so recht in Schwung kommen und die abendliche Kälte tat ihr Übriges. Sie zeigte mir eine Stelle im Stall, wo ich ungestört von den Ziegen und Hühnern mein Nachtlager errichten konnte, wünschte mir eine gute Nacht und ging zurück zur Hütte. Während ich ihr nachblickte, stellte ich mir einmal mehr vor, wie sie wohl ohne die Stiefel laufen würde, und hätte zu gern ihre Füße gesehen.

Im Stall war es fast so kühl wie draußen, doch das störte mich nicht. Die durch die zahlreichen Ritzen hereinströ-mende Kälte war mir lieber als die stickige Luft in der Hütte, und das Stroh war trocken und sauber. Ich wickelte mich in meinen Reisemantel und dachte über den Tag nach: Eine erste Spur zu meiner Mutter, guter Käse und frisches Brot, ein Dach über dem Kopf und eine freundliche Unterhaltung mit einem gutherzigen und schönen Mädchen. Ich war zufrieden mit mir und dem Tag und fiel rasch in einen tiefen, traumlosen Schlaf.

Ohne zu wissen wie viel Zeit vergangen war, wurde ich durch ein Krabbeln zwischen meinen Beinen aufgeweckt. Ich vermutete einen Käfer und versuchte diesen mit den Händen fortzujagen. Unvermittelt berührte meine Hand jedoch eine andere Hand. In der vollkommenen Dunkelheit spürte ich, wie mein Herz schnell und hart zu schlagen anfing. Ich war zu schlaftrunken und zu überrascht, um mich geschickt zu wehren. Hastig griff ich nach meinem Geldsack. Schließlich ahnte ich, dass es Branka war. Ich spürte ihren warmen, nach Ziegenkäse riechenden Atem direkt über mir. Während sie rasch und geschickt unter meinen Mantel schlüpfte, sagte sie kichernd: „Du musst keine Angst um Dein Geldbeutelchen haben. Das interessiert mich nicht. Wir nehmen nur Sachen von Toten.“ Sie trug ein grobes Nachthemd und darunter spürte ich ihre warme Haut. Sie roch nach Schweiß. Es störte mich nicht. Ganz im Gegenteil: Der Geruch erinnerte mich an meine Kinderspiele mit Berta, wenn wir im Sommer Fangen gespielt hatten und ich sie endlich, nachdem wir beide ganz verschwitzt vom schnellen Laufen waren, zu fassen bekam.