Schau heimwärts, Engel. Band Drei - Thomas Wolfe - E-Book

Schau heimwärts, Engel. Band Drei E-Book

Thomas Wolfe

0,0
2,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

“Schau heimwärts, Engel” ist ein Roman von Thomas Wolfe aus dem Jahr 1929. Es ist der erste Roman von Wolfe und gilt als stark autobiografisch geprägte amerikanische Coming-of-Age-Geschichte. Es wird allgemein angenommen, dass die Figur des Eugene Gant ein Abbild von Wolfe selbst ist. Der Roman erzählt kurz das frühe Leben von Eugenes Vater, umfasst aber hauptsächlich die Zeitspanne von Eugenes Geburt im Jahr 1900 bis zu seinem endgültigen Auszug von zu Hause im Alter von 19 Jahren. Der Schauplatz ist eine fiktive Darstellung seiner Heimatstadt Asheville, North Carolina, die im Roman Altamont, Catawba, genannt wird. Die Beschreibungen von Altamont basieren auf Wolfes Heimatstadt Asheville, North Carolina, und die Beschreibungen von Menschen und Familie führten zu einer Entfremdung von vielen in seiner Heimatstadt. Obwohl der Roman oft als “sentimentale Geschichte des Erwachsenwerdens” angesehen wird, zeichnet er sich durch eine “dunkle und beunruhigende” Darstellung der Zeit aus, “voller Einsamkeit, Tod, Wahnsinn, Alkoholismus, familiärer Dysfunktion, Rassentrennung und einer zutiefst zynischen Sicht des Ersten Weltkriegs”. Die selten genannte, aber häufig angedeutete Infektionskrankheit Tuberkulose (Schwindsucht) wirft einen “Totenkopfschatten” über den Roman. Wolfe starb später an dieser Krankheit. Das Buch ist in drei Teile mit insgesamt vierzig Kapiteln gegliedert. Die ersten 90 Seiten des Buches befassen sich mit einer frühen Biografie von Gants Eltern, die sich sehr eng an die tatsächliche Geschichte von Wolfes eigener Mutter und seinem eigenen Vater anlehnt. Es beginnt mit der Entscheidung seines Vaters Oliver, Steinmetz zu werden, nachdem er die Statue eines steinernen Engels gesehen hat. “Schau heimwärts, Engel” ist die schonungslose Coming-of-Age-Geschichte eines jungen Mannes Anfang des 20. Jahrhunderts in den USA. Der Titel des Romans von Thomas Wolfe stammt aus dem Gedicht “Lycidas” von John Milton. Dies ist der dritte von drei Bänden.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 389

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



 

THOMAS WOLFE

 

SCHAU HEIMWÄRTS, ENGEL

EINE GESCHICHTE VOM BEGRABNEN LEBEN

 

 

ROMAN

in drei Bänden

 

 

Band Drei

 

Titel der amerikanischen Originalausgabe:

LOOK HOMEWARD, ANGEL! A STORY OF THE BURIED LIFE

 

 

Übertragen vonHans Schiebelhuth (1895-1944)

 

 

»Einst war die Erde wahrscheinlich ein weißglühender Ball wie die Sonne.«

Tarr and McMurry

 

 

Für A. B.

 

 

»Then, as all my soules bee,Emparadis 'd in you (in whom aloneI understand and grow and see),The rafters of my body, boneBeing still with you, the Muscle, Sinew, and Veine,Which tile this house, will come againe.«

 

 

 

 

 

SCHAU HEIMWÄRTS, ENGEL wurde im englischen Original (Look Homeward, Angel)) zuerst veröffentlicht von Charles Scribner´s Sons, New York 1929.

 

Diese Ausgabe in drei Bänden wurde aufbereitet und herausgegeben von

© apebook Verlag, Essen (Germany)

www.apebook.de

1. Auflage 2023

 

V 1.0

 

 

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über www.dnb.d-nb.de abrufbar.

 

 

Band Drei

ISBN 978-3-96130-548-3

 

Buchgestaltung: SKRIPTART, www.skriptart.de

 

 

Books made in Germany with

 

 

 

Bleibe auf dem Laufenden über Angebote und Neuheiten aus dem Verlag mit dem lesenden Affen und

abonniere den kostenlosen apebook Newsletter!

Du kannst auch unsere eBook Flatrate abonnieren.

Dann erhältst Du alle neuen eBooks aus unserem Verlag (Klassiker und Gegenwartsliteratur)

für einen kleinen monatlichen Beitrag (Zahlung per Paypal oder Bankeinzug).

Hier erhältst Du mehr Informationen dazu.

Follow apebook!

 

***

 

Thomas Wolfe

Schau heimwärts, Engel

 

BAND EINS | BAND ZWEI | BAND DREI

Klicke auf die Cover oder die Textlinks!

 

GESAMTAUSGABE

 

 

***

 

 

BUCHTIPPS

 

 

Entdecke unsere historischen Romanreihen.

Der erste Band jeder Reihe ist kostenlos!

 

DIE GEHEIMNISSE VON PARIS. BAND 1

MIT FEUER UND SCHWERT. BAND 1

QUO VADIS? BAND 1

BLEAK HOUSE. BAND 1

 

Klicke auf die Cover oder die Textlinks oben!

 

 

Am Ende des Buches findest du weitere Buchtipps und kostenlose eBooks.

Und falls unsere Bücher mal nicht bei dem Online-Händler deiner Wahl verfügbar sein sollten: Auf unserer Website sind natürlich alle eBooks aus unserem Verlag (auch die kostenlosen) in den gängigen Formaten EPUB (Tolino etc.) und MOBI (Kindle) erhältlich!

 

 

* *

*

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Inhaltsverzeichnis

Schau heimwärts, Engel. Band Drei

Impressum

An den Leser

Drittes Buch

I

II

III

IV

V

VI

VII

VIII

IX

X

XI

XII

XIII

Eine kleine Bitte

Buchtipps für dich

Kostenlose eBooks

A p e B o o k C l a s s i c s

N e w s l e t t e r

F l a t r a t e

F o l l o w

A p e C l u b

Links

Zu guter Letzt

An den Leser

Dies ist ein Erstlingsbuch, und der Verfasser beschreibt darin ein Geschehen, das, fremd und fern nun, einst seines eignen Lebens Anteil war. Sollte aus diesem Grund ein Leser behaupten, dies Buch sei autobiographisch, dann hat der Verfasser nichts zu entgegnen: – ihm scheint, daß alle ernsthafte Romanliteratur autobiographisch ist, daß man sich zum Beispiel schwerlich ein autobiographischeres Buch als »Gullivers Reisen« vorstellen kann.

Diese kleine Vorrede jedoch richtet sich hauptsächlich an die Personen, die der Verfasser in der hier abgehandelten Zeit gekannt hat. Ihnen möchte er etwas bestätigen, was sie, wie er glaubt, bereits erkannt haben: Dieses Buch wurde in Unschuld und in der Nacktheit des Geistes geschrieben, und des Verfassers Hauptbestreben galt einer fülligen, lebendigen, intensiven Darstellung. Nun, da die Arbeit veröffentlicht wird, besteht der Verfasser darauf, daß dies Buch ein schöpferisches Werk ist, und daß es ihm fernlag, irgend jemanden zu porträtieren.

Aber wir sind die Summe aller Augenblicke unsrer Leben; alles, was unser ist, ist in ihnen; wir können dies nicht verbergen oder verhehlen. Wenn der Verfasser den Rohstoff des Lebens zu seinem Buch benutzte, so benutzte er nur, was niemand zu benutzen umhin kann. Die Romanschriftstellerei befaßt sich nicht mit Tatsachen schlechthin, sondern mit deren Auswahl, ihrer geistigen Verarbeitung und ihrer zweckvollen Einordnung. Dr. Johnson bemerkte, daß jemand eine halbe Bibliothek umblättern könne, um ein einziges Buch zu schreiben: so mag ein Schriftsteller die Hälfte aller Leute in einer Stadt »umblättern«, um eine Person für seinen Roman zu gestalten. Dies freilich ist nicht die ganze Methode, aber der Verfasser glaubt, daß es die ganze Methode veranschaulicht – in einem Buch, das aus einer mittleren Distanz zu den Dingen geschrieben wurde und ohne Groll oder bittre Absicht ist.

Drittes Buch

I

Eugene war nicht ganz sechzehn, als er auf die Universität zog. Er war damals annähernd zwei Meter groß und wog dabei kaum mehr als 120 Pfund. Er war fast nie krank gewesen, aber das schnelle Wachstum hatte sehr an seinen Kräften gezehrt. Er war ungestüm und heftig, aber sein Vorrat an Energie war bald erschöpft. Er ermüdete schnell.

Er war ein Kind, als er fortzog, ein Kind, das viel Schmerzliches und Schlimmes gesehn hatte und ein Phantast, ein Idealist geblieben war, ein Kind, das in der Schlüsselburg seiner Träume hauste. Zwar hatte er spotten und die Nase rümpfen gelernt, aber sein geheimes Leben blieb völlig unangetastet. Immer und immer wieder war er mit den grauen Tatsächlichkeiten des gemeinen Daseins in Berührung gekommen, seine grausamen Augen hatten keine einzige Gebärde mißdeutet, sein gepreßtes und bittres Herz hatte in ihm geglost wie ein Eisenbarren in der Schmiedesse, aber all die harterworbnen Einsichten zerschmolzen wieder im Licht seiner Phantasie. Zwar war er kein Kind mehr, wenn er nachdachte, aber wenn er träumte war er eines; und das traumselige Kind war es, das die Herrschaft über sein Wesen innehatte und behielt. Vielleicht gehörte er zu einer älteren, einfacheren Art Mensch, nämlich zu den Mythenschöpfern. Für ihn war die Sonne eine herrliche Lampe, die ihm den Weg zu großen Abenteuern erhellte ... Er glaubte an ein tapfres, heldisches Leben. Er glaubte an die seltnen Blumen des Zartsinns und der Menschlichkeit. Er glaubte an Schönheit und Ordnung und war überzeugt, daß er durch diese Mächte das Wirrsal des Daseins bannen könne. Er glaubte an Liebe, an die Güte und Reinheit der Frauen. Er glaubte an den Adel des Denkens und erwartete von sich selber, daß er, ganz wie Sokrates, nichts Niedriges oder Gemeines in der Stunde der Gefahr tun werde. Er stand im Überschwang seiner Jugend, so daß er glaubte, er könne nie sterben.

Vier Jahre später, als er die Universität absolviert hatte und seine Jünglingsjahre hinter ihm lagen, brannte der Kuß der Liebe und des Todes auf seinen Lippen ... und er war immer noch ein Kind.

Als es schließlich feststand, daß Gants Wille in der Sache unbeugsam war, sagte Margaret Leonard zu ihm:

»Dann also mußt Du Deiner Wege gehn, Junge, und Gott schütze Dich!«

Sie sagte das ganz ruhig. Dann sah sie einen Augenblick lang Eugenes lange, dürre Gestalt an, wandte sich feuchten Blicks ab und sagte zu John Dorsey Leonard:

»Kannst Du Dir noch den Burschen in Kniehosen vorstellen, der vor vier Jahren zu uns kam? Kannst Du es glauben?«

John Dorsey Leonard lachte verlegen, trübselig, leer.

»Man faßt es nicht«, sagte er.

Als Margaret sich wieder an Eugene wandte, war eine Leidenschaft in ihrer Stimme, wie er sie nie zuvor gehört hatte:

»Du nimmst ein Stück von unserm Herzen mit, weißt Da das, Eugene?«

Sie nahm seine zitternde Hand zärtlich in ihre schmalen Finger, Er senkte den Kopf, schloß die Augen.

»Wahrhaftig, Eugene«, sagte sie, »wir könnten Dich nicht mehr lieben, wenn Du unser eignes Kind wärst. Wir hätten Dich so gern noch ein Jahr bei uns behalten, aber nachdem das nicht sein kann, schicken wir Dich mit all unsern guten Hoffnungen fort. Ach, Junge. Du bist fein. Keine Faser ist an Dir, die nicht fein wäre. Und das Licht des Genius liegt hell auf Dir. Gott schütze Dich, die Welt gehört Dir!«

Diese stolzen Worte von Liebe und Ruhm waren Musik für ihn; strahlende Triumphvisionen zogen auf, und heiße Scham über seine verborgnen Wünsche brannte in ihm. Er war begehrlich, aber sein Herz schrak vor der Sünde zurück. Ein Tierschrei zwängte ihm die Kehle, jäh löste er seine Hand ans der ihren und fuhr sich an die Gurgel.

»Sie müssen nicht denken ...« stammelte er. »Ich bin ja nicht ...« Aber er konnte nicht weitersprechen. Alles in ihm drängte zur Beichte.

Später, als er von ihr weggegangen war, brannte der leise Kuß, der erste, den sie ihm gegeben hatte, wie ein feuriger Ring auf seiner Wange.

In diesem Sommer stand er Ben näher als je zuvor. Sie hausten zusammen im selben Zimmer in der Woodson Street. Lukas war nach Helenes Hochzeit nach Pittsburgh in die Westinghouse-Elektrizitätswerke zurückgekehrt.

Gant wohnte noch im alten Wohnzimmer, aber die übrigen Räume hatte er an eine muntre, grauhaarige Witwe von vierzig Jahren vermietet. Sie besorgte den Haushalt aufs beste; besondere, zärtliche Aufmerksamkeit aber schenkte sie Ben. Nachts fand Eugene die beiden unter den Reben auf der Terrasse; er hörte Bens ruhige Rede und sein kurzes, leises Lachen; er sah den Bogen, den Bens brennende Zigarette im Dunkel beschrieb.

Ben, der Stille, war noch stiller, noch mürrischer geworden. Seine Braue war tiefer, finsterer gerückt. Schweigsamer noch schlich er im Haus umher. Im Gespräch mit Eliza war er kurzangebunden und von bittrer Verächtlichkeit. Mit Gant unterhielt er sich überhaupt nicht. Sie grüßten einander, und das war alles. Und sahen sich dabei nicht in die Augen. Eine große Scham, die Scham zwischen Vater und Sohn, die geheimnisvolle Scham jenseits der Mutterschaft, die allen Männern die Lippen versiegelt, diese Scham hatte sie voreinander stumm gemacht.

Aber mit Eugene sprach Ben nun häufiger und mehr, als er je mit ihm gesprochen hatte. Nachts, vor dem Schlafengehn, lagen sie auf ihren Betten, lasen und rauchten, und all der Schmerz und die Bitterkeit von Benjamin Gants Leben brach in heftigen Anklagen durch. Ben fing mit verstockter Schwerfälligkeit zu sprechen an; langsam und stolpernd, ganz wie beim Lesen, brachte er die Worte hervor, aber seine Stimme wurde schneller und leidenschaftlich, wenn er ins Reden kam.

»Sie haben Dir wohl gesagt, was für arme Leute sie wären, was?« fragte er und warf den Zigarettenstummel weg.

»Ja«, sagte Eugene, »ich muß halt vorsichtig mit dem Geld umgehn.«

»Ah, bah!« lachte Ben fast lautlos und zog einen bittern Mund.

»Papa sagte mir, daß viele Studenten sich als Kellner oder so durchbringen. Vielleicht kann ich da auch Arbeit finden.«

Ben stützte sich auf den dünnen, behaarten Unterarm, wandte sich um und sah Eugene voll ins Gesicht. »Hör mal, Eugene!« sagte er streng. »Sei so kein verdammter Hanswurst! Du wirst jeden Cent nehmen, den Du von ihnen kriegen kannst!« verlangte er grimmig.

»Immerhin«, erklärte Eugene, »ich habe Grund, ihnen dankbar zu sein. Sie tun was für mich. Jedenfalls hängen sie mehr Geld an mich als an Euch andre.«

»Du Idiot!« Ben runzelte verächtlich und angewidert die Stirn. »Bildest Du Dir tatsächlich ein, daß sie das für Dich tun? Sie tun es für sich selber. Sie rechnen damit, daß etwas aus Dir wird, so daß sie eines Tages die Ehre dafür einheimsen können. Ohnehin hetzen sie Dich zwei Jahre zu früh ins Studium. Hör auf mich! Du nimmst jeden Cent, den Du von ihnen bekommen kannst. Wir übrigen Kinder haben ja nie was gekriegt, aber Dir gönn' ich von Herzen alles, was Dir zusteht. Verstanden? Mein Gott!« rief er wütend aus, »ihr Geld nützt keinem Menschen was; da haben sie's auf der Bank liegen, bis es verrottet. Nein, Eugene, wenn Du dort auf der Universität merkst, daß Du schlechter gestellt bist als die andern Studenten, dann schreibst Du dem Alten um mehr Geld. Verdammt nochmal! Hier im Städtchen hast Du den Kopf nie hochtragen können; also fang dort nicht damit an, daß Du auf die Gelegenheit verzichtest.«

Er zündete eine Zigarette an und rauchte in schweigsamer Verbitterung vor sich hin.

»Zur Hölle mit dem ganzen Betrieb«, knurrte er schließlich. »Wozu in Gottes Namen leben wir denn überhaupt?«

II

Eugene war allein, verzweifelt allein.

Aber die Universität war ein bezaubernder, ein unvergeßlicher Ort. Sie lag in dem Dorfe Pulpit Hill, ungefähr in der Mitte des großen Staats. Die Studenten reisten mit der Bahn bis zu der trübseligen Tabakstadt Exeter und fuhren von dort die 18 Kilometer mit dem Bus oder im Auto nach Pulpit Hill. Die Gegend, wellig mit Feld und Wald, war von einer rohen, großartigen Häßlichkeit. Aber die Universität lag herrlich in einer bukolischen Wildnis auf dem langgezognen Tafelberg, der sich steil aus dem flachhügligen Land erhob. Oben angekommen war man plötzlich am äußersten Ende der langen Hauptstraße, die anderthalb Kilometer lang zwischen Fakultätshäusern durchs Dorf zur Universität hinführte. Der zentrale Kampus war ein großer, welliger Parkrasen mit herrlichen alten Bäumen. Ein Karree von schönen, alten Backsteinbauten, kurz nach dem amerikanischen Freiheitskrieg errichtet, stand am äußersten Ende. Um diese Mitte gruppierten sich weitere Bauten in jenem üblen neo-hellenischen Stil, in dem man heutzutage, vermutlich aus pädagogischen Gründen, so gern Schulen ausführt. Und dahinter kam die dichte Waldwildnis: ihr Geruch wehte über den ganzen Ort; man spürte die Entlegenheit, den Zauber des Isoliertseins. Eugene verglich Pulpit Hill einem vorgeschobnen, von der Wildnis umlauerten Vorposten des alten Rom.

In dieser herrlichen Umgebung konnte ein junger Mensch behaglich und vergnügt vier üppige und träge Jahre zubringen. Da war weiß Gott Einsamkeit genug für mönchischen Fleiß, aber die romantische Atmosphäre hätte selbst einen Bücherwurm vom Studieren abgebracht. Die Studenten bummelten und genossen die Freiheit. Mit aller Energie, allem Enthusiasmus ereiferten sie sich für gesellschaftliche Angelegenheiten und die kleine Universitätspolitik. Sie stellten Sportmannschaften zusammen, gründeten Glee-Clubs, Diskussions-Clubs, Amateurtheater-Clubs. Und sie führten große Reden. Immer und überall redeten sie; sie standen unter den Bäumen und schwatzten, sie standen vor den efenüberwucherten Mauern und schwatzten, sie hockten auf ihren Buden und schwatzten. Sie schwatzten den ungegliederten, breiten, trägen, unaufhörlichen, reizvollen, gedankenlosen Schwatz, der in den alten Südstaaten zuhaus ist: – sie redeten großzügig und leichthin über Gott und den Teufel, über Philosophie und Mädchen, über Politik und Sport, über akademische Bruderschaften und nochmals über Mädchen ... o Gott ja! wie sie schwatzten, was für Reden sie führten.

Ehe sein erstes Studienjahr um war, hatte Eugene vier- oder fünfmal die Bude gewechselt. Am Schluß des Lehrjahrs hauste er allein in einem großen, kahlen Zimmer ohne Teppich. So zu wohnen war eine Seltenheit in Pulpit Hill, denn die Studenten lebten meist zu zweien oder zu dreien zusammen. In jenem Zimmer begann für Eugene eine räumliche, anfangs schwer zu ertragende Isolation, die ihm später zum unerläßlichen Bedürfnis des Körpers und Geistes wurde.

Eugene lebte in einer kleinen Welt. Aber die Schäden und Mißstände dieser Welt, mochten sie auch noch so unerheblich scheinen, erzeugten tiefgehende, verheerende Wirkungen in seinem Wesen. Er hatte keine Freunde; stolz und hochfahrend zog er sich in seine Zelle zurück, blindlings widersetzte er sich dem Gemeinschaftsleben, das ihn umgab.

In dem ersten, bittren und verzweifelten Herbst fing Eugenes Bekanntschaft mit Jim Trivett an.

Jim Trivett, Sohn eines reichen Tabakpflanzers aus dem Osten des Staates, war ein gutmütiges Rauhbein von zwanzig Jahren. Er war ein stattlicher Bursche, machte aber keinen gewinnenden Eindruck. Sein grober, vorgeschobener, dicklippiger Mund stand immer ein wenig offen und lächelte lose und leer; man sah seine schlechten Zähne; die Mundwinkel waren von Kautabakspeichel verschmiert. Er hatte hellbraunes, trocknes Haar, dessen widerspenstige Zotteln sich nie ordentlich legen ließen. Er zog sich auffallend an; nach dem billigen, furchtbaren Geschmack der damaligen Mode: – enge Hosenröhren, die drei Zentimeter über den Halbschuhen freiließen und heruntergerollte Socken bloßstellten; – langschößige Röcke mit einem Halbgürtel im Kreuz; – breite Umlegekragen aus gestreifter Seide. Unter dem Rock trug Jim Trivett einen Sportsweater mit den eingewirkten Nummern der höheren Lehranstalt, die er besucht hatte, ehe er auf die Universität zog.

Jim Trivett wohnte mit drei anderen Studenten aus seiner Vaterstadt zusammen in einem Lodging-House, ganz in Eugenes Nachbarschaft, etwas näher am Westtor der Universität. Die vier jungen Herren, die sich der Sicherheit und Kameradschaft halber zusammengeschlossen hatten, hausten in zwei unaufgeräumten, von kleinen gußeisernen Öfchen zu einer trocknen Backofenhitze überheizten Zimmern. Ständig trafen sie die ernsthaftesten Vorbereitungen zur Arbeit, aber sie schafften nie etwas. Man trat entschlossen ein, verkündigte, daß man auf morgen höllisch zu büffeln habe, richtete gemächlich die Bücher her, rückte die Lampe richtig, spitzte umständlich die Bleistifte, ging zu dem hochroten Öfchen und schürte tüchtig nach, rückte den Stuhl zurecht, setzte einen Augenschirm auf, putzte die Pfeife, stopfte sie, zündete sie an, zündete sie abermals an, leerte sie aus ... und hörte dann mit einem Seufzer der Erleichterung, daß jemand an die Tür klopfte.

»Rein in die gute Stube! Gott verdammt nochmal!« erschallte die gastfreie Aufforderung.

»Hallo, Eugene! Nimm 'nen Stuhl und setz Dich!« sagte Tom Grant. Er war ein dicker, vierschrötiger Kerl, gutmütig, dumm und träg; dichtes, schwarzes Haar über der niedern Stirn; auffallend angezogen.

»Habt Ihr geschafft?«

»Zum Teufel ja!« rief Jim Trivett. »Geschuftet hab' ich wie der Sohn einer Hündin.«

»Armer Junge, eines Tages wirst Du uns an Überarbeitung eingehn«, sagte Tom Grant und drehte sich langsam nach ihm um. Er schüttelte betrübt den Kopf und lachte: »Wenn Dein Alter wüßte, wie fleißig Du sein Geld verstudierst, verdammt noch mal, er bekäm' sicher 'nen Leistenbruch vor Aufregung!«

»Du kennst Dich doch mit dem Englischen aus, Langbein«, sagte Jim Trivett zu Eugene.

»Was er nicht weiß, kannst Du hinten auf 'ne Briefmarke schreiben'«, sagte Tom Grant.

»Ich muß 'ne lange Klausurarbeit machen, aber mir fällt weiß Gott nichts ein«, erklärte Jim Trivett.

»Warum sagst Du das mir?« fragte Eugene. »Soll ich sie Dir etwa schreiben?«

»Ja«, sagte Jim Trivett.

»Schreib Deine verdammte Arbeit selber«, sagte Eugene mit gemimter Härte. »Ich schreib sie Dir nicht. Aber helfen will ich Dir, wenn ich's kann.«

Tom Grant wandte sich an Eugene: »Sag mal, wann ziehst Du mit dem ›harten Knaben‹ nach Exeter, Langbein?« fragte er und blinzelte zu Jim Trivett, dem »harten Knaben«, herüber.

Eugene errötete; die Frage war ihm peinlich.

»Jederzeit, wann's ihm paßt«, erklärte er.

»Schau her, Langbein«, sagte Jim Trivett anzüglich grinsend. »Meinst Du das ernst oder ist es Bluff?«

»Ich sag Dir's ja, daß ich mitmache«, sagte Eugene ärgerlich. Er zitterte ein wenig.

Tom Grant schmunzelte schlau zu Jim Trivett hinüber.

»Das wird 'nen Mann aus Dir machen, Eugene«, sagte er. »Junge, dann wachsen Dir Haare auf der Brust.« Er lachte unbeherrscht vor sich hin, wackelte mit dem Kopf dazu, als schüttle er sich über einen heimlichen Gedanken.

Jim Trivetts loses Lächeln wurde anzüglicher, deutlicher.

»Herrje, sie werden dort denken, der Frühling wäre gekommen, wenn sie das Langbein sehn. Sie brauchen 'ne Leiter, um zu ihm 'raufzukommen.«

Tom Grant lachte feist und laut. »Sicher!« sagte er.

»Also wie steht's damit, Eugene?« fragte Jim Trivett unvermittelt. »Ist die Sache abgemacht? Samstag?«

»Paßt mir«, sagte Eugene.

Als er gegangen war, schmunzelten die beiden einander an. Durstig. Wohlgefällig. Die Verführer zur Unkeuschheit.

»Hör mal, harter Knabe«, sagte Tom Grant. »Du solltest es lieber nicht tun. Du bringst den Jungen auf Abwege.«

»I wo, es wird ihm nichts schaden, im Gegenteil, es wird ihm gut tun«, erklärte Jim Trivett. Er fuhr sich mit dem Handrücken über den Mund, grinste.

»'nen Augenblick«, flüsterte Jim Trivett. »Ich glaube, das ist das Haus.«

Sie standen in einer schmutzigen, unerleuchteten Seitenstraße fast am Rande der Stadt; ihre Füße raschelten im welken Laub. Es war drei Wochen vor Weihnachten. Sie waren ungefähr zwanzig Minuten gegangen, vom Zentrum der muffigen Tabakstadt weg durch herbstlich dumpfe, nebelkalte Straßen, schließlich einen ausgefahrnen Hügel hinunter, an Hütten vorbei, in denen armes, weißes Gesindel und Schwarze wohnten. Nun hielten sie vor einem zweistöckigen Holzhaus. Hinter heruntergelassenen Fensterblenden brannte Licht; ein gelber Widerschein glomm in die rauchige Luft hinaus.

»'nen Augenblick«, sagte Tim Trivett, »ich will mich erkundigen.«

Es kamen Schritte durchs welke Laub. Ein Schwarzer erschien vor ihnen.

»Hallo, John!« sagte Jim Trivett fast unhörbar.

»'nAwen', Boß!« sagte der Schwarze, schläfrig, ebenso leis.

»Wir suchen das Haus von Lily Jones«, erklärte Jim Trivett. »Sind wir da recht?«

»Ja, Suh«, sagte der Schwarze, »da sein es.«

Eugene lehnte an einem Baumstamm und hörte das leise Verschwörergeflüster an. Die Nacht war weit, lauernd und lauschend wie das böse Gewissen. Seine Lippen waren kalt und bebten, er klemmte eine Zigarette dazwischen. Ihn schauderte; er schlug den Mantelkragen hoch.

»Miss Lily, weiß sie, Sie kommen?« fragte der Schwarze.

»Nein«, sagte Jim Trivett. »Kennen Sie sich aus?«

»Ja«, sagte der Schwarze, »gehn Sie mit!«

Eugene wartete unter dem Baum. Jim Trivett und der Schwarze gingen ums Haus und pochten an die Hintertür.

Er wartete. Er sagte sich selbst lebwohl. Er spürte, daß er mit gezücktem Morddolch über seinem Leben stand. Er war unentwirrbar verstrickt. Ein Entrinnen gab's nicht.

Von drinnen waren schwache Geräusche gekommen, Stimmen, Gelächter, das heisere Kratzen eines alten Grammophons. Nun verstummten sie plötzlich. Das Haus schien aufzuhorchen. Einen Augenblick später ging eine Tür, Eugene hörte eine erstaunte Frauenstimme, die leise und verwirrt fragte: »Wer ist da? Wer?«

Gleich darauf kam Jim Trivett zurück und sagte: »Alles in Ordnung, Eugene. Komm, gehn wir 'rein!«

Jim Trivett gab dem Schwarzen ein Trinkgeld, dankte ihm. Eugene sah dem Schwarzen einen Augenblick in das breite, freundliche Gesicht. Es wurde ihm wärmer. Der dunkle Zutreiber hatte seine Arbeit willig und gern getan; über der gekauften, lieblosen Liebe lag der Schatten seines Wohlwollens.

Sie gingen stillschweigend ins Haus. Eine Frau hielt die Tür auf und riegelte ab, sobald sie eingetreten waren. Sie befanden sich in einer kleinen Diele; eine Lampe mit heruntergeschraubtem Docht brannte matt im Halbdunkel. Eine Holztreppe führte zum zweiten Stock hinauf. Rechts und links waren Türen in die Zimmer des Erdgeschosses. Ein abgetragner Herrenfilzhut hing auf dem langen Kleiderhaken.

Jim Trivett umarmte die Frau sofort, grinste, knutschte ihr die Brüste.

»Hallo, Lily«, begrüßte er sie.

»Jesses!« sagte sie. Sie lächelte mit grobem Mund und sah Eugene neugierig von der Seite an. Dann sagte sie lachend:

»Barmherziger! Die Frau, die den da kriegt, muß ihm erst ein Stück von den Beinen abschneiden.«

Jim Trivett grinste. »Ich möcht' ihn mal mit der Thelma sehn«, sagte er.

Lily Jones lachte heiser. Die Tür rechts ging auf, und die kleine leichtgebaute Thelma erschien. Aus dem Zimmer schallte ein leeres, blödes Männerlachen. Jim Trivett umarmte Thelma.

»Jesses!« sagte Thelma mit blecherner Stimme. »Wen hast Du denn dabei?« Sie wandte Eugene ihr scharfgeschnittnes Vogelgesicht zu und musterte ihn unverschämt.

»Ich hab Dir 'nen neuen Verehrer mitgebracht«, sagte Jim Trivett.

»So 'nen Schlanken hast Du sicher noch nicht gesehn«, sagte Lily Jones unbeteiligt. »Wie lang bist Du eigentlich, Sohn?« fragte sie gutmütig.

»Ich weiß es nicht genau«, sagte Eugene. »Ungefähr zwei Meter.«

»Mehr!« erklärte Thelma entschieden. »Ein Lügenmaul will ich heißen, wenn er nicht zwei Meter zehn mißt.«

»Er hat sich halt seit 'ner Woche nicht gemessen«, sagte Jim Trivett. »Drum weiß er's nicht genau.«

»Und jung ist er«, sagte Lily und starrte Eugene an. »Wie alt bist Du, Sohn?«

Eugene wandte sein bleiches Gesicht ab, unentschieden.

»Wieso?« sagte er. »Ich werde schon ...«

»Er wird achtzehn«, sagte Jim Trivett ergeben. »Macht Euch keine Gedanken wegen ihm. Das alte Langbein da keimt sich aus. Er ist 'ne Bierkatze. Spaß beiseite, der weiß, wie man's macht.«

»Er sieht jünger aus«, sagte Lily. »Dem Gesicht nach hätt' ich ihn für fünfzehn gehalten. Aber hat er nicht wirklich 'n auffallend kleines Gesicht?«

»Es ist das einzige, das ich habe«, sagte Eugene ärgerlich. »Tut mir leid, daß ich es nicht für ein größres umtauschen kann.«

»Es wirkt komisch, weißt Du, so hoch da droben«, fuhr Lily träg fort.

Thelma gab ihr einen Rippenstoß und lachte heiser.

»Das kommt, weil er so ein langes Untergestell hat. Wenn er erst mal Fleisch und Fettpolster an dieses Knochengerüst kriegt, wird er ein Riesenkerl sein. Ja, ja, ein Riesenkerl wirst Du sein, Langbein, und ein Herzensbrecher erster Klasse, das prophezeie ich Dir.«

Sie nahm seine Hand und preßte sie. Der Fremde, das Gespenst in ihm, wandte sich gramvoll ab. O mein Gott, dachte er, ich werde mich erinnern.

»Also legen wir los!« sagte Jim Trivett. Er umarmte Thelma und tat verliebt mit ihr.

»Geh einstweilen nach oben, Sohn«, sagte Lily. »Ich komm in 'ner Minute 'rauf. Die Tür steht offen.«

»Wir seh'n uns später, Eugene. Mach's gut!« sagte Jim Trivett und legte dem Jungen gutmütig-rauh einen Arm auf die Schulter. Dann schob er mit Thelma ins Zimmer links.

Eugene ging langsam die knarrende Stiege hinauf und trat in das Zimmer, dessen Tür offen stand. Im Kamin brannte ein großes Kohlenfeuer, eine starre Glutmasse ohne Flamme. Er nahm Hut und Mantel ab und legte sie auf eine hölzerne Bettstelle. Dann setzte er sich in einen Schaukelstuhl. Er saß vornübergebeugt, die Glieder schmerzhaft gespannt und wärmte seine zuckenden Finger am Feuer. Es war kein Licht im Zimmer; beim Widerschein der Kohlenglut konnte er die häßliche, alte, abgenutzte Tapete erkennen. Er saß ganz still, aber von Zeit zu Zeit zitterte er heftig vor Schmerz. Warum bin ich hier? Es ist nicht mein Ich, was hier ist, dachte er.

Alsbald vernahm er den vollen Tritt der Frau auf der Stiege; Licht schwamm durch die Tür. Sie trat ein, stellte eine Lampe auf den Tisch, schraubte am Docht. Er konnte sie nun ganz genau sehn. Lily war eine Frau in mittleren Jahren, bäurisch breit und schwer gebaut, von einer ungesunden, schlabbrigen Weichheit. Ihr glattes, ländliches Gesicht zeigte kleine Fältchen um den Mund und um die Augenwinkel; es sah aus, als hätte sie viel in der Sonne gearbeitet. Sie hatte volles, schwarzes Haar, ihr Gesicht war ganz weiß gepudert. Sie trug ein frischgewaschnes, formloses Kleid aus buntem Kattun, ohne Gürtel. Sie sah wie eine Hausfrau aus, trug aber als Zugeständnis an ihren Beruf rote Seidenstrümpfe and rote, pelzverbrämte Filzpantoffeln, in denen sie mit plattfüßigem Schritt ging.

Sie schloß die Tür und trat zum Kamin, wo Eugene nun stand. Er umarmte sie mit fieberhaftem Verlangen, streichelte sie mit seinen langen, nervösen Händen. Er war unentschlossen. Er setzte sich wieder auf den Schaukelstuhl und zog sie unbeholfen auf seine Knie. Sie küßte ihn mit der spröden Kälte der Provinzhure, fast widerwillig, und wandte den Mund wieder weg. Sie schauderte, als seine kalten Hände sie berührten.

»Du bist ja eiskalt, Sohn. Was ist denn los?«

Rauh und verlegen, mit geschäftsmäßiger Betulichkeit versuchte sie ihn zu erwärmen. Dann stand sie ungeduldig auf und sagte:

»Fangen wir an! Wo ist mein Geld?«

Er drückte ihr zwei zerknitterte Banknoten in die Hand.

Dann legte er sich zu ihr. Er zitterte, nervös und impotent. Die Leidenschaft in ihm war erloschen.

Die Glutmassen im Kamin fielen zusammen. Das verlorne, strahlende Wunder starb.

Als er die Treppe runterkam, fand er in der Diele Jim Trivett, der Thelma bei der Hand hielt. Lily ließ sie stillschweigend aus dem Haus, nachdem sie vorher in den Nebel hinaus gespäht und gelauscht hatte.

»Verhaltet Euch still!« flüsterte sie. »Drüben auf der Straße steht ein Mann. Wir sind in letzter Zeit beobachtet worden.«

»Komm wieder, Schlankerchen«, sagte Thelma zu Eugene und drückte ihm die Hand.

Sie gingen leise davon, sie schwiegen. Es war nebliger geworden, die Feuchte schlug ihnen ins Gesicht.

Unter der Ecklaterne, als sie aus der Seitenstraße einbogen, atmete Jim Trivett herzhaft und erleichtert auf.

»Verdammt noch mal, Langbein«, legte er los, »was hast Du eigentlich mit dem Weib da oben getrieben?« Aber als er Eugene ins Gesicht sah, fragte er rasch, mit freundschaftlich besorgter Stimme: »Was ist los, Eugene? Ist Dir schlecht?«

»Augenblick! Gleich wieder gut!« sagte Eugene mit dicker Zunge.

Er ging zum Rinnstein und erbrach in die Gosse. Dann richtete er sich auf und wischte sich den Mund mit dem Taschentuch ab.

»Ist Dir besser jetzt?« fragte Jim Trivett.

»Ja. Wieder in Ordnung«, sagte Eugene.

»Warum hast Du nichts gesagt, daß es Dir übel war?« fragte Jim Trivett vorwurfsvoll.

»Es kam so verdammt plötzlich«, erklärte Eugene. »Mir scheint, ich hab heut abend in dem griechischen Restaurant etwas Unrechtes gegessen.«

»Mir ist der Fraß tadellos bekommen. Na, 'ne Tasse Kaffee, und der Bauch wird wieder in Ordnung sein«, bemerkte Jim Trivett freudig überzeugt.

Sie gingen langsam den Hügel hinauf. Das Licht der Ecklaternen lag starr auf den Fassaden der armseligen Häuser.

»Jim«, sagte Eugene nach einer Weile.

»Ja, was?«

»Sag niemandem was davon, daß mir übel geworden ist«, bat Eugene unbeholfen.

Jim Trivett sah ihn überrascht an.

»Warum denn nicht? Ist doch nichts dabei. Kann jedem passieren.«

»Das schon. Aber mir wärs lieber, wenn es unter uns bliebe.«

»So. Schon recht. Warum sollte ich auch. Also ich werd's Maul halten«, erklärte Jim Trivett.

Eugene wurde von dem verlornen Gespenst seiner selbst heimgesucht; er wußte um die Unwiederbringlichkeit. Drei Tage lang ging er allen Menschen aus dem Weg; ihm war, als trüge er das Mal seiner Sünde auf die Stirn gebrannt. Er spürte, daß ihn jedes Wort, jede Gebärde verriete. Seine Manieren wurden trotziger, sein Gruß unfreundlicher. Er schloß sich fester an Jim Trivett an, dessen Lob ihm ein trauriges Vergnügen bereitete. Sein ungestilltes Verlangen entbrannte aufs neue; es überrannte seinen Ekel vor der Sache; es umgaukelte ihn mit neuen Bildern. Am Ende der Woche fuhr er wieder nach Exeter, diesmal allein. An ihm sei nichts mehr zu verlieren, dachte er. Diesmal ging er mit Thelma.

Als er zu Weihnachten heimfuhr, wimmelten seine Lenden von schwarzem Ungeziefer. Das Land lag öd und riesenhaft unterm bleiernen Himmel. Der Zug rollte über das weite Hochland des Piedmont; es war Nacht; matt und fiebrig wie ein Kranker döste Eugene vor sich hin. Der Zug schnob ins Gebirg. Dunkel ragten die verschneiten, schwarzbeforsteten Berge. In seinen vereisten Ufern zog weiß ein Fluß durchs Tal. Eugenes Herz hob sich beim Anblick der ewigen Berge. Er war hier geboren! Aber als er in der Tagesfrühe mit den andern Studenten ausstieg, war er wieder niedergeschlagen. Die kleinen, billigen Häuser am Bahnhof kamen ihm gemeiner und näher vor als je. Der Berghang hinterm Bahnhofsviertel mit den winzigen, hochgepfropften Häusern war unnatürlich nah wie eine Vision. Der Stadtplatz schien während seiner Abwesenheit zusammengerückt zu sein, und als er aus der Trambahn ausstieg und nach Dixieland hinunterging, kam er sich vor wie ein Riese, der die Entfernungen der Spielzeugstadt mit seinen Schritten durchmißt.

Die Weihnachten waren grau und kalt. Helenes Wärme fehlte. Gant und Eliza vermißten sie sehr. Auch Lukas war nicht heimgekommen. Ben kam und ging wie ein Gespenst. Und Eugene war krank vor Scham über das Verlorne.

Er wußte nicht, wo er sich hinwenden sollte. Er ging nachts murmelnd in seinem kalten Zimmer auf und ab, bis Eliza im Hauskleid mit sehr bekümmertem Gesicht in der Tür erschien. Sein Vater war leiser, älter geworden; er war geistesabwesend und vergrämt. Gleichgültig erkundigte er sich bei dem Sohn über das Leben auf der Universität. Eugenes Kehle war wie zugeschnürt. Er stammelte ein paar verlegne Antworten und floh das Haus, floh vor der leeren Angst in Gants Augen. Er lief planlos herum, Tag und Nacht. Er versuchte, seiner Angst Herr zu werden. Er bildete sich ein, am Aussatz zu verfaulen. Und daß er unheilbar verseucht sei. Denn so hatten ihn die Moralisten in seiner Jugend unterrichtet.

Ziellos, planlos, verzweifelt lief er herum. Er war außerstand, seinen ruhlosen Gliedern Rast zu gönnen. Er schweifte über die Hänge der östlichen Berge, die hinter der Schwarzenstadt aufragten. Die Wintersonne kämpfte mit dem Nebel; drunten auf den Matten und hoch auf den Gipfeln lag das Licht auf der Erde wie Milch.

Er blieb stehen, blickte umher. Ein Hoffnungsstrahl drang in seine Geistesnacht. Ich werde zu meinem Bruder gehen, dachte er.

Er fand Ben in der Woodson Street, noch im Bett, rauchend. Er schloß die Tür, raste wild im Zimmer herum, wie ein gereiztes Tier im Zwinger.

»Bist Du verrückt geworden«, rief Ben wütend. »Was ist los mit Dir?«

»Ich bin – – krank«, keuchte er.

»Was ist los? Wo fehlt's? Wo bist Du gewesen?« fragte Ben scharf. Er richtete sich im Bett auf.

»Mit 'ner Frau«, gestand Eugene.

»Setz Dich mal, Eugene«, sagte Ben ganz ruhig nach einer Pause. »Sei doch so kein kleiner Blödel! Du wirst nicht dran sterben, weißt Du. Wann war es?«

Eugene platzte mit dem Geständnis heraus.

Ben stand auf und zog sich an.

»Komm«, sagte er. »Wir gehn zu McGuire.«

Als sie zur Stadt hinaufgingen, versuchte Eugene zu reden, wirre Erklärungen, gestammelte Rechtfertigungen vorzubringen.

»Es war so«, legte er selbstanklägerisch los, »weißt Du, wenn ich geahnt hätte, aber ich hatte doch gar keinen Begriff, natürlich, es war mein Fehler, ganz meine Schuld ...«

»Um Himmels willen!« fauchte Ben ungeduldig, »hör doch auf mit dem verdammten Gewäsch! Ich bin doch nicht Dein Schutzengel.«

Immerhin: trostreich die Nachricht, daß so viele Männer seit unsrer Austreibung aus dem Paradies damit geschlagen sind, sehr trostreich.

Sie gingen durch den weiten Korridor des Doctor's and Surgeon's Building. Die aufregenden, scharfen, medizinischen Gerüche. McGuires Wartezimmer war leer. Ben klopfte an die Innentür. McGuire öffnete, löste die nasse Zigarette, die ihm an der Lippe klebte, grüßte:

»Hallo, Ben!« bellte er. Er sah Eugene. »Hallo, mein Sohn. Seit wann bist Du zurück?«

»Er bildet sich ein, daß er an der galoppierenden Schwindsucht eingeht«, erklärte Ben mit einem Handschnicken. »Vielleicht können Sie was tun, McGuire, um sein Leben zu verlängern?«

»Wo fehlt's denn, Sohn?« fragte McGuire.

Eugene schluckte trocken, verrenkte den Hals.

»Kann ich Sie allein sprechen?« würgte er hervor. Er wandte sich verzweifelt an seinen Bruder. »Bitte, Ben, wart hier auf mich. Ich kann Dich nicht dabei haben.«

»Ich denk ja gar nicht dran, mit reinzukommen«, sagte Ben mürrisch. »Ich hab an meinen eignen Sorgen genug.«

Eugene folgte dem vierschrötigen McGuire ins Ordinationszimmer. McGuire setzte sich an den mit Papieren beladnen Schreibtisch.

»Setz Dich, Sohn«, befahl er. Er zündete eine Zigarette an. »So, und jetzt sag mir, was mit Dir los ist.« Er sah dem Jungen scharf in das verkrampfte Gesicht. »Vor allen Dingen, ruhig Blut, Junge! Vermutlich ist die Sache halb so schlimm, wie Du Dir vorstellst.«

»Es kam so«, fing Eugene leise an. »Ich habe einen Fehltritt getan. Ich weiß das. Und ich bin bereit, die Folgen auf mich zu nehmen. Ich will mich nicht mit Entschuldigungen herausreden.« Seine Stimme wurde schrill. Er war halbaufgestanden und schlug heftig mit der Faust auf den unaufgeräumten Schreibtisch. »Ich lade niemandem die Schande auf, ich mache keinem Menschen einen Vorwurf, verstehen Sie?«

Der Arzt sah den Patienten bestürzt an; die nasse Zigarette hing lose in seinen halbgeöffneten Lippen.

»Was soll ich verstehen?« fragte er. »Hör mal, Junge, wovon sprichst Du eigentlich? Weiß der Teufel, ich bin kein Sherlock Holmes, das dürfte Dir bekannt sein. Ich bin Dein Arzt: also sprich frei von der Leber weg!«

Der Junge antwortete mit bitter verzognem Gesicht.

»Was ich getan habe«, erklärte er dramatisch, »haben Tausende getan. Sie gestehn es bloß nicht ein. Aber es ist trotzdem wahr. Sie sind Arzt und wissen, daß es wahr ist. Leute aus der besten Gesellschaft sogar tun es. Ich bin einer von denen, die Pech haben. Ich bin reingefallen. Warum soll ich also schlechter sein als sie? Warum also ...«, fuhr er rhetorisch fort.

»Aha!« sagte McGuire. »Mir geht ein Licht auf! Laß mich mal die Sache besehn!«

Eugene gehorchte fieberhaft, immer weiter deklamierend.

»Warum soll ich das Brandmal tragen, wenn andre ungestraft ausgehn? Heuchler, verdammte, schmutzige, winselnde Heuchler, das sind sie! Sie messen mit zweierlei Maß! Wie soll man da an Ehre glauben? Wo bleibt da die Gerechtigkeit? Warum soll ich dafür angeklagt werden, wenn Leute aus der besten Gesellschaft ...«

McGuire hob den großen Kopf mit dem Kritikerblick und bellte komisch:

»Ei, wer klagt Dich denn an? Bildest Du Dir vielleicht ein. Du. wärst der erste, der sich was geholt hat? Außerdem fehlt Dir überhaupt nichts!«

»Können Sie mich kurieren?« fragte Eugene langsam.

»Nein, Du bist unheilbar, Sohn«, sagte McGuire. Er kritzelte ein paar Hieroglyphen auf den Rezeptblock. »Das bringst Du zum Apotheker«, sagte er, »und das nächste Mal gibst Du besser acht, mit wem Du Dich einläßt. Leute aus der besten Gesellschaft? So?« Er grinste. »Mit denen willst Du Dich amüsiert haben?«

Dem Jungen war ein Fels vom Herzen gehoben, ihm schwindelte vor Glück, er war toll vor Übermut. Er stieß wirre, unbewußte Worte hervor. Er öffnete die Tür zum Wartezimmer. Ben sprang nervös auf.

»Na, wie lang hat er noch zu leben?« Ernsthaft und leis aber fragte er den Arzt: »Nichts Ernstes, wie?«

»Überhaupt nichts«, sagte McGuire. »Aber ich glaub, er hat 'nen Sparren. Kein Wunder, Ihr habt ja alle einen.«

Als sie wieder auf die Straße traten, fragte Ben:

»Hast Du gefrühstückt?«

»Nein«, sagte Eugene.

»Wann hast Du zum letztenmal was zu Dir genommen?«

»Gestern irgendwann, ich weiß nicht mehr genau.«

»Du verdammter Narr!« knurrte Ben. »Komm, gehn wir essen!«

Der Vorschlag erweckte angenehme Vorstellungen. Herrlich lag die Welt da im milchigen Wintersonnenschein, Pulsierendes warmes Leben wogte durch die festtäglich bewegte Stadt. Eugene ging mit großen, hüpfenden Schritten an Bens Seite. Er konnte seine aufwallende Daseinslust kaum zügeln. Als sie um eine Straßenecke bogen, sprang er mit einem Freudenjuchzer in die Luft: »Squieh!«

»Du kleiner Idiot!« schalt Ben scharf, »Bist Du verrückt?« Er rückte die Brauen herunter, begegnete dem brüllenden Gelächter der Vorübergehenden mit einem dünnen Lächeln.

»Halt ihn fest, Ben!« rief Jim Pollock. Er war Übersetzer an der Zeitung, ein totenblasser, kleiner Mann mit schwarzem Schnurrbart, Sozialist.

»Wenn man ihm die verdammten langen Haxen abschneidet, dann geht er in die Luft wie ein Ballon«, sagte Ben.

Sie gingen in die große, neue Frühstücksstube und setzten sich an einen Tisch.

»'ne Tasse Kaffee und ein Stück Mince-Pie«, bestellte Ben.

»Dasselbe für mich«, sagte Eugene bescheiden.

»Iß!« befahl Ben wild, »iß!«

Eugene studierte nachdenklich die Speisekarte.

»Bringen Sie mir ein paar sanierte Kalbsschnitzel mit Tomatensauce und geröstete Kartoffeln dazu und eine Portion Gelberüben und Erbsen und einen Teller heiße Biskuits«, bestellte er. »Und eine Tasse Kaffee.«

Er fand sein Herz wieder. Den Rest der Ferien genoß er sehr. Er trieb sich hochgemut auf den Straßen herum, sah Frauen und Mädchen kühn aber ohne Frechheit an. Sie erschienen ihm wie unerwartete, mitten in der Winteröde aufgeblühte Blumen. Ein Feuereifer zum Leben erfüllte ihn. Er war allein. Er hatte keine Angst mehr, denn Angst ist ein Drache, der in der Menge und in Armeen haust. Er war über seine Verzweiflung hinweg. Er war zufrieden und hoffte, daß sein Kampf nicht umsonst sein würde.

Er fuhr auf die Universität zurück, gewappnet gegen den Hohn und die gemeinen Anpflaumungen seiner Mitstudenten. Er wußte zurückzuschlagen, und seine Hiebe saßen. Sie ließen ihn in Ruhe. Unbehelligt stand er am Fenster des Wagens und sah auf die weite, öde Erde hinaus, die grau in den Banden des Winters lag.

Der Winter ging vorüber, die frostige Erde taute auf. Kalter Regen fiel, grünes Gras sproß. Die Wege in der Stadt und auf dem Kampus waren aufgeweicht und schmutzig, schwammen von spiegelnden Wasserlachen. Mit großen Känguruhsprüngen kam Eugene die Pfade entlang gerannt; manchmal machte er einen Satz in die Luft, um mit den Zähnen einen herunterhängenden Zweig abzureißen. Er schrie! Ein helles, die Kehle sprengendes Wiehern war sein Schrei, ein Mensch- und Tierschrei, zentaurenhaft, in dem sich sein von Freude, Qual und Leidenschaft erfülltes Herz Luft machte. Und dann wieder kamen Tage, an denen er niedergeschlagen umherschlich, mit einer unnennbaren Trübsinnslast beladen.

Er rechnete nicht mit Stunden – er hatte überhaupt keinen Sinn für Zeit und Zeiteinteilung, keine regelmäßigen Fristen für Arbeit, Schlaf und Erholung. Seine Kurse besuchte er jedoch pünktlich; und er aß ziemlich regelmäßig, weil der Betrieb in der Studentenküche und im Boardinghouse ihn dazu zwangen.

Helene und Hugo Barton besuchte er mehrere Male. Sie lebten in der Hauptstadt des Staates, in Sidney, nur 50 Kilometer von Pulpit Hill entfernt. Sidney war eine Stadt von 30000 Einwohnern, verschlafen, mit baumbestandnen, stillen Straßen und einem Kapitolsplatz im Zentrum, von dem die Avenuen strahlenförmig ausgingen. Gegenüber dem Kapitol, am Ende der Hauptstraße, stand ein billiges Hotel, ein braunes, verwittertes, von Flechten bewachsnes Steinhaus: – das bekannteste Bordell in der Stadt. Außerdem gab es drei von Sekten gestiftete Hochschulen, in denen Frauen und Mädchen der speziellen Religionsauffassung ihrer Kirchen entsprechend herangebildet wurden. Die Bartons hatten drei oder vier Zimmer im Erdgeschoß eines alten Hauses gemietet, das in der Nähe des Gouverneurspalasts lag.

Sidney war die Stadt, zu der Gant als junger Mann auf seinem Zug in den Süden von Baltimore her gekommen war. Sidney war es, wo er zuerst selbständig sein Geschäft betrieb, wo er nach dem Verlust seines ersten Kapitals allen Bodenbesitz zu hassen angefangen hatte. Sidney war es, wo er seine erste Frau gefunden und geheiratet hatte, die heilige Cynthia, jene lungensüchtige, alte Jungfer, die nach zweijähriger Ehe starb.

Das große Gespenst ihres Vaters suchte sie heim; es schien für immer über dieser Stadt zu brüten. Sie gingen zusammen in das armselige Stadtviertel auf die Suche. Schließlich standen sie vor einem heruntergekommenen Schuppen, der einstmals eine Steinmetzwerkstatt gewesen war.

»Hier also muß es gewesen sein«, sagte sie. »Hier hat er sein Geschäft gehabt. Und nun ist nichts mehr davon zu sehn.« Sie schwieg eine Weile. »Der arme, alte Papa«, sagte sie dann. Feuchten Auges wandte sie sich ab.

Es war kein Zeichen von seiner großen Hand an dieser öden Stätte, in dieser schnöden Welt. Nicht einmal Reben rankten ums Haus. Was von Gant hier gelebt hatte, war begraben, war mit der toten Ehefrau zusammen verscharrt, war von der grauen Woge der Zeit verschwemmt. Sie standen da und schwiegen beklommen. Wie fremd der Ort war! Sie standen da, gläubigen Unglaubens in der Erwartung, seine große Stimme zu vernehmen, nicht anders als Menschen, die auf den Straßen Brooklyns nach einem Gott Ausschau halten.

Im April erklärte das Volk der Vereinigten Staaten dem Deutschen Reich den Krieg. Eh noch der Monat um war, wurden alle jungen Männer in Pulpit Hill, die über einundzwanzig und tauglich befunden waren, zum Heeresdienst eingezogen. Eugene sah zu, als die Ärzte in der Gymnastikhalle Musterung abhielten. Er beneidete die Jünglinge um die bedenkenlose Unschuld, mit der sie sich vor aller Augen auszogen: sie warfen ihre Kleider in ein Bündel zusammen und traten lachend und selbstsicher in ihrer Nacktheit vor die Ärzte: gutgewachsne, saubre Burschen, gesund und gelenkig, mit gesunden, weißen Zähnen.

Studenten, die in der Musterung für tauglich erklärt worden waren, kamen mit gepackten Handkoffern aus den alten Dormitorien herunter. Sie gingen über den großen Kampus, schritten fort unter den alten Bäumen, die Dorfstraße hinunter. Von Zeit zu Zeit streckten sie die Arme hoch zum Lebwohl:

»So lang, ihr Jungen! Auf Wiedersehn in Berlin!«

Das glänzende und trennende Meer schien nun näher und nicht so breit.

Eugene las sehr viel, – planlos und rein zum Vergnügen. Er las Defoe, Smollet, Sterne und Fielding: das feine Salz des englischen Romans, das unter der Herrschaft der Witwe von Windsor von einem Ozean verzuckerten Tees verschwemmt worden ist. Er las Boccaccio und alles, was von einem zerrissenen Band des Heptameron übrig war. Er las Aeschylos, Sophokles, Euripides. Er verliebte sich in die Welt der Fabulierlust, des Traumgesponnenen, Widerdachten und Freierfundnen vom »Goldnen Esel« bis zu Samuel Taylor Coleridge. Er begeisterte sich für Satiriker: Aristophanes, Voltaire, Swift. Er las »Sir Gawayne and the Grene Knight« und »The Book of Tobit«.

Er wollte Gespenster und Wunder nicht erklärt haben. Und er sehnte sich nach Gespenstern, nicht nach indianischen, sondern nach Geistern, die in Rüstungen umgehen, den Schemen alter Könige, den Spukgestalten der Damen von einst hoch zu Roß mit hohen konischen Hüten. Damals merkte er zum erstenmal, wie einsam das Stück Erde war, auf dem er wohnte. Und plötzlich erschien es ihm sonderbar, daß er da mitten in der Wildnis hockte und seinen geliebten Euripides las.

Um ihn war das Dorf, und darüber hinaus war die wellige, häßliche Gegend mit den vereinzelten Farmen, und darüber hinaus war Amerika – noch mehr Land, noch mehr billige, hölzerne Farmhäuser, noch mehr Städte: hart, häßlich und roh. Er saß da und las den Euripides, und ringsum war eine Welt von Weißen und Schwarzen, die von gebacknen Speisen lebte. Er las von dem alten Spuk, den alten Hexereien ... aber ging je ein altes Gespenst in diesem Lande um?

Plötzlich hatte er das vernichtende Gefühl von der Unbeständigkeit seiner Nation. Nur die Erde überdauerte, die gigantische, amerikanische Erde, die eine Welt windiger, fallsüchtiger Baulichkeit an ihren schreckhaften Brüsten trug. Nur die Erde überdauerte, diese breite furchtbare Erde, die von keinen Gespenstern heimgesucht war. Ach, verschollen in der Wüste, verschüttet, verweht, halbzertrümmert unter den geborstnen Säulen verlorner Tempel ... da war kein zerbrochnes Bild des Menkaura, kein Alabasterhaupt Echnathons. Nichts war aus Stein. Nur die Erde überdauerte, an deren einsamem Herzen er den Euripides las. In ihren Gebirgen hatte er, ein Gefangner, gehaust; auf ihren Ebnen wanderte er allein, ein Fremdling.

O Gott! O Gott! Wir sind Verbannte in einem andern Land gewesen und Fremdlinge in unserm eignen. Die Berge waren unsre Meister. Eh' wir noch fünf Jahre alt wurden, standen sie fest in unsern Augen, in unsern Herzen. Und alles, was wir sagen und tun, ist an die Berge gebunden. Unser furchtbares Land hat unsere Sinne genährt. Unser Blut pulst im Herzschlag Amerikas. O dieses Land, das wir verlassen, aber nie verlieren, nie vergessen können! Wir gingen auf einer Landstraße in Cumberland, wir mußten uns bücken, weil die Decke des Himmels so niedrig hängt. Wir flohen aus London und gingen an kleinen Flüssen entlang in einem Land, das gerade groß genug und nicht größer ist. Und nirgends, wo wir hinkamen, war Weite. Erde und Himmel waren eng und nah. Und der alte Hunger kam wieder, der dunkle, furchtbare Hunger, der den Amerikaner peinigt und heimsucht, dieser Hunger, der uns zu Haus zu Verbannten und überall sonst zu Fremdlingen macht

Im Frühjahr kam Eliza zu Helene nach Sidney zu Besuch. Das Mädchen war stiller, trauriger, nachdenklicher geworden. Ihr neues Leben hatte sie untergekriegt; in Sidney galt sie nichts. Sie vermißte Gant mehr, als sie eingestand. Und sie hatte Heimweh nach der Bergstadt.

Eliza sah sich kritisch um.

»Was zahlst Du für die Wohnung?« fragte sie.

»Fünfzig Dollar im Monat«, sagte Helene.

»Möbliert?«

»Nein, wir mußten uns Möbel kaufen.«

»Ich will Dir was sagen, Kind, das ist schön teuer. Und bloß fürs Erdgeschoß. Daheim sind die Mieten billiger.«

»Ich weiß, daß es ziemlich teuer ist. Aber um Gottes willen, Mama, bist Du Dir denn klar darüber, daß wir hier im vornehmsten Stadtviertel wohnen? Zwei Straßen weiter steht der Gouverneurspalast! Und Mistress Matthews ist keine gewöhnliche Vermieterin, nein, gewiß nicht!« rief sie lautlachend aus. »Sie ist eine wirkliche, große Dame. Zu allen wichtigen Anlässen wird sie eingeladen. Ihren Namen und ihr Bild kannst Du jederzeit in der Zeitung unter Gesellschaftsnachrichten finden! Und Du weißt doch. Hugo und ich müssen Aufwand treiben. Hier ist er ein junger Mann, der gerade anfängt!«

»Ja! Ja, ich weiß«, sagte Eliza nachdenklich. »Wie lassen sich denn seine Geschäfte an?«