Schaukler - Selma Mahlknecht - E-Book

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Selma Mahlknecht

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Beschreibung

Hans ist ein uneheliches Kind, im Dorf als Krüppel und Schandbub verschrien. Er muss mitansehen, wie Freunde zum Krieg einrücken, Faschisten und Nazi-Bonzen die Bevölkerung terrorisieren und seine Mutter einen von ihnen heiratet. Doch Hans, der Malermeister wird, erlebt auch, wie sich das Dorf nach und nach wandelt, wächst und weltoffener wird. Trotzdem kann auch der steigende Wohlstand die Ungleichheit nicht beseitigen.

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Schaukler

Selma Mahlknecht

Selma Mahlknecht

Schaukler

Roman

Die Geschichten sind erfunden, die Geschichte ist wahr.

PrologDas Labyrinth

„Waren es Meister?“

Es ist ein warmer Apriltag im Jahr 2023. Ich sitze im Büro von Leo Andergassen im Schloss Trauttmansdorff in Meran. Der renommierte Kunsthistoriker hat wenig Zeit, aber ich habe versprochen, mich kurz zu fassen.

Meine Frage scheint ihn zu erstaunen.

„Wie meinen Sie das?“

„Die Maler der Fresken. Waren es Meister? Die Bilder wirken doch so stümperhaft. Die schablonenhaften Gesichter, die falschen Proportionen – die Hände passen doch gar nicht zum Körper.“

„Weil Sie mit heutigen Augen darauf schauen. Aber Sie müssen verstehen: Eine Hand ist eine Hand ist eine Hand.“

Es ist dieser Satz, der mit einem Schlag den Knoten löst. Seit Wochen habe ich mich nun schon mit den geheimnisvollen Fresken der kleinen Prokuluskirche in Naturns beschäftigt. Die Geschichte ihrer Freilegung gelesen, mich mit ihrer Deutung befasst. Ich weiß von der versetzten Tür und von den beiden Entstehungsphasen, die man an der unterschiedlichen Farbgebung ablesen kann. Der Triumphbogen mit seinen dunklen Engeln und den nur noch fragmentarisch erhaltenen Figuren war zuerst da – womöglich entstanden seine Malereien zeitgleich mit den Fresken des Altarraums, die jedoch verloren gingen. Heute sehen die Farben verwaschen schwarz-türkis-rot aus, doch ursprünglich waren sie wohl satter und strahlender. Erst in einem zweiten Schritt wurde der restliche Raum ausgemalt, und die Farbpalette wechselte zu erdigen Tönen: Ocker, Rot, Grau, Weiß.

Das also ist er, der Figurenreigen von Weltruf, der ganze Bücher füllt, gemalt auf drei Wände und einen Triumphbogen. Zwar gibt es in der Kirche noch andere Fresken, jüngeren Datums, doch diese haben nicht annähernd so viel Staunen und Rätselraten hervorgerufen wie jene, die sich um den bekannten „Schaukler“ gruppieren. Er selbst, der Schaukler, mittlerweile recht sicher als Prokulus identifiziert, hängt mit unergründlichem Lächeln in den Seilen, während seine Hände ins Leere greifen.

„Die konnten das früher eben nicht besser“, so hatte ich mir das als Kind erklärt. Denn wieso sollte man solche ungeschickten Malereien anfertigen, wenn man es auch anders hätte machen können?

Und vor allem: Was um Himmels willen soll ich mit diesen Fresken anfangen, um mit ihrer Hilfe, so lautet mein Auftrag, die Naturnser Geschichte der vergangenen hundert Jahre zu erzählen?

Jetzt aber sagt Leo Andergassen „eine Hand ist eine Hand ist eine Hand“ und übergibt mir damit den Schlüssel, nach dem ich so lange gesucht habe. Es geht nicht um Genauigkeit. Sondern um Wahrheit.

Hinter den unbedarft anmutenden Figuren mit ihren seltsamen Proportionen und den maskenhaften Gesichtszügen liegt eine Dimension, die weit über den engen Raum hinausgeht, den sie – nein, eben nicht „schmücken“. Nichts an diesen Fresken ist „Schmuck“, auch nicht die beiden Labyrinthe, die, am Triumphbogen keltisch verknotet, an den drei Wänden mäandernd den Raum umfassen. Weit davon entfernt, reine Zierbänder zu sein, ziehen sie den Blick von der Zweidimensionalität in eine unerwartete, strudelnd abstürzende Tiefe. Sind sie als Gefängnis für böse Geister gedacht, die sich in diesen Labyrinthen verheddern? Oder sind es wir alle, die wir durch diese verschlungenen Pfade irren? Es entsteht jedenfalls ein bemerkenswerter Kontrast zwischen den Wirrwegen des Labyrinths und der unbeirrten Zielgerichtetheit der Tier- und Menschenfiguren, die alle in dieselbe Richtung streben, nämlich zum Triumphbogen hin und darüber hinaus – vom Physischen ins Metaphysische.

Hier ist sie, die Wahrheit, in schlichten Linien bestechend einfach offengelegt. Wir taumeln durch das Labyrinth unserer kleinen Menschenwelt, verirren uns in Höhen und Tiefen und streben doch zugleich unaufhaltsam auf die letzte große Schwelle zu, hinter der es kein Ende mehr gibt.

„Waren es Meister?“

Ich frage nicht mehr den Kunsthistoriker. Ich weiß jetzt, dass ich einen anderen Zeugen befragen muss. Doch um diesen zu treffen, muss ich ihm durch die Zeit entgegengehen.

Seine Welt liegt verschüttet unter den Schleiern und Schichten des modernen Dorfs mit seinen asphaltierten Straßen und Betonbauten, seinen elektrischen Lichtern und dem Getöse der Motoren. Ich muss ganz vorsichtig die modernen Häuser Stück für Stück fortnehmen, die Weinreben an ihren Säulen, die Apfelplantagen unter ihren Hagelnetzen aus der Erde herauslösen, die Schwimmbäder, die Seilbahnen und Zuggleise, die Denkmäler und Supermärkte verschwinden lassen, bis nur noch übrig sind: Hügel und Berg, Tal und Fluss. In den Höhen lasse ich den Wald um sich greifen, groß, dunkel, von Bären und Wölfen durchstreift. Und im Tal entfessle ich die Etsch: An- und abschwellend pumpt sie ihr Wasser über die sumpfigen Böden. Dazwischen, eingerahmt von Moor und Wald, liegt der schmale Streifen, den sich die Menschen bewohnbar gemacht haben. Auf den Hügeln kauern verstreut ein paar kleine Bauernhöfe und Burgen. Und dort, auf einem Schuttkegel auf der Sonnenseite, umgeben von Grabstätten, steht das kleine Kirchlein, das wir St. Prokulus nennen. Es gehört einer örtlichen Herrenfamilie, die schon den Altarraum und die Triumphpforte hat ausmalen lassen. Nun soll der restliche Kirchenraum auch noch Fresken erhalten. Die Maler kommen aus Oberitalien und sprechen eine frühe Form des Italienischen, das in vielem dem Romanischen ähnelt, das zu dieser Zeit auch hier, entlang dem oberen Lauf der Etsch, gesprochen wird. Man wird sich rasch einig. Und so beginnt die kleine Gruppe von Männern ihr Werk. Farben werden angerührt, Skizzen gefertigt, Schablonen aufgelegt. Auf diese Weise haben sie schon viele andere Kirchen ausgemalt, und sie ahnen nicht, dass nur diese Bilder hier, die nun unter ihren Händen entstehen, die Jahrhunderte überdauern werden.

Ich aber lasse ein Kind, vielleicht den halbwüchsigen Sohn der Auftraggeber, scheu und doch voller Neugier heranschleichen. Die Gesellen sind nicht viel älter als er selbst, und doch scheinen sie aus einer ganz anderen Welt zu stammen. Wie sie mit den Materialien arbeiten, den Kalk zum Köcheln bringen und mit wenigen Linien wundersame Geschichten auf die Mauern bannen – für den Knaben geradezu magische Vorgänge, Botschaften aus dem Ganzwoanders, das irgendwo hinter den Bergen liegt, vielleicht dort, wo der Fluss sich im Meer verliert.

„Sind es Meister?“, frage ich also das Kind. Und es sieht mich mit seinen ernsten Augen an und zögert nicht mit der Antwort.

„Nein. Engel.“

Die Herde(1923–1946)

Die lange Reihe der Hörner verliert sich in der Ferne. Eine gelbe, eine rote, eine graue Kuh, dann wieder eine gelbe, eine rote, eine graue und so fort. Schmunzelnd fügen sie sich in die lange Kette, an deren Spitze die Graue steht mit dem zusätzlichen Hornpaar, das sich auf ihrer Stirn verzweigt. Und neben der Leitkuh, sie überragend, der gelbe Hund mit der langen Zunge, Hüter der Herde. Vor ihm der Hirte, vor diesem ein Mann mit dem Stab. Kein Wunder, dass die Kühe zufrieden lächeln. Die Hierarchie ihrer Führer ist geklärt: Leitkuh, Hund, Hirte und Herr. In ihrem Schutz ist gut aufgehoben sein, in dieser klaren Ordnung der Welt.

Die Gehörnten

I

Der kleine Strauß bunter Papierblumen in der Mädchenhand zittert. Rosl hat jede einzelne Blüte mit Sorgfalt angefertigt, als Gabe für die liebe Muttergottes, die sie in der Lourdesgrotte im kleinen Kirchlein nicht weit von ihrem heimatlichen Hof verehrt. Doch als sie heute zur Kirche kommt, ist die Grotte herausgerissen und steht fremd unter dem Himmel, ebenso wie die Gebetbänke und der Altar. Viel lärmendes Volk macht sich in der Kirche zu schaffen.

Es ist das Jahr 1923. Längst ist die romanische Welt versunken, in der die Fresken entstanden. Jahrhundertelang lagen sie unter Übermalungen verborgen. In dieser Zeit änderte die ländliche Welt nur langsam ihr Gesicht – die romanische Sprache wurde vom Deutschen immer weiter in den Westen gedrängt, bis sie nur noch in einigen zerklüfteten Alpentälern der Schweiz überlebte. Der schmale Streifen menschlichen Lebens wurde zunehmend größer. Die Wälder wichen Almen, Äckern und Wiesen und verloren ihren Schrecken. Und selbst die Etsch, dieser wasseratmende Lindwurm, ist nun gezähmt und eingepfercht, „reguliert“, wie es heißt, dem menschlichen Willen unterworfen. Der langsame Strom der Zeit beginnt sich zu beschleunigen, und was zuvor in Jahrzehnten und Jahrhunderten geschah, wird jetzt in wenigen Jahren erzwungen. Die dreizehnjährige Rosl mit ihren vollen, roten Backen und dem blanken, immer ein wenig verwunderten Katzenblick hat noch nicht viel davon bemerkt. Jetzt aber, im Angesicht des aus seinem angestammten Platz herausgerissenen Altars und der umgestürzten Heiligenfiguren, die im Gras liegen, fährt ihr der Schmerz des Fortschritts in die Glieder. Ihre Finger schließen sich fester um den Papierblumenstrauß. Es ist nicht recht, was hier geschieht, das spürt Rosl mit jeder Faser ihres Körpers. Sie dreht sich um und läuft den schmalen Pfad zurück, den sie gekommen ist, hinauf zu ihrem Heimathaus, dem Sunnpichler Hof. Sie möchte ein großes Geschrei anheben, eine wilde Anklage gegen die Verletzung des Heiligsten, aber jeder Ton in ihrer Kehle erstirbt, als sie ihren Vater sieht, der mit großen Schritten aus dem Heustall kommt. Er ist ein untersetzter, düsterer Mann, der Sunnpichl-Bauer, der allen seinen Kindern die hellen blauen Augen vererbt hat, die seinem finsteren Gesicht einen seltsam eisigen Glanz verleihen. Rosl wagt in seiner Nähe kaum zu atmen. Wie angewurzelt bleibt sie vor ihm stehen, den Mund halb geöffnet. Er sieht sie kaum an und geht an ihr vorbei ins Haus. Kurz danach kommt sein Bruder Willi aus dem Heustall und klopft sich den Staub aus dem Hemd. Als er Rosl sieht, bleibt er stehen. Lacht.

„Ja, Rosl, was ist denn mit dir? Hast du einen Geist gesehen?“

Da sprudelt es aus Rosl heraus. Die Muttergottes! Rausgeworfen! Der Altar! Die Grotte! Die Bänke, die Heiligenstatuen, alles hat man aus der Kirche entfernt!

Willi hört aufmerksam zu, nickt. Also haben sie begonnen.

Er legt seine Hand auf Rosls Schulter, drückt sie sanft. Sei unbesorgt, Kind. Es hat seine Richtigkeit. Dann fügt er freundlich hinzu: „Und die schönen Blumen? Schenkst du sie mir?“

Als später alle um den Esstisch sitzen, ist es Rosl, als verstehe sie zum ersten Mal, was die Erwachsenen reden.

„Ich habe es euch gesagt, dass es mit diesen Welschen kein gutes Ende nehmen wird.“

„Ach was, diese Arbeiten haben sie doch noch vor dem Krieg beschlossen. Die Unsrigen hätten genau dasselbe getan.“

„Es sind aber keine Unsrigen mehr.“

„Deswegen muss es nicht falsch sein, was sie tun. Wenn nun etwas Wertvolles gefunden wird.“

„Dann werden sie es italienisieren wie alles andere auch. Wir kennen doch das welsche Diebsgesindel.“

Rosl hat den Vater schon oft hasserfüllt von den neuen italienischen Herren sprechen hören, die sich nach Kriegsende des Landes bemächtigt haben. Bisher war es ein fremder, unverständlicher Hass für sie. Doch nun fühlt sie erstmals, wie er auch in ihr zu sengen beginnt, ein glühender Schmerz, der alles niederbrennen will. Beim Nachtgebet wird sie Gott für diesen Hass danken, der sie von nun an mit dem gefürchteten Vater verbindet.

Papierblumen bastelt sie von diesem Tag an keine mehr.

II

Bald spricht es sich im ganzen Dorf herum: In der Prokuluskirche ist eine Sensation entdeckt worden, uralte Fresken von großem Wert. Noch streiten sich die Gelehrten aus Innsbruck und Trient um die Details. Verbindungen zu Irland und St. Gallen sehen die einen, zu Verona die anderen – der Kulturkampf, der in Südtirol entbrannt ist, ergreift auch die Wissenschaften. Auch Naturnser Gelehrte mischen sich in die Debatte ein, zuvorderst August Kleeberg. Für den Herrn von Schloss Hochnaturns und Präsidenten der neu gegründeten „Sanct Prokulus-Bruderschaft“ ist klar: Die Fresken stammen aus dem 8. Jahrhundert und sind somit die ältesten im deutschen Sprachraum. Denn hier, in Naturns, und darum geht es ihm, ist deutscher Sprachraum, deutsche Kultur, deutscher Boden seit alters. Es ist eine neue Selbstwahrnehmung, die hier entsteht. Wenige Jahre zuvor hatte Südtirol noch zum österreichischen Kaiserreich gehört, einem multikulturellen Imperium, in dem über ein Dutzend Sprachen gesprochen wurden, drei davon allein in Tirol. Menschen aus Österreich, Ungarn, Böhmen, der Bukowina, aber auch aus Istrien, Triest, weiten Teilen Norditaliens bewegten sich frei in diesem riesigen Gebiet. Auch in Naturns weht noch in den Zwanzigerjahren der Geist dieses Vielvölkerstaates: Seit 1915 bewirtschaften Trappistenmönche aus Banja Luka in Bosnien den Unterhilbhof und stellen ihren weit über das Dorf hinaus begehrten Trappistenkäse her. Doch seit dem Ende des Weltkriegs ist Tirol geteilt – Südtirol steht nun unter italienischer Flagge. Und seit 1923 ist das Wort Tirol in allen seinen Formen verboten; Hochetsch muss es jetzt heißen, auf Italienisch Alto Adige. Den Menschen, die sich ihrer altösterreichischen Identität beraubt sehen, bleibt nur noch eines als Mittel der Abgrenzung gegen die neuen Herren im Land: die Sprache. Mit ihr manifestieren die Südtiroler ihre Eigen- und Widerständigkeit. Kaiser und Vaterland mögen sie verloren haben, doch ihr „Deutschtum“ ist ihnen geblieben, jener mit „germanischem“ Überlegenheitsdünkel getränkte Begriff, der schon im Habsburgerreich das Zusammenleben vergiftete. So ist es wenig erstaunlich, dass auch die Fresken, die unter der Leitung von Giuseppe Gerola vom Ufficio Belle Arti aus Trient freigelegt wurden, für die Südtiroler von Anfang an ganz klar vor allem eines sind: keltisch-irisch oder eben: deutsch. Wenn auch ein wenig hässlich, wie die Naturnser enttäuscht feststellen müssen, die den Sensationsfund zum ersten Mal erblicken. Im Sunnpichler Hof zumindest ist man sich einig: Man hätte die vorherigen Fresken ruhig an ihrer Stelle belassen können, statt sie für diese älteren Malereien abzutragen. Naive Strichzeichnungen seien das, mehr nicht. Pater Coelestin, ein Vetter der Sunnpichler Bäuerin, der häufig zu Besuch weilt, hebt die Augenbrauen und setzt zu einer kurzen erbaulichen Belehrung der um den Esstisch Versammelten an. Erst jetzt, doziert er, erkenne man so recht die eigentliche Schönheit der vormaligen Ausstattung des Kirchleins, nämlich im Vergleich zu den nunmehr zum Vorschein gekommenen Kritzeleien einer primitiveren Kunst. Willi hält dagegen. So schlecht seien sie nicht, diese mit wenigen Linien umrissenen Gesichtszüge und schematischen Körper. Das sei doch jetzt geradezu modern, in Paris und Berlin, das sei die aktuelle Kunst von Weltruf. Coelestin verzieht das Gesicht. Von diesen zeitgenössischen Schmierfinken hält er nichts. Jedes Kind könne es besser als diese Herren Picasso und Klee und wie sie alle hießen. Man solle sich doch besser an die akademischen Künstler der klassischen Schule halten. Ja, in Gottes Namen, haucht die Sunnpichlerin. Mit diesem ergebenen Stoßseufzer pflegt sie die Gespräche der Männer zu beschließen, ehe sie den Tisch abzuräumen beginnt. Der Sunnpichler Bauer ist über die Unterbrechung nicht unglücklich. Ihn langweilt das hochgestochene Geschwätz des Paters ebenso wie die Großspurigkeit seines Bruders, der sich für den Kunstverständigen am Hof hält, nur weil er bei der Dilettantenbühne vor leeren Rängen den Hanswurst gibt. Dass er dafür nicht nur in der Familie, sondern auch im Dorf wenig Ansehen genießt, weiß Willi spätestens seit der durchgefallenen Aufführung von „Doktor Fausts Hauskäppchen“ am Tag von Christi Himmelfahrt 1922. Auf halb neun war die Premiere angesetzt, doch erst um Viertel nach neun fanden sich einige wenige Zuschauer ein, die überhaupt erst eine Vorführung ermöglichten. Seither genügt es, wenn der Sunnpichler Bauer seinen Bruder spöttisch als „Doktor Faust“ anspricht, um Willi verlässlich zur Weißglut zu treiben.

Sie sind sonst keine Luftikusse, die Sunnpichler Leute. Einfach und fromm, arbeitsam und anständig, so führen der Sunnpichler Sepp und seine Moidl Hof und Haushalt. Sie dulden keine Extravaganzen und Überspanntheiten, weder beim Gesinde noch bei den Kindern. Von den acht, die sie geboren hat, sind Moidl sechs geblieben, und alle werden mit derselben Strenge zu Fleiß und Tüchtigkeit erzogen. Sepp, der Älteste, hat mit seinen knapp achtzehn Jahren schon das kantige Gesicht eines Erwachsenen, und er spricht zu seinen Geschwistern im selben forschen Befehlston wie der Vater. Gottl, der mittlere Sohn, ist gehorsam und nach innen gekehrt. Pfarrer möchte er werden, doch er kann mit seinen vierzehn Jahren immer noch kaum lesen und schreiben. Dafür weiß er alle Gebete auswendig. Seine um zwei Jahre jüngere Schwester Ottilie ist das genaue Gegenteil. Vorlaut, frech und unbekümmert, ein rechter Wildfang, der in der Kirchenbank heimlich die Backen aufbläst. Aber blitzgescheit ist sie, die Ottilie, lernt rasch und mühelos. Man hätte auf sie Hoffnungen setzen können, wäre sie nicht als Mädchen geboren. So aber ist sie den Eltern ein rechtes Ärgernis mit ihren Schlaumeiereien – statt beherzt mit anzupacken, steckt sie die Nase lieber in alle Bücher und Zeitschriften, die ihr in die Hände fallen, und weder im Stall noch in der Küche ist sie wirklich zu brauchen. Zum Glück gibt es noch Elisabeth. Die „zweite Lies“, wie sie von den älteren Geschwistern genannt wird, da sie den Namen von einem vor ihrer Geburt verstorbenen Schwesterchen geerbt hat, ist ein engelhaftes Kind, langmütig, fleißig, unauffällig. Mit der wird ein Mann mal viel Freude haben, sagt die Großmutter. Vorerst kümmert sich die Lies aber noch um ihren jüngeren Bruder, den Hias, ein aufgewecktes Bübchen von acht Jahren, das es faustdick hinter den Ohren hat. Doch bei der Lies wird das Kind ruhig und anschmiegsam und zeigt sich von einer weichen Seite, die dem Vater fast schon zuwider ist. Für den Hias wird er noch einige Ruten von den Weiden schneiden müssen, bis er dem Buben so recht Zucht und Mannhaftigkeit eingebläut hat.

Doch im Moment macht den Eltern die Zweitälteste, Rosl, mittlerweile eine junge Frau von sechzehn Jahren, am meisten Sorgen. Seit einigen Wochen wird Rosls Gesicht immer schmäler und wächserner, beim Essen legt sie rasch den Löffel zur Seite und starrt angewidert auf die Muspfanne, in der die anderen noch gierig nach den eingebrannten „Raspen“ kratzen.

Am Abend kommt daher die Mutter in die kleine Kammer, die sich Rosl mit Ottilie und Elisabeth teilt. Sie setzt sich zu Rosl ans Bett, hält ihr die Hand auf die Stirn. Rosl dreht den Kopf zur Seite, weicht dem forschenden Blick der Mutter aus.

„Ich hab nichts“, murmelt sie.

Im Bett daneben kichert es. Ottilie zieht sich die Bettdecke über die Nase.

„Was hast du zu lachen?“, fährt die Mutter sie an.

„Ich weiß schon was“, erwidert Ottilie glucksend.

„Halts Maul“, wird Rosl plötzlich laut.

Doch da ist es aus Ottilie schon herausgeplatzt: „Ein Kind kriegt sie, die Rosl!“

„Du Höllteufel!“, schreit Rosl und will die Schwester packen. Doch die Mutter hält sie zurück.

„Ist es wahr?“

Rosl schweigt.

„Ist es wahr?“, wiederholt die Mutter lauter, drohend. Und als Rosl noch immer nichts sagt, kennt die Mutter die Antwort. Sie holt mit der Hand aus und gibt Rosl eine schallende Ohrfeige.

„So eine Schande!“, ruft die Mutter, immer wieder „So eine Schande!“

Rosl erwidert nichts, sitzt nur wie versteinert aufrecht in ihrem Bett, den Schlag der Mutter als rotglühenden Abdruck im kreidebleichen Gesicht.

Sie wird auch in den kommenden Monaten nicht viel sagen, die Rosl. Sie behauptet, nicht zu wissen, von wem das Kind sei, da nützen auch all die Fragen der Mutter und all die Schläge des Vaters nichts.

Zur Strafe darf Rosl am Sonntag nicht mehr mit zur Messe gehen. Sie bleibt daheim bei der Großmutter, der die Beine für den Weg zur Kirche zu schwer geworden sind. Zusammen beten sie den Rosenkranz, und immer wenn ihr die Tränen kommen wollen, betet Rosl besonders laut und inbrünstig.

„So ist es recht“, sagt die Großmutter, „nur nicht verzagen. Die Gottesmutter wird schon helfen.“

Ob es wirklich die Gottesmutter war? Jedenfalls wird Rosls Sohn, das Schandkind, 1927 im Mai geboren, im Marienmonat. Hans soll er heißen, doch der Sunnpichler Bauer schämt sich so für das ledige Balg, dass er es am liebsten nicht zur Taufe tragen will. Seine Mutter und seine Frau müssen ihn geradezu beknien, die unschuldige Seele zu retten und den Segen darüber sprechen zu lassen – schließlich sei es ja, und das überzeugt den Bauern endlich, für den ganzen Hof schlecht, nicht nur ein Sünden-, sondern zugleich auch noch ein Heidenkind unter seinem Dach zu haben.

Missmutig packt er den Säugling in den Rückenkorb und nimmt diesen auf die Schulter. Und Hans liegt so still in den Tüchern, dass der Sunnpichler auf halbem Weg schon vermutet, das Kind sei gestorben.

„Wär auch nicht schad“, denkt der Bauer.

Nach der Taufe geht er noch zum Amt, um den Knaben anzumelden. Anders als im Taufbuch darf er dort nach faschistischer Vorgabe einen „Johann“ nicht eintragen lassen, und so wird aus dem Hans ein „Giovanni“. Er wird wie alle anderen auch mit diesem Namen zu leben lernen und ihn tragen wie eine Verkleidung, unter der sein wahres, sein „deutsches“ Ich unversehrt bewahrt bleibt, dieses deutsche Ich, über das er nichts anderes weiß, als dass es Hans heißt.

III

Es ist eine finstere Zeit, in die Hans hineinwächst. Wenige Monate nach seiner Geburt stirbt die alte Sunnpichlerin, die bei aller Scham doch eine schützende Hand über den Urenkel gehalten hatte. Nach ihrem Tod nimmt die Kälte um das Kind zu, das wohl gefüttert und versorgt, aber ansonsten wie ein Eindringling behandelt wird. Es mag auch an seinen Augen liegen, die anders als bei den anderen Sunnpichlern nicht eisblau und klar sind, sondern von einem schmutzig-trüben Grünbraun. Auch das krause Haar passt nicht zu jenem der Sunnpichler und befeuert im Dorf die Mutmaßungen über die Vaterschaft. Rosl jedoch schweigt weiterhin. Es gibt auch weit wichtigere Themen, mit der sich die Sunnpichler Leute und überhaupt alle in Naturns herumschlagen müssen. Die Jahre der Duldung der deutschsprachigen Kultur sind vorbei. Schrittweise unterbinden die faschistischen Machthaber alles, was ihnen zu „deutsch“ erscheint. Das bekommt auch die Dilettantenbühne zu spüren: Wenige Tage vor der geplanten Premiere wird 1929 die Aufführung des Dramas „Am Grabe der Mutter“ abgesagt. Für den Sunnpichler Willi ein harter Schlag, auch oder vielleicht gerade weil böse Zungen im Dorf verbreiten, um dieses weitere Glanzstück der „Lettenbühne“, wie sie von manchen abschätzig genannt wird (das Wort „Letten“ bezeichnet im Dialekt einerseits Schmutz, andererseits Unsinn), sei nicht weiter schade. Für mehr Diskussion sorgt die zunehmende Schikanierung der Musikkapelle, deren Trachten und Tiroler Märsche verboten werden. Für das unerlaubte Spielen des Andreas-Hofer-Marsches beim Meraner Traubenfest 1932 werden Obmann und Kapellmeister sogar auf die Wachstube mitgenommen. Die Feuerwehr unterdessen hat ihre nunmehr verbotene Fahne in Innsbruck in Sicherheit gebracht, wo sie auf bessere Zeiten wartet.

Hans bekommt davon nicht viel mit. In seiner frühkindlichen Wahrnehmung vermischen sich noch Traum und Wirklichkeit zu einer ebenso unerklärlichen wie phantastischen Welt. 1933 nimmt ihn sein Großonkel Willi zum Märchenspiel „Rosa von Tannenburg“ mit, das eine Mädchengruppe aufführt – eine der wenigen deutschsprachigen Aktivitäten, die noch erlaubt sind. Es sind magisch-groteske Gestalten, die hier ihre Possen zeigen, darunter furchteinflößende Figuren mit großen, struppigen Bärten, die mit feinen Frauenstimmen sprechen. Hans ist ebenso bezaubert wie eingeschüchtert. Willi lacht das ängstliche Kind aus, das seine kleine Hand fest in das Hemd des Onkels krallt. Hans schämt sich, er will doch gut und tapfer sein. Doch diese verwirrende Welt voller undurchschaubarer Charaktere überfordert ihn. Er ist ein Augenmensch, einer, der auf Farbe und Form, Gesten und Mienen achtet, auf das stumme Spiel einer Gesellschaft, deren Sprache weniger im Wort verankert ist als im Kräuseln der Augenbrauen, im Spreizen eines Fingers, im scharfen Atemholen.

Noch hat er kaum zu begreifen begonnen, wo in dieser schillernden Parade von Masken und Verkleidungen sein Platz ist, da heißt es für ihn schon zur Schule gehen. Diese ist strikt italienischsprachig und mit ihrem militärischen Drill von düsterer Ernsthaftigkeit. Die Kinder müssen marschieren und salutieren lernen, und wehe, jemand lässt sich ertappen, wie er statt des verlangten „Duce, Duce“-Rufs zur Huldigung des faschistischen Führers Benito Mussolini ein trotziges „Luce, Luce“ (also „Licht, Licht“) schreit. Die gestrengen Lehrer sind mit Bestrafungen nicht zimperlich, schon gar nicht mit den widerspenstigen und verstockten Dorfkindern, denen der Teufel aus den Augen schaut. Sie fühlen, dass sie nicht willkommen sind, die Lehrpersonen, die den Tiroler Kindern beibringen sollen, gute Italiener zu sein. Von den fast zwei Jahrzehnten ihres Wirkens wird später in der 1982 erschienenen Festschrift über das Schulwesen in Naturns keine Spur bleiben, kein Foto, kein Name.

Man hat ihnen allerlei Vergünstigungen versprochen, um sich hier, inmitten der feindseligen und unkooperativen Landbevölkerung niederzulassen. Doch die Gemeinde hat Mühe, die Unterkünfte bereitzustellen, die den Lehrpersonen zustehen. Im Winter ist es kalt, und das Holz für den Ofen reicht nicht aus – eine Lehrerin geht sogar dazu über, sich nach dem Unterricht das Holz, mit dem die Klassenzimmer geheizt werden sollen, für ihre Wohnung mitzunehmen, bis eines Tages erzürnte Naturnser bei der Gemeindeverwaltung wegen des „Diebstahls“ vorsprechen.

Und die Arbeit ist nicht einfach. Viele der Kinder lernen widerwillig, und auch die Eltern machen keinerlei Anstalten, sich die Sprache der Besatzer anzueignen. Im Gegenteil: Sie organisieren heimlich Lektionen für ihre Kinder, die sich nachmittags in Heuställen und Kellern mit den vor Kurzem entlassenen Lehrerinnen treffen, die nicht mehr in deutscher Sprache unterrichten dürfen. Auch Hans besucht diese sogenannte Katakombenschule. Er ist ein stiller, aber überaus sorgfältiger Schüler. Er zeigt zwar nur eine überschaubare Sprachbegabung und lernt langsam, doch sowohl in der offiziellen italienischen als auch in der inoffiziellen deutschen Schule werden seine saubere Handschrift und die ordentliche Arbeitsweise gelobt. Dem Sunnpichler Bauern bedeuten diese Belobigungen wenig. Sein Enkel ist ein schwächliches, saumseliges Kind, das in allem zu behäbig und damit sogar unbrauchbarer als ein Mädchen ist, und das lässt er ihn auch bei jeder Gelegenheit spüren. Dann schlägt Hans die dunklen Augen nieder und presst die Lippen zusammen. Nur nicht aufmucken, hat ihm die Mutter eingeschärft. Den rebellischen Kindern nämlich wachse alsbald ein Teufelshorn aus der Stirn, und sie habe auch unter dem Lockenschopf von Hans erste Ansätze dieses Horns entdeckt. Wenn er nicht aufpasse, dann lande er ganz gewiss in der Hölle, in der er doch sowieso wegen seiner ledigen Herkunft schon mit einem Bein stecke. Da helfe nur Beten und ein ganz besonderes Bravsein – wobei man das Bravsein vor allem an der Duldsamkeit erkenne, mit der man alles hinnehme.

Hans hat ganz fürchterliche Angst vor der Hölle. Seine lebhafte Phantasie malt sich die Qualen im ewigen Feuer in den grellsten Farben aus. Besorgt schaut er immer wieder in den kleinen Handspiegel seiner Tante Ottilie, ob das Horn schon weiter gewachsen sei. Diese leichte Wölbung auf seiner Stirn – das muss es sein. Kann er es noch abwenden? Und wie soll er jemals brav genug sein, um der Hölle zu entrinnen?

Ottilie beruhigt Hans. Er brauche sich nicht zu viele Sorgen machen, der gute Herrgott habe für jeden einen Plan, also auch für ihn. Hans bleibt skeptisch. Ottilie ist seit Kurzem Novizin im Orden der Englischen Fräulein, die in Naturns einen Hof bewirtschaften. Bei den Nonnen, so die Hoffnung der Familie, wird der ungestüme Geist gezähmt und in geregelte Bahnen gelenkt. Und tatsächlich scheint Ottilie im Kloster ruhiger geworden zu sein, die Ordenstracht verleiht ihr fast eine ehrwürdige Ausstrahlung. Aber sie sei in Wahrheit noch immer derselbe Höllteufel geblieben, der sie immer gewesen sei, sagt die Rosl zum Hans. Sie verstecke ihre Hörner unter dem Nonnenschleier, doch wer sie kenne, wisse trotzdem Bescheid. Doch als Hans Ottilie bei einem ihrer Besuche bittet, einmal ihren Schleier abzunehmen und ihm ihre Hörner zu zeigen, schmunzelt sie nur. Die Hörner seien bei ihr wie bei den meisten anderen Leuten unsichtbar, und man merke nur an den Taten, wer ein rechter Satansbraten sei. Aber Hans solle nur keine Angst haben, sich auch ein ordentliches Paar Hörner wachsen zu lassen. Damit komme man besser durchs Leben als mit dem ständigen Bravsein.

Dass sie damit recht hat, sieht Hans sogleich ein. Die anderen Schulkinder haben längst gemerkt, dass er ein wehrloser Schwächling ist. Besonders die Kraler-Kinder, selbst nur aus einem armen Tagelöhnerhaus, haben in Hans einen gefunden, der in der dörflichen Rangordnung sogar noch tiefer als sie steht. Ihr Vater sei lange ein „Karrner“ gewesen, ein heimatloser Wanderarbeiter, der in einem klapprigen Ziehwagen gehaust habe, erzählt man sich im Dorf. Erst seit wenigen Jahren sei er mit seiner Familie in dem windschiefen Häuschen untergekrochen, aus dem man bis in die Nachtstunden Gezänk und Schreie höre. Vor allem der Älteste, Albert, hat es auf Hans abgesehen. Er ist ein stämmiger Bursche, der längst alle kindliche Unbeschwertheit verloren hat und dem nur noch ein böses Lachen gelingt. In Hans hat er einen gefunden, an dem er straflos seine Kraft und seinen aufgestauten Groll entladen kann, und von beidem hat er mehr als genug, der Albert. Er schikaniert den drei Jahre Jüngeren auf alle möglichen Weisen, ruft ihm Spottnamen nach, bewirft ihn mit Mist, lauert ihm auf, knöpft ihm die beiden Orangen ab, die er in der Schule zum San Nicolò bekommen hat, steckt ihn kopfüber in den kniehohen Schnee, dass Hans schon meint, ersticken zu müssen. Von allen unsichtbar Gehörnten ist Albert der schlimmste, und Hans graut jeden Tag mehr vor dem unerträglich weiten Schulweg, auf dem ihn jederzeit ein neuer Hinterhalt erwartet.

Dennoch erzählt er zu Hause nichts. Er hat gelernt, dass die Widrigkeiten, die ihm zustoßen, auf undurchschaubar verworrene Weise seine eigene Schuld sind. Der Herr Dekan hat es im Katechismusunterricht die „Erbsünde“ genannt, und Hans wusste sofort, was damit gemeint ist: Der unauslöschliche Makel, mit dem man zur Welt kommt und der einem klebrig und schwarz die Seele besudelt wie zähes Pech. Da kann man noch so fromm und gut sein wollen, völlig wird man den Schmutz nie los, schon gar nicht er, der Schandbub einer liederlichen Mutter, die die ganze Familie entehrt hat und die man jetzt, der Großvater wird es nicht müde zu wiederholen, keinem anständigen Mann mehr zumuten kann. Seit Jahren sucht der Sunnpichler fieberhaft nach einem, der ihm die Rosl noch abnehmen könnte. Nun endlich scheint einer gefunden: Der Mooslechner Vinzenz, ein steingrauer, harter Mann, dessen Hof schon bessere Zeiten gesehen hat. Misswirtschaft und die ständig steigende Steuerlast haben ihn mit Schulden überhäuft, und schon mehrfach musste der Hof mit Geld aus Deutschland vor dem Verkauf an Italiener gerettet werden. Vinzenz ist fast dreißig Jahre älter als Rosl, aber die muss nehmen, was sie kriegen kann. Einmal ist er vorbeigekommen, um sich die Braut in spe und ihren Bastard anzusehen. Hans drückte sich verschreckt an die Mutter, die ihm einen ungeduldigen Klaps auf den Hinterkopf gab, „reiß dich zusammen“. Sie sagte es mehr zu sich selbst als zu ihrem Sohn. Der Mooslechner starrte den Hans mit glasigen, gelben Augen an und sagte nichts.

„Die Rosl ist eine ordentliche Köchin, gehorsam und fleißig. Sie wird für deine Mutter eine große Hilfe sein. Und den Buben wirst du gar nicht spüren, der isst nicht viel und redet noch weniger.“

Der Mooslechner schweigt noch immer und zieht geräuschvoll die Nase hoch. Er wartet auf ein besseres Angebot. Einen tüchtigen Knecht bräuchte er, einen, der ihm in Hof und Feld die Arbeit abnimmt. Der Sunnpichler weiß das.

„Wenn ihr erst einmal verheiratet seid, würden wir euch natürlich auch beim Heumähen und Kornschneiden aushelfen. In der Familie hält man zusammen.“

Erneut zieht der Mooslechner die Nase hoch und schnalzt mit der Zunge. Am selben Abend wird die Hochzeit für das kommende Frühjahr festgelegt.

IV

Noch aber ist Winter, und dieses Jahr erscheint er Hans besonders lang und feindselig. Um der Verfolgung von Albert zu entgehen, hat er sich angewöhnt, noch ein Weilchen auf dem Schulhof zu warten, bis alle gegangen sind, ehe er sich selbst auf den Heimweg macht, in der Hoffnung, dem Albert werde das Warten auf ihn irgendwann zu lang. Am Anfang hat ihn die Lehrerin noch angesprochen, „Giovanni, che c’è?“, aber er hat nur stumm den Kopf geschüttelt, nichts ist los. Es gibt ihm wohl einen kleinen Stich, als die Lehrerin ihn so mitleidig ansieht, ehe sie fortgeht. Aber dann zieht er gleichgültig die Schultern hoch. Er weiß ja, er ist ein bisschen langsam, ein bisschen seltsam, anders als die anderen. Deswegen meidet er alle und wird gemieden, er hat sich damit abgefunden.

So ist er auch an diesem späten Januarnachmittag nach dem Unterricht allein auf dem Heimweg, fern von den anderen Kindern, die hell und lärmend auf den vereisten Pfaden spielen. Schon vergoldet nur noch ein schmaler Lichtrand die schwarzen Bergkuppen, und Hans beeilt sich, nach Hause zu kommen. Anders als die anderen, die übermütig und mit weitem Anlauf auf den großen Eisstreifen herumrutschen, die sich auf den Wegen gebildet haben, geht Hans mit vorsichtigen Schritten. Wie hat ihn die Mutter geschimpft, als er durch einen unachtsamen Sturz ein Loch in die Hose gemacht hat! Noch einmal darf ihm das nicht passieren, sonst macht sie wohl ihre Drohung wahr und gibt ihn dem nächsten Lumpenkrämer mit, der auf dem Hof vorstellig wird.

Als sich vor ihm ein besonders großes und glattes Eisfeld erstreckt, traut sich Hans nicht darüber. Er klettert vorsichtig auf das Steinmäuerchen, das den Weg vom darunter liegenden Acker abtrennt, und umgeht damit die Gefahr. Doch als er eben das Eisfeld passiert hat und wieder vom Mäuerchen herunterspringen will, steht plötzlich Albert vor ihm. Woher er gekommen ist? Was er hier zu suchen hat? Hans weiß es nicht, und es geht auch alles zu schnell, um sich diese Fragen zu stellen. Schon fühlt er sich von den groben Händen am Strickjäckchen gepackt, und er schreckt reflexartig zurück. Da lässt Albert ihn los, und Hans, der bereits ins Taumeln geraten ist, stürzt rückwärts die Mauer hinunter, einige Meter tief auf den vereisten Acker hinab. Ein Geräusch wie von knackendem Holz, wenn der Gottl es nach dem Hacken auseinanderreißt, das ist alles, was Hans mitbekommt. Dann wechselt alles Farbe: der blasse Himmel, der bewaldete Berg, die kahlen Bäume. Gelb und grün und ganz eigen rosarot tanzt es vor seinen Augen. Und dann wird es schwarz.

Oben, auf der Mauer, starrt Albert auf Hans hinunter. Der hat gerade noch geschrien wie ein Schwein beim Abstechen, aber jetzt ist er plötzlich ganz still und liegt einfach da.

„Du hast ihn umgebracht“, stößt Hedwig hervor, seine Schwester, die plötzlich neben ihm steht.

„Halts Maul“, zischt Albert, und ihm wird ganz übel.

„Wenn das der Vater erfährt, schlägt er dich gleich auch noch tot.“

Albert boxt seine Schwester in den Arm, „Halts Maul, hab ich gesagt!“

„Wir müssen jemanden rufen.“

„Tu doch, was du willst“, und damit rennt Albert fort, so schnell er kann, schlitternd und stolpernd auf dem Eis und sich Knie und Hände aufschlagend. Erst als er fort ist, beginnt Hedwig um Hilfe zu rufen, da sei einer gestürzt, und ihre schrille Stimme gellt durch die graue Abendluft.

Am Ende wird der Sagmeister Heiner vom Gasthof Zum Steinbock den bewusstlosen Buben auf einem Leiterwagen zum Sunnpichler Hof bringen. Tot ist er nicht, brummt er, aber er hat wohl einiges gebrochen, so verrenkt, wie er dalag. Hans wird in die schmale Kammer zum Knecht Reini gebettet, wo erst kürzlich das Bett des Altknechts Rudl frei geworden ist. Während der Sagmeister Heiner ein Glas Eigenbauwein bekommt, beraten die Sunnpichler Leute, was nun geschehen soll. Den italienischen Arzt holen? Der hat zwar einen guten Ruf, doch er ist teuer, und wer von ihnen kann schon mit ihm sprechen? Viel eher könnte es mit dem Tierarzt gehen, er ist ein Freund der Familie und lässt sich in Speck und Wein bezahlen. Dennoch ist der Sunnpichler Bauer nicht sicher, ob sich der Aufwand für das Kind lohnt. Ein Guter wird von allein wieder, und um die anderen ist nicht schad, wie man im Volksmund sagt. Schließlich erweicht ihn doch die Bitte seiner Tochter – nein, nicht von Rosl, denn die wagt es nicht, um ihren Sohn zu kämpfen. Es ist Elisabeth, die mit großen, nassen Augen für Hans so flehentlich Fürsprache hält, dass der Vater schließlich nachgibt. Der Tierarzt wird geholt, und der Sagmeister Heiner, der vor dem Heimweg noch einen Schnaps nimmt, merkt an, dass er so eine gute Seele wie die Lies auch in seiner Gaststube gut brauchen könnte.

Als der Tierarzt endlich kommt, hat Hans schon wieder das Bewusstsein erlangt. Er wimmert vor Schmerzen und dicke Schweißperlen stehen ihm auf der Stirn. Zunächst will der Tierarzt nichts davon wissen, das verletzte Kind zu untersuchen. Da müsse schon ein ordentlicher Doktor her. Aber als ihm klargemacht wird, dass entweder er den Knaben anschaut oder keiner, beugt er sich doch zu Hans hinunter und tastet ihn vorsichtig ab. Die Schrammen und Blessuren, die er beim Sturz abbekommen hat, müsse man nur gut auswaschen und vielleicht mit einer Wundsalbe beschmieren, wenn eine da sei. Aber das werde schon wieder. Doch sei zu befürchten, dass Hans das Becken gebrochen habe. Genau könne er, der Tierarzt, es nicht sagen, da müsse man mit dem Verletzten schon nach Meran in die Stadt fahren, um ihn zu durchleuchten. Das kommt freilich nicht infrage, und so bleibt dem Arzt nur die Empfehlung, das Kind ganz ruhig zu lagern. Am besten binde man es so an, dass es sich nicht mehr rühren könne, damit alles wieder möglichst grade zusammenwachse.

Wie lange das denn dauern werde, fragt die Sunnpichlerin erschrocken.

Wohl ein paar Wochen, eher sogar Monate, erwidert der Tierarzt.

Jesus, Maria und Josef, entfährt es der Sunnpichlerin, und sie bekreuzigt sich rasch.

Der Sunnpichler aber geht hinaus in den Stall und sucht nach den Seilen, mit denen er sonst sein Vieh anbindet. Als er sie gefunden hat, trägt er sie mürrisch zur Knechtskammer hinauf. Er versteht nicht, wofür ihn der Herrgott so straft. Er war doch immer ein rechtschaffener Mann. Aber jetzt hat er nicht mehr nur ein Schandkind im Haus, sondern auch noch einen Krüppel.

V

Er merkt nicht, wie es hier riecht. Zu lange liegt er schon in den durchweichten Windeln, die ihm die Mutter alle paar Stunden wechselt. Aber als jetzt Pater Coelestin an sein Bett tritt, sieht er, wie dieser das Gesicht verzieht. Mit unverhohlenem Ekel im Gesicht blickt er auf Hans hinab, spricht hastig ein Gebet und streicht ihm mit dem Daumen ein Kreuz auf die Stirn. Dann verlässt er die Kammer wieder. Draußen sagt er zur Rosl, die ihn begleitet: „Bete, dass er sterben kann.“

Ansonsten ist es still um Hans. Elisabeth, seine Fürsprecherin, hat beim Steinbockwirt zu arbeiten begonnen. Heiners Stiefmutter, die Sagmeister Katharina, ist froh um eine Hand mehr. Zwar geht ihr die Stieftochter Hertha tüchtig zur Hand, doch ihre Stiefsöhne Heiner und Josef geben sich lieber als feine Herren und sitzen mit der Kundschaft beim Wein und beim Kartenspiel. Ihr eigener Sohn, Alfons, hat einen Tischlereibetrieb und will mit seinen Halbbrüdern nicht viel zu schaffen haben. Sie mögen ihn nicht, weil Alfons mit den Italienern Geschäfte macht, während sie selbst nicht wenig stolz drauf sind, dass ihr „Capricorno“, wie das Wirtshaus nun angeschrieben sein muss, die Anlaufstelle aller treu und deutsch Gesinnten ist. Jeder im Dorf weiß, dass in der hinteren Stube im Steinbock im Schutz dicker Tabakschwaden politisiert wird, besonders sonntags nach dem Gottesdienst, wo so mancher auf die christliche noch seine eigene, von ganz anderem Geist durchzogene Predigt folgen lässt. Der Sagmeister Heiner ist hierbei einer der scharfzüngigsten Wortführer, und nicht nur sein Bruder Josef hängt ihm bewundernd an den Lippen. Er hat einige nationalsozialistische Schulungen in Deutschland besucht und trägt die geheimen Erkennungszeichen des verbotenen Völkischen Kampfrings Südtirols: weiße Strümpfe, Lederhosen und einen weißen Sarner Jangger. Für ihn gibt es keinerlei Zweifel, dass nur einer Südtirol der italienischen Unrechtsherrschaft entreißen kann, nämlich Adolf Hitler. Für Heiner ist das „bedingungslose Bekenntnis zum Reich als schicksalshaftem Träger des Gesamtdeutschtums“ viel mehr als nur eine Floskel aus den Grundsätzen des VKS. Es ist seine Religion, die zu predigen er nicht müde wird.

Alfons freilich hält nichts von dieser Stammtischpolitik, und lange hat er dem Gasthaus seiner Familie den Konkurrenzbetrieb Zum Bären (nunmehr Orso) vorgezogen. Doch seit Elisabeth in der Küche aushilft, sieht man ihn wieder öfter zum Steinbock gehen.

Von all dem erzählt Elisabeth ihrem Neffen freilich nichts, der blass und mit schmerzverzerrter Miene daliegt. Sie streicht ihm die Haare aus der Stirn und küsst ihn, und Hans wundert sich, dass sie sich nicht auch vor ihm ekelt wie alle anderen. Erst letzthin hat die Mutter, als sie ihm mit einem nassen Lumpen Gesicht und Arme abgerieben hat, zugezischt, das habe er nun von seiner Ungeschicklichkeit, dass er bei lebendigem Leib verrotten müsse. Sie ist wütend auf Hans. Seinetwegen wurde ihre Hochzeit mit dem Mooslechner Vinzenz nun schon zweimal verschoben, und der Sunnpichler musste mehrfach beim Mooslechner vorstellig werden, damit sie nicht ganz abgesagt wurde.

Hans kann der Mutter vor Scham nicht in die Augen sehen. Statt das Leid, das er ihr durch seine Geburt zugefügt hat, gutzumachen, hat er nur noch größere Schuld auf sich gehäuft. Nur sein Tod könnte die Mutter noch von der Last erlösen, die er für sie darstellt. Aber Hans fürchtet sich vor dem Tod und den Höllenqualen, die ihn erwarten. Lieber will er noch hier, im Diesseits, ein bisschen sühnen. Denn auch das hat seine Mutter zu ihm gesagt: Seine Schmerzen sind ein Martyrium, mit dem er einen Teil seiner Sünden abtragen kann.

Von Albert hat er ihr nichts gesagt. Er weiß auch gar nicht mehr, ob es wirklich stimmt oder ob es nur ein Trugbild des Satans war, das ihn hat stolpern und rücklings abstürzen lassen. Nur die gellenden Schreie der Kraler Hedwig sind ihm noch in Erinnerung und der weingetränkte Atem des Sagmeister Heiners, der ihn gerettet hat. Du hast einen guten Schutzengel gehabt, sagt Ottilie zu Hans. Auch sie kommt wie Elisabeth nur selten, viel zu selten. Hans sehnt sich nach ihrem Lächeln und dem Hauch von Weihrauch, Schweiß und Himmelreich, der sie umweht und den dumpfen Geruch nach Kuhmist und Schweinestall verdrängt, der noch in den entlegensten Winkeln des Hauses hängt. Immer wenn sie geht, fragt Hans ängstlich, wann sie wiederkommen wird. Sie gibt ihm stets dieselbe Antwort: in jedem meiner Gebete. Und Hans hofft inständig, dass Ottilies Gebete stärker sein mögen als jene, die um seinen baldigen Tod bitten. Denn derer gibt es viele im Haus, das weiß er. Sie haben ihn schon halb vergessen in seinem Schmerzenskerker. Oft sieht er tagelang neben seiner Mutter niemanden außer den Knecht Reini, der morgens aus dem Bett steigt und abends wieder ins Bett zurückkriecht. Mit Hans spricht Reini kein Wort. Was sollte er ihm auch sagen? Das Reden ist Reini gleich ausgetrieben worden, sobald er von seiner Mutter als halbes Kind noch auf den Sunnpichler Hof gegeben wurde. Das Maul tu nur zum Essen auf, hat sie ihm eingeschärft, dann machst du dir keine Feinde und wirst satt. Aber wirklich satt geworden ist er noch nie, der junge Bursche, dem ständig der Magen knurrt. Und jetzt hat man ihm auch noch das unglückselige Kind in die Kammer gebracht, das reglos im eigenen Dreck liegen muss und dem man gegen die Schmerzen nichts anderes geben kann als hie und da ein Gläschen Schnaps. Sie haben ihm die Flasche dagelassen, damit er, Reini, dem Knaben auch in der Nacht, wenn es schlimmer wird, schluckweise von dieser Medizin geben kann. Doch schnell merkt Reini, dass der Schnaps an das Kind nur verschwendet ist, es wimmert ja dennoch monoton vor sich hin, stundenlang, tagelang, die ganze Nacht. Einfacher ist es, wenn er selbst ein paar kräftige Schlucke nimmt, dann kann er trotz des Geheuls schlafen.

Lange währt die Freude jedoch nicht – da kommt Ottilie zu Besuch und trägt empört die Schnapsflasche davon, noch ehe Reini ihr sagen kann, dass Hans davon ohnehin nicht viel abbekommen hat. Sie hat eine andere Medizin für den Jungen. Zum einen lässt sie ihn zur körperlichen Stärkung löffelweise vom Klosterhonig schlecken. Zum anderen liest sie ihm für die geistige Erbauung aus den Kinderbüchern vor, die sie von der Schulbibliothek der Englischen Fräulein mitbringt. Manche sind reich und farbig illustriert, und Hans, vom stundenlangen Ins-Leere-Starren ganz ausgehungert nach Bildern, saugt alles begierig ein. Als Ottilie das bemerkt, beginnt sie, Hans bei ihren Besuchen auch Blumen und grüne Zweige von draußen mitzubringen, denn schon ist es Frühling geworden, und Hans liegt noch immer von endlosem Winter umfangen. Sie wird ihm bleiben, die Kälte aus Einsamkeit, Schmerz und Scham. Doch als der Tierarzt bei einer seiner Kontrollbesuche endlich erlaubt, dass die Seile gelockert werden, die Hans wochenlang eingeschnürt und seine Haut wundgerieben haben, als Hans sich erstmals wieder aufrichten darf, um aus dem kleinen Fensterchen der Kammer zu schauen, da ist ihm, als scheine ihm ein Sonnenstrahl mitten ins Herz hinein. Sie sind noch da, die waldgrünen Berge, die Kornfelder und Weingärten, und eben haben die Obstbäume zu blühen begonnen. Das muntere Geschrei der Vögel ruft Hans hinaus, und zum ersten Mal ist die Sehnsucht in ihm stärker als der Schmerz. Aufstehen, den Boden unter den Füßen spüren, einen Weg vor sich haben, selbst wenn er nicht an ein Ziel führt – gehen, gehen, egal wohin und egal wie weit, das wird fortan sein beherrschender Gedanke. Aber noch ist sein Körper zu schwach. Hans schafft es nicht einmal, allein aus dem Bett zu steigen, um seine Notdurft im Nachttopf zu verrichten. Wieder ist es Reini, der ihm dabei helfen soll, doch der schiebt Hans den Topf vors Bett und sagt, „wirst wohl zielen können“.

„Wo sind deine Hörner?“, fragt ihn Ottilie, als Hans ihr einmal doch gesteht, wie sehr der Reini ihm zu schaffen macht. „Du musst dir endlich welche wachsen lassen.“

„Ich kann nicht“, murmelt Hans kläglich.

Da drückt ihn Ottilie fest an sich.

„Ja, Bub, ich weiß. Manche sind nicht für Hörner gemacht. Aber vielleicht für Flügel.“

Der gelbe Hund

I

Niemand weiß, was der Sunnpichler dem Mooslechner versprochen hat, dass der die Rosl mit dem verkrüppelten Kind doch noch nimmt. Die Hochzeit ist eine rasche, formlose Sache am frühen Morgen. Zum Mittagessen trifft man sich beim Steinbock, und am Nachmittag ziehen die Rosl und der Hans mit ihren wenigen Sachen beim Mooslechner ein, dessen Hof auf der anderen Seite der Etsch liegt, dort, wo der Berg auch jetzt im Sommer große Schatten wirft. Trotz der trockengelegten Felder ist die Erde noch sumpfig und das Gemäuer feucht, und als sie das dunkle Haus betreten, spürt Hans einen eisigen Luftzug, der ihm entgegenweht. Noch hat er große Mühe beim Gehen, er braucht zwei Stöcke, um sich zu stützen. Der Mooslechner zeigt ihm eine steile Holzstiege.

„Dort oben ist die Kammer meiner Schwester Afra, da ist ein Bett für dich.“

Hans schaut ratlos hinauf in die Dunkelheit, in der sich die Stufen verlieren. Wie soll er da jemals hinaufkommen?

Ob Hans denn nicht vorerst auf der Ofenbank in der Stube schlafen dürfe, fragt die Rosl ihren Bräutigam. Doch der will nichts davon wissen. Wenn es dem Buben nicht passe, könne er getrost bleiben, wo er herkomme. Vinzenz grinst schief, während er das sagt. Damit lässt er Hans am Fußende der Stiege stehen und setzt seinen Weg durchs Haus fort. Rosl will ihrem Sohn noch einen aufmunternden Satz mitgeben, doch Vinzenz schnarrt sie an, sie solle mitkommen. Als beide fort sind, setzt sich Hans auf die unterste Stufe der Stiege und beginnt mit zusammengepressten Lippen zu weinen, leise und mit endlos herabrollenden Tränen, die auf seinem Gesicht brennen. Da legt sich ihm plötzlich eine Hand auf die Schulter. Er schaut auf. Eine hagere Frau mit knochigen Fingern steht vor ihm. Das Kopftuch hat sie tief in die Stirn gezogen, und Hans sieht darunter nur die Nasenspitze, von der ein langer Tropfen herabhängt. Da spricht die Frau ihn an. Ihre Stimme ist weich und freundlich, doch aus ihrem Mund kommen nur unverständliche Laute. Hans hat schon davon gehört, dass die Schwester des Mooslechners stumm und schwachsinnig sei, und es erschreckt ihn, mit ihr allein zu sein. Afra reicht Hans die Hand und hilft ihm aufzustehen. Er sieht ihre kleinen traurigen Augen unter dem Kopftuch, und plötzlich ist seine Angst verflogen. Afra hilft ihm die Stiege hinauf, legt seine wenigen Habseligkeiten säuberlich in den Kleiderkasten. Dabei lallt sie leise vor sich hin, ein dürres, wirres Sprechgeräusch ohne Worte, das bald abbricht. Dann lächelt sie Hans mit ihren schmalen Lippen an. Er versteht nicht, was sie ihm sagen will. Aber er spürt: Sie ist eine Gute, die Afra, und ihm ist nicht mehr ganz so trostlos zumute.

Zum Abendessen kommt Hans zu spät. Die Mooslechner Leute und seine Mutter sitzen schon um den Tisch. Hans bleibt scheu in der Tür stehen.

„Wo warst du denn so lang?“, fragt ihn die Mutter mürrisch.

Es ist eine Frage, die keine Antwort erwartet. Seine Gründe, das unbekannte Haus, die steilen Stufen, die Schmerzen bei jedem Schritt und diese lähmende, bleischwere Angst, interessieren Rosl nicht, das weiß Hans längst. Mit gesenktem Kopf geht er auf den Tisch zu.

„Ach, das ist also der Krüppel“, hört er eine keuchende Stimme.

Er blickt auf. Die alte Mooslechner Bäuerin schaut auf ihn herab. Am Hals hängt ihr ein gewaltiger, sackförmiger Kropf, der nicht mehr wie bei anderen hinter Halstuch und hohem Kragen verborgen bleibt, sondern ihren gesamten Kopf so verdreht, dass sie ihn nicht mehr gerade halten kann. Sie hustet gurgelnd, während sie Hans abschätzig mustert. Hans wird noch lernen, sich vor dem rasselnden Atmen und Räuspern, das an der Mooslechnerin hängt wie eine Kuhglocke, zu fürchten und ihm wo immer möglich aus dem Weg zu gehen.

„Da hast du dir ja eine schöne Bagage ins Haus geholt“, schnarrt die Bäuerin ihren Sohn an. „Mit diesen Stöcken kann der Bursche nicht einmal Weiberarbeit verrichten.“

„Ich brauche den Burschen nicht. Der Sunnpichler schickt mir zwei Knechte aufs Feld“, antwortet Vinzenz, ohne aufzublicken. Ganz scheint er selbst nicht zu glauben, was er sagt.

„Den Leuten von der Sonnenseite kann man nicht trauen. Aber du Einfaltspinsel lässt dir ja alles aufschwatzen.“

Hans sieht, wie Vinzenz die Lippen zusammenpresst. Gegen seine alte Mutter wagt der Mooslechner nicht aufzumucken. Aber später, wenn der Alkohol und der Hass in seinem Blut zu kochen beginnen, werden es Afra, Rosl und Hans zu spüren bekommen.

II

Der Mooslechner hat allen Grund, wütend zu sein. Die versprochenen Knechte bleiben aus. Es tue ihm leid, sagt der Sunnpichler, es sei alles anders gekommen als vorhergesehen. Schuld seien aber wie immer die welschen Besatzer, die erst seinen Sohn Gottl als zitternden Invaliden aus dem Kriegsdienst in Abessinien zurückgebracht hätten. Und dann habe er auch noch seine Tochter, die Lies, sonst eine tüchtige Heuarbeiterin, unverhofft gehen lassen müssen.

Das ganze Dorf hat von der Sache gehört. Eines Nachmittags, als die Lies beim Steinbockwirt ihren Dienst versah, traten zwei faschistische Bonzen in die Stube, setzen sich an einen Tisch und bestellten ein Krüglein Wein. Als die Lies Krug und Gläser brachte, fragte einer der Männer, wo denn das Bild des Duce sei, das aufzuhängen alle Gastwirte verpflichtet waren. Die Lies, die mit ihren geringen Italienischkenntnissen kaum die Frage verstand, stand etwas ratlos da. Sie wusste wohl, dass von diesem Bild bei den Wirtsleuten die Rede gewesen war und dass es ein Problem damit gegeben hatte, doch sie erinnerte sich an nichts Genaueres. Aber wie sollte sie das den beiden Männern erklären? Sie schüttelte nur den Kopf, sagte „no, no“. Da fragte der eine „come, no?“ – „was soll das heißen, nein?“.

Die Lies spürte, wie ihr die Röte ins Gesicht stieg. Sie hob hilflos die Schultern und sagte schließlich „niente Duce“ – „nix Duce“. Da sprangen die beiden Männer auf. Elisabeth solle ihnen umgehend auf die Wache folgen. Der jungen Frau traten die Tränen in die Augen, und wäre nicht just in diesem Augenblick der Sagmeister Alfons zur Tür hereingekommen, hätte die Geschichte noch ein böses Ende genommen. Mit wenigen Worten gelang es Alfons, die beiden Männer zu beschwichtigen. Das Bild sei längst bestellt, doch habe die Post es noch immer nicht geliefert. Man könne dazu getrost beim Postamt nachfragen, schon zweimal sei der Enrico hingegangen. Dass er seinen Bruder Heiner als Enrico bezeichnete, nahmen die beiden Uniformierten offensichtlich wohlwollend zur Kenntnis. Wenn das so sei, ließen sie wissen, dann wolle man noch einmal ein Auge zudrücken. Aber diese „scioccona“, und damit meinten sie die Lies, diese dumme Gans, solle doch baldigst aus dem Dienst entfernt werden, ein solches Personal sei eines italienischen Gasthauses unwürdig. Da versicherte Alfons rasch, für das Mädchen werde doch gerade ein Lehrplatz im Trentino gesucht, wo sie ordentlich Italienisch sprechen und kochen lernen solle. Ausgerechnet im Trentino, lachten die beiden Bonzen, wo man einen unverständlichen Dialekt spreche und die Küche bekanntlich immer noch viel zu österreichisch sei. Nein, wenn man dem Mädchen wirklich was beibringen wolle, müsse man sie schon mindestens nach Mailand vermitteln, dort hätten die Leute Klasse, erklärte der eine der beiden. Zufällig wisse er von einer begüterten Familie, die eine Schwäche für das schlichte Bergvolk hätte. So ein rosiges Dienstmädchen mit derartig schönen blauen Augen könnte der Signora schon gefallen. Und während die Lies nicht wusste, wie ihr geschah, war sie schon halb in die Lombardei versetzt.

Anfänglich wollten die Sunnpichler Leute nichts davon wissen, das Mädchen ziehen zu lassen. Ausgerechnet jetzt sollte man sich der Gewalt beugen? Hatte nicht der große Hoffnungsträger Adolf Hitler längst begonnen, alle deutschen Lande in einem mächtigen Reich zu vereinen? Bereits vor zwei Jahren hatte er das Saarland zurückgeholt, und es war nur noch eine Frage der Zeit, bis auch Österreich folgen würde – und damit auch Südtirol, wie der Sagmeister Heiner nicht müde wurde zu beteuern. Und so waren nun auch die Brüder Sepp und Hias und der Knecht Reini dem Völkischen Kampfring Südtirols beigetreten, der mehr und mehr Aufwind erhielt. Begeisterte junge Menschen trafen sich heimlich zu geselligem Beisammensein mit Musik und Tanz, und dort wurden auch die verbotenen Lieder gesungen, die in ihren Herzen die Flamme des Widerstands nährten: „Wir sind der deutsche Süden, obwohl vom Volk getrennt! Wir wolln nicht Ruh und Frieden, bis man uns Deutsche nennt!“

Jetzt, sozusagen in den letzten Wochen vor der zu erwartenden Heimholung, lohnte es sich doch auch nicht mehr, Italienisch zu lernen. Es war aber die Lies selbst, die Gefallen an dem Gedanken fand, als Dienstmädchen in einem eleganten Haushalt ihr eigenes Geld zu verdienen. Eine Stadt wie Mailand war für jemanden wie sie ansonsten außer Reichweite, doch jetzt lockte der Ruf der großen Welt. Was es da alles zu sehen geben würde!

„Werd mir nur nicht eingebildet“, murrte die Sunnpichlerin – und brachte schließlich doch ihren Mann dazu, die plötzlich ehrgeizig gewordene Tochter in die verhasste „Walsch“ zu schicken. Vielleicht, weil auch sie selbst neugierig war auf die Möglichkeiten, die sich ihrer Tochter eröffnen würden.

„Nur eins darfst du mir nicht antun: mit einem Welschen etwas anfangen.“

Das Versprechen ließ sich die Lies unbekümmert abnehmen. In ihrem Herzen hatte sich schon längst einer eingeschlichen, dem zu gefallen sie alles zu tun bereit war. Sogar Italienisch zu lernen.

III

Unterdessen ist es Herbst geworden, und Hans muss zurück in die Schule. Durch den Umzug ist der Schulweg nun noch weiter und beschwerlicher geworden. Bevor er in dunkler Herrgottsfrühe aufbricht, zieht ihn die Mutter noch einmal zu sich, überprüft, ob die Schuhe ordentlich geschnürt sind, das Jäckchen sauber gebürstet, das Gesicht gewaschen ist. Dann streicht sie ihm mit dem Daumen ein Kreuz auf die Stirn und murmelt einen Segen. Solange sie beim Sunnpichler lebten, hat sie das nie getan, und Rosl macht sich Vorwürfe, dass Hans nur deswegen seinen Unfall hatte. Von nun an lässt sie ihn nicht mehr ohne Segen aus dem Haus.

Mit seinem wackelnden Gang kommt Hans nur langsam vorwärts. Auf Halbweg holen ihn die Kinder ein, die lange nach ihm gestartet sind, zuvorderst die vom Kerschbacher, einem der größten und schönsten Höfe im ganzen Dorf, von dem Hans gehört hat, dass er nicht nur eine elektrische Dreschmaschine, sondern sogar ein Radiogerät hat. Der Älteste, Karl, ist schon ausgeschult, doch der zwölfjährige Erich, die neunjährige Maria, die alle Midl rufen, und die kleine Pia mit ihren sieben Jahren kommen nun regelmäßig an Hans vorbei, der sich zwischendurch am Wegrand hinsetzen und eine Rast einlegen muss. Anfangs hat sich Hans noch vor den fremden Kindern gefürchtet und erneute Schikanen erwartet. Doch sie tun ihm nichts, im Gegenteil. Manchmal bleiben sie stehen und gehen ein paar Schritte mit Hans in seinem langsamen Tempo mit. Sie sind neugierig auf den stillen Jungen, den es auf den halbverfallenen Mooslechner Hof verschlagen hat. Sie möchten ihn über die alte Mooslechnerin ausfragen, von der es heißt, sie sei eine Hexe, und über den Vinzenz, der als gewalttätiger Säufer bekannt ist. Doch Hans schweigt. Nur als sie nach der schwachsinnigen Afra fragen, sagt er etwas: „Die Afra ist eine Gute“, mehr nicht. Und die kleine Pia nimmt Hans bei der Hand und drückt sie. Hans weiß die Geste nicht zu deuten, aber er sieht in Pias Augen einen Schmerz, der seinem Herzen ganz nah ist.

Die Kinder verlieren rasch das Interesse an Hans, der so wenig reden mag und auf dem Schulweg nicht Schritt halten kann. Er ist wieder allein, doch unbehelligt. Der Kraler Albert ist ausgeschult, die anderen Kraler-Kinder meiden Hans. Keiner lacht mehr hinter seinem Rücken, keiner stößt ihn um oder bewirft ihn mit Dreck. Nur die mitleidigen Blicke mancher Mädchen tun ihm noch weh, doch auch diese werden weniger. Als der Winter da ist, kann Hans wieder ohne Stöcke gehen. Er hinkt zwar immer noch ein bisschen, aber er geht schon fast wieder so schnell wie alle anderen. Sogar die Mooslechnerin muss einräumen: „Krüppel ist er vielleicht keiner mehr. Nur noch ein Lahmarsch.“

Als Weihnachten da ist, bittet die Rosl, Vinzenz möge ihren Sohn doch einmal zum Hauptamt in der Kirche