Schaurige Orte am Niederrhein - Angela Esser - E-Book

Schaurige Orte am Niederrhein E-Book

Angela Eßer

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Beschreibung

Zwölf schaurige Geschichten von zwölf Autoren über zwölf reale Orte am Niederrhein, angelehnt an Legenden und Ereignisse von der Römerzeit bis in die Gegenwart: Warum ein paar ausgefuchste Unternehmer in Xanten einen ausgefallenen Tod fanden. Auf welche Weise ein Kirchturm einen Jungen das Gruseln lehrte. Als der Fund eines Tagebuches eine Frau in die dunkelste Zeit zurückführte und wie eine Fremdenführerin auf den höchsten Punkt stieg und dort in größte Gefahr geriet.

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Lutz Kreutzer (Hrsg.)

Schaurige Orte am Niederrhein

Unheimliche Geschichten

Zum Buch

Schauer und Grusel am Niederrhein Zwölf schaurige Geschichten von zwölf Autoren über zwölf reale Orte am Niederrhein, angelehnt an Legenden und Ereignisse von der Römerzeit bis in die Gegenwart: Warum ein paar ausgefuchste Unternehmer in Xanten einen ausgefallenen Tod fanden. Als ein verfallenes Rittergut zu einer düsteren Bedrohung wurde. Auf welche Weise ein Kirchturm einen Jungen das Gruseln lehrte. Wie die grausigen Ereignisse in einer mittelalterlichen Erdhügelanlage zum Zeugnis für außergewöhnliches Handeln wurden. Weshalb ein ehemaliger Aussätzigenwald auch heute noch seine seltsamen Nachwirkungen hat. Warum ein Grab eine Familie in die Vergangenheit abtauchen lässt. Als der Fund eines Tagebuches eine Frau in die dunkelste Zeit zurückführte. Was Sherlock Holmes mit dem Niederrhein zu tun hat. Über eine Städterin, die aufs Land zog und dort merkwürdigen Ereignissen ausgesetzt war. Wie eine Fremdenführerin auf den höchsten Punkt stieg und dort in größte Gefahr geriet, und was ein monumentales Kunstwerk mit Fußball und dem Tod zu tun hat.

Lutz Kreutzer wurde 1959 in Stolberg im Rheinland geboren. Er schreibt Thriller, Kriminalromane sowie Sachbücher und ist Herausgeber von Kurzgeschichtenbänden. Er coacht Autoren auf Buchmessen und Kongressen und richtet den Self-Publishing-Day aus. Der promovierte Naturwissenschaftler gründete am Forschungsministerium in Wien ein Büro für Öffentlichkeitsarbeit und arbeitete lange als Manager in der Hightech-Industrie. Seine Reisen und alpinen Abenteuer nimmt er zum Anlass, komplexe Sachverhalte in spannende Literatur zu verwandeln. Den Niederrhein kennt er gut, weil er als Geologe dort oft unterwegs war. Sein erster Roman schaffte es auf Platz 1 im Kindle-Shop. Seine Arbeit wurde mit mehreren Stipendien gefördert.

Mehr unter: lutzkreutzer.de

Impressum

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Alle Rechte vorbehalten

Lektorat: Susanne Tachlinski

Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von: © Frank Kimpfel / shutterstock

ISBN 978-3-8392-7298-5

Inhalt

Zum Buch

Impressum

Inhalt

Karte: 12 Schauergeschichten und ihre Orte

Der beste Kaiser

von Lutz Kreutzer

Kinderfest

von Klaus Stickelbroeck

Die kalte Zeit

von Arnold Küsters

Braune Nächte

von Erwin Kohl

Mystery World Reloaded

von Peter Godazgar

Lost in Liedberg

von Kirsten Püttjer

Die Frau ohne Namen

von Angela Eßer

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von Jutta Profijt

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von Michael Rossié

Schlechten Menschen geht es gut

von Ina Coelen-Simeonidis

Aus der Tiefe des Raumes oder: Ich will dich sterben sehen

von Volker Bleeck

Die Autoren

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Karte: 12 Schauergeschichten und ihre Orte

 

 

Der beste Kaiser

von Lutz Kreutzer

Ich, der Imperator

Was habe ich, Imperator Caesar Nerva Traianus Augustus, mir damals nur dabei gedacht, als ich aus dem Castra Veterain Untergermanien eine große Stadt machte? In den Niederungen des Rhenus, eine völlig ebene und trostlose Gegend! Es war der Ort weit im Norden, wo die großen Aufmärsche erfolgten, wenn es den Germanen im Osten an den Kragen gehen sollte, also eine stolze Befestigung meiner Legionen. Aber es war auch ein von Mücken durchseuchtes Heerlager.

Ich habe dieses Heerlager in Colonia Ulpia Traiana umgetauft und es zu einer Stadt geformt, die, unserem schillernden Rom ähnlich, Größe und Pracht ausstrahlen sollte. So, wie sie heute den Kalender lesen, muss das ungefähr 100 Jahre, nachdem dieser seltsam friedliebende Jesus von Nazareth in die Welt kam, gewesen sein.

Der beste Kaiser, so nennen die Menschen mich. Ich, Imperator Caesar Nerva Traianus Augustus, schenkte meinen Untertanen eine überaus glückliche Zeit, sagt man von mir. Sie, liebe Leser, können mich Trajan nennen, das reicht völlig aus. Dort oben aber, in diesen Sümpfen des Rheins, dort wollte ich mir ein Denkmal errichten, das muss man sich einmal vorstellen! Größer als die Hauptstadt der südlicher gelegenen Provinz Obergermanien, Mogontiacum, heute Mainz, mein Mainz, denn dort habe ich zwei Jahre als Statthalter residiert, bevor ich Kaiser wurde.

Heute heißt diese Kolonie dort in den Rheinniederungen Xanten, weil man es lange nach seiner Gründung Xantum nannte. Das hat irgendwas mit diesen christlichen Heiligen zu tun. Aber davon verstehe ich nichts, denn zu meiner Zeit wurden die Christen noch verfolgt und bestraft, wenn sie mich, den Kaiser, nicht ehrten. Dieses Xanten aber wurde zum zweitgrößten Handelszentrum von Untergermanien, nach Colonia Agrippina, dem heutigen Köln.

Wie es auch gewesen sei, eines steht fest: Ich habe dieses Xanten erschaffen, nach dem Vorbild Roms. Erschaffen mit allem, was eine römische Stadt brauchte, mit Häusern, Kolonnaden, Amphitheater, Tempel, Forum, Thermen und Bordellen. Die Bürger von Xanten erhielten sogar das römische Bürgerrecht. Ich bin eben großzügig! Ich, Trajan, Optimus Princeps, der beste »Erste unter Gleichen« – diesen Ehrentitel haben mir damals der Senat und das Volk von Rom verliehen, Senatus Populusque Romanus.

Doch irgendwann, nur ungefähr 170 Jahre später, ist meine Stadt vernichtet worden. Von einer Horde marodierender Barbaren. Stadt mit X, war wohl nix! Und dann, aus Schutt und Asche neu erstanden, Hunderte Jahre später, kam angeblich dieser Siegfried und stahl mir meinen ehrenvollen Platz.

Aufruhr

»Fremdenverkehrsinitiative spaltet Xantens Bürger«, so prangte die Überschrift in der Online-Ausgabe des »Niederrhein Blatt«. »In der Stadt Xanten gibt es eine neue Bewegung. Führende Hoteliers, Wirtschafts- und Tourismusfachleute starten ein Projekt, das einen neuen Siegfried aus der Taufe heben will. ›Wir möchten, dass unser Siegfried eine Art Hüter wird, der als ewiger Held über Xanten wachen soll. Der Hype um den verstaubten Trajan und um seine Römer hier bei uns ist out. Es lebe der neue Siegfried!‹«, wurde der Sprecher der Gruppe zitiert. Dazu ein Bild von fünf Initiatoren, die siegesgewiss ihre Daumen in die Höhe reckten. Darunter die Bildunterschrift mit den Namen. Doch, so die Zeitung, es habe sich bereits starker Widerstand gegen die Gruppe formiert. »Das, was die Wortführer dieser Initiative vorhaben, würde das Geschichtsbild unserer einzigartigen Stadt derart verzerren«, wurde die Stadtkämmerin Hermine Elsen zitiert, »dass man hier nicht mehr von Geschichtsklitterung, sondern von arglistiger Geschichtsfälschung sprechen muss.« Laut Umfragen des »Niederrhein Blatt« gab es in Xanten große Sympathie für das Vorhaben, denn die Initiatoren versprachen hohe Einnahmen für den Tourismus und die Wirtschaft der Stadt. Von einem Umstand, der die Stadtbevölkerung spalten würde, war die Rede. »Eine ganze Stadt in Aufruhr! Bleibt abzuwarten«, so schloss der Verfasser den Bericht ab, »ob sich die Geschichte der Stadt Xanten tatsächlich neu interpretieren lässt.«

Die Quelle

Siggi Hendricks fröstelte, als er gegen 18.30 Uhr sein Büro verließ. Nebel hing über dem Niederrhein, die Blätter fielen von den Bäumen. Als er in seinen Maserati steigen wollte, fiel ihm ein Zettel unter dem Scheibenwischer auf. Der Zettel war bedruckt, billiger Tintenstrahldrucker, die Tinte von der Feuchtigkeit ein wenig zerlaufen. »Lieber Siggi, komm zur Drususquelle, du weißt schon, beim Röschenparkplatz, gleich jetzt und nur kurz. Ich bin in Schwierigkeiten, und du vielleicht auch. Bitte hilf mir, Karin. Ich warte auf dich.«

Nanu, seine geschiedene Frau? Sie hatte schon mehr als zehn Jahre nichts von sich hören lassen. Merkwürdig. Nicht einmal eine aktuelle Telefonnummer hatte er von ihr. Und nun ein Zettel. Er spürte, wie sich ein sanfter und zugleich brutaler Stoß in seiner Magengrube breitmachte.

Karin in Schwierigkeiten? Diese abgezockte Frau, die ihm das Leben in den letzten beiden Ehejahren so schwer gemacht hatte? Und warum an der Drususquelle? Sie war nie gern in der Natur unterwegs gewesen.

Bis zur Sitzung hatte er noch eine Stunde, also fuhr er zum südlichen Stadtrand bis zum Parkplatz Röschen, unmittelbar neben einem weit über die Grenzen Xantens bekannten Etablissement. Hoffentlich würde niemandem sein Auto hier auffallen. Langsam wanderte er den Weg entlang, der am Südostrand des Mischwaldes in ein paar Minuten Fußmarsch zur Drususquelle führte. Ihm war ein wenig mulmig zumute. Wie würde Karin aussehen? Wie gefasst würde er ihr gegenübertreten? Er atmete tief und regelmäßig ein, und mit jedem Schritt wurde er allmählich ruhiger.

Nach etwa 300 Metern Fußweg sah er den aus Naturstein gemauerten Quelltrog und hörte, wie das Wasser hineinplätscherte. Die Uhr des entfernten Xantener Doms schlug sieben. Ein paar Vögel flatterten auf.

Hendricks ging zum Trog, sah sich um. Hier war niemand. Keine Karin, sonst auch nichts. Er wartete. Etwa drei Minuten. Er spürte, wie das Warten ihn nervöser werden ließ. Er schwitzte. Fahrig zog er seinen Mantel aus und warf ihn neben den Trog auf den mit Moos überzogenen Fels. Dann schöpfte er frisches Wasser mit den Händen und kühlte sein Gesicht. Einmal, zweimal, und als er zum dritten Mal ansetzen wollte, hörte er hinter sich raschelnde, schnelle Schritte. Kurz schreckte er auf, doch bevor er sich umdrehen konnte, war es bereits zu spät. Er spürte etwas zwischen seinen Schulterblättern, dass sich durch sein Hemd bohrte, heiß und drängend. Wie von einem Hammer getroffen fiel er leicht zur Seite auf sein Gesicht. Blut lief aus seinem Mund. Sein wässriger Blick verlor sich im herbstlich bunten Laub, und er röchelte seinen letzten Halbsatz: »Wie … wie einst …« Weiter kam er nicht.

Siegfried 2.0

»Hermine Elsen«, feixte Günter van Straten, wobei er ihren Namen fast ausspie, »die kriegen wir schon klein, keine Sorge«, fügte er hinzu und rieb sich die Hände. »Unser neuer Siegfried wird uns so viel Geld in die Taschen spülen, wie Xanten noch nie gesehen hat. Und wir fünf, wir werden es abschöpfen. Der Stadtrat ist selbst schuld.«

Rüdiger Scholten nickte. »Tja, hätten sie mal auf dich gehört, Günter«, sagte er zustimmend.

»Ich glaube, sie wollten dich loswerden«, warf Gisbert Giesen, größter Hotelier vor Ort, mit einem süffisanten Unterton ein.

Van Straten brummte. »Ja, das hat auch die blöde Elsen eingefädelt.«

»Die dicke Minni«, rief Scholten lachend. »Hermine Elsen, das roteste Tuch aller roten Tücher.«

»Also ich möchte sie nicht als Feindin haben«, bemerkte Gudrun Tervooren und schlug ihre schlanken Beine übereinander. »Bist selbst schuld, Günter«, mahnte sie an van Straten gerichtet, »du hättest ja nicht in ihre Kasse langen müssen.«

Van Straten bäumte sich auf. »Ich habe nicht in ihre Kasse gelangt, sondern mir 2.000 Euro ausgeliehen. Auf die Schnelle. Das ist was anderes«, bellte er.

»Aus der Sicht einer Stadtkämmerin ist das wohl dasselbe«, entgegnete Giesen unbeeindruckt. »Sie hat dich ganz einfach beim Klauen erwischt.«

Van Straten warf ihm einen wütenden Blick zu.

»Du hättest dir das Geld auch bei Siggi leihen können. Er hat doch immer Möglichkeiten bei seiner Bank. Dann wäre auch nie rausgekommen, dass du es zum Auslösen deiner Schulden für deinen letzten Puffbesuch in Nijmegen gebraucht hast.« Gisbert Giesen grinste über das ganze Gesicht.

»Tja, Holland ist teuer«, fügte Gudrun Tervooren spöttisch hinzu.

»Langsam, langsam, das spielt doch jetzt keine Rolle«, ging Rüdiger Scholten dazwischen. »So was machen Männer eben. Wie hat Podolski einst gesagt? ›80 Prozent von euch und ich kraulen sich auch mal an den Eiern.‹ Also, vergessen wir nicht, warum wir hier sind. Wir wollen einen Siegfried. Einen strahlenden Helden neu erschaffen. Unsere Hotels mit Gästen füllen und die Menschen davon überzeugen, dass unsere Idee gut ist für Xanten.«

Gudrun Tervooren nickte verhalten. »Hast ja recht, Rüdiger. Ich sag’s auch nicht wieder«, grinste sie und setzte ihr charmantestes Lächeln auf. »Nichts für ungut, Günter«, setzte sie hinzu und warf ihm einen flüchtigen Handkuss zu.

»Geschenkt!«, antwortete Günter van Straten und hob lässig den Arm. Er sah auf die Uhr. »Apropos Siggi. Wo bleibt er denn?«, fragte er mürrisch.

»Wird schon noch kommen«, sagte Scholten beschwichtigend.

»Also, was genau wollen wir?«, fragte Gisbert Giesen.

»Ich fasse zusammen«, antwortete van Straten. »Wir werden einen Siegfried Zwei Punkt Null erschaffen, der eine Residenz direkt neben dem Archäologischen Park bekommt. Nicht eine Wohnung, nicht ein Haus, nein«, rief er laut, »eine Residenz!« Er machte eine Pause und sah den drei anderen nacheinander in die Augen. »Der neue Siegfried wird die Sage um den alles überstrahlenden Helden und König Xantens derart neu anfachen, dass der Tourismus ungeahnte Höhenflüge erlebt. Gudrun, du machst die PR und die Werbung«, befahl er. Gudrun Tervooren nickte ohne Widerspruch. »Die Buchungen unserer Hotels werden überlaufen.« Van Straten war aufgestanden, fuchtelte begeistert mit den Armen, redete sich in Rage und sah Giesen eindringlich an. »Wir werden Nibelungen-Menüs zu gehobenen Konditionen anbieten, Hunnen-Gebäck zu Apothekerpreisen verkaufen. Brunhild-Mieder und Kriemhild-Bustiers, Hagen-von-Tronje-Mäntel und Siegfried-Hemden. Die Römer haben ausgedient in Xanten. Und auch das überholte Siegfried-Museum!«, rief er. »Mit 3D-Wallkürenritt und Drachenkampf, mit Schwertweihe und Hologrammpark, ja, mit Hightech-Wagneropern im Amphitheater, mit all dem werden wir ein Vermögen machen. Aus aller Welt werden die Menschen kommen.« Er machte eine längere Atempause. »Andere Städte leisten sich einen lächerlichen Stadtschreiber, wir aber werden einen großartigen Siegfried aus der Taufe heben«, fügte er hinzu, reckte die Hände in die Höhe und ließ ihnen einen verklärten Blick folgen. »Disney hat nur eine kleine schwarze Maus, wir aber haben einen blonden strahlenden Hünen!«

Erstaunt über diesen Temperamentsausbruch sahen Rüdiger Scholten, Gisbert Giesen und Gudrun Tervooren sich gegenseitig an.

»Niemand, niemand auf der ganzen Welt wird etwas Ähnliches haben. Nur wir hier in Xanten, nur wir werden endlich dieses seit Jahrhunderten verstaubte Nibelungenlied nutzen, wie es sein Dichter gewollt hat. Wer auch immer dieses … dieses unleserliche, mittelalterliche Geplänkel aufgeschrieben hat – ich bin sicher, der wollte nur eines.« Seine glühenden Augen waren so überzeugend, dass Gudrun Tervooren ihm ein leises »Ja?« entgegenhauchte und wie hypnotisiert auf seinen nächsten Satz wartete. »Nämlich dass wir, ja wir, meine Freunde, den Schatz, unseren Schatz der Nibelungen endlich heben.«

Angst

»Sie haben einen Zettel bei ihm gefunden. In seiner Manteltasche. Von seiner ehemaligen Frau!«, rief Gudrun Tervooren in ihr Handy. »Rüdiger, es sieht so aus, als hätte sie was damit zu tun.«

»Woher …?«

»Mein Schwager ist bei der Polizei, der hat mir das …«

»Kann ich mir nicht vorstellen«, unterbrach Scholten am anderen Ende. »Sie wohnt irgendwo im Osten, hat doch jetzt ’nen Sachsen oder so.«

»Ja und? Es spielt doch keine Rolle, wo sie wohnt. Und wenn sie ihn wirklich umbringen wollte, dann hat sie die Entfernung sicher nicht davon abgehalten. Vielleicht lebt sie ja gar nicht dort … Wart mal, Rüdiger. Da ruft mein Schwager gerade an.« Sie verwies Scholten in die Warteschleife. Nach einer Minute meldete sie sich erneut. »Rüdiger?«

»Ja?«

»Mein Schwager. Karin hat ein astreines Alibi. Felsenfest. Es muss also jemand anderes gewesen sein. Sie wurde nur vorgeschoben. Rüdiger?«

»Ja?«

»Ich hab Angst.«

Scholten schwieg einen Augenblick. »Weiß man, wie er genau zu Tode kam?«

»Ja, ein Speer steckte in seinem Rücken.«

»Ein Speer?«, fragte Scholten erstaunt.

»Ja, ein Speer. So einer aus der Leichtathletik, er steckte zwischen seinen Schulterblättern.«

»Das … also das ist sicher nur ein Zufall, Gudrun.«

»Glaubst du nicht, dass es was mit unserem Projekt zu tun hat?« Ihre Stimme zitterte. »Ich hab Angst.«

»Sagtest du schon. Mach dir nicht ins Hemd, Gudrun, das wird sich aufklären. Mit unserer Sache hat das sicher nichts zu tun. Das wird Günter sicher auch so sehen. Hast du schon mit ihm gesprochen?«

»Nein.«

»Dann ruf ihn an.«

Sein letzter Fehler

Diese Mimose! Er hatte Gudrun mehr Mumm zugetraut. Geflennt hatte sie wie ein altes Waschweib, dachte Günter van Straten. Er würde sie wieder geradebiegen. Am Telefon war das schwierig. Morgen früh würde er sie treffen und noch einmal mit ihr reden müssen. Ihr gut zureden. Die Hauptsache war, dass sie der Polizei nichts über das Schwarzgeld preisgab. Siggi, der Bänker, hatte das alles kreativ eingefädelt, das Geld aus fiskalen Quellen geschickt und unauffällig umgeleitet, um ihr Projekt zu finanzieren. Und Gudrun hatte es bisher bestens verstanden, diese Mittel in Werbung, PR und gekaufte redaktionelle Beiträge zu investieren. Dieses schlüpfrige Geschäft verstand sie wie keine andere.

Van Straten griff nach einer Flasche Jahrgangs-Cognac André Petit, goss sich einen Doppelten ein und trank ihn mit nahezu respektloser Würdelosigkeit in einem Schluck aus. Danach noch einen. Verbissen und mit betrügerischen Gedanken setzte er sich inmitten seiner Penthousewohnung auf das weiße Sofa, wartete die Wirkung des Cognacs ab, zog eine große Patchworkdecke über und schlief ein paar Minuten später ein.

Um 4 Uhr schnarchte er laut und bemerkte in seinem Tiefschlaf nicht, wie sich eine der Schiebetüren zum Balkon langsam öffnete. Ein lautloser Schatten kam auf ihn zu und holte vorsichtig etwas aus einem hellgrauen Sack hervor, hob van Stratens Decke hoch, setzte es darunter ab und verschwand, wie er gekommen war.

Als van Straten vor Schreck erwachte, schrie er kurz auf und schlug hektisch mit bloßer Hand zu. Das war sein letzter Fehler.

Nierenversagen

»Rüdiger, Rüdiger, hast du es schon gehört?«, rief Gudrun Tervooren panisch schluchzend in ihr Handy. »Günter ist tot. Tot, hörst du?«

»Was sagst du da?«, fragte Rüdiger Scholten, den Samstagsvormittagsschlaf noch in den Augen. »Wie ist das denn passiert?«

»Eine Giftschlange«, winselte sie. »Seine Putzfrau hat ihn gefunden. Heute Morgen um halb neun. Er lag auf dem Boden, sein Körper im Schmerz verdreht. Polizei, Krankenhaus, Hirnblutungen und Nierenversagen, tot.«

Rüdiger Scholten ließ sein Handy vor Schreck in die Butterschale fallen. Mit aufgerissenen Augen starrte er auf sein Frühstücksei. Aus dem Handy schnarrte es: »Eine Giftschlange … wie … wie …«

Im Theater

Es dämmerte, und Gudrun Tervooren zitterte. Sie hatte bereits die dritte Zigarette angezündet, knabberte zwischendurch immer wieder an ihren Fingernägeln und kratze sich die Haut an ihren Händen auf. Noch gestern war ein neuer Artikel erschienen, der schon lange vorbereitet gewesen war und der sie immerhin 4.000 Euro gekostet hatte, aus der Kriegskasse der Initiative »Siegfried 2.0« gezahlt.

Das »Niederrhein Blatt« hatte getitelt: »Straßenumfrage für Siegfried 2.0«. Untertitel: »Xantener Bürger befürworten einen Umbruch im Tourismus«. Das Blatt erwähnte kurz, dass es zwar keine repräsentative Umfrage sei, aber dass aufgrund der hohen Zahl der Befragten ein Trend sehr deutlich abgelesen werden könne. Die Menschen wollten mit einer großen Mehrheit von über 70 Prozent der Befragten, dass der Fremdenverkehr sich auf die moderne Interpretation einer neuen Siegfriedfigur konzentrieren und den Vorschlägen der Initiative »Siegfried 2.0« folgen solle.

Gudrun Tervooren wusste es besser. Der Redakteur, mit dem sie bisher zweimal im Bett gelandet war, hatte lediglich drei Leute in seiner Stammkneipe befragt. Und dann noch drei Tausender mehr für den Artikel von ihr kassiert.

Sie musste Rüdiger und Gisbert treffen! Rüdiger war der Vermittler in der Gruppe, der mit dem hellsten Kopf, der mit der gelassensten Art. Der ausgleichende Rüdiger würde sie beruhigen können. Und Gisbert war mutig. Er würde wissen, was in einer Ausnahmesituation wie dieser zu tun war. Sie zog an ihrer Zigarette, ging in die Küche und goss sich gerade die vierte Tasse Kaffee ein, als ihr Handy klingelte. »Danke, dass du dich meldest, Rüdiger. Ich muss raus. Kann ich dich treffen?«

»Wo?«, fragte Rüdiger.

Was wäre ein guter Treffpunkt? Sie überlegte kurz. »An der Freilichtbühne hier bei mir in Birten?«, schlug sie vor.

»Einverstanden. Am Parkplatz, in zehn Minuten.«

Gudrun zog Schuhe und Mantel an. Von ihrer Wohnung aus waren es nur wenige Minuten zu Fuß zum sogenannten Amphitheater. Rüdiger würde mit dem Auto kaum länger als sie brauchen. Heute zeigten sie einen Filmklassiker aus den 60ern: »Die Nibelungen, Teil 2 – Kriemhilds Rache«.

Kühle Luft kroch ihre Beine hoch, als sie auf das Freilichttheater zuging. Es war bereits dunkel geworden. Als Rüdiger kam, fiel sie ihm um den Hals, noch bevor er ganz aus seinem Auto gestiegen war. »Gut, dass du da bist.« In dem Moment kam auch Gisbert angefahren.

Sie gingen den Weg zur Spielstätte entlang. Heroische Klänge waren aus dem Halbrund zu hören. Als sie näherkamen, konnten sie die schwarzen Silhouetten der Zuschauer erkennen, die sich vor der großen Leinwand abzeichneten.

»Sag mal, hast du schon mal dran gedacht«, fragte sie Rüdiger etwas zögerlich, »der Polizei mehr zu sagen als nur, dass wir uns das alles nicht erklären können?«

Rüdiger schüttelte den Kopf. »Dieser Hauptkommissar Bern war zweimal bei mir, ich habe ihm nur erklärt, dass ich zwar mit den beiden Toten befreundet war, aber mehr hab ich nicht gesagt. Und du?«, fragte er Gisbert Giesen, der neben ihm an dem Geländer oberhalb des Vorführraums lehnte, umgeben von dicht gewachsenen Bäumen.

»Günter hat mir eingebläut, nichts zu sagen, aber das gilt ja wohl nicht mehr«, antwortete er zögerlich.

»Ergebt Euch!«, tönte es aus dem Theater. »Nein!«, schrie die Meute der Burgunder. »Dann kämpft!«, rief ihnen der Vasall Etzels entgegen. Eilige Schritte, dramatische Musik, Schwerter klirren, Tod und Verderben.

Irritiert vom Lärm wandte sich Rüdiger schließlich wieder an Gudrun. »Wir sollten uns daran halten, was Günter vorgeschlagen hat.«

»Aber wer ist das, der hier Leute umbringt? Das kann doch kein Zufall sein, dass es gerade zwei von uns sind! Und bald …«, schluchzte sie, »bald, da sind wir dran, Gisbert. Begreift ihr denn nicht?« Sie packte Gisberts Arm und schüttelte ihn heftig.

»Zum letzten Mal, Bruder, sage dich los!«, forderte Kriemhild vom König der Burgunden.

In dem Moment sprang eine Gestalt aus dem dichten Baumbestand hervor. Rüdiger Scholten riss den Mund auf und begriff nicht, was gerade passierte. Die Gestalt holte aus und schlug auf Gisbert ein. Rüdiger reagierte schnell, riss Gudrun zur Seite, deren Schreie im Kampfgetümmel der Burgunder und Etzels Vasallen untergingen, und zerrte sie die Treppenstufen und den Weg zum Parkplatz hinab. Entsetzt blickten sie kurz zurück und sahen noch, wie Gisbert benommen an dem Geländer lehnte, als die Gestalt ihm einen schmalen Holzscheit in den Rachen schob und eine Stichflamme hochschoss. Dann war die Gestalt verschwunden. Gudrun starrte wie gelähmt mit weit aufgerissenen Augen auf die Flamme, die aus Gisberts Mund loderte. Rüdiger zerrte sie mit aller Gewalt hinter sich her bis zum Parkplatz. Am Auto angekommen, zog Gudrun immer wieder am Türgriff, warf sich schließlich auf den Beifahrersitz und schrie auf Rüdiger ein, bis dieser endlich mit durchdrehenden Reifen davonfuhr.

Kurz vor der Polizeiwache in Xanten stoppte Rüdiger sein Auto. Schwer atmend und zitternd starrte er durch die Windschutzscheibe und stammelte ins Leere: »Angezündet, mit einem Holzscheit, … wie … wie …«

Die Mühle

Gudrun wachte früh auf, nachdem sie doch noch eingeschlafen war, obwohl sie sich fast die ganze Nacht im Bett hin und her gewälzt hatte. Sie bestieg ihr Auto und fuhr übermüdet in die Stadt. Arbeit würde das Beste sein, dachte sie. Sie zitterte am ganzen Leib. Die Polizei hatte sie und Rüdiger gestern Abend noch mehrere Stunden befragt. Völlig ausgelaugt betrat sie die Kriemhild-Mühle an der Stadtmauer, für die sie im Auftrag der Stadt Xanten eine neue Werbelinie entwickeln sollte.

Der Himmel war wolkenlos, ein idealer Tag für Fotos. Andere Aufgaben waren heute sinnlos, ihre Konzentrationsfähigkeit war auf dem Nullpunkt. Sie begrüßte den Betreiber des Ladens, der im Erdgeschoss eingerichtet war, und stieg die zwei steilen Leitern empor, die ins Innere der Mühle führten. Die Tür zum Außenumgang quietschte und ließ sie kurz erschauern.

Draußen war es windstill. Die Flügel der Windmühle drehten sich nicht. Gudrun nahm ihre Canon aus der Tasche und begann, eine Reihe von Fotos zu machen, einen Flügel der Mühle immer ein Stück weit im Bild. Mal rechts, mal links, mal weiter oben.

Von unten hörte sie ein entferntes Rufen. »Ja, ja, zwei Treppen, dann durch die Tür!«, rief jemand. Dann ein Lachen. »Schön, einen Schauspieler hatte ich noch nie oben auf der Mühle.«

Als die Tür aufging, stand er vor ihr. Ein Römer. Bevor sie schreien konnte, schlug er zu. Ihr Kopf war mit einem Hieb vom Hals getrennt und fiel dumpf auf den Holzboden. Nicht einmal eine Minute später hing ihr Torso in der Takelage des Flügels. Der Wind frischte auf, und Gudrun Tervooren drehte sich kopflos über der Stadtmauer von Xanten.

*

ein halbes Jahr zuvor

Die Proklamation

Der Karneval-Club »Römische Legionäre im Carneval«, kurz RLC, hatte ihn zum Kaiser Trajan gemacht. Hier in Mainz. Roman Cefalescu konnte es kaum fassen, dass die Wahl auf ihn gefallen war. Seitdem musste er ein mächtiges Programm absolvieren, und das seit Wochen! Er hatte eine Leibgarde, einen persönlichen Lakaien und ein paar Leute, die auf sein Wohlergehen achteten, bis hin zu einem Leibarzt. Das alles ließ sich der RLC einiges kosten. Auch er hatte ganz schön hinblättern müssen, aber das hatte sein Turnverein ihm, dem großen Talent am Barren und Reck, über einen Spendenaufruf ermöglicht. Im Angesicht der Tatsache, dass er normalerweise jeden Morgen früh aufstand und in einer der größten Metzgereien als Hilfsfleischer arbeitete, war das eine sagenhafte Karriere. »Wer kann heutzutage noch lateinischer sein als ein zugewanderter Rumäne!«, rief der Vizepräsident des RLC, obwohl das kaum der wahre Grund war. Romans glasklare Stimme hatte den Ausschlag gegeben. Denn seine Trajanhymne überzeugte alle in der Jury und ließ die Herzen hochschlagen.

»Der beste Kaiser nur für Euch, Ihr, die Lieb von Mainz.

Ich werde Euer Retter sein, umarmt Euch und seid Eins!«

So sang er voller Stolz den selbst gedichteten Text mit seinem schmetternden Tenor und machte dabei eine Bewegung, als wolle er die ganze Welt an sein Herz drücken. Sie lagen ihm zu Füßen, und der Applaus wollte nicht enden.

»Wir haben einen Trajan!«, rief der Kommandant der Ehrengarde nach der Proklamation. Tränen vor Glück kullerten, Menschen lagen sich in den Armen. Wie einen echten Kaiser trugen sie ihn in einer Sänfte und auf Schultern durch Säle und Kneipen, verehrten und bejubelten ihn. Bis der große Absturz kam.

Der Sturz

Es war ein strahlender Rosenmontag, die Sonne stand am Himmel, Eisblumen umrankten die kleinen Fenster an dem Traktor, der seinen Prunkwagen zog. Roman Cefalescu saß voller Stolz ganz oben auf einem weißen hölzernen Pferd, das sich auf und ab bewegte. Hunderttausende Menschen winkten ihm zu, sie priesen ihn als den einstigen Retter und Herrscher von Mogontiacum. Ein Eichenkranz aus Gold krönte sein Haupt, so wie man es in Rom nur wenigen Volkshelden gestattet hatte. Trotz der Eiseskälte an diesem Tag trug er offene Sandalen an seinen Füßen und Waden, eine weiße Tunika mit edlem purpurnem Besatz, darüber den goldenen Brustpanzer und einen Soldatengütel, an dem ein speziell für ihn geschmiedetes Kurzschwert baumelte. Auf seinen Schultern war eine rote Toga befestigt, die seinen Rücken und den linken Arm bedeckte. Glücklich und beflissen warf er Pralinen und Schokolade ins Volk.

Die Herzen der Menschen waren sein. »Trajan, Trajan«, riefen sie, Kusshände flogen ihm zu, sie lachten und sangen. So war das in Mainz. Und als der Zug endete, da trugen sie ihn vom Wagen. In einer Woge der Begeisterung wurde er von den feiernden Menschen auf ausgestreckten Händen weitergereicht, bis in eine Kneipe, wo sie ihn auf die Theke stellten. Er, der Sohn rumänischer Einwanderer, stand erhöht vor den Menschen und war auf seinem emotionalen Höhepunkt. So viel Glück! Er tanzte, lachte und schwang sein langes Zepter hin und her. Und dann wollten sie ihn singen hören. Er sang sein Lied, seine Trajanhymne. »… ich werde Euer Retter sein …«

Als die Musik verstummte, brandete ohrenbetäubender Applaus auf. Die Menschen umarmten sich, prosteten sich zu, jemand griff nach seinem Bein, wollte ihn berühren, ja verehren. Es war ein junger Mann, der ihn anlachte. Er, der Trajan von Mainz, er lachte zurück, als der angesäuselte Bursche über seine Wade strich. Plötzlich erstarrte das Gesicht des Mannes vor ihm. »Hey!«, rief er entsetzt. »Der hat ja Nylons an! Der Kaiser mit Nylonstrümpf!« Die Kneipe war kurz wie erstarrt. »Unser Held trägt Damenstrümpf!«, schrie ein anderer. Plötzlich raunten die Leute. Dann lachten sie. Aber sie lachten nicht mehr aus Verehrung, nein, sie lachten vor Spott. Sie zeigten mit Fingern auf ihn. »Trajan, der Warmduscher«, hallte es von hinten durch den Saal. Gelächter. »Der will unser Retter sein?« Noch mehr Gelächter. Er lief rot an, wollte etwas sagen, doch das Gelächter artete in laute Empörung aus. Er hätte nicht auf seine Mutter hören dürfen, die Sorgen gehabt hatte, dass er sich im Rosenmontagszug auf seinem Holzpferd erkälten würde. Sie hatte ihn überredet, ein Paar ihrer Strümpfe anzuziehen.

Tumultartig griffen ein paar Leute nach seinen Beinen und rissen die Strumpfhose in Fetzen. Als er sich wehren wollte, fiel er, Trajan, von der Theke. Ein einziges Geschepper. Dann eine Faust, eine Schlägerei, Tumult ohnegleichen. Krankenhaus, und er war nicht der Einzige. Die halbe Kneipe war demoliert. Am nächsten Tag aber stand in den Zeitungen: »Skandal am Rosenmontag: Trajan in Damenstrumpfhosen erwischt«, »Strumpfhos-Gate sorgt für Massenschlägerei!«, »Held in Strumpfhosen abgestürzt« oder »Rumänischer Trajan entehrt heiligen Rosenmontag«. Sogar die Kölner und Düsseldorfer Zeitungen verspotteten ihn: »Der tiefe Fall des Mainzer Trajan«, »Mainzer Kaiser Trajan unwürdig gescheitert«. Ein gefundenes Fressen im Wettbewerb der karnevalistischen Großmächte.

Fortan wurde er verachtet, der RLC schloss ihn aus. Er habe das Verderben über den Verein gebracht, ja über das gesamte Rheinland! Man gab ihm alle Schuld an dem Skandal. Seinen Job als Fleischzerteiler hatte er zwar behalten können, doch in ganz Mainz wurde er geschnitten. Sogar sein Sportverein hatte ihm den Rückzug aus dem Kader nahegelegt. Und er schämte sich unendlich. Er zog sich komplett zurück. Zu seinen Eltern brach er jeden Kontakt ab.

Die Metamorphose

Roman Cefalescu erkrankte schwer, in seinen Fieberträumen plagten ihn hässliche Fratzen, die sich über ihn beugten und ihn beschimpften. Schweißgebadet wachte er morgens auf und zitterte am ganzen Leib. Er hatte sich einen psychogenen Tremor eingefangen.

Wochenlang traute er sich kaum mehr aus der Wohnung, nur zum Arzt war er gegangen, um sich krankschreiben zu lassen. Sein Gehalt wurde zwar weitergezahlt, aber wie lange noch? Seine Einkäufe ließ er sich von einem Online-Dienst bringen. Joghurt, Müsli, Kaffee und Kartoffeln. Kein Alkohol.

Er flüchtete sich ins Internet, wo er unablässig alles zu Trajan las, was ihm begegnete. Er sprach mit ihm. Nannte ihn − und irgendwann sich selbst − »mein Kaiser«. Trajan und er wurden eins. »Salve, Optimus Princeps«, sprach er demütig und neigte seinen Kopf vor dem Spiegel. »Ich bin dein Vertreter, oh Imperator Caesar Nerva Traianus Augustus. Ich unterwerfe mich deinem Befehl, mein Kaiser.«

Allmählich wandelte sich seine Angst in Wut. Der Tremor ging zurück. Er verließ das Haus und rannte durch den Wald. Jeden Tag rannte er. Der Sport tat ihm gut. Eines Tages fand er einen langen Stock, wog ihn in der rechten Hand, peilte einen Baum an, reckte den Arm nach hinten und ließ ihn nach vorn schnellen, wobei er den Stock losließ und ihn mit festem Blick ins Ziel lenkte. Zu Hause angekommen duschte er sich, trocknete seine Haare und setzte sich an den Computer. Die Stadt Xanten war ihm schon mehrfach begegnet, wenn er nach Trajan suchte. Es gab viele Bilder von der Statue, die man für ihn, Trajan, in der Stadt Xanten aufgestellt hatte. In einem Rundbogen des großen Amphitheaters. Seit einiger Zeit hatte er sich deshalb dieser Stadt zugewandt, die er vor so langer Zeit gegründet hatte. »Weißt du noch, mein Lieber, als du damals Statthalter in Mainz warst?«, sagte er verzückt zu sich selbst. »Und du von hier geflüchtet bist? Vor diesen bösen Menschen?« Fast zärtlich legte er den Kopf schief und spürte eine Art Mitleid mit dem Kaiser und mit sich selbst.

Ja, dort in Xanten, dort mochte man Trajan, dort verehrte man ihn, nicht wie hier in Mainz – dachte er. Er hatte sogar mit dem Gedanken gespielt, dorthin zu ziehen. Noch konnte er sich keinen Umzug leisten. Aber er sparte dafür.

Xanten! Man würde ihn wieder auf Händen tragen! Ihn, den Kaiser Trajan, der Rumänien, die Heimat seiner Eltern, erst zu dem gemacht hatte, was es war, die lateinischste aller römischen Provinzen. Das konnte kein Zufall sein. Er war der Auserwählte, er war die Inkarnation Trajans, er musste das Andenken an den besten Kaiser bewahren. Und dazu musste er nach Xanten. Sie würden ihn lieben.

Der Entschluss

Als Roman Cefalescu die Meldung in der Online-Ausgabe des »Niederrhein Blatt« las, stieß er einen gellenden Schrei aus. Sein Kopf schnellte auf den Bildschirm zu. Er las es noch einmal: »Der Hype um den verstaubten Trajan und um seine Römer hier bei uns ist out. Es lebe der neue Siegfried!« Dann las er die Namen unter dem Bild.

Er war derart aufgebracht, dass er ohne Unterlass mit der Faust auf sein Knie schlug. Man wollte sein Bild zerstören, sein Werk, sein Andenken. Noch bevor er dort war! Er, der Trajan von Mainz, er war es, der den besten Kaiser in personam verkörperte. Er hatte Xanten gegründet! Nicht dieser Siegfried, dieser einfältige Sohn eines noch einfältigeren Königs, dessen Reich die Menschen am Rhein »das Niderland« nannten, tatsächlich ohne e geschrieben.