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Reise in das Herz des Dschungels von Costa Rica Die Eltern von Silver sind unglücklich, weil ihr Wunsch nach einem Geschwisterchen für sie nicht erfüllt wird. Als Silvers Vater, der Künstler ist, eine Einladung erhält, in einem Schildkrötenrettungszentrum in Costa Rica zu malen, hofft sie, dass diese Auszeit genau die Abwechslung bringt, die ihre Familie braucht. Unter der heißen tropischen Sonne gewöhnt sich Silver schnell an das Leben im Tierzentrum. Sie entdeckt sogar eine der seltenen Sichtung einer Lederschildkröte, die am Strand nistet. Doch als die Eier der Schildkröte gestohlen werden, nehmen die Ereignisse eine gefährliche Wendung. Um die Diebe aufzuspüren, müssen Silver und ihre neuen Freunde in das Herz des Dschungels reisen und kommen einer Bande von Wilderern auf die Spur ...
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Seitenzahl: 220
Veröffentlichungsjahr: 2025
Hannah Gold
Aus dem Englischen von Sylke Hachmeister
Deutsche Erstausgabe
© der deutschsprachigen Ausgabe:
von Hacht Verlag GmbH, Hamburg 2025
Alle Rechte vorbehalten
Der Verlag untersagt ohne ausdrückliche schriftliche Zustimmung die Nutzung dieses Werkes im Sinne des § 44 b UrhG für das Text- und Data-Mining.
Text copyright © Hannah Gold 2024
Illustrations copyright © Levi Pinfold 2024
Aus dem Englischen von Sylke Hachmeister
Verlegerin: Rebecca Weitendorf von Hacht
Lektorat: Diana Steinbrede
Die Originalausgabe erschien unter dem Titel Turtle Moon bei HarperCollins Children’s Books ein Imprint von HarperCollinsPublishers Ltd Großbritannien
Translation © von Hacht Verlag 2024, translated under licence from HarperCollinsPublishers Ltd.
Hannah Gold and Levi Pinfold assert the moral right to be acknowledged as the author and the illustrator of this work respectively.
Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt, jede Verwertung bedarf der Genehmigung des Verlages.
Alle Rechte vorbehalten. Der Verlag untersagt ohne ausdrückliche schriftliche Zustimmung die Nutzung dieses Werkes im Sinne des §44b UrhG für das Text- und Data-Mining.
ISBN978-3-96826-050-1
www.w1-vonhacht.de
www.instagram.com/vonhacht_verlag
Für alle Mütter der Welt – wie eure Kinder auch kommen und selbst wenn sie gar nicht kommen. Möge euer Licht immer scheinen.
Silver Trevelon schwang mit einer Hand am Ast ihres Lieblingsbaums. Es war eine mittelgroße Eiche, noch nicht uralt, doch im Laufe ihres Lebens hatte sie schon viele Veränderungen mitangesehen. Die Eiche stand hinten im Garten der Trevelons und war der perfekte Kletterbaum.
Und auf Bäume klettern war wohl Silvers allerliebste Beschäftigung. Für ihr Leben gern spürte sie die raue, knorrige Rinde unter den Fingerspitzen, die kühle Brise im Gesicht und den satten, erdigen Waldgeruch in der Nase. Vor allem war sie für ihr Leben gern so hoch oben. Eingesponnen in das Geflecht der obersten Zweige, hatte sie die besten, geradezu hochfliegenden Gedanken.
Eigentlich durfte Silver gar nicht mehr auf die Eiche klettern. Sie war nämlich einmal heruntergefallen und musste den Arm drei Wochen lang in einer Schlinge tragen. Doch während sie sich zum dritthöchsten Ast emporschwang (einem wunderbaren Ast, wie geschaffen für den Hintern einer Elfjährigen), dachte sie, dass das jetzt wirklich ein Notfall war.
Sie hatten heute in der Schule in Kunst eine Prüfung gehabt, und Silver hatte kläglich versagt. Selbst Roger White hatte besser abgeschnitten als sie, und der hatte nur eine Gespenstschrecke mit großen, leicht verwunderten Augen gezeichnet.
Mit finsterer Miene holte Silver ihre Zeichnung hervor.
»Und was soll das darstellen?«, hatte Mrs Snootle gedehnt gefragt, während die Klasse kicherte – alle außer Aziza, die Silvers beste Freundin war und sie nie auslachte, nicht mal, als sie aus Versehen im Schlafanzug mit Leopardenmuster zur Schule gekommen war.
»Das«, antwortete Silver und funkelte die Lehrerin an, »nennt man abstrakte Kunst.«
»Ah«, machte Mrs Snootle und drehte das Bild übertrieben hin und her. »Anscheinend hast du einige Begriffe von deinem Vater gelernt, sein Talent hast du allerdings nicht geerbt.«
Silver schlenkerte wütend mit den Beinen. Nicht so doll, dass es den Baum hätte beleidigen können, aber doch so sehr, dass die Blätter erschrocken flatterten.
»Wie soll ich Dad jetzt unter die Augen treten?«, murmelte sie.
Von hier oben konnte sie genau in das Atelier ihres Vaters blicken. Wobei Atelier ein bisschen hochtrabend klang für den bescheidenen Wintergarten ihres Reihenhauses. Aber ihr Vater liebte sein Atelier, weil es so schön hell war. Und, wie er gern zu sagen pflegte, Künstler brauchen Licht wie die Fische das Wasser.
Durch die Glastür sah Silver seine vertraute Gestalt vor seinen neuesten Bildern auf und ab laufen. Als sie heute Morgen zur Schule gegangen war, hatte er sie beim Umarmen über Kopf gewirbelt, was sie liebte, und ihr sogar seinen kostbarsten Pinsel geliehen. Den Pinsel mit Borsten aus Adlerfedern, den er sich auf einer Exkursion in die Mongolei gekauft hatte.
Sie betrachtete ihr Bild noch einmal mit kritischem Blick. Es war eindeutig die Interpretation eines Oktopusses. Und was machte es schon, dass der Oktopus in ihrer Interpretation keine Arme hatte?
Ihr Vater sagte immer, ein Bild müsse sich nicht auf den ersten Blick erschließen. Manchmal kam es gerade darauf an, unter die Oberfläche zu blicken, um den Schatz darunter zu entdecken. Und wenn irgendjemand es wissen musste, dann ja wohl er.
Vor Jahren, als Silver noch ein Baby war, hatte er ein Kinderbuch geschrieben und illustriert. Es hieß Waldabenteuer und erzählte von den Erlebnissen einer zusammengewürfelten Truppe von Tieren. Niemand hatte damit gerechnet, dass es sich gut verkaufen würde, aber irgendwie hatte das Buch eine Fangemeinde gefunden und Jack Trevelon ein kleines bisschen berühmt gemacht. Nicht sehr berühmt. Niemand bat ihn auf der Straße um ein Autogramm (bis auf Mrs Holland von nebenan, die seltsamerweise eins für ihren Dackel Harold haben wollte), aber doch so berühmt, dass man auch von Silver eine großartige künstlerische Begabung erwartete.
Die sie nicht hatte.
Sie war richtig schlecht in Kunst.
Aus alter Gewohnheit berührte sie das Herz, das sie an einer Kette um den Hals trug. Das hatten ihre Eltern ihr zum siebten Geburtstag geschenkt, damit sie nie vergaß, wie besonders sie war.
»Silber für unsere Silver!«, hatten sie im Chor gerufen.
Als Silver das Geschenk damals auspackte, erzählte ihre Mutter ihr noch mal die Geschichte. Die Geschichte, wie sie zu diesem ungewöhnlichen Namen gekommen war. Als bei ihrer Mutter damals die Wehen einsetzten, war gerade Vollmond. Ein Supervollmond. Der Mond kann unterschiedliche Farben haben – golden, orange, rötlich, sogar blutrot. Aber in jener Nacht vor ungefähr elf Jahren war er silbern.
Leider konnte Silver mit ihrem Namen gar nicht so besonders viel anfangen. Er bezeichnete etwas Wertvolles, Glänzendes. Etwas, das man bewunderte, so wie eine Krone oder ein Feuerwerk – oder Großmutters bestes Besteck. Etwas, das in ein samtenes Schmuckkästchen gehörte. Während Silver oft Zweige im Haar hatte, Schneckenrennen auf ihrem Arm veranstaltete, in den meisten Fächern schlecht stand und fast das halbe Alphabet in einem Atemzug rülpsen konnte.
Wieder betrachtete sie das Bild.
Zugegeben, es war ein bisschen formlos.
Und die drei Oktopusherzen hätte man auch für hungrige Mäuler halten können. Oder für Popos. Igitt. Sie machte sich nichts vor – ihr Vater hatte mehr Talent in seinem kleinen Finger als sie im ganzen Leib.
Silver zerknüllte das Blatt und steckte es in die Jackentasche ihrer Schuluniform, zu dem Pinsel ihres Vaters.
Oh-oh!
Ihr Mund wurde trocken. Der Pinsel. Wo war er?
Der musste ihr beim Klettern aus der Tasche gefallen sein. Sie tastete den Ast ab, schaute in versteckten Spalten und Ritzen nach, fuhr mit der Hand sogar kurz in die Eulenhöhle. Darin waren keine Eulen – nur Spinnen und Kellerasseln. Silver schauderte. Sie liebte fast alle Tiere, aber es gab Ausnahmen.
Der Pinsel war nirgends zu finden.
»Tintenklecks!«, fluchte sie, genau wie ihr Vater, wenn er sich mit Farbe bekleckerte, was häufig vorkam.
Wütend schlenkerte sie mit den Beinen. Und da entdeckte sie plötzlich etwas im Baum.
Der Pinsel!
Er steckte zwischen den Zähnen eines frechen kleinen Zweigs. Nur ein winziges Stück entfernt. Sie streckte den Arm aus …
Und fiel kopfüber vom Baum.
Wie eine Akrobatin taumelte Silver durch die Äste, bevor sie weich auf einem Kissen aus Ästen und Laub weiter unten im Baum landete. Grinsend sprang sie auf das moosige Gras.
»Danke, mein Freund.«
Sie tätschelte den Baumstamm, zupfte sich ein paar Blätter aus den Haaren und hüpfte über die Trittsteine durch den Garten, wobei sie sich vorstellte, Krokodile wären hinter ihr her. Vor dem Hintereingang des Hauses blieb sie stehen.
Sie pulte den Dreck unter den Fingernägeln hervor und hielt auf der Veranda nach dem Kittel ihrer Mutter Ausschau. Ihre Mutter hängte ihn immer an denselben Haken – er war leer. Silver riss sich die Basecap vom Kopf und zielte damit auf einen anderen Haken (voll daneben). Insgeheim war sie erleichtert, wenn auch mit schlechtem Gewissen.
Allein in der letzten Woche hatte ihre Mutter drei Mal mit ihr geschimpft – einmal, weil Silver ihre matschigen Schuhe mitten in den Flur gestellt hatte, einmal, weil sie Milch auf dem Küchentisch verschüttet hatte, als sie ihre Coco Pops aß, und einmal schließlich, weil sie unter der Dusche zu laut Musik gehört hatte. Silver gab sich wirklich die allergrößte Mühe, aber in letzter Zeit konnte sie es ihrer Mutter einfach nicht recht machen.
»Silver? Bist du das?«, rief ihr Vater.
»Ich komme!«
Nach der Eiche war das Atelier ihres Vaters ihr zweitliebster Ort, auch wenn ihr der Terpentingeruch im Hals brannte. Lauter leere Leinwände lehnten an der Wand, auf dem Holztisch standen unzählige Marmeladengläser, und alle erdenklichen Farben flogen überall herum.
Wie immer hatte ihr Vater seine khakifarbene Camouflage-Hose bis über die Knöchel hochgekrempelt, sein weißes T-Shirt war mit Farbe besprenkelt. Er begrüßte Silver mit einem Lächeln, zog den Adlerpinsel hinter ihrem Ohr hervor und wandte sich dann wieder seiner riesigen Leinwand zu. Es blieb lange still.
»Silver«, sagte er schließlich. »Würdest du für diesen Teil des Himmels Obsidian oder Aschgrau nehmen?«
Mit gerunzelter Stirn schaute sie auf das Bild.
Vor ein paar Jahren hatte ihr Vater seine Kunst in einer schicken Londoner Galerie ausgestellt. Er hatte einen Anzug getragen und darin wahnsinnig geschwitzt, und Silver war es so vorgekommen, als hätte sie für den Abend einen neuen Vater ausgeliehen – einen, der sein wahres Ich in einem Kulturbeutel verstaut hatte.
Mit dem Bild, an dem er gerade arbeitete, war es ganz ähnlich. Da gab es keine üppigen Farbtupfer, keinen Sonnenstrahl, da funkelte nichts. Die riesige Leinwand wurde von einem unheilvollen, stürmischen Himmel beherrscht, darunter ein winziges Boot, das von wütenden Wellen hin und her geworfen wurde.
Silver gefielen seine albernen Bilder viel besser. Die Comiczeichnungen von Waldabenteuer oder die bunten Kritzeleien, die er vorm Schlafengehen für sie machte, wenn er Geschichten über Hexen, Drachen und Einhörner auf weißes Papier zauberte. Aber so was hatte er schon lange nicht mehr für sie gemalt.
»Und?«, fragte er mit dem Pinsel zwischen den Zähnen.
Auf dem Tisch lag eine Tube mit Gold. Ein schönes, glitzerndes, schimmerndes Gold, mit dem der Himmel leuchten würde wie die kalifornische Sonne.
»Das G–«
»Ich glaube, Obsidian«, fiel er ihr ins Wort. »Ein Kristall, der aus der Lava eines abgekühlten Vulkans entstanden ist. Auch bekannt als Stein der Wahrheit. Apropos Wahrheit, was hast du auf dem Baum gemacht?«
»W-w-woher weißt du das?«
Ihr Vater antwortete nicht. Jedenfalls nicht mit Worten. Stattdessen hob er theatralisch seinen Pinsel und malte ein rigoroses X in die Luft. »Du musst mir versprechen, dass du nie mehr auf den Baum kletterst.«
Silver seufzte. »Okay, ich verspreche es.«
»Du hättest dir das Genick brechen können, und deine Mutter hat im Moment schon genug Sorgen.«
Silver wollte gerade betonen, dass sie sich aber nicht das Genick gebrochen hatte, als sie seinen Blick sah. Dieser Blick duldete keinen Widerspruch.
Ihr Vater stellte den Pinsel in ein Glas mit Terpentin, dann nahm er Silver mit zu dem alten, abgewetzten Sofa in der Ecke. Sie kuschelte sich unter seinen Arm. Er roch nach Acrylfarbe und gleichzeitig vertraut und geborgen. Sie lehnte den Kopf an ihn.
»Und, mein Schatz, hat der Adlerpinsel Wunder gewirkt?«
Tintenklecks! Sie hatte gehofft, dass ihr Vater die Kunstprüfung vergessen hätte. Widerstrebend fasste sie in die Tasche und reichte ihm das Bild.
Ihr Vater strich es glatt. »Ein Oktopus!« Er grinste. »Und da! Da sind ja die drei Herzen, genau wie wir drei. Du, Mum und ich. Du hast bestimmt eine super Note bekommen!«
Silver hätte ihren Vater am liebsten daran erinnert, dass sie in keinem Fach je super Noten bekam, aber er sah sie so hoffnungsvoll an, dass sie bloß mit den Schultern zuckte.
»Mrs Snootle war nicht sehr beeindruckt.«
»Was weiß die alte Schnute schon?«, rief ihr Vater. So nannte er Mrs Snootle immer, und Silver musste jedes Mal kichern. »Dieser Oktopus ist großartig!«
Bevor er Silver noch weiter über ihre Malkünste ausfragen konnte, wurde sie vom Telefonklingeln gerettet. Der Apparat war so alt, dass er sogar noch eine Wählscheibe hatte. Ihr Vater glaubte nicht an »diese neumodische Technologie«.
»Da geh ich mal lieber ran.«
Während er in die Küche lief, wo das Telefon stand, ging Silver zum Arbeitstisch, um sich die goldene Farbe genauer anzusehen. Die bestand zwar nicht aus Vulkangestein, aber dafür war sie viel leuchtender.
Als wäre sie aus Sonne gemacht.
Silver nahm die Tube und schüttelte sie ein wenig. Da sah sie einen Briefumschlag, der unter der Tube gelegen hatte. Lauter Luftpost-Aufkleber waren darauf, Briefmarken von weit her und ein paar unbeholfene Spritzer sturmblauer Farbe.
Manchmal bekam Silvers Vater Fanpost von Lesern aus dem Ausland. Vielleicht war der Brief von einem Fan? Der Umschlag roch irgendwie ungewöhnlich, sie wusste nicht, wonach. Durchdringend und süßlich. Silver drehte ihn um. Auf der Rückseite war ein grüner Schildkrötenstempel.
»Niedlich«, murmelte sie.
Es war eigentlich nicht ihre Art, anderer Leute Post zu lesen, aber der Brief lugte so verlockend aus dem Umschlag hervor. Auf den oberen Rand des Blatts waren verschiedene Bäume gezeichnet. Darunter stand fett gedruckt:
Rettungsstation am Schildkrötenstrand
Dann die Anrede: »Lieber Mr Trevelon.« Da der Rest des Briefs noch im Umschlag steckte, konnte Silver nichts weiter lesen.
Wahrscheinlich nur Fanpost, dachte sie. Von einem Tierfreund – vor allem Tierfreunde und -freundinnen liebten seine Bücher. Und obwohl es ihrem Vater nichts ausmachte, wenn sie seine Post las, wollte er doch den ersten Blick darauf werfen. Aber vielleicht hätte er ausnahmsweise nichts dagegen …
»Jack! Silver!«, erklang die Stimme ihrer Mutter. »Ich bin da!«
Vom Wintergarten aus beobachtete Silver, wie ihre Mutter in den Flur kam. Die braunen Locken trug sie wie immer zu einem straffen Dutt gebunden, ihre Schultern waren gebeugt. Sie war eindeutig erschöpft nach einem langen Tag in der Praxis. Silver wollte gerade Hallo rufen, aber da blieb ihre Mutter vor dem Familienfoto von ihnen dreien stehen, das letztes Jahr am Strand aufgenommen worden war, und berührte es mit den Fingerspitzen. Ein überraschend wehmütiger Ausdruck huschte über ihr Gesicht, so kurz, dass Silver es sich vielleicht nur eingebildet hatte.
»Tut mir leid, dass ich so spät komme!«, rief ihre Mutter und straffte den Rücken. »Kleiner Notfall in letzter Minute, ein entlaufenes Meerschweinchen …«
»Du brauchst dich nicht zu entschuldigen.« Silvers Vater tauchte aus der Küche auf. »Ist doch klar, dass Meerschweinchen vor Ehemännern kommen.«
Sie lächelten sich an.
Dann verharrte er und lief rot an. Und dann …
»HATSCHI!«
Sein Niesen war so laut, dass die Wände wackelten. Puterrot im Gesicht, zeigte er mit dem Pinsel anklagend auf den blassblauen Kittel seiner Frau. Sonst zog sie ihn immer an der Hintertür aus, und sie war selbst überrascht, dass sie ihn noch anhatte.
Er hielt sich die Nase zu, um einen zweiten, noch heftigeren Nieser zu stoppen. Doch der Nieser brach wie ein Vulkan aus ihm heraus.
»Du … hast … deinen … Kittel … noch … an!«
Das war immer so ein Scherz zwischen ihnen gewesen – Kunststudent mit Tierhaarallergie verliebt sich in aufstrebende Tierärztin.
Als Silvers Vater zum dritten Mal nieste, verselbstständigten sich seine Hände und damit auch sein Pinsel. Der Pinsel schnellte hierhin und dorthin und spritzte Obsidianfarbe in alle Richtungen – an die Wände, über den Holzfußboden und sogar an die Nasenspitze von Silvers Mutter.
Sie machte die goldbraunen Augen ganz schmal. »Jack Trevelon«, sagte sie scharf und wischte sich den Farbklecks von der Nase. »Das ist das Letzte, was ich heute gebrauchen kann. Wirklich das Allerletzte.«
Silver wurde schwer ums Herz. Früher einmal hätte ihre Mutter lachend die Augen verdreht – so wie man es bei einem frechen jungen Hund machen würde. Vielleicht hätten sie sich sogar geküsst (bah), und auch wenn das manchmal unangenehm war, wäre es Silver tausendmal lieber gewesen als die angespannte Stimmung, die jetzt bei ihnen herrschte. Es war ein Gefühl, als müsste sie die ganze Zeit auf rohen Eiern gehen.
Sie guckte auf den Brief in ihrer Hand. Die Schildkröte guckte zurück. Schuldbewusst legte Silver den Brief wieder unter die Tube mit Goldfarbe und lief schnell nach oben.
In Silvers Welt waren Hausaufgaben nur ein verschwommener Nebengedanke. So unangenehm wie Spinnen und überreife Bananen. Aber selbst Hausaufgaben waren besser, als aus Versehen einen weiteren Streit ihrer Eltern mit anzuhören. Eigentlich sah es ihren Eltern gar nicht ähnlich, zu streiten. Wo Silver mit dem Fuß aufstampfte, führten sie lieber eine erwachsene Unterhaltung.
Ablenkung. Sie brauchte Ablenkung. Sie beendete ihr Projekt für Naturwissenschaften, sammelte ihre schmutzigen Fußballklamotten vom Boden auf und suchte im Internet kurz nach »Rettungsstation am Schildkrötenstrand«. Außer jeder Menge Schildkrötenfotos förderte die Suche jedoch nichts zutage.
Das Wenige, was Silver über Schildkröten wusste, hatte sie von Azizas großem Bruder Malik, der zwei junge Sumpfschildkröten in einem Aquarium in seinem Zimmer hielt. Aber bestimmt waren wilde Schildkröten im Ozean etwas ganz anderes.
Immer noch drangen die murmelnden Stimmen ihrer Eltern zu ihr hinauf. Selbst für ihre Verhältnisse dauerte das Gespräch sehr lange. So lange, dass es Silver merkwürdig vorkam.
Auch dass ihre Mutter aus Versehen den Arztkittel anbehalten hatte. Das passierte ihr sonst nie. Und dass sie wegen der Farbspritzer so ausgerastet war. Sonst war sie immer sehr beherrscht.
Silvers Magen knurrte laut. Es war doch bestimmt schon Teezeit? Zwar hatte sie drei Tüten Chipssticks mit Scampi-Geschmack aus ihrem Geheimvorrat gefuttert, aber sie hatte immer noch Hunger und außerdem Durst. Und unten im Kühlschrank stand eine ganze Packung Kokoswasser. Seit ihre Mutter einmal auf der Dorfkirmes eine Kokosnuss gewonnen und mit einem Hammer aufgeschlagen hatte, damit Silver den Saft probieren konnte, was das ihr Lieblingsgetränk.
Als ihr Magen erneut knurrte, musste sie etwas tun. Sie schlich die Treppe hinunter in die Küche, nahm die Packung aus dem Kühlschrank und trank einen großen Zug. Sie war die Einzige in der Familie, die Kokoswasser mochte, es sprach also nichts dagegen, es direkt aus der Packung zu schlürfen. Mit anderen Getränken machte sie das natürlich nicht. Außer manchmal mit Orangensaft, wenn es keiner sah.
Sie rülpste ein bisschen. Dann erstarrte sie.
Die Stimme ihres Vaters drang durch die dünne Wand zwischen Küche und Wohnzimmer, und obwohl Silver für heute eigentlich genug geschnüffelt hatte, konnte sie unmöglich weghören.
»Genau deshalb hab ich ja zugesagt. Findest du nicht, dass du eine Auszeit verdient hast? Wir alle? Genau so einen Tapetenwechsel brauchen wir jetzt.«
Silver wischte sich den Kokosschnurrbart über der Lippe weg. Wovon redete er? Was für ein Tapetenwechsel?
Ihre Mutter antwortete etwas, zu leise, als dass Silver es hätte verstehen können.
»Das wird ein Abenteuer!«, sagte ihr Vater. »Ein Abenteuer für die ganze Familie.«
»Aber du hast die Einladung angenommen, ohne mit mir darüber zu sprechen!« Die Stimme ihrer Mutter ging eine Oktave nach oben. »Was ist, wenn ich nicht bereit bin, eine Auszeit zu nehmen?«
»So kann es nicht weitergehen, Gerrie.« Er nieste zweimal. Als er sich erholt hatte, senkte er die Stimme. Obwohl er in sanftem Ton sprach, klang die Traurigkeit zwischen seinen Worten hindurch. »Schon gar nicht, nachdem … du weißt schon.«
Ihre Mutter stieß ein leises, kehliges Geräusch aus. Es klang wie ein verwundetes Tier.
Silver war der Durst vergangen. Sie stellte die Packung zurück in den Kühlschrank und schlich auf Zehenspitzen am Wohnzimmer vorbei, damit ihre Eltern sie nicht bemerkten. Ihre Mutter saß eng an ihren Vater geschmiegt. Er umarmte sie ganz fest, obwohl sie immer noch ihren Arztkittel trug und ihm stundenlang die Augen jucken würden.
Silver schluckte den Kloß im Hals herunter und schlich durch den Flur. Auf halber Treppe blieb sie neben dem Trevelon-Familienstammbaum stehen, den ihr Vater an die Wand gemalt hatte, damit sie beim Zubettgehen ihren Vorfahren Gute Nacht sagen konnten. Sie ging weiter und blieb noch einmal stehen, vor dem Kinderzimmer.
An den Wänden des Zimmers war ein Dschungel. Leuchtend smaragdgrüne Bäume, hüpfende Affen, regenbogenfarbene Papageien – sogar ein Faultier mit Schlafzimmerblick. Das Wandbild war so quicklebendig, dass Silver sich manchmal wünschte, sie könnte hier schlafen. Aber es war nicht ihr Zimmer. Ihre Eltern hatten es vor über fünf Jahren gestaltet, als sie ein neues Baby erwarteten. Erst hatte sich Silver gar nicht so sehr darüber gefreut, dass noch jemand bei ihnen wohnen sollte. Schon gar nicht jemand, der nach dreckigen Windeln roch und immerzu weinte. Aber nach und nach gewöhnte sie sich an die Vorstellung. So wie Aziza ihren kleinen Bruder knuddelte, stellte Silver sich vor, ihr winziges Geschwisterchen in den Armen zu halten, in seine babyblauen Augen zu schauen und seine kleinen Finger um den Daumen zu spüren. Und wenn er oder sie älter wurde, konnte sie ihm beibringen, wie man am besten auf Bäume kletterte (indem man nicht so sehr an den Wipfel dachte), und Elfmeterschüsse mit ihm üben. Natürlich musste ihr Bruder oder ihre Schwester ins Tor.
Es gab nur ein Problem: Das erwartete Geschwisterchen kam nie.
Ihre Eltern versuchten es ihr zu erklären, so gut es ging. Wie man Babys machte. (Bah!) Weshalb es für manche Paare, obwohl sie sich mehr als alles auf der Welt ein Baby wünschten, so schwierig war, eins zu bekommen. Und wie künstliche Befruchtung, IVF, funktionierte – was anscheinend bedeutete, dass man ein Baby in Reagenzgläsern und Petrischalen machte, wie bei einem Experiment im Chemieunterricht.
Manches andere war nicht so leicht zu erklären, zum Beispiel die Veränderung, die mit ihrer Mutter vor sich ging. Silver wusste noch genau, wann es angefangen hatte: als die erste IVF-Runde scheiterte.
Ihre Mutter war immer stark gewesen. Das musste sie auch sein, um gegen all das Traurige anzugehen, das sie Tag für Tag in ihrer Tierarztpraxis sah. Es war eine spezielle Art von Stärke – als würde sie sich mit einem Panzer umgeben, damit alles Schlimme von ihr abprallte. Doch als die Jahre vergingen und sich im Kinderzimmer Spinnweben bildeten, bekam der Panzer Risse. Manche so tief, dass Silver hindurchschauen und eine Mutter sehen konnte, die sie bis dahin gar nicht gekannt hatte. Es war, als sähe man eine Schnecke ohne ihr Haus. Klein und schutzlos.
Gleichzeitig beschloss ihr Vater, keine Kinderbücher mehr zu illustrieren, als ob ihn das zu sehr daran erinnern würde. An das, was er nicht hatte. Und mit der Zeit wurde es im Haus der Trevelons, das einmal voller Freude, Farben und Lachen gewesen war, still und trüb und grau.
Als Silver am nächsten Tag von der Schule nach Hause kam, merkte sie sofort, dass irgendwas los war. Erstens fühlte sich das Haus komisch an – so wie vor einem Gewitter. Zweitens saßen ihre Eltern am Esszimmertisch. Ein dunkler Mahagonitisch, der nur für das Weihnachtsessen und wichtige Gespräche benutzt wurde.
»Silver!«, rief ihr Vater. »Kommst du mal bitte her?«
Silver hätte sich viel lieber in den Garten verzogen, es sich am Stamm der Eiche gemütlich gemacht und die Fruchtgummischnüre gegessen, die sie auf dem Heimweg gekauft hatte. Aber das kam jetzt leider nicht infrage. Also knöpfte sie ihre Uniformjacke zu, um einen Ketchupfleck zu verstecken, und machte ein paar zaghafte Schritte ins Esszimmer.
Sie hatte noch nie ein Vorstellungsgespräch erlebt, aber sie hatte im Fernsehen schon genügend gesehen, um zu wissen, wie das ablief. Genau so kam ihr das hier vor. Ihre Eltern saßen mit angestrengter Miene auf der einen Seite des Tischs. Vor ihnen lag der Briefumschlag. Ihre Mutter strich mit den Fingern gedankenverloren über die grüne Schildkröte.
Silver nahm sich einen Stuhl gegenüber von den beiden, hockte sich auf die Kante und nagte am Daumennagel.
Ihr Vater räusperte sich. Räusperte sich noch mal. Sie hätte ihm gern eine Fruchtgummischnur angeboten, war sich aber ziemlich sicher, dass das in dieser Situation nichts genützt hätte.
»Du weißt ja, dass Mum und ich eine schwere Zeit hinter uns haben, oder?«
Silver nickte vorsichtig.
»Wir haben uns immer bemüht, ehrlich zu dir zu sein«, fuhr ihr Vater fort. »Wie du weißt, wollten wir längst einen kleinen Bruder oder eine Schwester für dich haben, aber … es ist nicht so gekommen, wie wir es uns gewünscht haben. Die Ärzte sagen …«
Er knöpfte seinen Hemdkragen auf und schluckte. »Die Ärzte sagen, dass es vielleicht nie mehr klappt.«
Es war das erste Mal seit Jahren, dass ihre Eltern offen über ihre Probleme sprachen. Natürlich wusste Silver, was los war. Es war nicht zu übersehen. Als Azizas Mutter letzten Monat den kleinen Asif rüberbrachte, hatte ihre Mutter ihn eine Ewigkeit im Arm gehalten, so lange, dass es Silver schon unangenehm war.
»Aber warum nicht?«, fragte sie. »Azizas Mutter hat Asif mit zweiundvierzig bekommen, also … also kann man auch noch Kinder kriegen, wenn man … wenn man über vierzig ist.« Fast hätte sie »alt« gesagt, aber sie besann sich gerade noch rechtzeitig.
»Sie wissen es nicht«, sagte ihre Mutter.
»Wieso nicht?«, rief Silver. »Es sind doch Ärzte! Wenn man dir ein krankes Tier bringt, weißt du auch immer genau, was zu tun ist.«
»Nicht immer«, sagte ihre Mutter und fummelte an dem Stethoskop herum, das sie um den Hals trug. Sie hatte die Angewohnheit, es auch außerhalb der Arbeit zu tragen, sogar beim Einkaufen. »Manchmal findet man auch mit all dem medizinischen Wissen, das man hat, keine Antwort. Jedenfalls keine hilfreiche.«
»Tatsache ist«, sagte ihr Vater und drückte die Hand ihrer Mutter, »dass die Behandlung nicht leicht ist. Schwanger zu werden ist für manche Paare sehr schwer, manchmal sogar, wenn sie schon Kinder haben.«
»Dann ist es ja ein Glück, dass ihr mich habt!« Silver gab sich große Mühe, zuversichtlich zu klingen.
Ihr Vater lächelte sie zerstreut an. Dann nahm er den Brief und schwenkte ihn. »Neulich habe ich aus heiterem Himmel sehr interessante Post von jemandem bekommen, der ganz begeistert von Waldabenteuer ist.«
Aha! Es war also tatsächlich Fanpost. Silver zog die Augenbrauen hoch und hoffte, überrascht auszusehen.
»Und zwar«, fuhr er mit einem Seitenblick zu Silvers Mutter fort, »bin ich in eine Rettungsstation für Schildkröten eingeladen, um dort einige Tiere zu zeichnen. Anscheinend wollen sie mit den Mitteln der Kunst auf die Tiere aufmerksam machen, um die sie sich kümmern. Das ist Teil eines größeren Spendenprojekts.«
»Echt?«, sagte Silver. Mit so etwas hatte sie nicht gerechnet. »Und wie soll das ablaufen?«
»Es würde bedeuten, dass wir alle eine kleine Auszeit nehmen«, sagte er. »Wir drei. Damit wir gemeinsam zur Rettungsstation am Schildkrötenstrand reisen können.«
»Es ist mehr als eine kleine Auszeit, Jack.« Ihre Mutter sah sie an. »Du musst dafür eine Weile vom Unterricht befreit werden, aber keine Sorge. Wir haben schon die Zustimmung deiner Schule eingeholt.«
Silver wollte etwas sagen, aber sie brachte nur ein Piepsen heraus. Unter normalen Umständen war es etwas Gutes, nicht zur Schule zu müssen. Aber das hier waren keine normalen Umstände.
»Für wie lange?«
Jetzt musste ihre Mutter sich räuspern. »Vier Monate.«
»VIER MONATE?« Silver starrte sie an.
»Ich war auch erst nicht so begeistert«, gab ihre Mutter zu und umfasste das Stethoskop ganz fest.