Der letzte Bär - Hannah Gold - E-Book

Der letzte Bär E-Book

Hannah Gold

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Beschreibung

Auf der Bäreninsel gibt es keine Eisbären mehr. Zumindest erzählt Aprils Vater ihr das, als seine wissenschaftlichen Forschungen sie für sechs Monate zu diesem abgelegenen arktischen Außenposten führen. Doch in einer endlosen Sommernacht begegnet April einem Eisbären. Er ist fast verhungert, einsam und weit von zu Hause entfernt. Fest entschlossen, ihn zu retten, beginnt April die wichtigste Reise ihres Lebens ... Diese bewegende Geschichte zeigt, dass niemand zu jung oder zu unbedeutend ist, etwas zu bewirken. ›Der letzte Bär‹ ist ein Fest der Liebe zwischen einem Kind und einem Tier, ein Schlachtruf für unsere Welt.

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Seitenzahl: 206

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Hannah Gold

Der letzte Bär

Aus dem Englischen von Sylke Hachmeister

Mit Illustrationen von Levi Pinfold

Deutsche Erstausgabe

© der deutschsprachigen Ausgabe:

von Hacht Verlag GmbH, Hamburg 2022

Alle Rechte vorbehalten

Text copyright © Hannah Gold 2021

Illustrations copyright © Levi Pinfold 2021

Aus dem Englischen von Sylke Hachmeister

Lektorat: Diana Steinbrede

Die Originalausgabe erschien unter dem Titel

The Last Bear bei HarperCollins Children’s Books

ein Imprint von HarperCollinsPublishers Ltd Großbritannien

Translation © von Hacht Verlag 2022, translated under licence from HarperCollinsPublishers Ltd.

Hannah Gold and Levi Pinfold assert the moral right to be acknowledged as the author and the illustrator of this work respectively.

 

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt, jede Verwertung bedarf der Genehmigung des Verlages.

 

ISBN978-3-96826-704-3

 

www.w1-vonhacht.de

www.instagram.com/vonhacht_verlag

Für meine Eltern, den Planeten

und Eisbären auf der ganzen Welt

Erstes KapitelDer Brief

Genau drei Wochen nachdem April Wood auf der Bäreninsel angekommen war, stand sie dem Eisbären gegenüber. Doch erst einmal musste sie sich auf die Reise zur Bäreninsel machen, und die bahnte sich etwa vier Monate vorher an.

Bis dahin hatte Aprils Alltag eine gewisse Normalität, auch wenn sie sofort zugegeben hätte, dass es eine ziemlich seltsame Normalität war. Ihr Vater arbeitete als Wissenschaftler an einer Universität in der Nähe und verbrachte seine Tage damit, die Gesetzmäßigkeiten des Wetters zu erforschen. Ähnlich unvorhersehbar wie das Wetter kam und ging er zu ganz unterschiedlichen Zeiten – manchmal kehrte er um elf Uhr abends nach Hause zurück, und manchmal machte er sich auf den Weg, wenn April gerade aus der Schule kam. Oft arbeitete er am Wochenende und hatte dann in der Woche drei Tage frei. Selbst an seinen freien Tagen verkroch er sich in seinem Arbeitszimmer und beugte sich über verstaubte alte Bücher mit so winziger Schrift, dass es in den Augen wehtat. Wenn April ihm eine Kanne Tee oder das Abendessen brachte, schüttelte er den Kopf, nahm die Brille ab und schaute sie interessiert an, als hätte er ganz vergessen, dass er auch noch eine Tochter hatte. »Oh«, sagte er dann. »Vielen Dank … April.« Dann versenkte er sich wieder in sein Buch und nagte an seinem Stift, und April schloss leise die Tür hinter sich.

April war erst vier gewesen, als ihre Mutter starb, und wenn sie an sie dachte, war es, als erinnerte sie sich an einen wunderschönen Sommerurlaub vor langer Zeit. Ihr Vater hatte nicht wieder geheiratet, und das sah man dem Haus auch an. Es war hoch und schmal und wirkte ein bisschen traurig und ungehobelt, und drinnen war es immer kalt. Über allem lag eine dünne Staubschicht und das schreckliche Gefühl, dass etwas fehlte – ein Gefühl, das April nie so recht in Worte fassen konnte.

Und so verbrachte sie die meiste Zeit im Garten, wo in dem wilden, ungezähmten Brombeerstrauch eine Fuchsfamilie lebte. Vor allem ein Fuchs faszinierte sie, und sie nannte ihn Braveheart, weil er wagemutiger war als die anderen und ihr einmal beinahe Erdbeeren aus der Hand gefressen hätte. Im Garten verflog die Zeit im Nu, unterbrochen nur durch die Schule. April mochte die Schule nicht, oder die Mädchen in der Schule mochten April nicht. Sie wusste nicht, ob es daran lag, dass sie nach Fuchs roch oder dass sie die Kleinste in der Klasse war, oder vielleicht daran, dass sie sich die Haare mit der Gartenschere schnitt. So oder so machte es April nicht besonders viel aus, denn sie hatte Tiere ohnehin lieber als Menschen. Sie waren einfach freundlicher.

Dann kam der Brief.

April saß im Schneidersitz auf dem Wohnzimmerfußboden und aß ihre Cornflakes, während ihr Vater einen marmeladetriefenden Toast über der Tageszeitung balancierte. Es war Ende November, und als mit einem dumpfen Schlag die Post auf der Matte landete, rannte April zur Tür. Vielleicht war es eine Weihnachtskarte von Granny Apples? Sie schickte ihre Karten gern früh, und sie war Aprils Lieblingsoma, weil sie nach warmem, zuckrigem Kuchen roch und am Meer wohnte.

Statt einer Weihnachtskarte fand April einen großen, dicken Briefumschlag mit der Aufschrift OFFIZIELLE REGIERUNGSANGELEGENHEIT und einer norwegischen Briefmarke.

Sie legte ihrem Vater den Umschlag neben den Teller, und er nahm ihn gedankenverloren, um hineinzubeißen. Als er merkte, was es war, bekam sein Gesicht einen seltsamen Ausdruck, als hätte jemand seine Augen verzaubert.

»Was ist das?«, fragte April.

»Wir fahren zum nördlichen Polarkreis«, sagte er blinzelnd, während er den Brief las. »Ich hab die Stelle bekommen. Ehrlich gesagt hab ich nicht damit gerechnet – ich dachte, sie würden sich für jemanden aus der Gegend dort entscheiden. Aber anscheinend hat mein Forschungsbericht über die Studie zur Erdatmosphäre sie überzeugt. Es ist eine Wetterstation auf einer kleinen Insel, ungefähr eine Tagesreise mit dem Schiff von der norwegischen Küste entfernt.«

April hüpfte auf der Stelle und fragte: »Was für eine Insel? Wie viele Menschen leben da?«

»Ah.« Er senkte betreten den Blick. »So eine Insel ist das nicht. Also … da wird außer uns niemand sein.«

»Nur wir beide?« Ein Prickeln durchfuhr sie. »Ganz allein auf einer Insel?«

Er beugte sich vor. »Stell dir vor, was für Abenteuer wir erleben werden. So wie in dem Film über Scott und seine Fahrt in die Antarktis. Auf der Insel ist es ganz anders als hier – da gibt es Seen, Berge und Flüsse. Stell dir vor, April. Die letzte große Unbekannte. Da gibt es keine Autos, keine Züge, keine Flugzeuge. Nicht mal Straßen! Es ist die reine, unberührte Wildnis.«

Er brauchte gar nicht weiterzusprechen, denn ihr Herz eilte ihr schon voraus. Sie wären am nördlichen Polarkreis, und nicht nur das: Sie hätten ganz viel Zeit zusammen, nur sie beide. Was sie dort alles unternehmen konnten! Schneemänner bauen, Schlitten fahren und …

»Meine Arbeit wird natürlich äußerst wichtig sein«, fügte ihr Vater mit ernster Miene hinzu, und ihr Magen schrumpfte ein kleines bisschen.

»Was arbeitest du da?«

»Die norwegische Regierung möchte genauere Aufzeichnungen darüber, wie sich die globale Erwärmung auf den arktischen Raum auswirkt. Das heißt, ich werde sechs Monate lang die Messdaten überwachen.«

April wusste über das Abschmelzen der Polkappen Bescheid. Es machte sie genauso wütend wie die Fuchsjagd und gab ihr das gleiche Gefühl von Ohnmacht.

»Und was ist mit der Schule?«, fragte sie.

»April.« Er beugte sich vor. »In sechs Monaten in der Arktis lernst du mehr, als du in der Schule je lernen könntest.«

Sie betrachtete ihn genauer. Seine Augen strahlten, und auf den Wangen hatte er zwei rosige Flecken. Wieder durchfuhr sie dieses Prickeln.

»Wann geht es los?«

 

Natürlich teilten nicht alle ihre Vorfreude. Granny Apples rief dreimal täglich an, um ihnen zu sagen, wie leichtsinnig sie seien. Dächten sie überhaupt an die Eiseskälte, die hochhaushohen Wellen, die mörderischen Walrosse mit ihren spitzen Stoßzähnen, die sie in einem Dokumentarfilm von David Attenborough gesehen hatte, oder an die Gefahren auf einer Insel ohne Krankenhaus und ohne Arzt, ohne irgendjemanden, der ihnen aus einer Gefahr helfen könnte?

Das sei einfach nicht das Richtige für ein elfjähriges Kind, sagte sie. Schon gar nicht für ein so sensibles Mädchen wie April, die ja dank ihres Vaters schon reichlich verwildert sei. Wie könne er nur meinen, es sei zu ihrem Besten, auf einer einsamen Insel zu leben? Wenn es da wenigstens warm und sonnig wäre!

Aber Aprils Vater konnte stur sein, wenn er wollte. Er stellte die Ohren auf Durchzug.

»Meine Güte, Edmund«, schimpfte sie. »Sie heißt Bäreninsel. Wenn das Kind nun gefressen wird?«

Er versuchte ihr zu versichern, dass es auf der Bäreninsel keine Bären gebe, doch Granny Apples hörte gar nicht zu.

»Wenn du einen Eisbären siehst, April«, sagte sie, »dann RENNST du.«

Am 1. April brachen sie zur ersten Etappe ihrer Reise auf. Sie wollten ein Flugzeug nach Oslo nehmen, dort umsteigen und zu einer kleinen Stadt namens Tromsø fliegen – und von dort ging es dann mit dem Schiff zur Bäreninsel. Als das Flugzeug abhob und die Nase nach Norden richtete, drückte April das Gesicht ans Fenster und schaute hinab auf ihr Zuhause, wie es immer kleiner wurde.

Jetzt ging es also los.

Auf zum nördlichen Polarkreis!

Zweites KapitelBäreninsel

»Du weißt schon, dass dein Vater unverantwortlich ist, oder?«

April zuckte vor Schreck zusammen und stieß sich den Ellbogen an der eisernen Reling. Die Möwe, die ihr eben noch Kekskrümel aus der Hand gefressen hatte, flog mit einem entrüsteten Kreischen davon.

Neben ihr stand der Junge, der im Hafen von Tromsø laut geflucht hatte, als er die komplette Mozart-Sammlung und den Plattenspieler ihres Vaters auf das leicht angerostete norwegische Frachtschiff gehievt hatte, das sie zur Bäreninsel bringen sollte. Er war der Sohn des Käpt’ns und vielleicht zwei, drei Jahre älter als sie. Von Nahem roch er nach Salzwasser und Motoröl und noch etwas anderem, das sie nicht einordnen konnte. Aber seit ihrer Abreise war sowieso alles anders – wilder und leerer –, also roch er vielleicht gar nicht ungewöhnlich.

Trotzdem. Was er gesagt hatte, war nicht in Ordnung und verdiente keine Antwort. Abgesehen davon traute sie sich nicht zu sprechen, denn das Erdnussbutterbrot, das sie gegessen hatte, drohte wieder hochzukommen.

»Ich würd mich an deiner Stelle mal hinlegen.« Der Junge zeigte auf die Bank unter dem Bug. »Das hilft gegen die Seekrankheit.«

Misstrauisch beäugte April die harte Holzbank. Doch als sie erneut würgen musste, legte sie sich lieber darauf. Jetzt sah sie nur noch den Himmel, und wenigstens war sie hier vor dem gnadenlosen Wind geschützt, von dem ihr Gesicht schon ganz rot und rau war. Sie erwartete, dass der Junge sich verzog, doch stattdessen setzte er sich ans Ende der Bank und pulte den Dreck unter seinen Fingernägeln hervor.

»Er ist nicht unverantwortlich«, sagte sie, als ihr Magen sich ein wenig beruhigt hatte. »Er ist Wissenschaftler.«

»Das ist ja noch schlimmer.« Der Junge schaute sie an.

»Mein Vater hat gesagt, dass die Wetterstation auf der Insel schon seit 1918 bemannt ist.«

»Ja! Aber nicht mit einem … Mädchen.«

»Warum sagst du Mädchen in diesem Ton?« April setzte sich empört auf. »Nur weil ich kein Junge bin, bin ich noch lange nicht schwach. Ich bin mal den Kastanienbaum in unserem Garten ganz hochgeklettert, um die Nachbarskatze zu retten!«

Darauf sagte der Junge nichts. Stattdessen lachte er schallend und beschrieb mit den Armen den riesigen Wolkenhimmel, das raue, wilde Meer und ein Gefühl, als wären sie selbst nicht einmal auf der Erde. »Was weißt du über diesen Teil der Welt?«, fragte er, als er fertig gelacht hatte. »Warst du schon mal so weit im Norden?«

»Ich weiß, dass du ein unfreundlicher Junge bist«, sagte April. »Und ich weiß, dass ich an deiner Stelle sehr viel hilfreichere Tipps auf Lager hätte. Außerdem fürchte ich mich nicht vor dem Unbekannten.«

Da wurde sein Gesicht weicher. »Tör«, sagte er und streckte die Hand aus. »Nimm’s mir nicht übel. Mein Vater und ich leben schon so lange am Meer, dass wir manchmal vergessen, wie man sich als Mensch benimmt.«

»April. April Wood.«

Sie schüttelte seine Hand, die sich anfühlte wie altes Seil, aber auch seltsam beruhigend. Wie eine Hand, die sie aus einer schwierigen Situation retten könnte.

»Ist die Insel gefährlich?«, fragte sie leise.

»Sie ist wild«, sagte Tör. »Und alles, was wild ist, ist gefährlich.«

»Aber Eisbären gibt es dort nicht, oder?«

Tör schüttelte den Kopf. »Seit Jahren nicht mehr. Aber warum guckst du so traurig? Eisbären sind keine freundlichen Tiere. Die würden dich mit Haut und Haar fressen.«

April tat so, als würde sie aufs Meer schauen, nicht auf sein albernes Grinsen.

»Deinen Trick mit der Möwe kapiere ich übrigens nicht.«

»Was für einen Trick?« April wandte sich wieder zu ihm.

»Wie du sie dazu gebracht hast, dir aus der Hand zu fressen.«

»Das ist kein Trick«, sagte sie ärgerlich. »Ich hab einfach gelernt, den Tieren zu zeigen, dass sie mir vertrauen können.«

Tör zog eine Augenbraue hoch, doch sein Blick verriet Neugier.

»Es kommt darauf an, dass man ihnen zuhört«, erklärte sie und legte eine Hand aufs Herz. »Hier drin.«

»Du bist schon speziell«, sagte er.

»Dann bin ich nicht bloß ein Mädchen?«

Tör lächelte, und es war ein so breites Lächeln, dass April es unwillkürlich erwiderte.

»Wenn ihr erst mal auf der Insel seid, kommt ihr da nicht mehr weg. Das ist dir klar, oder?«, sagte er und senkte die Stimme. »Erst wenn wir euch in sechs Monaten wieder abholen.«

April hatte das Gefühl, dass hinter seinen Worten noch etwas anderes steckte. Sie war sehr geschickt darin, zu verbergen, was sie eigentlich sagen wollte, vor allem bei ihrem Vater, und hatte deshalb einen sechsten Sinn dafür, wenn andere dasselbe machten. Sie wartete darauf, dass er es aussprach, denn was es auch war, sie wollte es gern hören. Doch schließlich holte er einen Bleistiftstummel und einen zerknitterten Briefumschlag aus der Jackentasche und kritzelte seine Nummer auf die Rückseite.

»Auf der Bäreninsel ist es hart. Pass auf dich auf, April Wood«, sagte er. »Und falls du mich irgendwann mal brauchen solltest, wähl einfach diese Nummer.«

Sie konnte sich nicht vorstellen, weshalb sie ihn brauchen sollte, aber sie steckte den Umschlag für alle Fälle ein. Dann sah sie Tör nach, wie er sich zu seinen Kameraden mit den kräftigen Armen und Beinen, wettergegerbten Händen und stoischen Gesichtern gesellte, neben denen ihr Vater aussah wie aus Pergament. Seit sie den Hafen verlassen hatten, hockte er umgeben von Büchern in ihrer gemeinsamen Kabine, um sich auf seine neue Arbeit vorzubereiten. Und weil sie wusste, dass er nicht gestört werden wollte, und weil es in der Kabine nach Makrele roch, legte sie sich wieder auf die Bank und schlief ein.

 

»Land in Sicht!« Der Ruf schallte über das Schiff wie Hochzeitsglocken. »Land in Sicht!«

Mit noch traumschwerem Kopf rappelte April sich hoch, und dann musste sie zweimal blinzeln, um sicherzugehen, dass ihre Augen sie nicht täuschten. Vor ihr auf dem Deck stand Tör, ein Stück Brot auf der ausgestreckten Hand. Als er den Blick zum Himmel hob, wirkte er genauso hoffnungsvoll wie sie an ihrem ersten Schultag. Intuitiv beugte sie sich zu ihm.

»Du musst dich ein bisschen leichter machen, und du darfst nicht die Luft anhalten.«

»So?« Er ließ die Schultern sinken und den Arm hängen.

»Eher innerlich«, erklärte April. »Als wärst du aus Wasser. So sanft und weich. Ja, so. Schön locker. Jetzt nicht bewegen. Sie ist direkt über dir. Ganz ruhig und …«

»Tör!«, brüllte der Käpt’n über das Deck, und die Möwe schoss kreischend in den Himmel.

April wich zurück. Sie wusste nicht, was sie von dem Käpt’n halten sollte. So jemand war ihr noch nie begegnet.

»Du störst hoffentlich unsere Gäste nicht«, sagte er mit einem neugierigen Blick auf das Brot in Törs Hand. »Wir brauchen deine Hilfe am Bug.«

Tör ließ das Brot fallen und rannte davon. April saß mit angehaltenem Atem da, während der Käpt’n sie musterte. Sein Gesicht hatte etwas Grimmiges, als wäre er an die wilden Meere des Nordens so gewöhnt, dass er vergessen hatte, wo sie anfingen und er aufhörte. Ausnahmsweise einmal war April froh darüber, dass sie klein war, fast unsichtbar.

Ohne ein weiteres Wort marschierte er davon, und April atmete erleichtert auf.

Auf dem Deck wimmelte es von Matrosen mit ihren schnellen, kundigen Handgriffen. Tör war nirgends zu entdecken, aber Aprils Vater war unübersehbar. In seiner Tweedjacke und seiner gebügelten Anzughose – die eisigen Temperaturen schienen ihm nichts auszumachen – lehnte er sich über den Bug des Schiffs und schaute ehrfürchtig zum Horizont. Sie ging zu ihm, und selbst über den Meeresgeruch hinweg nahm sie den vertrauten Duft der Anisbonbons wahr, die er gern lutschte.

»Dad?«

»Wir sind da, April! Wir sind da!«, sagte er, ohne den Blick abzuwenden. »Wir haben es geschafft.«

Er zeigte auf etwas, doch sie sah nichts als Gischt und stahlgraue Wellen. Und da war eine Ahnung, dass sie einen verbotenen Teil der Welt betraten.

»Ist sie nicht schön?«

Da endlich kam die Insel in Sicht, wie wenn man am Rädchen eines Fernglases dreht und auf einmal alles gestochen scharf wird.

»Die Bäreninsel«, sagte er leise und voll ehrfürchtigem Staunen.

Drittes KapitelEin Zeitgeschenk

»Da wären wir.« Inmitten von Kisten und Koffern stand Aprils Vater auf dem windumtosten Strand und schaute sich um. »Wie gefällt es dir?«

Aprils Lippen schmeckten nach Salzwasser, Schneeflocken hingen in ihren Wimpern, und die Insel war in einen dicken, nassen Nebel gehüllt, durch den kaum etwas zu erkennen war. Trotz alledem spürte sie ein elektrisches Summen in ihren Adern. Sie hatten es geschafft.

Sie waren wirklich im nördlichen Polarkreis.

Es war, als hätte sie eine unsichtbare Grenze auf der Erde überschritten. Verglichen mit den Parks, den Hecken und der fruchtbaren grünen Landschaft zu Hause war das Land hier kahl und karg, und das einzige Zeichen von Vegetation war der dunkle Ginster, der durch den Schnee lugte. Auf der anderen Seite der Insel erkannte sie schwach drei große, steile Granitberge und darüber den Himmel, wie eine Leiter ins All.

Vor allem aber war es kalt. Eine Kälte, die unter die Kleider kriecht, sodass man von innen heraus zittert und sich nach einer Wärmflasche sehnt.

»Und?«, fragte ihr Vater wieder.

April nahm die erstbeste Kiste, hob das Gesicht zum Himmel und streckte die Zunge heraus, um Schneeflocken aufzufangen.

»Das werden wir bald sehen!«

Die nächsten Stunden verbrachten sie damit, ihr Hab und Gut mit einem Schlitten einen Kilometer ins Land hinein zu ihrem neuen Zuhause zu schaffen, das aus zwei Holzhütten bestand. Eine kleine zum Schlafen und eine größere, in der ihr Vater seinen meteorologischen Forschungen nachgehen konnte.

Sie sahen aus wie alle anderen norwegischen Häuser, die April bis jetzt gesehen hatte – gestrichene Holzbauten mit spitzem Dach, die vom Wispern einer magischen Geschichte umgeben waren. Nur der schwere Generator, der ihnen Strom liefern sollte, störte das Bild.

Die Haustür der Wohnhütte führte in einen kleinen Flur, wo sie ihre Mäntel, Schals und die bittere Eiseskälte lassen konnten. Eine weitere Tür führte in ein längliches Zimmer mit hoher, gewölbter Decke, offenem Kamin und zwei abgewetzten Sofas. Es gab nur diese eine Etage. In einer Ecke des Zimmers stand ein schmales Bücherregal mit einer Handvoll zerlesener Bücher und einem Satellitentelefon, das nur im Notfall benutzt werden durfte. In der Ecke gegenüber befand sich eine kleine Küche, die in eine Speisekammer mit Regalen voller Konserven und genug Vorräten für die nächsten sechs Monate führte.

Hier und da lagen Hinterlassenschaften der vorigen Bewohner herum. Ein Aschenbecher mit einem Zigarettenstummel. Ein einzelner roter Handschuh. Ein paar Zettel und ein alter Kugelschreiber.

Aber April stach vor allem die Landkarte der Insel ins Auge, die an der Wand hing. Auf einer Weltkarte war die Bäreninsel nicht mehr als ein Bleistiftpunkt irgendwo zwischen Norwegen und einer Inselgruppe namens Spitzbergen nahe dem Nordpol. (Streng genommen gehörte die Bäreninsel auch zu dieser Inselgruppe, aber sie war sehr weit davon entfernt.) Sie war so winzig, dass man sie, wenn man nicht von ihr wüsste, gar nicht sehen würde. Das konnte April nachempfinden. Sie wurde auch oft übersehen.

Obwohl sie die Maße der Insel schon kannte, ging sie näher heran, um die Informationen zu lesen. An der längsten Stelle war die Insel fast zwanzig Kilometer lang und etwa sechzehn Kilometer breit. Der Norden der Insel war bergig, der Süden dagegen weitgehend flach, und dort markierte ein rotes Kreuz die Wetterstation. Es wartete ein riesiger Schatz an Buchten, Stränden und Seen auf sie, und dann waren da natürlich die drei Berge, die sie vom Strand aus gesehen hatte – all das konnte sie in den nächsten sechs Monaten entdecken und erkunden. Selbst wenn es tatsächlich keine Eisbären gab, lebten hier auf jeden Fall Polarfüchse, Tausende seltener Meeresvögel und vielleicht sogar einige wandernde Wale. Und was vielleicht das Beste war: Sie konnte viel Zeit mit ihrem Vater verbringen.

»Dad! Guck mal, was wir alles zusammen machen können!«, sagte sie atemlos. »Können wir morgen mit dem Schlitten in die Berge gehen?«

Sie wirbelte herum, weil sie dachte, ihr Vater wäre noch im Zimmer, aber da war nur das Echo ihrer Stimme. Sie schluckte die Enttäuschung herunter, spähte zum Fenster hinaus und sah, wie er in die Hütte mit der Wetterstation ging und die Tür hinter sich zuzog.

April stieß einen tiefen Seufzer aus, und das Fenster beschlug von ihrem warmen Atem. Es ist der erste Tag, sagte sie streng zu sich selbst, und er muss sich ja erst mal einfinden. Es gab keinen Grund, sich zu ärgern, denn sie hatten sechs Monate und einen ganzen Sommer vor sich. Also wischte sie das Fenster sauber, straffte die Schultern und beschloss auszupacken.

 

Ungefähr eine Stunde später war sie auf dem Sofa halb eingedöst und hörte ihren Vater erst, als er direkt vor ihr stand und sich laut räusperte. Sie schlug die Augen auf, und er sah sie nachdenklich an.

»Dad!«

Er fuhr sich durch die wirren Haare, räusperte sich noch ein paarmal, dann drückte er ihr ein ordentlich verpacktes Geschenk in die Hände.

Das war keine ganz so große Überraschung, denn er hatte die Angewohnheit, ihr unerwartete Geschenke zu machen. Das machte seine Zerstreutheit in Sachen Geburtstag fast wieder wett, aber nur fast. Sie packte das Geschenk aus. Es war eine schmale silberne Armbanduhr in der Farbe des Mondlichts.

»Ich weiß …«, sagte er und wählte seine Worte mit Bedacht. »Ich weiß, dass wir hier ganz allein sind, und mir ist schon klar, dass das sehr ungewöhnlich ist und die meisten Leute es nicht unbedingt gutheißen würden. Deine Großmutter jedenfalls nicht.«

Beim Gedanken an die Tränen am Flughafen zog sich Aprils Herz zusammen.

»Aber«, fuhr er fort, »hier gibt es viel Wunderbares. Seit Jahrhunderten zieht es die Menschen in diese Gegend. Manche kommen zu Forschungszwecken. Andere aus Entdeckerlust. Wieder andere aus Gründen, die sie nicht einmal selbst verstehen.« Er schluckte ein paarmal und sah plötzlich so dünn und zerbrechlich aus wie eins seiner Bücher. »Vielleicht bin ich auch deshalb hier – um etwas zu finden, was ich vor langer Zeit verloren habe.«

Bei dem nächsten Wort brach seine Stimme. »Friluftsliv«, sagte er, und April sah ihn verständnislos an. »Unsere Sprache mag ja sehr praktisch sein, aber manchmal fehlen ihr die Mittel, gewisse Erfahrungen zu beschreiben – oder Menschen. Das ist ein norwegisches Wort und beschreibt die Freude daran, draußen zu sein. Wörtlich heißt es ›Freiluftliebe‹.« Sein Gesicht wurde weicher. »Das Wort erinnert mich an dich … weil du immer so viel Zeit im Garten verbringst. Manchmal schaue ich dich aus dem Fenster meines Arbeitszimmers an, und … dann könnte ich schwören, deine Mutter zu sehen.«

April nickte, ihr Atem stockte. Sie hatte keine Ahnung gehabt, dass ihr Vater sie manchmal beobachtete, und der Gedanke ließ ihren Magen Rad schlagen.

»Sie hat auch Tiere geliebt, vor allem die in der freien Natur. Sie hatte eine eigenartige Verbindung zu ihnen«, sagte ihr Vater. »Sie behauptete sogar, sie könnten sprechen, doch die meisten Menschen hätten vergessen, wie man ihnen zuhört. So war deine Mutter. Sie war … anders als andere Menschen. Na ja, was ich eigentlich sagen will … sie wäre wahnsinnig gern mit hierhergekommen. Diese Uhr hat ihr gehört, und ich dachte mir, auf diese Weise kann sie dabei sein.«

»Friluftsliv«, wiederholte April leise. Das Wort klang nach Meerjungfrauen, verzauberten Wäldern, himmelsgleich und magisch.

April hatte nur verschwommene Erinnerungen an ihre Mutter. Aber sie wusste noch genau, wie sie Kakao in einer knallroten Teekanne machte, und dann hockten sie zu dritt auf der Kante von Aprils Bett und tranken den Kakao, und dazu aßen sie Vanillepudding von Papptellern, die die Form von Gänseblümchen hatten. Damals war das Haus nicht von Traurigkeit erfüllt gewesen, sondern von Lachen, und ihr Vater vergaß nie, ihr einen Gutenachtkuss zu geben. Anstatt ihr vor dem Einschlafen Geschichten vorzulesen, erzählten die Eltern ihr abwechselnd von den verschiedenen Tieren der Erde: den Elefantenherden, die durch das afrikanische Flachland zogen, den seltenen sibirischen Tigern in den Bergen Asiens, den majestätischen Kaiserpinguinen, wie sie sich zusammenkauerten, um die langen, bitteren Winter der Antarktis zu überleben, und von so seltsamen und ungewöhnlichen Tieren, dass man hätte meinen können, sie wären nur erfunden – so wie der Pangolin, dessen ganzer Körper aus Schuppen bestand. Erfüllt vom warmen Leuchten der Stimmen ihrer Eltern, schlief April mit einem Lächeln im Gesicht ein und träumte von den vielen Wundern der Erde.

Heutzutage sprach ihr Vater kaum über ihre Mutter, geschweige denn, dass er April Gutenachtgeschichten erzählte, und das Geschenk fühlte sich so an, als hätte er eine warme, wohlige Hand um ihr Herz gelegt.

»Friluftsliv«, sagte sie noch einmal und spürte einen Kloß im Hals.

Erst eine Weile später dachte sie daran, nach der Uhrzeit zu schauen.

Es war elf Uhr abends.

Sie blickte auf, doch ihr Vater war schon in sein Schlafzimmer gegangen, und sie hörte, wie er einen langsamen Walzer von Mozart auflegte. Das Lied war auf der Hochzeit ihrer Eltern gespielt worden, und April war sich nie sicher, ob es ihn wirklich aufheiterte oder nicht.