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Die unverzichtbare Fortsetzung von Der letzte Bär April Wood ist von ihrem Abenteuer auf Bear Island nach Hause zurückgekehrt. Aber überein Jahr später kann sie immer noch nicht aufhören, an Bear zu denken. Als April hört, dass in Svalbard ein Eisbär angeschossen wurde, ist sie überzeugt, dass es ihr Freund ist, und überredet ihren Vater, mit ihr in die nördlichsten Gebiete der Arktis zu reisen. So beginnt eine unvergessliche Reise über gefrorene Tundra und eisige Gletscher. Doch unterwegs entdeckt sie viel mehr, als sie erwartet hat – ein winziges Eisbärenjunges, das dringend ihre Hilfe braucht. Bei eisigen Temperaturen muss April das gefährliche arktische Terrain durchqueren und sich ihren tiefsten Ängsten stellen, wenn sie das Eisbärjungtier retten will.
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Seitenzahl: 232
Hannah Gold
Aus dem Englischen von Sylke Hachmeister
Mit Illustrationen von Levi Pinfold
Deutsche Erstausgabe
© der deutschsprachigen Ausgabe: von Hacht Verlag GmbH, Hamburg 2024
Alle Rechte vorbehalten
Text copyright © Hannah Gold 2023
Illustrations copyright © Levi Pinfold 2023
Verlegerin: Rebecca Weitendorf von Hacht
Aus dem Englischen von Sylke Hachmeister
Lektorat: Diana Steinbrede
Die Originalausgabe erschien unter dem Titel
Finding Bear bei HarperCollins Children’s Books, ein Imprint von HarperCollinsPublishers Ltd Großbritannien
Translation © von Hacht Verlag 2024, translated under licence from HarperCollinsPublishers Ltd.
Hannah Gold and Levi Pinfold assert the moral right to be acknowledged as the author and the illustrator of this work respectively.
Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt, jede Verwertung bedarf der Genehmigung des Verlages.
ISBN978-3-96826-050-1
www.w1-vonhacht.de
www.instagram.com/vonhacht_verlag
Allen, die sich gewünscht haben, dass April und Bär einander wiederfinden.
Dieses Buch ist für euch.
Es war genau siebzehn Monate her, dass April Wood von der Bäreninsel zurückgekehrt war, und sie saß im Schneidersitz in ihrem Garten und lauschte den Geräuschen der Stille. Andere mochten einwenden, die Stille könne keine Geräusche machen, aber April wusste es besser.
Sie wusste, dass man aus der Stille alles Mögliche heraushören konnte – vor allem, wenn man gelernt hatte, richtig hinzuhören. Außerdem war sie viel lieber draußen als drinnen. Draußen war es einfach freundlicher.
In letzter Zeit ganz besonders.
Als April und ihr Vater aus der Arktis zurückgekehrt waren, war ihr das anfangs vorgekommen wie der Sprung in ein sehr tiefes, kaltes Schwimmbecken. Der nicht enden wollende Lärm von Autos und Motorrädern mit ihren ständigen Abgasen war der schlimmste Schock gewesen. Und die Menschen. So viele Menschen überall. Sie hetzten und hasteten, stießen und schubsten den ganzen drängeligen Tag lang.
Schließlich hatte Aprils Vater entschieden, früher als geplant ans Meer zu ziehen, und einen Monat später hatten sie ihr schmales, trauriges Stadthaus verkauft und waren in ein neues in der Nähe von Granny Apples gezogen. Es war nicht unbedingt eines, das April sich ausgesucht hätte. Stirling Road Nummer vierunddreißig fügte sich in eine Reihe gleichförmiger, moderner roter Backsteinhäuser ein, jedes mit einem frisch gestrichenen Zaun und einer ordentlichen Rasenfläche hinter dem Haus. Anders als ihr altes Haus und auch als die Holzhütte auf der Bäreninsel hatte es drinnen lauter Ecken und Kanten und glänzend saubere Arbeitsflächen. Es gab nicht mal ein Kaminfeuer, über dem man Crumpets hätte rösten können. Stattdessen gab es so ein elektrisches Feuer mit künstlichem Holz, das rot glühte, wenn man es einschaltete. Aber Aprils Vater wirkte glücklich. So glücklich hatte April ihn seit Jahren nicht erlebt, und außerdem, betonte er, lasse sich das neue Haus viel leichter sauber halten.
Aber das hieß ja nicht, dass April drinnen bleiben musste, schon gar nicht an einem Abend wie diesem – an dem die untergehende Sonne den Himmel golden färbte und das magische Flüstern des sanften Windes durch die Bäume drang.
»Wie schön«, sagte April laut.
Noch so etwas, was sie aus der Zeit in der Arktis beibehalten hatte. Die Angewohnheit, laut mit sich selbst zu reden. April fand das gar nicht merkwürdig. Bis andere Leute sie komisch ansahen.
Zum Glück war heute Freitag, die Schule war also vorbei, und sie konnte tun und lassen, was sie wollte. Sie ging jetzt schon seit einer ganzen Weile auf die Schule hier, doch sie kam sich immer noch vor wie eine Außenseiterin.
Dass bei ihrer Präsentation über die schlimme Lage der Eisbären – die sie mit so viel Mühe vorbereitet hatte – die meisten aus der Klasse nur gegähnt hatten, machte es nicht gerade besser. Als April versuchte, sie mit ihrem besten Brüllen zu wecken (darauf war sie wirklich stolz), und demonstrierte, dass sie Erdnussbutter aus über einem Kilometer Entfernung riechen konnte, lachten sie nur und stießen von den hinteren Reihen Bärenlaute aus. Noch unangenehmer wurde es, als die Lehrerin April beiseitenahm und sagte, Tierimitationen hätten in der Klasse nichts zu suchen.
April erklärte so freundlich wie möglich, mit einer Imitation hätte das nichts zu tun. Und dass sie nur über die Probleme in der Arktis informieren wollte – wozu Lisé vom Polarinstitut sie ermutigt hatte. Aber sie hätte sich ihre Worte sparen können. Von diesem Tag an war sie für alle nur noch das Bärenmädchen, und so, wie dabei gekichert wurde, war es wohl kaum ein Kompliment.
Der Artikel in der Lokalzeitung war auch nicht gerade hilfreich. Irgendwie hatte ein Lokalreporter von Aprils Reise in die Arktis Wind bekommen, und weil in der Woche sonst nicht viel los war, wollte er eine Geschichte über sie und ihren Vater schreiben. Ihr Vater hatte sich erst gesträubt. Nicht so April. Sie ergriff die Gelegenheit beim Schopf, denn so konnte sie allen erzählen, wie dringend die Eisbären die Hilfe der Menschen brauchten. Sie konnte die Menschen warnen, wie schnell das Eismeer schmolz. Doch in dem Artikel wurden viele Fakten verdreht, sogar Aprils Name. Als sähe sie aus wie eine Alice! Schlimmer noch, anstatt zu erzählen, wie sie Bär gerettet hatte, tat der Artikel so, als wäre alles nur dem Käpt’n des Schiffs zu verdanken gewesen.
April war weder auf Fleißkärtchen oder Schleimpunkte noch auf Lob aus. Sie wollte einfach ernst genommen werden. Vor allem jetzt, da die Uhr für den Planeten tickte.
»Wenn ich wirklich ein Bärenmädchen wäre«, murmelte sie, »würden sie auf mich hören! Dann würden sie etwas ändern!«
Eine Krähe, die auf dem Zaun saß, krächzte zustimmend.
April seufzte. Es war Februar, und obwohl sich schon eine Handvoll mutiger Narzissen zeigte, lag immer noch eine schneidende Kälte in der Luft. Garantiert rief ihr Vater sie gleich ins Haus – aus Angst, sie könnte sich eine Unterkühlung oder sonst etwas Lebensbedrohliches einfangen. Seit ihrer Rückkehr aus der Arktis war er in ständiger Sorge um sie und fürchtete immer, sie könnte in schreckliche Gefahr geraten. Auch jetzt stand er am Küchenfenster und hielt nach ihr Ausschau, ihr blieben also nur noch wenige Minuten.
Vorsichtig holte sie ein Foto aus ihrer Brusttasche. Dort war es am sichersten aufgehoben, vor allem aber hatte sie es immer nah an ihrem Herzen. Es war nicht so ein Foto, wie die meisten Menschen sie bei sich tragen. Keins von der Mutter oder dem Vater, den Geschwistern, Omas oder Opas. Es war ein Foto von April und einem ausgewachsenen Eisbären – aneinandergeschmiegt in einer festen Umarmung, was für die meisten Menschen bestimmt unvorstellbar war. Es war ihr kostbarster Besitz und im Hafen von Longyearbyen, Spitzbergen entstanden. Die Aufnahme zeigte April und Bär, wie sie sich im Sonnenschein aneinanderlehnten, während die Kamera ihren Abschied einfing. Sie waren so eng miteinander verschlungen, dass man kaum sehen konnte, wo der Bär aufhörte und das Mädchen anfing. Sie konnte das Foto immer noch nicht anschauen, ohne einen dicken Kloß im Hals zu bekommen.
»Hallo, Bär«, flüsterte sie mit zitternder Stimme.
April wusste nicht, wie weit das Gedächtnis eines Eisbären zurückreichte und ob Bär sich überhaupt noch an sie erinnern konnte. Ganz bestimmt nicht so, wie sie sich an ihn erinnerte. Sie würde ihn niemals vergessen, solange sie lebte. Und noch zigtausend Jahre mehr.
Bestimmt kam er mit seinem neuen Leben gut zurecht. So wie auch sie ihrem Vater zufolge mit ihrem Leben zurechtkommen sollte. Nicht, dass sie es nicht versucht hätte. Jeden Tag gab sie ihr Bestes, um das Leben zu führen, das ihr Vater, Granny Apples und alle anderen von ihr zu erwarten schienen – ein ganz normales Leben, wie andere es führten. Manchen Leuten reichte das vielleicht. Aber immer wieder kamen bei April Erinnerungen hoch – wie Bärs Fell sie im Gesicht gekitzelt hatte, die plötzliche Berührung seiner feuchten Nase und vor allem das warme, weiche Schokoladenbraun seiner Augen und wie sein Blick mit ihrem verschmolz.
»Du fehlst mir«, sagte sie leise, nachdem sie sich vergewissert hatte, dass ihr Vater sie durch das offene Küchenfenster nicht hören konnte. »Du fehlst mir so sehr.«
Sie erwartete keine Antwort. Schließlich war die Arktis sehr weit weg, und April hatte seit dem schicksalsschweren letzten gemeinsamen Tag nichts mehr von Bär gehört. Er konnte keine Briefe schreiben oder zum Telefon greifen, und die Entfernung war viel zu groß, um sein Brüllen zu hören. Aber er hatte hoffentlich ein paar Eisbärfreunde gefunden – vielleicht sogar eine Partnerin. Vor allem hoffte April, dass er glücklich war.
»Denn deshalb hab ich dich ja nach Spitzbergen gebracht, oder?«, flüsterte sie. »Wenn ich doch nur … wenn ich doch nur wüsste, dass es dir gut geht.«
Sie atmete die Stille ein und hoffte, irgendwo da draußen am Abendhimmel die ersehnte Antwort zu erhalten. Wenn sie die Ohren spitzte, hörte sie das Wispern der Birke, das Bellen eines Hundes zwei Straßen weiter, das ferne Beben des Meeres. Aber sie hörte nicht …
»APRIL!« Ihr Vater riss die Tür zum Garten auf, und warmes gelbes Licht strömte heraus. »Was machst du da draußen? Du holst dir ja den Tod!«
»Ich komme.« Widerstrebend stand sie auf, die friedliche Abendstimmung war dahin. Sie steckte das Foto wieder in die Brusttasche und zog den Reißverschluss gut zu. Dann, als die Krähe wieder rief, ging April zu ihrem Vater ins Haus.
April putzte die Füße ordentlich an der Matte ab, bevor sie die Schuhe in den Schrank stellte. Dabei fiel ihr Blick auf etwas leuchtend Buntes hinten im Schrank. Ihre Regenbogen-Gummistiefel. Sie waren ihr mittlerweile zu klein, und sie hätte sie wahrscheinlich längst in die Altkleidersammlung geben sollen, aber das hatte sie nicht getan. Auch wenn es nicht mehr dieselben waren, mit denen sie Bär gerettet hatte. Die lagen jetzt wohl auf dem Meeresgrund. Doch die Regenbogenstiefel gehörten zu den wenigen Sachen, die sie mit der Bäreninsel verbanden, und wenn April mit der Nase nah heranging, hätte sie schwören können, einen Hauch der frischen arktischen Luft zu erschnuppern. Halb war sie versucht, auf der Stelle daran zu riechen, aber da rief ihr Vater sie schon wieder.
Als sie ins Wohnzimmer kam, war der Boden über und über mit Schallplatten bedeckt. »Ich suche die ganze Zeit … ah! Da ist sie ja.« Triumphierend hob er die Schallplatte hoch. »Hattest du einen schönen Tag?«
»Ja«, sagte sie und kreuzte die Finger hinter dem Rücken.
»Gut, gut«, sagte ihr Vater und sah sie mit einem schiefen Lächeln an. »So kenne ich dich. Ich wusste, dass du dich hier wohlfühlen würdest.«
April zuckte innerlich zusammen. Jetzt ging sie schon über ein Jahr in ihre neue Schule, und sie brachte es nicht übers Herz, ihm zu sagen, dass sie immer noch keine richtigen Freunde gefunden hatte. Seltsamerweise war es viel schwieriger, mit Menschen Freundschaft zu schließen, als mit Eisbären.
»Wie war dein Tag?«, fragte sie schnell.
Ihr Vater hatte wie versprochen eine Stelle an der Universität in der Nähe angenommen, wo er daran arbeitete, kompostierbare Alternativen für Wegwerfplastik zu finden. Er wollte gerade antworten, als es an der Tür klingelte.
»Ah!«, sagte er und wurde rot. »Das ist bestimmt Maria. Ich hab sie zum Abendessen eingeladen. Ich … ich hoffe, du hast nichts dagegen? Ich weiß, dass wir normalerweise zu zweit essen …«
Er sah sie so ernsthaft an, dass April nickte. Sie hätte es nie zugegeben, aber sie war ein kleines bisschen enttäuscht. Der Freitagabend gehörte nur ihnen beiden. Der einzige Abend, an dem er früher von der Arbeit nach Hause kam, damit sie ein bisschen Vater-Tochter-Zeit hatten. Sie hatte gehofft, sie könnten heute Abend das neue vegane Restaurant im Ort ausprobieren oder sogar einen Strandspaziergang machen. Nur sie beide.
Ihr Vater blieb vor dem Flurspiegel stehen, fuhr sich mit einer Hand durch das zerzauste Haar und richtete seinen Kragen, bevor er die Tür aufmachte.
»Maria!«, rief er. »Du siehst … gut aus! Und du hast Chester mitgebracht. Wie schön. April liebt Chester, stimmt’s?«
Natürlich liebte April Chester. Wer nicht? Er war ein Cockapoo mit honigfarbenen Augen und weichen Samtohren, und er roch unwiderstehlich nach Hund.
»Edmund!« Maria kam in den Flur, umhüllt von Farbenpracht und Safranduft. »Ich hab Paella fürs Abendessen mitgebracht.«
Maria brachte oft Essen mit. Sie stammte aus Valencia in Spanien und kochte gern für andere. Vielleicht hatte sie auch keine Lust mehr auf das Essen, das Aprils Vater kochte. Weder April noch ihr Vater hatten die Gewohnheit abgelegt, direkt aus der Dose zu essen, was Granny Apples abscheulich fand. Sie sagte, manche Gewohnheiten sollten in der Arktis bleiben, wo sie hingehörten.
Aprils Vater und Maria umarmten sich halb auf diese unbeholfene Erwachsenen-Art und ließen dann die Arme hängen. Beide hatten ein albernes Grinsen im Gesicht, das mehr verriet als tausend Worte. Da sah Maria April.
»Hi, April!« Sie nahm den rot getupften Schal ab und lächelte breit.
April nickte ihr zu. Nicht, dass sie Maria nicht gemocht hätte. Schließlich hatte sie ihrem Vater ja gewünscht, dass er eine Freundin fände. Außerdem war es nicht ihre Art, andere ernsthaft abzulehnen – schon gar nicht eine Frau, die so tierlieb war. Es war nur, na ja, ein kleines bisschen unangenehm, wenn die Leiterin der Schule, auf die man ging, gleichzeitig die Freundin des Vaters war. So hatte er Maria nämlich kennengelernt – am Tor von Aprils neuer Schule. April wusste nie so recht, ob sie Miss Puro oder Maria zu ihr sagen sollte, und redete sie deshalb meist überhaupt nicht direkt an.
Wie immer half Chester das peinliche Schweigen zu überbrücken. Mit hoffnungsvollem Blick flitzte er zu April herüber. »Na, mein Kleiner«, flüsterte sie, während Maria Aprils Vater ins Wohnzimmer folgte.
»Ich hab ein Musikstück gefunden, das ich dir unbedingt vorspielen muss«, sagte er und wedelte mit einer Schallplatte, als wäre es eine Trophäe. »Das gefällt dir bestimmt.«
Er legte die LP auf den Plattenspieler, denselben, der mit ihnen in die Arktis und wieder zurück gereist war, und wenige Sekunden später erfüllte Mozarts Voi Che Sapete aus »Figaros Hochzeit« den Raum. Es war ein schwungvolles, fast fröhliches Lied, komponiert für Lachen, Hüpfen und Sonnenschein.
Aprils Vater, wahrlich nicht der geborene Tänzer, hatte Unterricht genommen, und jetzt umfasste er Maria und wirbelte sie in einem flotten Walzer durch den Raum. Vergessen lag die Paella auf dem Boden. April stand in der Tür und schaute mit einem Ziehen in der Brust zu. Einem Ziehen, das sie nicht ganz verstand, doch sie hatte ein schlechtes Gewissen, weil sie es überhaupt spürte.
»Was ist los, mein liebes Kind?«, fragte ihr Vater beim Abendessen, als sie zu dritt am Küchentisch saßen, die Paella in der Mitte. »Irgendwas scheint dich zu bedrücken.«
Früher wäre es ihrem Vater nie aufgefallen, in welcher Stimmung sie gerade war – nicht einmal, wenn sie hüpfend, Rad schlagend und laut singend ins Zimmer gekommen wäre.
Ihr Vater war zwar immer noch nicht der aufmerksamste Mensch der Welt, aber er hatte sich eindeutig verändert. Und obwohl sie sich diese Veränderung gewünscht hatte – inklusive einer Freundin für ihn –, ging ihr das jetzt alles ein bisschen zu schnell. Es war beunruhigend. Als wäre das Leben ihres Vaters mutig vorangaloppiert, während sie mit den Füßen immer noch irgendwo in dem dicken, ewigen Eis der Arktis steckte.
Ihr Vater sprach auch gar nicht gern über ihre Erlebnisse dort. Na ja, er zeigte einigen Kollegen Fotos und prahlte damit, dass das Leben in der Arktis einen Menschen völlig umkrempeln könnte. Doch wenn es konkret um ihre Zeit auf der Bäreninsel ging – das Abenteuer, das sie beide miteinander geteilt hatten –, blieb er seltsam still. April führte es darauf zurück, dass er sie beinahe verloren hätte. Das und sein schlechtes Gewissen, weil er ihr anfangs ihre Freundschaft mit Bär nicht geglaubt hatte.
Das alles machte es für sie ziemlich schwierig zuzugeben, dass sie die Arktis vermisste – besonders vor Maria, die, soweit April wusste, nicht richtig im Bilde darüber war, was sich dort wirklich ereignet hatte. Und selbst wenn sie darüber hätte sprechen wollen, müsste April erst einmal die richtigen Worte finden. Und das war einfach unmöglich. Wie hätte sie je erklären können, wie sehr sie Bär vermisste? Das war nicht nur irgendein Gefühl, sondern etwas viel Stärkeres, das ganz tief in ihrem Innern widerhallte.
Es gab keine Worte dafür.
Es war, als hätte sie einen Teil von sich selbst in der Arktis zurückgelassen. Keinen Handschuh oder Gummistiefel oder irgendetwas, das man anfassen konnte. Sondern das, was April ausmachte. So etwas wie den Klang ihres Lachens, das über die Insel schallte, oder das Grinsen auf ihrem Gesicht, wenn sie sich an Bärs Fell festkrallte, während sie zusammen den Berg erklommen, oder das bodenlose Gefühl in ihrem Herzen, wenn sie Bär in die Augen schaute und er zurückschaute.
April merkte, dass ihr Vater sie immer noch ansah und auf eine Antwort wartete. »Es ist alles okay«, sagte sie. Wäre Maria nicht da gewesen, hätte er vielleicht nachgehakt, so jedoch ließ er sich ablenken, und der Augenblick ging vorüber.
Nach dem Essen spielten sie zu dritt eine Runde Monopoly. Maria nahm den Hund, April das Schiff, und ihr Vater bestand darauf, ein Anisbonbon als Figur zu nehmen – das er mitten im Spiel aufaß.
April hatte schon bald ihr ganzes Geld verloren. Nicht, dass es ihr besonders viel ausgemacht hätte. Wenn sie erwachsen wäre und viel Geld hätte, würde sie etwas Besseres damit anstellen, als dumme Häuser zu kaufen. Sie würde es für etwas ausgeben, womit sie etwas bewirken könnte. Nicht nur für Steine und Mörtel. Für etwas Wichtiges.
Na ja, jetzt war es fast schon Schlafenszeit. Und je eher sie ins Bett ging, desto früher konnte sie morgen aufstehen.
Denn morgen war der Tag, an dem Törs nächste Mail kommen würde.
Sie war Tör nur zwei Mal in ihrem Leben begegnet – einmal auf dem Schiff zur Bäreninsel und dann noch mal, nachdem er geholfen hatte, sie aus dem Eismeer zu retten. Trotzdem war er ihr wahrhaftigster Freund. Der einzige Mensch, der sie ganz und gar zu verstehen schien. So war das, wenn man Erfahrungen miteinander teilte – das konnte zwei Menschen für immer und ewig zusammenschweißen.
Obwohl April viele Artikel im Internet las und Dokumentationen über die Arktis schaute, war das nicht dasselbe, wie wirklich dort zu sein. Und das machte Törs Mails noch mehr zu etwas Besonderem. Wenn er einmal im Monat mit seinem Schiff in Spitzbergen anlegte, lief er durch den Ort, machte Fotos und hin und wieder sogar ein Video (einmal von einem Rentier, das durch die Hauptstraße von Longyearbyen lief!), aber vor allem sammelte er die neuesten Nachrichten und leitete sie an April weiter – darunter die aktuellen Informationen aus dem Polarinstitut. Hin und wieder schickte auch Lisé eine Nachricht, doch in letzter Zeit war sie anscheinend mit verschiedenen Exkursionen beschäftigt, sodass April sich vor allem auf Tör verließ, der Augen und Ohren für sie war.
Auf dieser so abgelegenen Inselgruppe, wo keine Nahrung wachsen konnte – tatsächlich gab es auf Spitzbergen nicht mal Bäume –, waren die Bewohner für fast alles auf die Außenwelt angewiesen. Morgen früh sollte Tör mit dem Schiff ankommen. Als Sohn des Kapitäns kannte er die Fahrpläne im Schlaf, und Pünktlichkeit lag ihm im Blut.
Noch nie, kein einziges Mal, hatte er sich mit einer Mail verspätet.
Als April ihrem Vater und Maria Gute Nacht sagte, spürte sie, wie ihr Herz schneller schlug. Ein leichtes, hüpfendes Gefühl – als ob der Plattenspieler immer noch Musik spielte, die jedoch nur für sie zu hören war. Es war jeden Monat dasselbe. Törs Mails waren nicht nur Worte auf dem Bildschirm. Sie lebten und atmeten und trugen den Duft der Arktis in sich, und sie boten kostbare Einblicke in eine Welt, die April immer noch mit eisigen Fingern lockte.
In Wahrheit fühlte April sich nur in dieser Zeit des Monats richtig lebendig.
Vielleicht lag es an der Wärme, dass April so schlecht träumte.
Wenn Maria kam, drehte Aprils Vater immer die Heizung hoch, weil sie sich häufig über die Kälte im Haus beklagte. Es stimmte, weder April noch ihr Vater drehten die Heizung besonders auf. Teils um die Umwelt zu schonen, vor allem aber, weil immer noch arktisches Blut durch ihre Adern floss, ob es ihrem Vater nun gefiel oder nicht. Und obwohl Maria schon lange weg war, lag die Wärme über dem Haus wie eine Decke.
April war wieder in der Arktis. Aber nicht mit Bär. Er war nirgends zu sehen. Diesmal war sie allein. Ganz allein kletterte sie einen unglaublich steilen Berg hoch, während zu ihren Füßen das Meer tobte und der eisige Wind ihr um die Ohren pfiff. Als sie endlich den Gipfel erreichte, schaute sie sich panisch um.
»Bär?«, rief sie und ärgerte sich darüber, dass ihre Stimme bebte. »BÄR?!«
Es kam keine Antwort, nur die grauen Wolken blähten sich wütend über ihr auf. Da sah sie es. Ein weiches weißes Fellbüschel, das unter einem Felsen steckte. Sie kniete sich hin, zog das Fell mit rasendem Herzen heraus und drückte es an die Nase. Es roch moschusartig, wild und lebendig. Und gleichzeitig roch es nach zu Hause.
Mit einem Mal wurde April klar, dass sie nach Norden blickte. Und dass sie vor vielen Monaten genau an dieser Stelle gesessen, über das schroffe, eisgraue Meer geschaut und Bärs Geschichte gelauscht hatte.
»Bär?«, fragte sie wieder.
Sie legte den Kopf schief und horchte durch Raum und Zeit, bis sie an den fernen Rändern der Welt ein Geräusch vernahm. Ein Geräusch, das sie überall wiedererkannt hätte.
Es war Bärs Brüllen.
Er BRÜLLTE.
Brüllte.
Brüllte.
Das Brüllen kam ihr so echt und so wild vor, dass sie davon aufwachte.
Erst war sie verwirrt und dachte, sie wäre immer noch auf dem Berggipfel, spürte den Geschmack der arktischen Luft auf den Lippen. Dann nahm ihr Zimmer langsam Gestalt an. Die Umrisse ihres Kleiderschranks, ihr massiver Holzschreibtisch und schließlich die glänzenden Fotos von der schimmernden Landschaft des hohen Nordens an der Wand.
Draußen vorm Fenster brummte laut ein Automotor, und obwohl es schon so spät war, richtete April sich in ihrem Bett kerzengerade auf. Denn in der Ferne, weit hinter ihrem Haus, ihrer Straße, ihrem Land – weit hinter allem, was irgendein Mensch zu hören vermochte –, hätte sie schwören können, dass da noch etwas anderes war.
Ein unverkennbares Brüllen.
Während der nächste Morgen in einem endlosen Nebel aus Besorgungen, Erledigungen und öden Erwachsenenaufgaben vorüberzog, zweifelte April an sich selbst. Hatte sie letzte Nacht wirklich Bär brüllen gehört? Oder war das nur ein Traum gewesen? Ein pures Hirngespinst?
Es hatte sich so echt angehört. Und genau das hinterließ ein seltsames, unbehagliches Gefühl in ihrem Bauch, das sich nicht verscheuchen ließ, sosehr sie es auch versuchte. Immerhin würde sie heute etwas von Tör hören. Normalerweise schrieb er ihr vor dem Mittagessen, sobald die Mannschaft ihre Ladung gelöscht hatte. Allein bei dem Gedanken wurde April ganz kribbelig vor Aufregung.
Wenn ihr Vater sich doch mal beeilen würde! Auf dem Rückweg von der Autowerkstatt hatte er kurz entschlossen beim Süßwarenladen angehalten, um seinen Vorrat an Anisbonbons aufzustocken. Der Laden lag im Stadtzentrum. An jedem anderen Tag wäre April liebend gern mit ihm einkaufen gegangen – nicht um irgendetwas zu kaufen, was sie nicht brauchte, sondern um in den Secondhandläden nach Eisbärfiguren zu schauen. Heute jedoch blieb sie lieber im Auto sitzen und gab sich alle Mühe, nicht andauernd auf die Uhr zu sehen.
»Mach schon, Dad!«, murmelte sie. Er war jetzt bestimmt schon fünf Minuten im Laden.
Während sie auf ihrem Sitz herumrutschte, sah sie zwei Mädchen aus ihrer Klasse, die Arm in Arm die Straße entlangschlenderten. Die Größere der beiden – die mit den blonden Zöpfen und rosa Schleifen – hatte sie als Erste Bärenmädchen genannt. Einmal hatte sie sogar gesagt, April rieche nach Tier.
Für April war das keine Beleidigung. Jeder wusste, dass Tiere magisch rochen. Nichtsdestotrotz duckte sie sich, bis die beiden an ihrem Auto vorbei waren. Eines hatte sie in den letzten siebzehn Monaten auf jeden Fall gelernt: dass man keine Zeit mit Leuten vergeuden sollte, die einen nicht so nehmen, wie man ist.
Endlich tauchte ihr Vater wieder auf, er trug die Bonbons wie Goldstücke in seinen Händen. »Tut mir leid, dass es so lange gedauert hat«, sagte er und manövrierte ungeschickt seine langen Beine ins Auto. »War eine ziemlich lange Schlange.«
Sie versuchte ihn mit schierer Willenskraft dazu zu bringen, dass er den Motor anließ und losfuhr. Denn inzwischen war Törs Mail bestimmt angekommen und wartete auf sie.
»Ich dachte mir, wir könnten auf dem Heimweg noch bei Granny Apples vorbeischauen«, schlug er vor, wickelte ein Bonbon aus und steckte es sich mit einem zufriedenen Seufzen in den Mund.
»NEIN!!«, rief April, riss sich jedoch zusammen, als sie seine erschrockene Miene sah. »Vielleicht ein andermal.«
Ihr Vater nickte und zog verwirrt die Augenbrauen zusammen, bevor er den Wagen anließ. »Dann also ab nach Hause!«
Kaum war April durch die Tür, streifte sie hastig die Schuhe ab und ließ sie auf den Flurboden poltern. Ohne ihren Mantel auszuziehen und sich darum zu scheren, dass er ihr um die Knöchel flatterte, rannte sie die Treppe hoch, wobei sie immer zwei, drei Stufen auf einmal nahm. Sie stürmte in ihr Zimmer, klappte in Windeseile den Laptop auf und öffnete den Posteingang.
Ihr Atem ging schnell und rau, und es dauerte ein paar Sekunden, bis sie den Bildschirm klar sehen konnte.
Und dann …
Wie merkwürdig.
Keine neuen Mails.
Nichts.
April hatte drei Uhren. Eine an der Wand, für die Ortszeit. Dann noch eine für die Zeit in Spitzbergen und schließlich die Armbanduhr, die ihr Vater ihr am ersten Tag auf der Bäreninsel geschenkt hatte. Sie schaute auf alle drei, um ganz sicherzugehen. (Sie hatte noch eine vierte Uhr, die anzeigte, wie lange es dauerte, bis die Erde sich so weit aufgeheizt hatte, dass sie nicht mehr zu retten war. Doch die bewahrte sie in ihrer Schreibtischschublade auf, denn es tat ihr nicht gut, andauernd daraufzustarren.)
Nachdem sie überprüft hatte, dass das Internet lief, startete sie ihren Laptop noch einmal neu, um sich zu vergewissern, dass er auch wirklich funktionierte. Aber immer noch keine Mail. April ging im Kopf verschiedene Möglichkeiten durch.
Törs Schiff hatte später angelegt. Schließlich war das Wetter in der Arktis ziemlich launisch.
Vielleicht musste er etwas für seinen Vater erledigen und hatte noch keine Zeit zum Schreiben gefunden.
Er hatte eine superspannende Mail mit ganz vielen Fotos geschickt, die ein so großes Datenvolumen hatte, dass sie länger brauchte, bis sie durchging. (Das war allerdings unwahrscheinlich, denn Törs Mails waren meistens eher kurz und nicht so bunt, wie April sich das manchmal gewünscht hätte. Das war wohl so ein Jungsding.)
Doch als sie wieder das Foto von sich und Bär betrachtete, wurde das ungute Gefühl in ihrem Bauch immer stärker. Und draußen krächzte die Krähe zustimmend.
Erst nach dem Abendessen kam Törs Mail an.
April hatte ein bisschen gedöst. Kein sanftes und entspanntes, sondern ein ruheloses Dösen mit kreisenden Gedanken. Das Pling der eingehenden Mail riss sie aus dem Schlaf wie das Dröhnen eines Schiffshorns.
Als sie hinunterlangte, um den Laptop hochzuheben, lief auf einmal alles wie in Zeitlupe. Als wären alle drei Uhren im Zimmer kurz stehen geblieben und hielten den Atem an. Einerseits wollte April schnell auf den Laptop schauen, andererseits hätte sie sich am liebsten die Decke über den Kopf gezogen. Aber es war nicht ihre Art, sich vor der Wahrheit zu verstecken. Nicht einmal, wenn sie richtig schlimm war. Also holte sie tief Luft und öffnete die Mail.
In Longyearbyen ist ein Eisbär angeschossen worden.
Ich glaube, es war Bär.
Aprils Vater schaute gerade einen Dokumentarfilm über Grauwale, doch nach einem Blick in Aprils Gesicht sprang er auf und schaltete den Fernseher aus. Bei einem Becher heißem Kakao und einer Notfallschale Marshmallows holte er die Geschichte aus ihr heraus.
»Aber April, wie kann Tör sich so sicher sein? Auf Spitzbergen gibt es doch zahllose Eisbären.«
»Ungefähr dreitausend.« April nahm einen zittrigen Schluck Kakao. Als sie die Mail gelesen hatte, war es im ersten Moment, als wäre sie selbst angeschossen worden. Ein so heftiges, stechendes Gefühl, dass es ihr den Atem verschlug. Sie musste regelrecht nach Luft schnappen vor Panik. Aber genützt hatte es nichts, der Schmerz wurde nur noch schlimmer.