Schlafe ein, mein Mädchen - Volker Dützer - E-Book
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Schlafe ein, mein Mädchen E-Book

Volker Dützer

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Beschreibung

Gefangen im schlimmsten Albtraum, den du dir vorstellen kannst …
Der zweite Teil der packenden Kriminalthriller-Dilogie von Volker Dützer

Gerade als der Polizist Ben Funke sein Leben wieder in den Griff bekommt, geschieht die Katastrophe: Als er am Morgen neben seiner Freundin aufwacht, ist diese tot – erschossen mit seiner eigenen Dienstwaffe. Noch dazu kann sich Funke an die letzten Stunden nicht mehr erinnern, doch eines weiß er sicher: Er hat sie nicht getötet!
Entschlossen den Mörder zu finden, begibt er sich auf die Suche, muss dabei allerdings auf seine Partnerin Helen Stein verzichten, die mit der Jagd eines Serientäters beschäftigt ist, auf dessen Konto sechs im Westerwald spurlos verschwundene junge Frauen gehen. Funke ist gefangen in einem Albtraum. Gejagt, verletzt und ohne Aussicht, seine Unschuld beweisen zu können.

Weitere Titel in der Reihe
Stirb, mein Mädchen (ISBN: 9783989982598)

Erste Leser:innenstimmen
„Ben Funke ist ein faszinierender Charakter, und seine Verzweiflung und Entschlossenheit, den wahren Mörder zu finden, sind mitreißend geschildert.“
„Die Handlung ist komplex und clever konstruiert, und bis zur letzten Seite blieb mir nicht klar, wer der wahre Täter ist.“
„Hochspannender Krimi mit einer unerwarteten Auflösung!“
„Die Geschichte um Ben Funke und seinen verzweifelten Kampf, seine Unschuld zu beweisen, ist unglaublich packend.“

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Seitenzahl: 464

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Über dieses E-Book

Gerade als der Polizist Ben Funke sein Leben wieder in den Griff bekommt, geschieht die Katastrophe: Als er am Morgen neben seiner Freundin aufwacht, ist diese tot – erschossen mit seiner eigenen Dienstwaffe. Noch dazu kann sich Funke an die letzten Stunden nicht mehr erinnern, doch eines weiß er sicher: Er hat sie nicht getötet! Entschlossen den Mörder zu finden, begibt er sich auf die Suche, muss dabei allerdings auf seine Partnerin Helen Stein verzichten, die mit der Jagd eines Serientäters beschäftigt ist, auf dessen Konto sechs im Westerwald spurlos verschwundene junge Frauen gehen. Funke ist gefangen in einem Albtraum. Gejagt, verletzt und ohne Aussicht, seine Unschuld beweisen zu können.

Impressum

Erstausgabe September 2024

Copyright © 2024 dp Verlag, ein Imprint der dp DIGITAL PUBLISHERS GmbH Made in Stuttgart with ♥ Alle Rechte vorbehalten

E-Book-ISBN: 978-3-98998-253-6 Taschenbuch-ISBN: 978-3-98998-369-4

Covergestaltung: ArtC.ore-Design / Wildly & Slow Photography unter Verwendung von Motiven von shutterstock.com: © Sirena issa, © aestock, © Potapov Alexander Lektorat: Nicola Härms

E-Book-Version 27.09.2024, 14:36:43.

Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Sämtliche Personen und Ereignisse dieses Werks sind frei erfunden. Etwaige Ähnlichkeiten mit real existierenden Personen, ob lebend oder tot, wären rein zufällig.

Abhängig vom verwendeten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.

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Schlafe ein, mein Mädchen

Woke up in my clothes again this morning.

Don’t know exactly where I am.

I should heed my doctor’s warning.

He does the best with me he can,

Shadows in the rain.

(The Police, Shadows in the rain)

Für Jürgen

Ich verdanke dir viel

Zeit zum Leben, Zeit zum Schreiben.

1

21. Oktober, Dreifelden

Funke erwachte mit mörderischen Kopfschmerzen, ohne Erinnerung daran, wo er sich befand oder wie er hierhergelangt war. Träge wanderte sein verschleierter Blick über das Chaos aus Scherben, leeren Weinflaschen und umgestürzten Möbeln. Jeder Gegenstand, der in seinen Fokus geriet, drehte sich um ihn wie ein wild gewordenes Kettenkarussell. Er schloss die Augen und konzentrierte sich auf seinen Atem. Der Schwindel und die Übelkeit legten sich, nur die Kopfschmerzen blieben.

Was zur Hölle war geschehen? Er lag auf der Seite, einen Meter vom offenen Kamin entfernt, und spürte die Hitze des Feuers auf seinem Gesicht. Die Scheite brannten noch, er konnte also nicht lange bewusstlos gewesen sein. Der Holzfußboden war mit Brandflecken und Ascheresten überzogen. Von einem glimmenden Holzscheit stiegen Rauchfäden auf, es stank nach verkohltem Parkett und verschmortem Plastik. Ohne Vorwarnung blitzten Bilder vor seinem inneren Auge auf … Carola … das Haus am See … das animalische Verlangen nach Sex … und dann … fugenloses Dunkel.

Die Erinnerung erlosch, als hätte jemand in seinem Kopf das Licht ausgeschaltet. Er blinzelte und schaute sich um. An der Wand neben der Tür zur Diele leuchteten blutige Schlieren und verwischte rote Handabdrücke. Die Glasabdeckung der Wetterstation neben dem Fenster zum Garten war zersplittert. Die Messingzeiger des Chronometers waren um einundzwanzig Uhr vierzehn stehen geblieben, verbogen und eingefroren in der Zeit.

Die Terrassentür stand offen und knarrte in der klammen Brise, die vom Dreifelder Weiher heranwehte. Es roch nach Fäulnis und vermoderndem Schilfgras. Jetzt, gegen Ende Oktober, nachdem das Wasser abgelassen worden war, verwandelte sich der künstlich angelegte See bis zum nächsten Frühling in eine Schlammpfütze.

Langsam erinnerte Funke sich an zusammenhanglose Szenen. Gegen neunzehn Uhr hatte er die Polizeiinspektion in Hachenburg verlassen, um Streife zu fahren. Die eine Hälfte seiner Mannschaft lag mit einem üblen Darmvirus krank im Bett, die andere auf dem Friedhof, nachdem der wahnsinnige Roland Kaminsky Funkes Kollegen Klaus Polaschek und Melanie Saynbach ermordet hatte. Funke schob einen Berg von Überstunden vor sich her und übernahm immer öfter den Streifendienst. Als kommissarischer Leiter der Dienststelle war das nicht seine Aufgabe, aber die einsamen Fahrten passten in seine Pläne.

Gegen zwanzig Uhr hatte Carola angerufen und ihn gebeten, in das Wochenendhaus am See zu kommen. Funke hatte die Unruhe in ihrer Stimme gespürt, sie aber falsch interpretiert. Als er das Holzhaus am Ufer des Dreifelder Weihers betreten hatte, spürte er sofort, dass sie ihn nicht wegen eines leidenschaftlichen Tête-à-Têtes zu sich gerufen hatte. Sie war bleich und verängstigt gewesen. Aber wie jedes Mal, wenn er sich mit ihr an diesem verbotenen Ort traf, wischte ihr Anblick jeden klaren Gedanken fort, weil er ausgehungert nach Leben und körperlicher Liebe war. Bevor sie ihm den Grund ihrer Angst hatte anvertrauen können, hatte er sie ins Schlafzimmer gedrängt. Nach kurzem Zögern hatte sie seine fordernden Küsse erwidert und sich an ihn geklammert wie eine Ertrinkende an ein Stück Treibholz. Stumm und leidenschaftlich hatten sie sich geliebt, als gäbe es kein nächstes Mal.

Seit sechs Wochen trafen sie sich im Wochenendhaus ihres Mannes und liebten sich mit einer Intensität, die Funke erschreckte. Nie zuvor hatte er etwas Ähnliches erlebt, und er spürte, dass Carola ebenso empfand. Bevor er Carola kennenlernte, hatte er nicht mehr zu hoffen gewagt, einem Menschen zu begegnen, der die Dunkelheit in seiner Seele würde vertreiben können. Aber Carola konnte es. Er genoss die Zeit mit ihr wie ein Blinder, der mühsam wieder sehen lernt, und bekam nicht genug von ihr.

Eine halbe Stunde, nachdem sie sich geliebt hatten, war er nach unten in die Küche gegangen, um … ja, um was zu tun? Er erinnerte sich an den sauberen Duft ihres Haars, an ihr leises Lachen und die Berührung ihrer Fingerspitzen, die ihn stets elektrisierte, an die knarrende achte Stufe der Treppe … und dann … an nichts mehr.

Benommen setzte er sich auf. Seine Dienstwaffe entglitt seinen Fingern und fiel polternd auf den Holzboden. Er stierte begriffsstutzig auf die Pistole. Warum hatte er die Waffe gezogen? Und vor allem … hatte er sie benutzt? Wie war er von der Küche ins Wohnzimmer gelangt? Und wo war Carola?

Er rief ihren Namen, aber seine Kehle war rau wie Sandpapier und brachte nicht mehr als ein Krächzen hervor. Ein Windstoß fuhr durch die offene Terrassentür und ließ das Kaminfeuer flackern.

Schwankend stand er auf, dann sah er Carola. Sie lag auf dem Teppich, keinen Meter von ihm entfernt. Ihre Beine waren angewinkelt und verdreht, der Kopf ihm seitlich zugeneigt. In der Mitte ihrer Stirn klaffte ein blutiges Loch.

2

Funke wich entsetzt zurück und stieß mit der Ferse gegen die Walther P99. Die Pistole schlitterte über den Parkettboden und prallte vom Kaminrost ab wie die Kugel in einem Flipper. Er stürzte aus dem Zimmer und erbrach sich im Bad in die Toilettenschüssel, bis sich sein nun leerer Magen krampfhaft zusammenzog. Erneut kämpfte er gegen eine drohende Ohnmacht an, drehte mit zitternden Fingern den Hahn über dem Waschbecken auf und steckte den Kopf unter den kalten Wasserstrahl. Das ablaufende Wasser färbte sich rosa. Erst jetzt bemerkte er das blutdurchtränkte Heftpflaster an seiner linken Hand. Er hatte nicht die geringste Ahnung, wo und wann er sich verletzt hatte. Vorsichtig entfernte er das Pflaster. Ein tiefer Schnitt, der wieder zu bluten begonnen hatte, zog sich vom Ansatz des Ringfingers zur Handmitte. Neben dem Waschbecken lagen eine angebrochene Packung Heftpflaster und eine Schere. Der Medizinschrank stand offen, als hätte Funke in aller Eile nach Verbandszeug gesucht. An der Spiegeltür klebte Blut.

Er konnte sich an nichts erinnern. Versuchte er es, stieß er auf einen blinden Fleck in seinem Gedächtnis, der sich fremd und taub anfühlte. Funke riss die Zellophanverpackung von einem Mullverband, wickelte die Gaze stramm um sein Handgelenk und zog die Enden mit den Zähnen fest. In einer Schublade fand er eine Rolle Müllbeutel und stopfte panisch alles hinein, was er angefasst hatte.

Aus der Spiegeltür starrte ihn ein hohlwangiges Geschöpf an, mehr Gespenst als Mensch aus Fleisch und Blut. Kein Wunder, dass er so aussah – ihm war noch immer übel wie nach einem Absturz in Milics Kneipe.

Seit er zusammen mit der LKA-Profilerin Helen Stein seine Tochter Nora aus der Gewalt des verrückten Kaminsky befreit hatte, hatte er keinen Tropfen Alkohol mehr angerührt. Vielleicht gerade noch rechtzeitig genug, um umzukehren – vor dem Punkt, hinter dem es keine Rückkehr mehr gab. Er war sicher, dass er auch heute Abend nichts getrunken hatte, dennoch fühlte er sich wie nach einer dreitägigen Sauftour. Die Anzahl der leeren Weinflaschen im Wohnzimmer, die Kopfschmerzen und der Schwindel schienen zu bestätigen, dass er völlig betrunken war. Das würde auch seinen Filmriss erklären. Aber wie war es dazu gekommen? Was hatte Carola ihm mitteilen wollen? Es musste etwas Wichtiges gewesen sein, etwas, das ihr höllische Angst eingejagt hatte. Hatte ihr Mann von der Affäre erfahren, die sie beide abhängig voneinander machte wie eine Droge Dealer und Junkie? Und hatte sie ihre stürmische, aber unbedachte Affäre beenden wollen? Funke schloss die Augen, schlug mit der Faust gegen den Medizinschrank und murmelte: „Nein, nein, nein.“ Die rasenden Gedanken führten zu einem Ergebnis, das ihn um den Verstand zu bringen drohte.

Carola war die Ehefrau des aufstrebenden Landespolitikers Holger Wesseling. Er galt als jähzornig und nachtragend. Manche hielten ihn für einen genialen Selbstdarsteller, andere für einen Psychopathen. Wenn er dahintergekommen war, dass seine Frau ihm fortwährend ein Paar mächtige Hörner aufsetzte, war Carolas Furcht nur allzu verständlich. Wesseling war ein Narzisst, er drehte sich nur um sich selbst. All sein Streben galt dem Ziel, Macht zu erlangen. Es gab kein Spiel, bei dem er nicht log und betrog, um den Sieg davonzutragen. Bürgermeister von Hachenburg, ein Landtagsmandat, dann Fraktionsvorsitzender seiner Partei, Staatsekretär und rechte Hand des Innenministers, ein noch höheres Amt war zum Greifen nah. Wenn es ihm einen Vorteil einbrachte, konnte er einen eloquenten, seidenweichen Charme entwickeln, dem auch Carola erlegen war. Schnell war ihr klar jedoch geworden, dass er sie nur geheiratet hatte, weil sie ihm für seine Karriere nützlich war. Sie engagierte sich für wohltätige Zwecke und war es gewohnt, in der Öffentlichkeit aufzutreten. So konnte er mit einer attraktiven Frau an seiner Seite Volksnähe demonstrieren und Pluspunkte bei unentschlossenen Wählern sammeln. Doch schon bald nach der Hochzeit begann Carola die Empfänge, die Partys und Zwangsveranstaltungen zu hassen. Ihre Ehe erwies sich als katastrophaler Fehler. Wesseling war gefühlskalt, egomanisch und stand auf schnellen, harten Sex.

Funke unterstützte eine Selbsthilfegruppe für traumatisierte Minderjährige, die Opfer von Gewaltverbrechen geworden waren – so wie seine Tochter Nora. Carola hatte von seinem Engagement erfahren und finanzielle Unterstützung und mehr Aufmerksamkeit der Medien versprochen. Bereits bei ihrer ersten Begegnung hatte er gespürt, dass sie mehr verband als nur die gemeinsame Arbeit für eine karitative Sache. Sie teilten die gleichen Gefühle und Gedanken, besaßen den gleichen schwarzen Humor und mochten die gleichen Leute. Aus dem flüchtigen Treffen erwuchs schnell Leidenschaft – so brennend, dass sie Funke Angst einjagte.

Er musste überprüfen, ob in seiner Waffe eine Kugel fehlte. Die Vorstellung, er könnte Carola erschossen haben, ohne sich daran zu erinnern, steckte wie ein Messer in seinem Herz. Sie hatte die Hoffnung in ihm geweckt, irgendwann wieder ein normales Leben führen zu können – ohne dass er sich mit Alkohol betäubte, um wenigstens zeitweise die schrecklichen Ereignisse des vergangenen Jahres vergessen zu können, und ohne die quälenden, nie enden wollenden Sorgen um Nora. Niemand konnte sagen, ob die seelischen Wunden, die Kaminsky ihr zugefügt hatte, jemals wieder heilen würden. Der wahnsinnige Serienkiller hatte das aufgeweckte Mädchen, dem alle Türen dieser Welt offen standen, in ein verängstigtes, autistisches Gespenst verwandelt. Funke hatte einen bitteren Preis dafür bezahlt, dass er seine Tochter lebend aus der Hand dieses Psychopathen befreit hatte. In manchen Augenblicken war er davon überzeugt, es wäre besser gewesen, Kaminsky hätte sie umgebracht wie all die anderen Opfer auch. Besser für Nora … und besser für ihn.

Und plötzlich war Carola wie ein strahlender Stern an seinem düsteren Himmel aufgegangen, ein Komet, der ihm den Weg aus der Dunkelheit der Verzweiflung wies. Während sein Herz alle Bedenken zur Seite schob, hatte sein Verstand sofort erkannt, worauf er sich einließ. Er begann eine Affäre mit der Frau eines gefährlichen Alphatiers, das über Macht, Geld und Einfluss verfügte. Wesseling würde keine Sekunde zögern, ihn zu vernichten, wenn er von dem Verhältnis erfuhr.

Funke drängte die unablässig kreisenden Gedanken zurück und konzentrierte sich auf das Hier und Jetzt. Er musste analytisch vorgehen, wie er es als Ermittler getan hätte, wäre er an den Tatort gerufen worden. Das Letzte, woran er sich erinnerte, war der Gang in die Küche. Was er dort gewollt hatte oder was danach passiert war, gab sein Unterbewusstsein noch nicht frei. Vielleicht würde das aber auch niemals geschehen. Es war denkbar, dass er das Geschehene verdrängte, weil die Wahrheit zu entsetzlich war, um sie ertragen zu können.

Oft genug hatte er Mörder verhört, die – auch wenn sie längst überführt waren – ihre Tat beharrlich leugneten, um sich nicht der eigenen Schuld stellen zu müssen. War er Amok gelaufen, nachdem Carola ihm mitgeteilt hatte, dass es vorbei war? Hatte sie ein letztes Mal mit ihm schlafen wollen, um ihre Affäre dann zu beenden? Funke schloss die Augen und sah einen betrunkenen, verzweifelten Mann, der zu allem fähig war. Einen Mann, der eine geladene Waffe mit sich führte und wusste, wie man sie benutzte.

Er kehrte ins Wohnzimmer zurück. Nichts hatte sich verändert. Seine irrationale Hoffnung, alles würde sich als äußerst real wirkender Albtraum entpuppen, als wahnhaftes Zerrbild eines Alkoholexzesses, erfüllte sich nicht. Carola war tot.

Funke hatte das Gefühl, in einer Nussschale auf einem sturmumtosten Ozean zu treiben. Seinen letzten Gefährten hatte er verloren, und nun hielt er auf den großen Wasserfall am Rand der Welt zu. Er rang den brennenden Schmerz des Verlustes nieder, suchte seine Waffe und überprüfte sie. Im Magazin fehlte eine Patrone, die Mündung roch nach Kordit. Aus der Walther war ein Schuss abgefeuert worden. Er blickte auf seine Armbanduhr, es war kurz vor zehn. Wenn die Uhr der zersplitterten Wetterstation neben der Terrassentür um einundzwanzig Uhr vierzehn stehen geblieben war, musste er etwa vierzig Minuten bewusstlos gewesen.

Er zwang sich, die Leiche zu untersuchen, und bewegte vorsichtig Carolas Kopf. Ihre Haut fühlte sich kalt und leblos an, wie eine weggeworfene Hülle, in der einmal etwas Lebendiges gesteckt hatte, das nun für immer gegangen war. Zwar hinterließ er durch seine Berührung Spuren, aber seine DNA befand sich ohnehin überall im Haus – in der Küche, im Schlafzimmer und auf den Bettlaken. Die KTU würde sein Sperma sicherstellen. Ein Haar reichte aus, um ihn zu identifizieren. Niemals würde er glaubhaft leugnen können, hier gewesen zu sein.

Am Hinterkopf der Leiche gab es keine Austrittswunde, das Projektil steckte demnach noch in Carolas Schädel. Damit hatte er ein ernstes Problem, denn die Kugel konnte zweifelsfrei seiner Waffe zugeordnet werden.

Der Klingelton seines Handys durchbrach jäh die Stille. Funke blickte sich suchend um, seine Uniformjacke hing über einer Stuhllehne. Er zog das Telefon aus der Innentasche, auf dem Display leuchtete die Nummer der Dienststelle auf. Harder schob allein in der Wache Dienst und war vermutlich damit überfordert, die Kaffeemaschine zu bedienen. Funke wischte über den Touchscreen und meldete sich.

„Harder hier. Ich habe versucht, dich über Funk zu erreichen.“

„Ich musste mal für kleine Polizisten“, log Funke.

„Ich bekam gerade einen Anruf rein“, sagte Harder. „Ein Nachbar hat verdächtigen Lärm in Wesselings Wochenendhaus am Dreifelder Weiher gemeldet. Kannst du mal vorbeischauen, wenn du in der Nähe bist?“

Funke schaltete sofort. Harders Anruf war ein Geschenk des Himmels. „Ich bin nur fünf Minuten von Dreifelden entfernt.“

„Gut, dass ich dich doch noch erreichen konnte.“ Harders Stimme klang ölig, mit einem zynischen Unterton. Er ging todsicher davon aus, dass Funke im Wäller Krug einen Absacker nach dem anderen kippte. „Der Mann hat schon zweimal angerufen. Und da es um Wesselings Haus geht … du weißt ja, dass er ziemlich unangenehm werden kann.“

„Ich kümmere mich darum.“ Funke legte auf.

Er steckte im schlimmsten Treibsand, in den er je geraten war, und sank mit jeder Minute tiefer ein. Es konnte nur eine schlüssige Erklärung für die Ereignisse dieser Nacht geben: Jemand hatte ihn reingelegt und wollte ihn aus dem Verkehr ziehen, indem er ihm einen Mord in die Schuhe schob. Alles andere war undenkbar, unvorstellbar. Einen Augenblick lang erwog er, Helen Stein anzurufen, die Koblenzer Sonderermittlerin, der er geholfen hatte, Kaminsky zur Strecke zu bringen. Bei einem Kapitalverbrechen würde sich ohnehin die ZKI – die zentrale Kriminalinspektion – einschalten. Wäre er sicher gewesen, dass Helen die Ermittlungen leiten würde, hätte er nicht gezögert, sich zu stellen und zu kooperieren. Aber es gab einen guten Grund, die ZKI nicht einzubeziehen: Georg Starbacher, sein ehemaliger Mentor und alter Weggefährte, war nicht länger Chef der SoKo für Gewaltverbrechen. Die Neuigkeit hatte sich wie ein Buschfeuer verbreitet. Harder konnte kaum schnell genug ausplappern, dass man Helen übergangen und Kriminalrat Berthold Kain zum neuen Teamleiter ernannt hatte. Funke fiel niemand ein, der ihn mehr hasste als Kain. Wenn Kain den Fall untersuchte, hatte er nicht die Spur einer Chance auf eine faire Untersuchung. Kain würde die Gelegenheit nutzen, um mit ihm abzurechnen. Carola war mit Funkes Waffe erschossen worden, nachdem er mit ihr geschlafen hatte. Was lag näher, als daraus eine Beziehungstat zu konstruieren? Wenn Wesseling seinen Einfluss geltend machte und Kain die Ermittlungen führte, konnte Funke sich auch gleich eine Kugel in den Kopf jagen.

Aber wenn er tot war oder die nächsten fünfundzwanzig Jahre in der JVA Koblenz verbringen würde, gab es niemanden, der sich um Nora kümmern konnte. Seine Exfrau hatte sich vor einem halben Jahr aus dem Staub gemacht, um auf Fuerteventura eine Surfschule zu eröffnen. Susanne hatte keinerlei Interesse an einer autistischen Tochter, die wie ein Bremsklotz an ihr kleben würde.

Sie werden dir Nora wegnehmen. Sie werden sie in ein Heim für behinderte Kinder stecken, wo sie unter dem Einfluss von Tranquilizern vor sich hindämmern wird, bis sie eingeht wie eine Blume, die niemand mehr gießt.

Er blickte auf die Tote hinab und fasste einen Entschluss. Ihm graute vor dem Plan, der sich in seinem Kopf zu formen begann, aber ihm blieb keine andere Wahl. Die Leiche musste verschwinden. Anschließend galt es, alle Spuren, die auf ein Verbrechen hinwiesen, zu beseitigen. Keine Leiche, kein Mord. Um Carolas Mörder zu finden, musste er vor allem eins sein: frei. Erst wenn er wusste, wer hinter dem Plan steckte, ihn auszuschalten, konnte er seine Unschuld beweisen. Dazu musste er eine Geschichte konstruieren, die jedem Verhör standhielt.

In Gedanken ging er eine Liste möglicher Feinde durch. Er führte ein zurückgezogenes Leben. Weder beteiligte er sich an Harders Ränkespielen noch hatte er sich bewusst den Hass anderer Menschen zugezogen. Allerdings hatte er im Lauf der Jahre Dutzende Straftäter überführt, von denen einige zu langjährigen Haftstrafen verurteilt worden waren. Wenn der Mord an Carola ein Racheakt war, würde er tief in seiner Vergangenheit graben müssen, um die Wahrheit ans Licht zu bringen.

Die offensichtlichste Lösung des Rätsels war, dass Wesseling ihr gefolgt war. Er musste ihn, Funke, in der Küche überrascht haben, hatte ihn in rasender Wut niedergeschlagen und Carola aus Eifersucht und verletzter Eitelkeit erschossen. Dann hatte Wesseling ihn neben die Leiche gelegt und ihm die Waffe in die Hand gedrückt. Wahrscheinlich steckte er sogar hinter dem Anruf. Ein einfacher, todsicherer Plan, der aufgegangen wäre, wenn Harder nicht allein in der Wache Dienst schieben würde – was Wesseling offenbar nicht gewusst hatte.

Funke begann systematisch, das Haus in den Zustand zurückzuversetzen, in dem er es vorgefunden hatte. Er arbeitete sich vom Schlafzimmer im Obergeschoss chronologisch nach unten vor, so wie die vergangenen Stunden wahrscheinlich abgelaufen waren. Auch in der Diele stieß er auf Spuren eines Kampfes. Am Handlauf des Treppengeländers klebte Blut, auf den Bodenfliesen lagen die Scherben einer zerbrochenen Keramikvase, die Edelstahlspüle in der Küche war mit Blutflecken übersät. Auf dem Boden vor der Anrichte lagen die Scherben einer Weinflasche, eine Pfütze aus Rotwein glänzte wie frisch vergossenes Blut. Er musste die Flasche fallen gelassen und sich an den Scherben geschnitten haben, aber von dem Wie und Wann wusste er nichts mehr.

Er trat in die Diele hinaus und blickte durch die offene Tür ins Wohnzimmer. Die tote Carola hielt einen abgebrochenen Flaschenhals in der starren Hand. Keine Erinnerung, nichts, Filmriss.

Hatte sie um ihr Leben gekämpft? Gegen wen? Gegen ihren Mann? Oder gegen ihn selbst? Er musste auch in Betracht ziehen, dass sie von einem Einbrecher überrascht worden waren. Hatte der ihn bewusstlos geschlagen und neben die Leiche gezerrt, um die Straftat zu verdecken? Ein Totschlag, den der Eindringling im Affekt begangen hatte? Vielleicht würde er nie erfahren, was geschehen war.

Funke spülte das Blut in den Ausguss, kehrte die Scherben zusammen und warf sie in den Abfalleimer unter der Spüle. Dabei war er sich darüber im Klaren, dass seine hilflosen Versuche, den Mord ungeschehen zu machen, im Angesicht gründlicher polizeilicher Ermittlungen wie ein Kartenhaus in sich zusammenbrechen würden. Er musste daher unter allen Umständen verhindern, dass das Wochenendhaus als Tatort in Betracht kam.

Prüfend ließ er seine Blicke durch die Küche streifen. Auf den ersten Blick deutete nichts auf ein Verbrechen hin. Nur unter dem Einfluss von Luminol und UV-Licht würden die Blutspuren sichtbar werden.

Seit seinem Erwachen war etwa eine halbe Stunde vergangen. Harder wartete wahrscheinlich bereits auf seinen Rückruf und die Bestätigung, dass alles in Ordnung war. Wenn der fuchsgesichtige Schleimer damit bei Wesseling punkten konnte, würde er sich vor Diensteifer überschlagen.

Es fühlte sich seltsam an, auf der anderen Seite des Gesetzes zu stehen – als wäre er in einen Mantel geschlüpft, der ihm nicht passte. Aber er war bereits zu weit gegangen, um noch umkehren zu können. Er hatte Kenntnis von einem Kapitalverbrechen, das er nicht umgehend gemeldet hatte, und hatte einen Tatort verändert. Schon diese Verfehlungen reichten für eine Suspendierung. Berthold Kain, sein alter Widersacher, würde die Gelegenheit nicht ungenutzt verstreichen lassen, ihn kaltzustellen.

Kains Ernennung hatte alle überrascht. In den vergangenen elf Monaten waren im Westerwald vier junge Frauen spurlos verschwunden. Helen hatte ihre Hausaufgaben als Profilerin gemacht und aus den spärlichen Indizien ein Täterbild konstruiert. Es sah ganz so aus, als ob in der Abgeschiedenheit der Provinz erneut ein Serienkiller sein Unwesen trieb, den das Team der SoKo das Phantom nannte.

Funke hatte einen genialen Einfall. Was er über den Fall aufgeschnappt hatte, reichte aus, um ein glaubhaftes Szenario zu entwerfen. Er betrat das Wohnzimmer, steckte seine Waffe in das Holster am Gürtel und hob seine ermordete Geliebte hoch. Sie fühlte sich leichter an, als sie sein sollte, so, als hätte sie mit dem Leben, das aus ihr herausgesickert war, an Gewicht verloren. Ein dünner roter Faden zog sich vom Einschussloch in ihrer Stirn am Nasenbein entlang zum Mundwinkel. Es war kaum Blut ausgetreten, was bedeutete, dass Carola sofort tot gewesen war. Sie hatte nicht gelitten. Entweder war sie aus nächster Nähe erschossen worden oder der Täter war ein geübter Schütze … ein Polizist vielleicht, der regelmäßig ein Schießtraining absolvierte. Funke biss sich auf die Unterlippe, bis der Schmerz das Undenkbare verdrängte.

Carolas Arme hingen leblos herab. Aus ihrer rechten Hand fiel ein Gegenstand, der im flackernden Licht des Kaminfeuers golden glänzte. Es war ein kleines, mit Aquamarinen und Fayence-Einlagen verziertes Ankh-Kreuz. Funke legte die Leiche ab und hob das Kreuz auf. Er war sicher, dass Carola kein solches Schmuckstück besessen hatte, zumindest hatte er es niemals an ihr bemerkt. Da das Kreuz in ihrer Faust verborgen gewesen war, musste sie es dem Mörder entrissen haben. Vermutlich hatte er es nicht bemerkt. Funke wusste aus den vielen Geständnissen, die er angehört hatte, dass die Täter während des Tötungsaktes eine Art Tunnelblick entwickelten.

Er steckte das Schmuckstück ein und schleppte die Leiche in die Garage. Carolas hellblauer Renault Captur wartete fahrbereit, der Schlüssel steckte. Funke legte die Tote hinter dem Wagen ab und öffnete die Heckklappe. Bevor er Carola in den Kofferraum heben konnte, hörte er Schritte im Haus.

„Hallo? Ist jemand zu Hause?“

Es war die Stimme von Jürgen Harder. 

3

Die Luft in der Garage war eisig, trotzdem schwitzte Funke wie ein Malariakranker. Erst jetzt, als er Harders Stimme hörte, wurde ihm klar, was sein Vorhaben bedeutete. Er befand sich in einer physischen und psychischen Ausnahmesituation, die einen raffinierten, fehlerfreien Plan unmöglich machte. Bisher war ihm sein Vorgehen logisch und gut durchdacht erschienen – die Spuren verwischen, die Leiche beseitigen, und schon gab es kein Verbrechen mehr. Was man nicht sehen konnte, existierte auch nicht.

Harder holte ihn in die Wirklichkeit zurück. Funke stand vor dem Kofferraum des Renaults, trug eine Polizeiuniform und war damit beschäftigt, eine Frauenleiche zu verstecken. Es war so surreal, dass er beinahe laut aufgelacht hätte. In seinen dunkelsten Nächten hatte er keinen schlimmeren Albtraum erlebt.

Er schlich zur Tür, die Garage und Küche verband, und schob sie einen Spalt weit auf. Der Lichtstrahl einer Taschenlampe huschte durch die Diele. Harder tappte durch das dunkle Haus. Was zur Hölle hatte der neugierige Schleimer hier verloren? Warum hatte er seinen Posten in der Wache verlassen? Funke rechnete nach. Es musste jetzt ungefähr zweiundzwanzig Uhr dreißig sein. Harders Schicht war seit einer Viertelstunde zu Ende. Diensteifrig, wie er war, wollte er bei Wesseling wahrscheinlich selbst nach dem Rechten sehen.

Funke dachte an Nora. Daran, was sie würde erleiden müssen, wenn er scheiterte. Eine warnende Stimme redete auf ihn ein, dass es niemals aufhören würde. Er würde wieder und wieder reagieren müssen, um die Fehler zu korrigieren, die er unweigerlich begehen würde. Verzweifelt würde er seine Spuren verwischen und damit neue Probleme auslösen, bis die Lawine, die er lostrat, vollends außer Kontrolle geriet. So lief es immer. Es war ein Fußballspiel, bei dem ein Spieler den Ball in die Luft schoss und niemand wusste, wo er landen würde.

Der Gedanke an seine Verantwortung für Nora half ihm schließlich, sich von dem lähmenden Schrecken zu befreien. Sein Kopf wurde klar und kalt wie Eiswasser, und sein Verstand formte einen Plan.

Die Holzgarage war nicht mehr als ein Schuppen. An der Vorderseite befand sich ein aus Brettern gezimmertes, zweiflügeliges Tor. Funke tastete sich an der Wand entlang, bis er den Sicherungskasten fand, und schaltete die Hauptsicherung aus.

Leise schlüpfte er ins Freie. Den dichten Nebel, der vom See heraufzog, als Deckung nutzend, lief er um das Haus herum und näherte sich der Terrassentür. Da die Haupteingangstür von innen verriegelt war, musste Harder den Weg durch den Garten gewählt haben wie er selbst vor knapp drei Stunden. Lautlos betrat Funke das Haus. Harder befand sich in der Küche, Funke sah den Lichtstrahl der Lampe über Wände und Treppengeländer huschen. Harder war nur einen Meter von der Verbindungstür zur Garage entfernt. Wenn er sie öffnete, würde er unweigerlich auf die Leiche stoßen.

Funke zog seine Waffe. „Bleiben Sie stehen! Lassen Sie die Lampe fallen und verschränken Sie die Hände hinter dem Kopf!“

Harder tat, was ihm befohlen wurde. Die Taschenlampe rollte klappernd über die Bodenfliesen und flackerte. Funke hob sie auf.

„Ben? Bist du das?“, fragte Harder vorsichtig.

„Umdrehen!“

Der Lichtstrahl traf Harder im Gesicht.

„Jürgen! Was treibst du denn hier?“ Funke versuchte verblüfft zu klingen und das Zittern in seiner Stimme zu verbergen.

„Meine Schicht ist zu Ende. Ich war auf dem Nachhauseweg und dachte, ich sehe mal selbst nach dem Rechten.“

„Auf dem Campingplatz gab’s Ärger. Ich wurde aufgehalten“, erklärte Funke hastig. „Nach deinem Anruf bin ich so schnell wie möglich hierhergefahren. Dann sah ich das Licht deiner Taschenlampe und hielt dich für einen Einbrecher.“

Harder grinste schief. „Da hab ich ja noch mal Glück gehabt.“

Funke steckte seine Waffe ein. Stimmte Harders Erklärung? Funke war nicht besonders scharf auf den Posten des Dienststellenleiters. Eigentlich hatte er sich nur beworben, um zu verhindern, dass Harder zum Chef aufstieg, denn darunter würden alle leiden. Noch immer war nicht entschieden, wer die Wache in Zukunft leiten sollte. Harder benutzte jede Gelegenheit, um Informationen zu sammeln, mit denen er seinen Konkurrenten schaden konnte. Er ließ sich auf dem Feuerwehrfest sehen, engagierte sich in Verbänden und Vereinen und knüpfte Verbindungen, wo immer es ihm nützte. Sein Problem war allerdings, dass die meisten Leute seine plumpen Versuche, sich beliebt zu machen, durchschauten. Er ähnelte einer Nacktschnecke, die auf ihrer eigenen Schleimspur ausrutschte. Trotzdem durfte man ihn nicht unterschätzen.

Harder ging zur Haupteingangstür und spähte neugierig durch die Butzenscheiben. „Ich hab deinen Streifenwagen gar nicht gesehen.“ Er tippte auf den Lichtschalter. „Der Strom ist ausgefallen. Merkwürdig, der Anrufer sagte, er hätte Licht bemerkt.“

„Wahrscheinlich hat er sich geirrt“, sagte Funke. „Fahr jetzt nach Hause und hau dich aufs Ohr. Ich schau mich noch mal um, ob ich Einbruchsspuren finde. Morgen früh werde ich Wesseling informieren.“

„Komische Sache.“ Harder näherte sich der Tür zur Garage und streckte die Hand nach der Klinke aus.

Funke entriegelte die Eingangstür und schob Harder hinaus in den Vorgarten. Nie war ihm dessen penetrante Neugier so lästig vorgekommen. „In letzter Zeit treiben sich die Kids abends am See herum. Vielleicht haben sie im Haus nach Alkohol gesucht“, sagte er.

„Wäre möglich.“ Harder schnüffelte in der Luft wie ein Terrier, der Beute wittert. „Wir kriegen einen frühen Winter“, plapperte er.

„Ja, und wenn du noch länger hier herumtrödelst, bleibst du im ersten Schnee stecken.“

Harder grinste. „Also … gute Nacht.“

„Gute Nacht.“

Funke wartete, bis Harders VW Golf in die Hauptstraße Richtung Freilingen einbog, dann kehrte er in die Garage zurück und schaltete die Sicherung wieder ein. Er zitterte wie in einem Fieberschub. Zwar reifte ein Plan in ihm heran, aber der funktionierte nur, wenn die Leiche niemals gefunden wurde. Wenn die Frau des prominenten Landespolitikers Holger Wesseling spurlos verschwand, würde die Polizei eine groß angelegte Suchaktion starten. Hundertschaften mit Spürhunden würden die Gegend um den See absuchen. Ein ausgebildeter Leichenspürhund konnte einen Toten selbst unter Wasser aufspüren. Er brauchte also ein narrensicheres Versteck.

Funke begann eine Reihe von Assoziationen durchzuspielen. Die Psychologin, die mit Nora arbeitete, benutzte diese Methode, um mehr Klarheit über den komplizierten Seelenzustand des Mädchens zu erlangen. Leiche … Grab. Die Verbindung drängte sich geradezu auf. Ein Toter wurde beerdigt. Und auf einem Friedhof nutzte ein Leichenspürhund überhaupt nichts.

Funke wusste nun, was er zu tun hatte. Er kehrte ins Haus zurück, suchte nach Carolas Smartphone und fand es in ihrer Handtasche. Er nahm den Akku heraus und steckte beides in die Hosentasche. Dann wiederholte er das Gleiche mit seinem eigenen Handy. Die Bewegungsdaten jedes Mobiltelefons wurden beim Provider gespeichert. Bei eingeschalteter Datenverbindung zum Netz könnte er auch Schilder am Straßenrand aufstellen, wo die Leiche zu finden war. Eine der ersten polizeilichen Maßnahmen würde die Überprüfung des Bewegungsprofils von Carolas Handy sein. Da der Fall in seinen Zuständigkeitsbereich fiel, hoffte er, in die Suche involviert zu werden. Damit konnte er einen gewissen Einfluss auf Ermittlungen ausüben … wenn Kain nicht wäre.

In einer Küchenschublade fand er eine Rolle mit Plastikabfallsäcken. Einen zog er über den Fahrersitz des Renaults und wickelte die Leiche in zwei weitere Säcke. Dann klappte er die Rückbank um und legte Carola in den so vergrößerten Kofferraum.

An der Garagenrückwand hingen mehrere Gartenwerkzeuge. Funke verstaute eine Schaufel, eine Spitzhacke und eine Stehleiter aus Aluminium im Wagen und legte Carola in den Kofferraum. Er öffnete das Garagentor und fuhr los. Die Leuchtziffern am Armaturenbrett zeigten zweiundzwanzig Uhr fünfzig an. Seit Carolas gewaltsamem Tod waren nicht einmal zwei Stunden vergangen.

Funke bog an der Einmündung zur Hauptstraße rechts ab und folgte dem Weg, den Harder genommen hatte.

Vor vier Tagen waren bei einem Verkehrsunfall im Allgäu drei Menschen ums Leben gekommen, alle stammten aus dem kleinen Ort Steinen, der nur etwa vier Kilometer von Dreifelden entfernt lag. Funke stellte sich die buntgemischte Schar aus Rentnern vor, die sich auf einen Wochenendtrip in die Berge begab. Der Ausflug sollte in einer Katastrophe enden. Ironischer Weise war es Harder, der ihn über die Einzelheiten aufgeklärt hatte, weil sich ein entfernter Verwandter von ihm unter den Opfern befand. Morgen würden die Beerdigungen auf dem kleinen Friedhof des Ortes stattfinden. Das bedeutete drei offene Gräber, die darauf warteten, gefüllt zu werden.

Der Friedhof lag abseits der Wohnbebauung unmittelbar an der Bundesstraße 8, die den Ort in zwei Hälften teilte. Funke schaltete das Licht aus und ließ den Renault langsam an den Rückseiten der Bauernhäuser vorbeirollen. Dann stellte er den Wagen unter dem schützenden Blätterdach einer Baumgruppe ab. Minutenlang blieb er in der Dunkelheit sitzen. Ein Hauch von Carolas Parfum schwebte in der Luft. Wenn er in den Rückspiegel blickte, konnte er unter den grauen Müllsäcken die Konturen ihres Körpers erkennen.

Ihm graute vor seinem Vorhaben. Dann jedoch dachte er an Noras leeren Blick und an ihre Furcht, wenn sich Unbekannte ihr näherten. Von fremden Menschen in einem Heim umgeben zu sein, würde sie von einem Albtraum in den nächsten stürzen. Funke öffnete die Wagentür. Es gab kein Zurück mehr.

Die Nacht war totenstill, unterbrochen nur vom gelegentlichen Rauschen eines vorbeifahrenden Autos auf der B8. Ein Fuchs tauchte aus dem Unterholz auf. Als er Funke erblickte, verharrte er auf der Stelle und verschwand dann lautlos wieder zwischen den immergrünen Lorbeersträuchern.

Funke kletterte über das niedrige Eingangstor des Friedhofs. Es war eine mondlose, neblige Nacht, die ihm einerseits Schutz gewährte, seinen Plan aber auch erschwerte. Auf dem Totenacker war es so finster wie in einer Gruft. Er ging den Kiesweg entlang und stieß schnell auf drei frisch ausgehobene Gräber. Eine Weile blickte er in die lichtlosen Gruben hinab und überlegte, welche er wählen sollte. Er hatte das Gefühl, als wäre sein Bewusstsein in den gefühllosen Körper eines Roboters geschlüpft. Das war nicht er, der hier stand und darüber nachdachte, wie er die Leiche seiner ermordeten Geliebten verschwinden lassen konnte.

Schließlich kehrte er zum Wagen zurück, holte Schaufel und Hacke und die Leiter aus dem Kofferraum und beschloss, Carola bis zum letzten Augenblick im Wagen zu lassen.

Er ließ die Leiter in das Grab hinab, das am weitesten vom Weg entfernt lag. Dann kletterte er in die Grube und begann, die Sohle des Grabs etwa vierzig Zentimeter tief auszuheben. Nach zehn Minuten hielt er keuchend inne. Seine Muskeln schmerzten von der ungewohnten Arbeit, sein Herz raste. Er brauchte länger, als er geplant hatte, und war erst nach einer halben Stunde so weit, dass er die Leiche holen konnte.

Der Plastikmüllsack verbarg Carolas Gesicht, als er sie zum Friedhof trug und in die Grube legte. Hastig begann er, eine dünne Schicht Erde über ihren Körper zu schaufeln, dann wurden seine Bewegungen langsamer und er arbeitete stumpf und mechanisch wie eine Maschine. Nur das angestrengte Keuchen seines Atems durchbrach die unnatürliche Stille.

Jedes Gefühl und jeder Gedanke, der in seinem Kopf aufblitzte, erlosch sofort wieder. Er wiederholte einen Satz wie ein Mantra: „Ich tu’s für Nora, für Nora, für Nora.“

Endlich stieg er die Leiter hinauf, legte sich erschöpft in das kalte, feuchte Gras und blickte in den Himmel, der sich dunkel und schwer wie ein Sargdeckel über ihm wölbte.

Als sich sein rasender Herzschlag beruhigt hatte, warf er Carolas Handy in das Grab und stieg wieder hinab, um den Boden zu glätten. Anschließend beseitigte er an dem Erdhügel neben dem Grab alle Spuren, die verraten könnten, dass sich jemand daran zu schaffen gemacht hatte. Unter dem Wasserhahn am unteren Ende des Friedhofs schrubbte er die Erde von seinen Schuhen, und wusch seine Hände, bis sie krebsrot waren. Leiter, Schaufel und Hacke wickelte er in die restlichen Müllsäcke.

Alles, was er jetzt noch tun musste, war, den Renault irgendwo an der B8 abzustellen und eine Motorpanne vorzutäuschen. Jeder Ermittler würde davon ausgehen, dass Carola Wesseling ein weiteres Opfer des Phantoms geworden war.

Funke ging zum Wagen zurück. Zwar hatte er keinen Mord begangen, und an seinen Händen klebte kein Blut, dennoch wurde ihm klar, dass er nicht länger als Polizist würde arbeiten können. Was er getan hatte, fühlte sich so falsch an wie ein gezinktes Kartenspiel. Sein Leben würde sich drastisch verändern.

Einen Kilometer südöstlich des Friedhofs warf er das Werkzeug und die Leiter in einen Weiher der Westerwälder Seenplatte. Er stellte den Renault an der Einmündung eines Waldwegs ab und lockerte mehrere Kabel an der Zündverteilung. Dann kehrte er zu Fuß nach Dreifelden zurück, allein mit der Nacht und seinen Gedanken.

4

22. Oktober, Koblenz

Die Plastiktüte in Helens Jackentasche knisterte. Wenn ich ein rotes Gummibärchen erwische, ist Blechner ein Serienkiller. Wenn es ein grünes ist, nur ein gewöhnlicher Scheißkerl, der seine Frau verprügelt. Ist es ein gelbes, dann …

„Sag schon, was verkündet das Bärenorakel?“ Andreas Kreutz beugte sich auf dem Rücksitz nach vorne und spähte durch die beschlagene Windschutzscheibe.

„Es verrät mir, dass du ein Kebap-Brötchen mit viel Knoblauch gegessen hast.“

Kreutz lachte. „Das hält mir Kain vom Leib.“

„Kain ist ein Idiot.“

„Und unser Chef. Du solltest dich nicht bei jeder Gelegenheit mit ihm anlegen.“

„Er hat mich eine traumatisierte Irre genannt.“

„Bis jetzt ist es nicht mehr als ein Gerücht.“

Bender saß auf dem Beifahrersitz und stopfte sich den letzten Bissen eines Schokoladenmuffins in den Mund. Teigkrümel verteilten sich auf dem Teppichboden des Zivilstreifenwagens. „Doch, es stimmt, das hat er gesagt“, meinte er. „Kain spielt uns gegeneinander aus. Wusstest ihr, dass er unsere Personalakten auswendig gelernt hat? Wenn einer von uns einen Fehler macht – Kain weiß es als Erster. Und er liebt es, darauf herumzureiten.“

„Auf jeden Fall hat er ein Problem mit Frauen“, sagte Kreutz.

„Woher weißt du das denn?“, fragte Helen.

„Ich hab gehört, sein Wechsel nach Koblenz käme einer Strafversetzung gleich. Kain soll eine Prostituierte während eines Verhörs zu hart angefasst haben. Und das im wörtlichen Sinn.“

„Hat er sie verprügelt?“

„Man kann es wohl so auslegen“, antwortete Kreutz.

„Ich frage mich, was er dauernd in sein kleines schwarzes Notizbuch kritzelt“, überlegte Bender.

„Er schreibt auf, wie viele Donuts du verschlingst.“ Helen schob sich eine Handvoll Gummibärchen hinter die Zähne.

Kreutz kicherte. „Starbacher war mir auch lieber. Aber Kain ist nun mal unser neuer Boss. Eure Hahnenkämpfe belasten das Team.“

„Kain belastet das Team. Er ist als Teamleiter ungeeignet, und er weiß, dass ich es auch weiß. Außerdem stinkt sein Rasierwasser wie ein voller Aschenbecher.“

„Das kommt von seiner Qualmerei. Er raucht wie ein Fabrikschlot und schwitzt das Nikotin geradezu aus.“ Bender wickelte einen Drops aus dem Papier.

„Könnt ihr eigentlich nur ans Essen denken?“, fragte Kreutz.

„Kaffee wäre nicht schlecht“, erwiderte Helen.

„Stimmt.“ Das Bonbon klapperte zwischen Benders Zähnen.

„Kannst du wirklich die Farbe eines Gummibärchens am Geschmack erkennen?“, fragte Kreutz.

„Ja, kann ich.“ Helens Hand verschwand in ihrer Jackentasche.

„Mach mal.“

„Später. Wenn wir Blechner haben.“

„Glaubst du, er ist das Phantom?“

„Um das herauszufinden, sind wir hier.“

„Und was sagt dein Instinkt?“

„Gar nichts.“

Seit dem Desaster am Deutschen Eck vor sechzehn Monaten hielt sie sich mit Spekulationen zurück. Sie ging noch einmal die spärlichen Fakten durch und versuchte, sie in das Raster einzufügen, das sie über Blechner erstellt hatte. Vier Frauen zwischen neunzehn und achtundzwanzig Jahren waren während des vergangenen Jahres so plötzlich und unerwartet verschwunden, als hätte der Erdboden sie verschluckt; das letzte Opfer erst vor wenigen Tagen. Niemand wusste, ob sie noch lebten. Sie waren in einem Gebiet im Westerwald als vermisst gemeldet worden, das annähernd einem Dreieck glich. Die Presse sprach von einem Bermudadreieck des Todes und verbreitete wilde Gerüchte – von einem gerissenen Serienkiller, den man das Phantom nannte, bis zu abstrusen Erklärungsversuchen wie Entführungen durch Außerirdische. Gemeinsam war allen Fällen, dass die Frauen nach einer Autopanne verschwunden waren. Man hatte ihre Wagen an stark befahrenen Bundesstraßen gefunden. Danach gab es kein weiteres Lebenszeichen, auch Leichen waren nie entdeckt worden, obwohl intensiv danach gesucht worden war. Ganze Hundertschaften hatten die angrenzenden Waldgebiete mit Spürhunden durchkämmt.

Die wahrscheinlichste Erklärung war, dass die Frauen Opfer von Sexualverbrechen geworden waren. Helen vermutete, dass der Täter ziellos umherfuhr und auf eine Gelegenheit wartete, zuzuschlagen. Wie immer hatten sich mehrere Zeugen gemeldet, deren Aussagen sich widersprachen. Manche wollten einen Abschleppwagen in der Nähe der verlassenen Wagen beobachtet haben, andere ein Wohnmobil, die dritten einen Laster mit roter Plane. Eine brauchbare Personenbeschreibung hatte niemand geliefert.

Helen tippte auf die Version mit dem Wohnmobil. Sie passte ins Profil. Vermutlich bot der Täter seine Hilfe an, überwältigte die Frauen und brachte sie in ein Versteck, wo er sich mit ihnen beschäftigte, bis er seine perversen Triebe befriedigt hatte. War er ihrer überdrüssig, ermordete er sie und vergrub die Leichen auf seinem Grundstück. Vielleicht lebte er auf einem Gehöft abseits der Dörfer, und sie fanden deshalb nicht die geringste Spur.

Eine zweite Theorie lautete, dass er mit einem Wohnmobil oder einem Camper kreuz und quer über Land fuhr und die Leichen Hunderte Kilometer entfernt vom Tatort beseitigte. Wenn das zutraf, konnten sie suchen, bis sie schwarz waren.

Ewald Blechner war ins Visier ihrer Ermittlungen geraten, weil zwei der verschwundenen Frauen zu seinen Kundinnen gehört hatten. Er hatte eine Gefängnisstrafe wegen Vergewaltigung und schwerer Körperverletzung abgesessen. Ungefähr zum selben Zeitpunkt, als das erste Opfer verschwand, hatte er eine kleine Autowerkstatt im Koblenzer Stadtteil Kesselheim eröffnet. Er war mehrfach verhört worden, ohne dass man ihm etwas nachweisen konnte. Vor seiner Verhaftung war er Mitglied einer Rockergang gewesen, hatte aber nach seiner Entlassung den Kontakt zu der Bande abgebrochen. Sein Lebenswandel ergab nun ein positives Bild. Blechner lebte mit einer fünfzehn Jahre jüngeren Frau zusammen, die ihm eine Tochter geschenkt hatte. Das Mädchen war inzwischen vier Jahre alt. Nach Aussagen der Nachbarn kümmerte er sich liebevoll um die Kleine. Die Autowerkstatt warf Gewinn ab, alles deutete darauf hin, dass er aus seinen Fehlern gelernt hatte.

Bis jetzt. Vor zwei Stunden hatte sich eine aufgeregte Nachbarin bei der Koblenzer Polizei gemeldet und behauptet, Blechner habe am frühen Morgen eine Leiche auf dem verwilderten Grundstück hinter seiner Werkstatt vergraben.

Kreutz riss Helen aus ihren Gedanken. „Worauf warten wir? Zugriff?“

Sie zögerte. Zwar wusste sie so gut wie nichts über den Unbekannten, aber die wenigen Anhaltspunkte reichten, um ein grobes Bild zu erstellen. Die meisten Serienmörder ließen sich in ein Raster einfügen, das Rückschlüsse auf Motiv, die Psyche des Täters und sein Umfeld erlaubte. Blechner passte nicht in das Profil, das sie erstellt hatte.

Aber Kain war anderer Meinung. Subtiles Profiling interessierte ihn nicht. Er besaß nicht das geringste Gespür für Zwischentöne und traf autoritäre Entscheidungen, für Kritik war er taub. Aus irgendeinem Grund hatte er sich auf Blechner eingeschossen. Möglicherweise, weil er der einzige Verdächtige war, den sie vorweisen konnten. Kain stand unter Druck. Er musste der Öffentlichkeit einen Täter präsentieren, schließlich hatte er Helen den Posten des Teamleiters vor der Nase weggeschnappt.

Vielleicht landete Kain ja einen Zufallstreffer und Blechner war tatsächlich ihr Mann. Sie mussten dem Hinweis der Nachbarin zumindest nachgehen. Helen zog blind ein einzelnes Gummibärchen aus der Tasche und probierte es. Grün, dachte sie. Kain irrt sich.

Sie hatte den silbergrauen Passat unter den ausladenden Zweigen einer Ulme abgestellt, wo er vor neugierigen Blicken geschützt war. Auf der anderen Straßenseite lag hinter einer mannshohen Mauer Blechners Werkstatt. Das Tor der Einfahrt zum Hof stand offen. Helen zählte die Motorhauben von einem Dutzend billiger Gebrauchtwagen. An der Rückseite des Hofs standen Ölfässer und Gitterboxen mit ausrangierten Autoteilen. An einer stabilen Eisenstange, die in einen Betonklotz eingegossen worden war, hing eine Kette mit einem Karabinerhaken. Die Kette eines Wachhundes … was fehlte, war der Hund.

„Okay, gehen wir rein“, sagte Helen.

Bender stöhnte.

„Was ist los, Horst?“, fragte Kreutz.

„Mein Magen spielt verrückt. Ich hab das Gefühl, als ob es mich heute erwischt.“

„Quatsch“, sagte Helen. Überzeugt klang es nicht.

Kreutz öffnete die Wagentür. „Horst kann bloß kein Blut sehen, und wenn’s nur ein Tropfen ist. Dann muss er kotzen.“

Bender ignorierte die Stichelei. „Was will die denn hier?“, fragte er stattdessen.

Helen ließ die Seitenscheibe herab. Eine fette Frau um die fünfzig mit wasserstoffblondem Haar und solariumverbrannter Haut kam über die Straße auf sie zu. Sie trug einen grell geblümten Morgenmantel, Lockenwickler im Haar und paffte eine Zigarette.

„Sieh da, ein fleischfarbenes Gummibärchen“, sagte Kreutz. „Horst, willst du mal probieren?“

Bender kicherte. „Nee, danke.“

Helen stieg aus dem Wagen. Ihr Haar kräuselte sich in der feuchtkalten Luft. Vom Höhenzug des Westerwalds wehte ein eisiger Wind über das Rheintal und schickte erste Boten des nahenden Winters.

„Haben Sie ihn?“, keuchte die Frau aufgeregt.

„Wen denn?“

„Sie sind doch von der Polizei, oder? Seh ich doch sofort.“ Neugierig musterte sie das Innere des Wagens.

„Gehen Sie wieder ins Haus“, sagte Helen.

„Er ist es! Ich hab’s gewusst. Mir können Sie’s ruhig sagen.“

„Noch wissen wir gar nichts.“

Die Frau wies mit ihrer Zigarette auf den verwilderten Garten, von dem ein Teil durch die Einfahrt zu sehen war. „Hab genau gesehen, wie er sie da hinten verbuddelt hat. In ’nem Plastiksack hat er sie übern Hof geschleift und in das Loch geschmissen. Ganz gruselig ist mir geworden.“ Sie sog an ihrer Zigarette und hustete. „Glauben Sie, die anderen Frauen liegen auch dort?“ Sie raffte ihren Morgenmantel enger um die Schultern. „Will man sich gar nicht vorstellen.“

„Sie sollten jetzt besser in Ihre Wohnung gehen, sonst erkälten Sie sich bei dem Mistwetter noch“, sagte Helen ärgerlich.

Die Frau überhörte ihre Aufforderung. „Wie der schon aussieht. So ’nen gemeinen Zug hat der im Gesicht. Sein Motorrad ist so laut, dass man ’nen Herzschlag kriegen kann, wenn er vom Hof fährt. Ich hab gehört, Blechner war früher Rocker oder so was. War bestimmt bei den Hells Angels.“ Sie tippte Helen auf die Brust. „Ihr habt doch so Programme bei der Polizei. Damit kann man doch rausfinden, ob einer ein Mörder ist oder ...“

„Gehen Sie jetzt. Sie behindern die Ermittlungen!“

Sie warf die Kippe auf den Gehweg und trat sie umständlich aus. „Jaja, schon gut. Gibt’s eigentlich ’ne Belohnung?“

Bender stieg aus dem Wagen. „Zehntausend Euro“, sagte er, „wenn Sie brav sind und jetzt verschwinden.“

Sie riss die Augen auf. „Zehntausend?“

„Nur für Zeugen, die unsere Arbeit nicht behindern“, erklärte Helen.

Das Funkgerät knisterte. Karsten Engelhardt meldete sich und bestätigte, dass er auf Position war. Helen blickte die Straße hinunter. Engelhardt ließ zweimal die Lichthupe aufblitzen. Der schwarze Vectra stand hundert Meter entfernt an einer Bushaltestelle, um Blechner den Fluchtweg abzuschneiden.

Die Nachbarin redete immer noch weiter. „Ich hab Geschrei gehört … aus Blechners Wohnung.“

„Wann?“, fragte Helen.

„Vor ’ner Viertelstunde. Die Frau hat geschrien wie am Spieß.“

„Okay. Verschwinden Sie jetzt oder ich lasse Sie zu Ihrer eigenen Sicherheit abführen.“ Sie wandte sich an Bender. „Du nimmst den Vordereingang und bewachst das Treppenhaus. Wir sehen uns die Werkstatt an.“

Bender tippte sich an die Schläfe. „Mach ich.“

„Aber unternimm nichts ohne uns. Wenn du das Gefühl hast, nicht allein klarzukommen, ruf uns sofort.“

„Okeydokey.“ Bender überquerte die Straße in seinem Watschelgang.

Wenn er nicht endlich abnimmt, verstopft ihm noch ein Donut die Herzkranzgefäße, dachte Helen. Sie mochte Bender, auch wenn er ein Vielfraß war. Wenn es um Recherche ging, machte ihm so schnell keiner etwas vor.

Sie überprüfte ihre Waffe und beeilte sich, Kreutz einzuholen, der bereits durch die Lücke in der Ziegelmauer lief und den Hof betrat. Das Grundstück grenzte rechts an die Flanke eines Mietshauses, links hinter dem Wohnhaus befand sich ein Schuppen mit einem Wellblechdach, der als Reparaturwerkstatt diente.

Blechner wohnte im ersten Stock, nach Helens Informationen stand das Erdgeschoss leer. Irgendetwas war faul an der Sache. Fühlte sich Blechner tatsächlich so sicher, dass er unter den neugierigen Blicken seiner Nachbarn eines seiner Opfer vergrub? Oder steckte etwas völlig Harmloses hinter seiner Buddelei?

Sie näherten sich der Werkstatt, durch die verdreckten Scheiben des Rolltors fiel diffuses Licht. Helen zog ihre Waffe. Kreutz drückte die Klinke der Blechtür herunter, von der in großen Flocken blaue Farbe blätterte.

Auf einem Schild stand: Ewald Blechner, Karosseriearbeiten, Achsvermessung, TÜV.

All die winzigen Details nahm Helen übernatürlich scharf und klar wahr. Sie befand sich in einem Zustand absoluter Anspannung und Aufmerksamkeit, in den sie jedes Mal fiel, wenn sie mit der Waffe im Anschlag einen unbekannten Raum betrat. Alles konnte dahinter lauern – grausam verstümmelte Mordopfer oder ein Verrückter mit einer Machete, der Tod hatte viele Gesichter. Lange hielt man die Adrenalinflut in den Adern nicht aus. War alles vorbei, fühlte man sich ausgepumpt wie nach einem Marathonlauf.

Kreutz zog langsam die Tür auf. Lemmy Kilmister röhrte aus einem Kofferradio. Bis auf einen Opel Corsa, der auf einer Hebebühne stand, war die Werkstatt leer. Vor einer zweiten Bühne hatte sich auf dem Betonboden eine Lache ausgebreitet, die im Zwielicht schwarz wie Motoröl glänzte. Aber es war kein Öl. Helen sog den unverkennbaren, kupfernen Geruch von Blut in die Nase.

Kreutz durchquerte die Werkstatt und schaltete das Radio aus. Helen bückte sich und untersuchte den Fleck. Sie tauchte die Fingerspitze in die geronnene Flüssigkeit und schnupperte daran. „Ich gehe jede Wette ein, dass das Blut ist.“

„Jemand, der so viel Blut verloren hat, steht nicht wieder auf. Sieht so aus, als ob die Nachbarin doch nicht übertrieben hat“, entgegnete Kreutz.

Auch am Gestell der Bühne und an der Front eines verbeulten VW-Pritschenwagens klebte Blut.

„Wir observieren ihn seit drei Wochen“, sagte Helen. „Kannst du dir vorstellen, dass Blechner vor unseren Augen eine Leiche vergräbt und wir merken nichts davon?“

„Ich kann mir ’ne Menge verrücktes Zeug vorstellen.“

„Sehen wir uns im Garten um.“

Kreutz’ Handy summte. Er meldete sich und nickte. „Wir kommen.“ Er ging auf Helen zu. „Das war Horst. Er hat Blutspuren im Treppenhaus entdeckt.“

Sie verließen die Werkstatt und liefen an der Mauer entlang auf das Wohnhaus zu. Die verzogene Eingangstür mit der gelben, von einem Drahtgitter verstärkten Milchglasscheibe schleifte über den Boden. Helen schlich die Stufen hinauf bis zum ersten Treppenabsatz. Es roch nach Heizöl und Mäusedreck. Sie wischte sich die schweißnassen Hände an den Hosenbeinen ab und presste die Finger um den Griff der Walther P99.

Bender wartete vor der Wohnungstür. Er wies auf die Spur von Blutstropfen, die sich die Stufen hinaufzog und unter der Tür verschwand.

„In der Werkstatt war auch überall Blut“, flüsterte Kreutz.

Aus der Wohnung drang Lärm, Glas zerbarst klirrend, ein schwerer Gegenstand wurde umgeworfen. Eine Frau schrie gellend auf.

Helen drückte auf den Klingelknopf und hämmerte gegen die Eingangstür. „Herr Blechner! Öffnen Sie, hier ist die Polizei!“

Der Lärm hörte auf wie mit einer Schere abgeschnitten, es war gespenstisch still. Helen glaubte ein leises Klicken zu hören.

„Er schlägt sie tot, ich sag’s Ihnen!“

Fluchend fuhr Helen herum. Die blondierte Nachbarin stand auf dem Treppenabsatz. Sie hatte ihren Morgenmantel gegen ein pinkfarbenes T-Shirt und eine knallenge Hose mit Leopardenmuster getauscht und reckte den Kopf, um besser sehen zu können.

„Horst“, seufzte Helen. „Würdest du bitte die Personalien der Dame aufnehmen und ihr klarmachen, dass sie hier nichts zu suchen hat?“

Bender ging zur Treppe, um die neugierige Frau nach unten zu bringen. Sie wich ihm geschickt aus und erklomm die letzten Stufen. Bevor sie weiterplappern konnte, hörte Helen das Klicken zum zweiten Mal, gefolgt von einem metallischen Schnappen. Sie kannte dieses Geräusch. Jemand klappte den Lauf einer Schrotflinte zu.

„An die Wand! Weg von der Tür!“

Helen und Kreutz drückten sich zu beiden Seiten der Eingangstür an die Wand. Begleitet von einem ohrenbetäubenden Knall erschien in der Etagentür wie hingezaubert ein ausgefranstes Loch, Pressspäne und Holzsplitter wirbelten wie Schrapnelle durch die Luft, ein Fenster im Treppenhaus zerplatzte in einem Scherbenregen.

„Alle okay?“, rief Helen.

Kreutz kauerte neben einem Wandfeuerlöscher und hob die Hand zum Zeichen, dass er unverletzt war. Helen sah zur Treppe hinüber. Blechners Nachbarin stand auf der obersten Treppenstufe. Sie war kalkweiß, ihr mit einem pinkfarbenen Lippenstift bemalter Mund öffnete sich und klappte lautlos wieder zu. Ein Splitter, groß wie ein Gemüsemesser, steckte dicht unter ihrem Schlüsselbein. Ein dünner Blutfaden rann an ihrem Busen herab.

Bender quollen die Augen aus den Höhlen. Er starrte wie hypnotisiert auf das Blut.

„Der Mistkerl hat eine Schrotflinte“, schrie Kreutz. „Wir brauchen ein SEK!“

In der Wohnung war es wieder totenstill. Plötzlich kreischte eine Frau in Todesangst auf.

„Wir können nicht auf das SEK warten“, rief Helen. „Tut mir leid, wenn ich euch den Morgen versaue, aber wir müssen da rein. Horst, ruf einen Krankenwagen. Und schaff endlich die Frau hier raus!“ Zu Kreutz sagte sie: „Ich gebe dir Deckung, du trittst die Tür ein. Sie dürfte nicht mehr viel aushalten.“

„Helen, wir haben noch nicht mal Schutzwesten.“

„Die Frau da drin hat auch keine.“

So war es immer. Es fing harmlos an und endete in einem Desaster. Das Gummibärchenorakel hatte sich geirrt. Warum konnte nicht ein einziges Mal etwas glatt laufen?

„Wenn er eine doppelläufige Flinte benutzt, hat er noch einen Schuss“, sagte Kreutz.

„Fifty-fifty.“ Helen grinste irre. Die Anspannung drohte ihre Mundwinkel zu zerreißen.

Die Frau in der Wohnung bettelte, flehte und schrie. Die Panik in ihrer Stimme verriet Todesangst. Dann fiel der zweite Schuss.

Kreutz trat die Tür ein. Helen schlüpfte in die dämmrige Diele. Ihr Herz raste wie verrückt und pumpte Adrenalin durch ihre Adern. Ein Schatten huschte an ihr vorbei. Kreutz’ Augen leuchteten weiß und körperlos in der Dunkelheit.

An der Tür gegenüber klebten drei Buchstaben: Bad.

Kreutz angelte einen Schirm aus einem Blechständer und drückte mit dem Griffende die Klinke herunter. Die Tür schwang leise knarrend auf. Helen registrierte flüchtig eine Dusche mit schief sitzenden Schiebetüren, einen Hängeschrank mit angelaufenem Spiegel über dem Waschbecken und ein winziges Milchglasfenster. Wäsche quoll aus einem Flechtkorb.

Drei weitere Türen zweigten von der Diele ab, die mittlere stand offen. Graues Tageslicht fiel durch ein Fenster auf vergilbte Küchenschränke, einen Tisch und zwei Stühle, eine Anrichte und einen Kühlschrank, der nicht zum Rest der Einrichtung passte. Die elektronische Anzeige der Kaffeemaschine leuchtete rot. Alles wirkte friedlich und normal. Aber das war es nicht. Nur wenige Meter entfernt wartete der Tod.

Wählen Sie eine Tür. Das ist Ihr Preis: eine Ladung Schrot ins Gesicht.

Helen entschied sich für die linke Tür. Sie gab Kreutz ein Zeichen, dann wiederholten sie den Trick mit dem Regenschirm. Sie tastete nach dem Lichtschalter, eine trübe Glühbirne unter der Decke flammte auf. Auf dem Bett lag Blechners Frau. Zumindest ging Helen davon aus, dass sie es war, denn ihr Gesicht fehlte. Ihr Kopf war explodiert wie eine Wassermelone, nachdem Blechner ihr aus nächster Nähe in den Kopf geschossen hatte. Blut und Hirnmasse klebten an der Raufasertapete hinter dem Bett und an der Decke. Das Schlafzimmer sah aus, als hätte es ein Verrückter mit roter Farbe angemalt.

Helen wandte sich entsetzt ab. Blieb noch die letzte Tür. Sie hörte das charakteristische Schnappen der Schrotflinte. Blechner hatte nachgeladen und klappte den Lauf zu.

Etwas fehlte. Helen dachte angestrengt nach, aber ihr Kopf war völlig leer. Der Gedanke war präsent gewesen, als sie die Wohnung betreten hatte, aber das Adrenalin hatte ihn davongespült.

„He, Blechner! Legen Sie die Waffe auf den Boden! Direkt neben die Tür. Dann ziehen Sie sich an die Fensterwand zurück und nehmen die Hände hinter den Kopf.“

Niemand antwortete.

„Wir wissen, dass Sie da drin sind. Wir geben Ihnen eine Minute, dann kommen wir rein.“

„Das ist Wahnsinn, Helen“, flüsterte Kreutz. „Wir brauchen ein SEK. Ein Scharfschütze kann ihn gefahrlos durch das Fenster erledigen.“

Konzentriert musterte sie die Zimmertür. Sie konnten die Regenschirmnummer nicht wiederholen, weil die Tür sich zur Diele hin öffnen ließ. Das fehlende Puzzleteil stand plötzlich klar vor ihren Augen: das Kind! Wo war das Mädchen?

„Wenn Ihre Tochter bei Ihnen ist, schicken Sie sie heraus! Sie wollen doch nicht, dass dem Mädchen etwas geschieht“, rief Helen.

Angesichts der Leiche im Schlafzimmer war diese Vermutung nicht mehr als eine kühne Hoffnung. Aus dem Zimmer drang ein Rumpeln, als ob Möbelstücke verschoben wurden. Dann herrschte wieder Stille. Helen lauschte mit angehaltenem Atem. Da war kein Schluchzen, kein Weinen, keine Kinderstimme. Und wenn er ihr den Mund zuhält?, schoss es ihr durch den Kopf. Sie sah Nele vor sich, die Schwester, die sie nicht hatte beschützen können. Ihr Gesicht schwebte so deutlich vor ihr, als würde sie noch leben.

„Wir kommen jetzt rein.“

Stille.

„Haben Sie mich verstanden, Herr Blechner?“

Sie nickte Kreutz zu. In dem Dämmerlicht leuchtete sein Gesicht kalkweiß wie der Vollmond. Er griff nach der Klinke und zog sie auf. Blechner schoss. Helen hechtete in die Küche, aber nichts geschah. Keine Ladung Schrot, die sich in der Diele verteilte wie tödliche Schrapnelle, kein Todesschrei von Kreutz. Einen Wimpernschlag lang sah sie ihr Spiegelbild im Garderobenspiegel. Ein bleiches Gesicht, das nur aus übergroßen Augen bestand.