Schluss mit Parkinson - Ray Dorsey - E-Book

Schluss mit Parkinson E-Book

Ray Dorsey

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Beschreibung

Parkinson nimmt weltweit dramatisch zu, noch vor Alzheimer! Und die Betroffenen werden immer jünger: Bereits bei 40-Jährigen können die ersten Symptome auftreten, die etliche der Leidtragenden im Laufe der Zeit zu Pflegefällen werden lassen.

Mit diesem Buch schlagen vier renommierte Neurowissenschaftler Alarm und fordern zum Handeln auf: Wir dürfen die gravierenden Auswirkungen von Umweltgiften auf landwirtschaftlichen Anbauflächen, in der Industrie oder gar Freizeiteinrichtungen wie Golf- und Fußballplätzen nicht länger ignorieren! Denn längst ist erwiesen, dass Chemikalien maßgeblich mitverantwortlich sind für die Entstehung von Morbus Parkinson.

Auf Grundlage neuester Forschungsergebnisse klären die Autoren nicht nur über die Auswirkungen von Giften auf unser Nervensystem auf, sondern über weitere Ursachen der Krankheit wie das Schädelhirntrauma, über  Behandlungen mit Dopamin-Ersatz-Medikamenten, neue operative Möglichkeiten und berichten über bahnbrechende Erfolge mittels Bewegungstherapie.

Diese bisher einzigartige Abhandlung über die Parkinson-Krankheit ist ein Weckruf an Politik und Gesellschaft und zeigt zugleich Lösungswege auf, um die Lebensqualität der betroffenen Menschen zu verbessern.

„Dieses Buch beleuchtet die Umweltfaktoren, die uns alle der Gefahr dieser Krankheit aussetzen. Als Parkinson-Betroffener und als Vater hoffe ich, dass wir die dringend notwendigen Maßnahmen ergreifen, die dieses wichtige Buch klar benennt, um die wachsende Zahl derer zu stoppen, die diese Diagnose erhalten werden.“ –    Brian Grant, ehemaliger NBA-Spieler und Gründer der Brian Grant Foundation

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Prof. Dr. Ray Dorsey / Dr. Todd Sherer / Prof. Dr. Michael S. Okun / Prof. Dr. Bastiaan R. Bloem

SCHLUSS MIT PARKINSON

Die verschwiegenen Ursachen der Krankheit – und was Sie selbst tun können!

Für all diejenigen, die mit der schweren Bürde der Parkinson-Krankheit leben müssen, und für diejenigen, die dazu beitragen, ihr ein Ende zu setzen.

Inhalt

Anmerkung des Herausgebers

Einleitung

Teil I: Eine mächtige Krankheit, der Respekt gebührt

1. Sechs Männer in London: Die Entdeckung einer neuen Krankheit und ihre Ursachen

Eine kurze Geschichte der Parkinson-Krankheit

Die Rolle des Dopamins

Eine Detektivgeschichte

Auf der Jagd nach genetischen Faktoren

Die Entdeckung eines persönlichen Risikos

Eine neue und erstaunliche Hypothese

2. Die menschengemachte Pandemie: Wie Chemikalien die Krankheit grassieren lassen

Was die Ausbreitung der Krankheit vorantreibt

Der Altersfaktor

Rauchen – das große Paradox

Eine ganz andere Pandemie

3. Die Gleichgültigkeit besiegen: Unsere Lehren aus den Kämpfen gegen Polio, HIV/AIDS und Brustkrebs

Polio: eine Pandemie, die es aufzuhalten gilt

HIV: neue Wege in der Interessenvertretung

Brustkrebs: Entschärfung eines Stigmas

Teil II: Der PAKT

4. Bevor es beginnt: Es ist höchste Zeit für ein Verbot bestimmter Pestizide zur Senkung des Erkrankungsrisikos

DDT auf dem Bauernhof

Agent Orange in Vietnam

Verunreinigte Milch

Das gefährliche Pestizid, mit dem heute unsere Pflanzen besprüht werden

Zusammenhang oder Ursache?

Der Widerhall des „Stummen Frühlings“

5. Zeit, reinen Tisch zu machen: Wie Lösungsmittel und kontaminiertes Grundwasser die Krankheit verbreiten

Weitverbreitete Exposition

Verschleiern einer Katastrophe

Das vergiftete Tal

Eine lokale Geschichte

Hoffnung auf das Ende von Parkinson

6. Schützen wir uns selbst: Die Rolle von Kopftrauma, Bewegung und Ernährung

Bewegen Sie sich

Gesunde Ernährung

Gönnen Sie sich noch einen Kaffee

7. Parkinson und Pflege: Hilfe für alle, die mit der Bürde der Parkinson-Krankheit leben müssen

Sehen, was vor uns liegt

Die richtige Behandlung

Den Pflegern und Betreuern gebührt Anerkennung

Es bedarf eines Teams

Erweiterung des klinischen Personals mittels Technologie

Betreuung der Patienten zuhause

Überwindung gesundheitsökonomischer Hürden für die medizinische Versorgung

8. Hoffnung in Sicht: Was neue Behandlungen versprechen

Das Potential der tiefen Hirnstimulation

Zellaktivierung auf Knopfdruck

Gentargeting zur Behandlung der zugrunde liegenden Ursache

Wie wir das Immunsystem im Kampf gegen Parkinson stark machen können

Neue Therapien: für alle Betroffenen verfügbar

Die Verfügbarkeit von Levodopa ausweiten

9. Verantwortung übernehmen: Politische Entscheidungen und finanzielle Unterstützung der Forschung, die wir brauchen

Die Politik muss sich ändern

Frust in Taten umsetzen

Die Finanzierungslücke in der Parkinson-Forschung schließen

Die Ursachen für Parkinson verstehen

Verstehen, wie Parkinson voranschreitet

Entwicklung besserer Methoden zur Evaluation des Schweregrads von Parkinson

Schluss mit der Gleichgültigkeit

Teil III: Eine Anleitung zum Handeln

10. Zum Greifen nah: Wie wir Morbus Parkinson beenden können

Prävention der Krankheit

Engagement für mehr Mittel und politischen Wandel

Fürsorge für alle Betroffenen

Behandlung von Morbus Parkinson mit effektiven Therapien

Post Scriptum

Eine Anleitung zum Handeln

Weiterführende Informationen

Offenlegung von Interessenkonflikten

Glossar

Abkürzungen

Danksagung

Referenzen

Über die Autoren

Stimmen zum Buch

Stichwortverzeichnis

Impressum

Anmerkung an die Leserinnen und Leser

In diesem Buch erzählen wir die Geschichten von Menschen, die von der Parkinson-Krankheit betroffen sind. Die meisten dieser Berichte basieren auf Interviews, die wir geführt haben. In einigen Fällen baten Einzelpersonen darum, dass ihre Namen geändert werden, um ihre Privatsphäre zu schützen; wir vermerken dies entsprechend im Text. Andere Geschichten stammen aus veröffentlichten Berichten, auf die verwiesen wird.

Die hier zum Ausdruck gebrachten Ansichten sind die der Autoren und nicht unbedingt die ihrer Arbeitgeber. Die Autoren widmen den Reinerlös dieses Buches den Bemühungen, die Parkinson-Krankheit endgültig zu beenden.

Anmerkung des Herausgebers

Mit der vorliegenden deutschen Übersetzung von Ending Parkinson‘s Disease: A Prescription for Action soll der Weckruf, den dieses überaus bereichernde Buch darstellt, auch einem deutschsprachigen Publikum zugänglich gemacht werden.

Zahlreiche der im Buch dargelegten Daten wurden in den USA erhoben und spiegeln die Situation in Deutschland und Europa nicht in allen Bereich exakt wider. Ungeachtet dessen liefert dieses Werk neben dem neuesten Stand der Forschung wertvolle Informationen für Patienten, Therapeuten und Angehörige überall auf der Welt. Die vielen praktischen Tipps der Autoren, wie wir uns und zukünftige Generationen schützen und sowohl für politische als auch gesellschaftliche Veränderungen eintreten können, sind bisher in keinem vergleichbaren deutschen Titel zu dieser Thematik zu finden. Wo immer möglich wurden die entsprechenden Daten für Deutschland und Europa ergänzt. So sind zum Beispiel die Zahlen zur Häufigkeit der Erkrankung, die Namen der gängigen Parkinson-Medikamente und die Kosten für das öffentliche Gesundheitswesen auch in Bezug auf Deutschland angegeben. Darüber hinaus sind Ansprechpartner in Deutschland, Österreich und der Schweiz aufgeführt, um allen Betroffenen und Interessierten die Möglichkeit zu geben, sich weiterführend über verschiedene krankheitsrelevante Aspekte zu informieren. Auch Besonderheiten des amerikanischen Gesundheitswesens und ortspezifische Begriffe werden erläutert.

Das Buch liefert überzeugende Argumente dafür, dass das Bewusstsein für die vielleicht gravierendste neurologische Erkrankung dieses Jahrhunderts gesamtgesellschaftlich und auf globaler Ebene geschärft werden muss, um einen Wandel herbeizuführen.

Einleitung

„Jede Zivilisation hat ihre eigene Art der Pestilenz und kann sie nur unter Kontrolle bringen, indem sie sich selbst reformiert.“

—René Dubos, Mirage of Health, 19591

An einem strahlend blauen Tag im Juni 2018 veranstaltete die Universität von Rochester ihren alljährlichen Tag der Männergesundheit im Locust Hill Country Club in Upstate New York. Über 300 Männer, die meisten im Alter von fünfzig bis achtzig, reisten an, um das Neueste über Prostatavergrößerung, Darmkrebs und Herzkrankheiten zu erfahren. Ich war dort, um einen Vortrag über die Parkinson-Krankheit zu halten.

Monate zuvor hatte ich zusammen mit meinem Freund und Kollegen – und jetzigem Co-Autor – Bas Bloem einen Artikel mit dem Titel Die Parkinson-Pandemie geschrieben.2 Darin erklärten wir, dass neurologische Störungen die weltweit häufigste Ursache für Behinderungen sind. Die sich am schnellsten verbreitende neurologische Krankheit ist nicht die Alzheimer-Krankheit, sondern Morbus Parkinson. Von 1990 bis 2015 hat sich die Zahl der Parkinson-Patienten von 2,6 Millionen auf 6,3 Millionen mehr als verdoppelt.3 Bis 2040 wird sich die Zahl der Menschen mit Parkinson voraussichtlich noch einmal auf mindestens 12,9 Millionen verdoppeln – ein beträchtlicher Anstieg (Abbildung 1).4

Diese Fakten kannte ich natürlich bereits, weil ich zu diesem Thema forsche. Aber als ich am Tag der Männergesundheit vor einem vollgepackten Saal stand, war ich trotzdem nicht auf das Bild vorbereitet, das sich mir bieten würde. Ich eröffnete meinen Vortrag mit der Frage, wie viele Menschen im Publikum einen Bekannten oder ein Familienmitglied mit Parkinson hatten. Noch bevor ich die Frage zu Ende stellen konnte, hatten über 200 Zuhörer ihre Hände gehoben – fast der ganze Saal. Alle sahen sich um. Stille legte sich über uns, als wir uns des ganzen Ausmaßes dieser Krankheit bewusst wurden. Es spielte keine Rolle, dass ich ein Experte in diesem Feld war oder dass ich bei der Entwicklung der Statistik mitgewirkt hatte. Zahlen fühlen sich immer theoretisch an, als wären sie weit weg von einem selbst, aber hier lag der Beweis für die Pandemie direkt vor mir.

Abbildung 1. Geschätzte und prognostizierte Anzahl von Menschen mit Parkinson-Krankheit weltweit, 1990–2040.5

Typisch für die Parkinson-Krankheit sind folgende Symptome: Zittern (Tremor), verlangsamte Bewegungen, Steifheit sowie Gleichgewichts- und Gangstörungen. Parkinson kann außerdem viele Symptome auslösen, die man optisch nicht wahrnimmt, wie etwa Geruchsverlust, Verstopfung, Schlafstörungen und Depressionen. Bei den meisten Menschen wird Parkinson ungefähr im Alter von 50 Jahren oder später diagnostiziert, aber es handelt sich nicht nur um eine Erkrankung älterer Menschen: Bis zu 10 Prozent der Betroffenen erkranken in ihren 40ern oder in noch jüngerem Alter daran.

Parkinson entsteht durch den Verlust von Nervenzellen in einer speziellen Hirnregion, in der Dopamin produziert wird – ein Botenstoff, der Bewegungen wie das Gehen steuert. Die Krankheit hat mehrere Ursachen, darunter Umweltgefahren wie Luftverschmutzung, einige industrielle Lösungsmittel und bestimmte Pestizide. Darüber hinaus erhöhen einzelne genetische Mutationen, Kopftraumata und der Mangel an regelmäßiger Bewegung das Risiko für Parkinson.6

Das Ausmaß der Krankheit kann erdrückend und die Herausforderung gewaltig erscheinen. Aber in einigen Fällen lässt sich Parkinson stoppen, und wir wissen vielleicht auch schon, wie. Es gibt zwar noch keine Heilung für Parkinson, aber viele Aspekte der Krankheit sind behandelbar. So wie Bewegung das Risiko für die Entwicklung der Krankheit verringert, kann sie auch zur Linderung der Symptome beitragen.7 Medikamente, die das im Gehirn verloren gegangene Dopamin ersetzen sollen, sind ebenfalls Erfolg versprechend. Allerdings können bei hohen Dosierungen oder der langfristigen Einnahme einiger Arzneien Komplikationen auftreten. In bestimmten Fällen hilft eine Gehirnoperation, diese Nebenwirkungen zu behandeln.8

Obwohl Parkinson eine fortschreitende Erkrankung ist – sie wird mit der Zeit immer schlimmer –, können die meisten Menschen noch ein langes und produktives Leben führen. Besonders in den ersten fünf bis zehn Jahren nach der Diagnose sind die Betroffenen noch auf hohem Niveau funktionstüchtig; sie können arbeiten, reisen und verspüren noch keine großen Einbußen der Lebensqualität.

Natürlich fordert die Krankheit aber generell auch weiterhin einen hohen Tribut von den Betroffenen und ihren Familien. Bis zu 40 Prozent der Parkinson-Patienten werden irgendwann häusliche Pflege benötigen; und die Pflegebelastung ist immens.9 Die Lebenserwartung verkürzt sich zwar nur geringfügig, doch viele Betroffene sterben an den Folgen eines Sturzes oder einer Lungenentzündung.10

Die Hauptsymptome der Parkinson-Krankheit wurden erstmals im Jahr 1817 beschrieben, als in London die industrielle Revolution ihren Höhepunkt erreichte.11 Dr. James Parkinson waren damals sechs Personen mit einem ungewöhnlichen Gang und „zitternden Gliedmaßen“ aufgefallen. Die Parkinson-Krankheit – die Bezeichnung, unter der sie bekannt wurde – war damals mit ziemlicher Sicherheit noch eine Seltenheit.

Weder unser erhöhtes Bewusstsein für die Krankheit noch unsere längere Lebensdauer können die gestiegene Anzahl der Diagnosen, mit der wir heute konfrontiert sind, vollständig erklären. Unser Wissen über eine andere neurologische Erkrankung, die Multiple Sklerose, ist ebenfalls gewachsen, zudem haben sich die Diagnosewerkzeuge dafür verbessert. Das Auftreten von Multipler Sklerose ist zwar auch gestiegen, aber dieser Anstieg ist nichts im Vergleich zum exponentiellen Anstieg der Parkinson-Fälle (Abbildung 2). Was das Altern betrifft, so leben natürlich immer mehr Menschen immer länger. So hat sich beispielsweise die Zahl der über 65-Jährigen in Großbritannien zwischen 1900 und 2014 etwa versechsfacht. [Zum Vergleich: In Deutschland stieg die Altersgruppe ab 65 Jahren von 1950 bis 2020 von knapp 70 Millionen auf etwa 81 Millionen, Anm. d. Red.] Im selben Zeitraum stieg in Großbritannien die Zahl der Todesfälle aufgrund von Parkinson jedoch fast dreimal so schnell an. [Zum Vergleich: In Deutschland starben zwischen 1998 und 2018 ca. 12.000 Menschen an Parkinson, Anm. d. Red.]

Abbildung 2. Anzahl der durch die Parkinson-Krankheit und Multiple Sklerose verursachten Todesfälle in England, 1860–2014.12 Änderungen in der Kodierung in den 1980er-Jahren trugen wahrscheinlich zu den Schwankungen der in diesem Zeitraum verzeichneten Todesfälle bei.

Wie sind wir so weit gekommen? Während die Industrialisierung weltweit die Einkommen und die Lebenserwartung erhöht hat, wird durch all ihre Erzeugnisse und Abfallprodukte vermutlich auch die Anzahl der Menschen mit Parkinson steigen.13 Die Luftverschmutzung begann sich im 18. Jahrhundert in England zu verschlimmern; die Metallerzeugung und ihre schädlichen Dämpfe nahmen im 19. Jahrhundert zu. In den 1920er-Jahren stieg der Einsatz von Industriechemikalien und in den 1940ern wurden synthetische Pestizide – darunter viele Nervengifte – eingeführt.14 All das steht in Zusammenhang mit Parkinson und bei Menschen, die diesen Umweltbelastungen am meisten ausgesetzt sind, sind mehr Fälle dieser Krankheit zu verzeichnen als in der Allgemeinbevölkerung.

Die Beweise für diesen Zusammenhang sind überwältigend. Länder, die am wenigsten industrialisiert sind, haben die niedrigsten Krankheitsraten. Dagegen haben Staaten, die sich am schnellsten verändern, wie zum Beispiel China, die höchsten Steigerungsraten aufzuweisen.15 Bestimmte Metalle, Pestizide und andere Chemikalien wurden in zahlreichen Studien am Menschen mit Parkinson in Verbindung gebracht.16 In Laborexperimenten konnte außerdem nachgewiesen werden, dass Tiere, die einer Vielzahl dieser Substanzen ausgesetzt werden, die typischen Merkmale der Krankheit entwickeln, einschließlich Gehbehinderungen und Zittern.17

Trotz der starken Beweislage tun wir wenig, um diese Bedrohungen in den Griff zu bekommen. Die US-Umweltschutzbehörde (EPA) wollte vor einiger Zeit eine der Chemikalien verbieten lassen, die mit Parkinson in Verbindung gebracht wird: ein Lösungsmittel namens Trichlorethylen. Aber nach erfolgreicher Lobbyarbeit seitens der chemischen Industrie beschloss die EPA im Jahr 2017, das Verbot auf unbestimmte Zeit zu verschieben.18 Trichlorethylen hat so viele Verwendungszwecke und ist so weit verbreitet – es findet beispielsweise als fettlösendes Mittel Verwendung, bei der Reinigung von Siliziumscheiben, beim Entfernen von Flecken in der chemischen Reinigung und wurde bis in die 1970er-Jahre sogar beim Entkoffeinieren von Kaffee verwendet –, dass fast jeder von uns irgendwann in seinem Leben damit in Berührung gekommen ist.19 In einigen dieser Bereiche wird es bis heute eingesetzt. Fast die Hälfte aller sogenannten Superfund-Flächen – also Land, das so stark verunreinigt ist, dass die EPA oder die Verantwortlichen es reinigen müssen – ist mit Trichlorethylen kontaminiert.20 Auch Tausende andere Flächen in fast jedem Bundesstaat sind verunreinigt. Eine davon ist nur 15 Minuten von meinem eigenen Wohnort entfernt21, wie ich beim Schreiben dieses Buches herausfand.

Infolgedessen sind in den USA bis zu 30 Prozent des Trinkwassers mit Trichlorethylen belastet.22 Da das Lösungsmittel schnell aus dem Grundwasser und dem Boden verdunstet, kann es wie Radon unbemerkt durch die Luft in Wohnungen oder Büros gelangen.23 Parkinson ist dabei nicht einmal die größte Gefahr; laut der EPA verursacht Trichlorethylen auch Krebs.24

Trichlorethylen ist jedoch nur eine der gefährlichen Chemikalien, gegen die keine Schutzmaßnahmen ergriffen wurden. Paraquat ist ein Pestizid, das so giftig ist, dass es in 32 Ländern, darunter China [sowie die EU und die Schweiz, Anm. d. Red.], verboten ist.25 Kontakt mit Paraquat erhöht das Parkinson-Risiko um 150 Prozent.26 Trotzdem hat die EPA wenig dagegen unternommen. Und da die mit dem Schutz unserer Umwelt beauftragte Behörde tatenlos zusieht, hat sich der Einsatz von Paraquat auf den US-amerikanischen Agrarfeldern in den vergangenen zehn Jahren verdoppelt.27

Das Nervengift Chlorpyrifos ist das am meisten eingesetzte Insektizid in den USA. Es durchtränkt Golfplätze und wird bei Dutzenden von Nutzpflanzen eingesetzt, darunter Mandeln, Baumwolle, Trauben, Orangen und die Äpfel aus dem Anbaugebiet Washington State. Es wurde nicht nur mit Parkinson in Verbindung gebracht, sondern auch mit Problemen bei der Gehirnentwicklung von Kindern. Auch hier hat die EPA ein Verbot auf Eis gelegt. Als ein Bundesgericht einschritt, um gegen die Verwendung der Chemikalie vorzugehen, legte die damalige Trump-Regierung Berufung ein.28 Als Reaktion auf ein Gerichtsurteil, das eine endgültige Entscheidung anordnete, entschied die EPA im Juli 2019, die weitere Verwendung von Chlorpyrifos zuzulassen.29 [In Deutschland ist es seit 2009 verboten und seit 2020 gilt ein Verbot auch EU-weit, Anm. d. Red.]

Alles deutet darauf hin, dass die volle Auswirkung der Parkinson-Pandemie nicht unabwendbar ist, sondern weitgehend vermieden werden kann. Wir können deshalb nicht länger schweigend zusehen und nichts unternehmen, denn Szenarien wie diese kennen wir bereits.

Schon des Öfteren sahen wir uns mit anderen komplizierten Krankheiten konfrontiert, die eine Bedrohung darstellten. Drei davon – Polio, HIV und Brustkrebs  – haben Ähnlichkeiten mit der Parkinson-Krankheit und bieten uns die Möglichkeit, aus dem Umgang mit diesen Erkrankungen zu lernen. Polio ist eine neurologische Erkrankung, die schwere Behinderungen nach sich ziehen kann. HIV hat weltweit in sehr kurzer Zeit eine große Anzahl von Menschen infiziert, und Brustkrebs hat aller Wahrscheinlichkeit nach sowohl umweltbedingte als auch genetische Ursachen.30 Unsere Gesellschaft ignorierte alle drei eine Zeit lang, bis die Menschen, die diese Krankheiten nur allzu gut kannten – und aus eigener Erfahrung wussten, welch verheerende Folgen sie hatten –, aktiv an die Öffentlichkeit traten. Ihr Aktivismus hat den Verlauf dieser Krankheiten verändert und dafür gesorgt, dass Millionen von Menschenleben gerettet und die Lebensqualität unzähliger verbessert werden konnte.

Deshalb schreiben wir dieses Buch. Ja, wir schlagen Alarm, weil diese Pandemie über uns hereinbrechen wird. Aber wir wissen auch, dass wir viele Menschen vor dem Leid bewahren können, wenn wir jetzt auf die damit verbundenen Herausforderungen reagieren. Jeder einzelne, und alle gemeinsam, können wir einige praktische Maßnahmen ergreifen, um den Schaden von uns abzuwenden.

In Schluss mit Parkinson erörtern wir, welche neuen Strategien, prophylaktische Maßnahmen und Ressourcen die Krankheit verlangsamen können. Die Niederlande zum Beispiel haben Trichlorethylen, Paraquat und andere Pestizide verboten, die schon vor Jahren mit Parkinson in Zusammenhang gebracht wurden – und es hat funktioniert, denn die Erkrankungsraten gingen zurück.31 Dieses Ergebnis zeigt uns, wie wir der Parkinson-Krankheit Einhalt gebieten können.

Wir werden auch darauf eingehen, wie wir den Millionen Menschen, die heute von Parkinson betroffen sind, bessere Unterstützung und Fürsorge bieten können. Wir werden erörtern, welche neuen Therapien sich am Horizont abzeichnen und wie nahe wir der Einführung neuer Behandlungen sind, die das Fortschreiten der Parkinson-Krankheit verlangsamen oder aufhalten können. Einige Therapiemöglichkeiten davon werden schon bald verfügbar sein und werden den Menschen helfen können, die bereits an der Krankheit leiden. Andere Maßnahmen tragen sogar eventuell dazu bei, Parkinson ganz zu verhindern.

Am Ende des Buches werden wir aufzeigen, was jeder Einzelne von uns dafür tun kann, um das Risiko für Parkinson zu senken und die persönlichen Ressourcen aufzustocken. Außerdem werden wir darauf eingehen, wie wir allen Betroffenen eine exzellente Pflege zukommen lassen können und das Fortschreiten von Parkinson verlangsamen.

Im Laufe des Buches werden wir auch die Erfahrungen mutiger Parkinson-Patienten beleuchten. Wir werden die Angehörigen, Pflegenden und viele furchtlose Menschen zu Wort kommen lassen, die sich unermüdlich für Parkinson-Betroffene einsetzen. Wir werden ihre Geschichten hören, aus ihren Erfahrungen lernen und uns von ihren Taten inspirieren lassen.

Wir vier – ein Neurowissenschaftler und drei auf Parkinson spezialisierte Neurologen – haben den größten Teil unseres Berufslebens dieser Krankheit gewidmet. Vor zwanzig Jahren führte Dr. Todd Sherer eine bahnbrechende Forschungsarbeit durch, als er Pestizide mit der Parkinson-Krankheit in Verbindung brachte. Heute leitet er die Michael J. Fox Foundationfor Parkinson’s Research, den weltweit größten privaten Geldgeber in der Parkinson-Forschung.32 Dr. Michael Okun, der Parkinson zuerst als Pandemie bezeichnete, hat Pionierarbeit für neue chirurgische Behandlungsmethoden für Menschen mit dieser Krankheit geleistet und mehrere Bücher und Artikel zu diesem Thema geschrieben.33 Professor Bas Bloem ist eine führende Autorität auf dem Gebiet der Gangstörungen und Stürze bei Parkinson und hat das weltweit größte Behandlungsprogramm für Parkinson-Patienten mitgestaltet.34 Zusammen mit meinen Kollegen habe ich Technologien eingesetzt, um die Behandlungsmöglichkeiten zu erweitern und neue Methoden zu entwickeln, damit wir die Krankheit besser einschätzen können.35 Wir alle arbeiten daran, bessere Therapien für die Krankheit voranzutreiben.

Natürlich hoffen wir, das Leben unserer Patienten auch zu verbessern, aber unsere wahre Leidenschaft besteht darin, zu verhindern, dass Menschen jemals mit Parkinson konfrontiert werden. Wir sind frustriert, wenn wir in unseren Kliniken Patientinnen und Patienten begegnen, welche diese Krankheit aufgrund eines Kopftraumas bekamen oder die in der Landwirtschaft Pestiziden ausgesetzt waren. Manche sind auch am Arbeitsplatz mit Lösungsmitteln in Kontakt gekommen, haben in ihrer Nachbarschaft verunreinigtes Grundwasser oder in ihren eigenen vier Wänden verschmutzte Innenraumluft. All diese Risiken für Parkinson kann man beeinflussen. Wir Menschen haben zur Entstehung dieser Seuche beigetragen. Und wir können jetzt daran arbeiten, sie zu beenden.

Teil I

Eine mächtige Krankheit, der Respekt gebührt

1

Sechs Männer in London

Die Entdeckung einer neuen Krankheit und ihre Ursachen

„Der unglücklich Leidende hat [die Krankheit] als ein Übel betrachtet, aus dessen Herrschaft er keine Aussicht auf ein Entkommen hatte.“

— Dr. James Parkinson, Eine Abhandlung über die Schüttellähmung, 18171

Zum Zeitpunkt der Wende zum 19. Jahrhundert erlebte Großbritannien einen Wirtschaftsaufschwung. Die industrielle Revolution war dabei, die Welt zu verändern. Der Kohlebergbau befeuerte die Dampfmaschinen von James Watt, die Eisenverhüttung ermöglichte den Bau neuer Brücken, während Dampfschiffe und Telegrafen weit entfernte Länder miteinander verbanden. Die „Spinning Jenny“ [der Name der ersten Spinnmaschine, Anm. d. Red.] produzierte Wolle und Baumwolle am Fließband, Gaslampen beleuchteten die Theater, und die Schriftstellerin Jane Austen stellte gesellschaftliche Normen infrage. Die Bevölkerungszahlen schossen in die Höhe und London, das Epizentrum des Ganzen, strotzte förmlich vor Wohlstand.2

Aber die Stadt wurde auch zunehmend schmutziger. Menschen und Fabriken kippten ihre Abfälle in die Themse. Schlechte sanitäre Einrichtungen und Überbevölkerung sorgten für die Verbreitung von Infektionskrankheiten wie Cholera, Typhus und Tuberkulose. Mit den neuen Industrien ging die Produktion neuer Chemikalien und Schadstoffe einher, die von den „dunklen Mühlen Satans“ hervorgebracht wurden, wie der Dichter William Blake es nannte.3

Abbildung 1.1. Darstellung des Londoner Nebels, 1847.

Einem Umweltforscher zufolge „ist es schwierig, das Ausmaß der Luftverschmutzung in London während des gesamten 19. Jahrhunderts vollständig zu erfassen.“4 Der von der Industrie herrührende Londoner Nebel (Abbildung 1.1) war „oft so dicht, dass er […] die allgemeinen wirtschaftlichen Aktivitäten unterbrach und sogar dazu beitrug, dass [die Stadt] zum Nährboden für Kriminalität wurde.“5 Auf diesen dunstigen Straßen beobachtete ein erfahrener Arzt etwas ganz Neues.

Eine kurze Geschichte der Parkinson-Krankheit

Als Befürworter des Frauenwahlrechts, Aktivist, Paläontologe und Anwalt psychisch kranker Menschen hatte Dr. James Parkinson viele Leben.6 Wegen seiner politisch radikalen Haltung verwendete er Pseudonyme und entging nur knapp einer Verhaftung, weil er angeblich in ein Komplott zur Ermordung König Georgs III. verstrickt gewesen war.7 Es war jedoch nicht seine politische Einstellung, mit der er der Menschheit nachhaltig in Erinnerung blieb, sondern ein einziger Essay, der zu einem Klassiker der Medizin werden sollte.

1817 war Parkinson ein am Hoxton Square in London ansässiger Arzt, dort, wo William Shakespeare fast zweihundert Jahre zuvor viele seiner Stücke geschrieben hatte. Parkinsons wissenschaftlicher Beitrag trug den Titel Eine Abhandlung über die Schüttellähmung. Zu diesem Zeitpunkt verfügte er bereits über einen großen klinischen Erfahrungsschatz, den er in mehr als zweiunddreißig Jahren im Dienste seiner Patienten gesammelt hatte.8 In seiner Abhandlung beschrieb Parkinson sechs Männer, von denen ihm drei eher zufällig auf der Straße aufgefallen waren und die alle ähnliche Merkmale aufwiesen: Zittern, eine gebeugte Haltung, einen anomalen Gang und eine Neigung, zu stürzen.9

Obwohl in alten chinesischen, ägyptischen, griechischen und indischen Texten einige seltene Darstellungen dieser Symptome zu finden sind, so war Parkinsons Essay doch der aussagekräftigste von allen.10 Wie er andeutete, war Zittern als körperliches Symptom seit Langem bekannt und hatte vielfältige Ursachen. Das Bild mit gleich mehreren Symptomen gleichzeitig, das Parkinson jetzt auf seinen Spaziergängen beobachtete, musste jedoch erst noch klassifiziert werden.11 Sein Aufsatz stieß auf positive Resonanz, aber die wahre Bedeutung des Schriftstücks sollte erst Jahrzehnte später erkannt werden.12

Fünfzig Jahre nach James Parkinsons Aufsatz (Abbildung 1.2) nannte Dr. Jean-Martin Charcot, der berühmte französische Neurologe, die Erkrankung „la maladie de Parkinson“ oder die Parkinson-Krankheit.13 Charcot fügte der Liste der Hauptsymptome noch Langsamkeit in der Bewegung und Steifheit hinzu.14 Er stellte auch fest, dass nicht alle Menschen, die an Parkinson litten, einen Tremor hatten.

Gegen Ende des 19. Jahrhunderts waren die klinischen Merkmale der Parkinson-Krankheit gut bekannt. Sir William Osler, der Vater der modernen Medizin, schrieb 1892 in seinem medizinischen Lehrbuch: „Ist die Krankheit erst einmal offensichtlich, zeigt sie auch typische Merkmale, und die Diagnose kann augenblicklich gestellt werden.“15 Während die äußeren Anzeichen der Parkinson-Krankheit augenfällig waren, waren es die zugrunde liegenden biologischen Veränderungen nicht.

Die Rolle des Dopamins

Was Parkinson und Charcot damals nicht beobachten konnten, waren die Veränderungen, die in den Gehirnen ihrer Patienten vor sich gingen. Wissenschaftler hatten die Substanz Dopamin lange übersehen, heruntergespielt und ignoriert. Doch Dr. Arvid Carlsson, ein schwedischer Pharmakologe, der in den 1950er-Jahren tätig war, betrachtete Dopamin mit anderen Augen.16 In Experimenten stellte er fest, dass Dopamin es den Nervenzellen ermöglicht, miteinander zu kommunizieren. Mit anderen Worten: Es ist ein neuronaler Botenstoff oder Neurotransmitter.

Carlsson zeigte auch, dass eine für Bewegung wichtige Hirnregion hohe Dopaminkonzentrationen enthält. Um die Bedeutung des Botenstoffs zu demonstrieren, verabreichte er Kaninchen ein Medikament, das den Dopaminspiegel im Gehirn senkte. Die Kaninchen verloren infolgedessen ihre Fähigkeit zu hüpfen und legten sich einfach nur hin. Als sie jedoch Levodopa verabreicht bekamen, ein Wirkstoff, der von den Nervenzellen zu Dopamin umgewandelt wird, konnten die Kaninchen wieder hüpfen.17

Abbildung 1.2. Zweihundert Jahre Parkinson-Krankheit, 1817–2017.

Im Jahr 1960 präsentierte Carlsson seine Forschungsergebnisse der Wissenschaftswelt. Er ging davon aus, dass seine Kollegen begeistert sein würden, doch man begegnete seiner Forschungsarbeit fast überall mit allgemeiner Skepsis.18 Einige Ärzte meinten sogar, bei Levodopa könnte es sich um ein Gift handeln.19

Obwohl Carlsson anfangs von den Reaktionen seiner Kollegen zutiefst getroffen war, sagte er später: „Es gefällt mir, wenn Leute sagen, dass sie nicht an mich glauben. Dann habe ich das Gefühl, wahrscheinlich auf dem richtigen Weg zu sein.“20 Und das war er tatsächlich. Seine Bestrebungen und seine Beharrlichkeit bilden die Grundlage für die bis heute wirksamste Behandlung der Parkinson-Krankheit, was schließlich dazu führte, dass er im Jahr 2000 den Nobelpreis für Medizin erhielt.

Ungeachtet der Skeptiker machten andere Forscher dort weiter, wo Carlsson aufgehört hatte.21 Sie begannen, den Dopaminspiegel im Gehirn verstorbener Menschen zu messen, und fanden heraus, dass die Dopaminkonzentration im Gehirn von Menschen, die an Parkinson erkrankt waren, zehnmal niedriger waren als bei Menschen, die nicht an dieser Krankheit litten.

Besonders niedrig waren die Werte in dem gleichen Hirnareal, das Carlsson als typischerweise reich an Dopamin identifiziert hatte. Es bestand ein einfacher Zusammenhang: Je niedriger die Dopaminspiegel waren, desto schlimmer die Symptome.22

Diese Hirnregion, die normalerweise viel Dopamin aufweist, wird als Substantia nigra bezeichnet, lateinisch für „schwarze Substanz“. Ihr Name leitet sich von der Farbe einer pigmentierten Substanz ab, die in den Dopamin-produzierenden Nervenzellen der Region vorkommt. Bei Menschen mit Parkinson-Krankheit sterben diese Nervenzellen ab (Abbildung 1.3).

Wie sich herausstellt, beeinträchtigt Parkinson mehr als nur die Dopamin-produzierenden Nervenzellen in der Substantia nigra. Andere Bereiche des Gehirns, die verschiedene Neurotransmitter produzieren, leiden ebenfalls unter Zellverlust.23 Dieser zusätzliche Schaden ist für viele Symptome der Parkinson-Krankheit verantwortlich, die nicht mit Bewegungen oder „motorischen“ Funktionen zusammenhängen, wie Schlafstörungen, Angst, Schmerzen und Denkstörungen.24 Einige dieser Merkmale können sogar noch schwerwiegender sein als die vom Dopamin kontrollierten motorischen Symptome.25

Ausgehend von Carlssons Durchbruch bei den Experimenten mit Kaninchen führten Forscher später Versuche mit Levodopa an Menschen durch. Die Ergebnisse waren sensationell.26

„Bettlägerige Patienten, die nicht aufrecht sitzen konnten, und solche, die nicht in der Lage waren, vom Sitzen aufzustehen, und Patienten, die nicht gehen konnten, wenn sie standen, führten all diese Tätigkeiten [nach der Verabreichung von Levodopa] mit Leichtigkeit aus“, schrieben die Ärzte. „Sie gingen […] und sie konnten sogar rennen und springen.“27 Mehrere klinische Studien sollten später diese drastischen Ergebnisse wiederholen.28 Dr. George Cotzias, ein griechisch-amerikanischer Wissenschaftler, der viele Studien über Levodopa leitete, nannte es ein „wahres Wundermittel […] unserer Zeit“.29

Abbildung 1.3. Die Substantia nigra (lateinisch für „schwarze Substanz“) bei Personen ohne und mit Parkinson-Krankheit. Bei der Parkinson-Krankheit ist die Substantia nigra eine der Schlüsselregionen im Gehirn, in der Zellen absterben.

Eine Detektivgeschichte

Man hatte nun begriffen, dass ein Dopaminmangel der Auslöser für viele der Symptome der Parkinson-Krankheit war. Doch niemand wusste, was die Nervenzellen abtötete, deren Absterben die Krankheit herbeiführte. Dr. Parkinson hatte vermutet, dass die Erkrankung durch eine Kompression des untersten Teils des Gehirns verursacht wurde.30 Sir William Osler, einer der Gründungsprofessoren des Johns Hopkins Hospital, stellte die Theorie auf, dass „Kälte und Nässe sowie geschäftliche Sorgen und Ängste“ mögliche Ursachen waren.31 Keiner von beiden hatte recht. Die ersten wirklichen Erkenntnisse kamen aus einer eher unwahrscheinlichen Quelle.

Am 16. Juli 1982 unterbrach ein Assistenzarzt der Neurologie in einem Krankenhaus in San José, Kalifornien, Dr. William Langston bei seiner morgendlichen Tasse Kaffee. „Dr. Langston, Sie müssen mitkommen“, sagte er. „So etwas habe ich noch nie gesehen, und niemand weiß, was dieser Patient hat.“32 George Carillo, ein zweiundvierzigjähriger Mann mit einer Vorgeschichte von Drogenmissbrauch, war gerade in eine geschlossene psychiatrische Abteilung eingeliefert worden. Langston zufolge „war der Zustand des Patienten in der Tat außergewöhnlich. Er war eindeutig wach, machte aber praktisch keine spontanen Bewegungen. [… Er] sah aus wie ein Fall aus dem Lehrbuch über fortgeschrittene [Parkinson-Krankheit] vor den Tagen von Levodopa. Aber dieser Fall passte nicht dazu. […] Er war Anfang vierzig und seine Symptome waren buchstäblich über Nacht aufgetreten. Wir hatten es mit einem erstklassigen ‚medizinischen Rätsel‘ zu tun.“33

Angespornt durch dieses Rätsel überflogen Langston und seine Kollegen die Nachrichtenberichte und wandten sich an die Polizei, um herauszufinden, ob es noch andere Fälle wie der Carillos gab. Schon bald erfuhren sie von fünf Personen mit ähnlichen Symptomen, die ebenfalls in Nordkalifornien lebten. Es bestand kein offensichtlicher Zusammenhang zwischen ihnen und Carillo, bis Langston, der sich eingehender mit ihrer Geschichte befasste, feststellte, dass sie alle ein neues synthetisches Heroin genommen hatten, das seit kurzer Zeit in mehreren Städten Nordkaliforniens auf den Straßen verkauft wurde.34 Die sechs Drogenkonsumenten hatten „praktisch alle motorischen Merkmale der typischen Parkinson-Krankheit entwickelt, einschließlich [eines] Tremors.“35

Anders als bei den üblichen Anzeichen der Parkinson-Krankheit, die allmählich einsetzen, traten bei diesen Personen die ersten Symptome sehr schnell auf und waren überdies schwerwiegend. Innerhalb von zwei Wochen hatten sie eine „fast völlige Bewegungslosigkeit entwickelt […] eine völlige Unfähigkeit, verständlich zu sprechen […] einen starren Blick [… und] ständiges Sabbern.“36 Normalerweise dauert es bei Parkinson-Patienten Jahre, bis ein solch fortgeschrittenes Stadium der Krankheit erreicht wird.

Levodopa half allen Patienten. Sie alle bedurften jedoch einer lebenslangen Behandlung, entwickelten bald merkliche Komplikationen und lebten mit erheblichen Behinderungen. Langston beschrieb ihr Schicksal wie folgt: „Versuchen Sie sich vorzustellen, sich nie wieder normal bewegen zu können. Nie mehr den Arm heben zu können, wenn Sie es wollen. Nie wieder zum Esstisch gehen zu können. Ihr Leben hat sich für immer und ewig verändert.“37 Connie Sainz gehörte zu dieser Gruppe aus Kalifornien und war erst fünfundzwanzig Jahre alt, als sich ihre Symptome zeigten. Sie lebte sechsunddreißig Jahre lang mit dieser Krankheit, bevor sie 2018 starb.38

Langston wollte wissen, was ihre Behinderung verursachte. Als er nach Polizeirazzien und von hilfsbereiten Dealern Proben des synthetischen Heroins erhalten hatte, stellten Langston und seine Kollegen fest, dass die Droge eine Substanz namens MPTP enthielt.

Allerdings hatten die Drogenköche gar nicht beabsichtigt, MPTP herzustellen. Vielmehr hatten sie versucht, ein Opioid zu synthetisieren, das dem verschreibungspflichtigen Medikament Demerol [dessen Wirkstoff ist Pethidin, es wird in Deutschland unter dem Namen Dolantin vertrieben, Anm. d. Red.] ähnelt und auf der Straße verkauft werden sollte; dabei erzeugten sie versehentlich MPTP.39 Im Gehirn wird es in die Ammoniumverbindung MPP+ umgewandelt, die Nervenzellen in der Substantia nigra abtötet – jene Zellen, die auch bei Parkinson absterben. Langston und seine Kollegen hatten die erste Ursache des Parkinsonismus gefunden Siehe folgenden Kasten.

Was ist Parkinsonismus?

Parkinsonismus ist jedes Syndrom, das zu einer Kombination aus Zittern, langsamen Bewegungen, Steifheit und Gleichgewichtsstörungen führt. Diese Ansammlung von Symptomen hat viele Ursachen, darunter MPTP, einige Antipsychotika, Infektionen und neurologische Erkrankungen. Morbus Parkinson ist die häufigste Ursache für Parkinsonismus. Andere Krankheiten können diese Symptome ebenfalls hervorrufen, weisen jedoch in der Regel eigene zusätzliche Merkmale auf. Die Bezeichnung „Parkinson-Krankheit” beschränkt sich im Allgemeinen auf einen Parkinsonismus, der (a) wenige Merkmale anderer Krankheiten zeigt, die das Syndrom verursachen können, und (b) gut auf Levodopa anspricht.40

Wie sich herausstellte, waren Langstons Patienten in Kalifornien nicht die ersten, die als Reaktion auf MPTP ein Parkinson-ähnliches Syndrom entwickelten.41 Ein weiteres Opfer, Barry Kidston, wurde einige Jahre zuvor ausfindig gemacht, aber trotz der enormen Bedeutung seines Falls ging er in einer unbedeutenden Zeitschrift fast verloren.42 1966 war Barry vierzehn Jahre alt, als er sich bei einem Autounfall beide Handgelenke und ein Bein brach. Zur Schmerzlinderung verschrieben die Ärzte ihm das Opioid Demerol [bzw. Dolantin, Anm. d. Red.]. Barry wurde schnell abhängig und begann schon bald darauf, viele Drogen zu konsumieren.43

Zehn Jahre nach dem Unfall studierte er Chemie an der George Washington University. Laut seiner Mutter Geraldine war er kontaktfreudig, hatte eine einnehmende Persönlichkeit und zeigte sich Menschen gegenüber gerne hilfsbereit. Leider war er aber auch immer noch drogensüchtig.

Er wollte einen Weg finden, sich von den Drogen zu befreien. Anstatt in eine Entzugsklinik zu gehen, richtete er im Keller seiner Eltern ein Labor ein.44 Seine Idee, so erzählte er seiner Mutter, bestand darin, ein nicht süchtig machendes Medikament zu entwickeln – etwas in der Art von Methadon, das später weiter verbreitet sein würde –, das ihm helfen würde, seine Drogensucht, die ihn durch die ganze Schulzeit begleitet hatte, loszuwerden.

Barry vertiefte sich in Chemiebücher der nahe gelegenen Bibliotheken der National Institutes of Health (NIH) und des Bethesda Naval Hospital. Seine wissenschaftlichen Versuche waren kompliziert und verliefen nicht gut. Er experimentierte weiter, bis er eines Tages seine Arme über den Kopf hob – vielleicht, um sich zu strecken – und sie nicht wieder senken konnte.45 Seiner Mutter zufolge musste er „mit nach oben gestreckten Armen herumlaufen.“46

Ein scharfsinniger Neurologe erkannte, dass Barrys Symptome, zu denen auch eine deutliche Verlangsamung der Bewegungen und ein Tremor gehörten, zu Parkinsonismus führten.47 Der Neurologe behandelte ihn mit Levodopa und seine starren Gliedmaßen wurden wieder locker. Da der Fall so ungewöhnlich war, überwies man Barry an das NIH, um eine weitere Meinung einzuholen.

Dort wurde er von einem Team von Ärzten und Wissenschaftlern untersucht, darunter auch Dr. Eric Caine, der heute Professor für Psychiatrie an der University Rochester ist. Caine erinnert sich an einen jungen Mann, der „steif wie ein Brett“ war und sich „extrem langsam“ bewegte. Die Situation sei sehr traurig gewesen, sagte er. „Da haben Sie diesen Burschen vor sich stehen, der schlau genug ist, als Forscher komplexe und anspruchsvolle Arbeiten in der Chemie zu leisten, und jetzt aber eine schreckliche Prognose bekommt.“ Auf Befragen schien die Ursache seines Parkinsonismus mit den Experimenten zusammenzuhängen, die Barry durchführte, und den Medikamenten, die er nicht nur entwickelte, sondern auch konsumierte.

Ein NIH-Chemiker fuhr zum Haus der Kidstons, um einen Teil von Barrys Laborausrüstung zu holen, denn die Forscher wollten seine Kellerexperimente im Labor reproduzieren. Es gelang ihnen, Substanzen herzustellen, die mit den Materialspuren identisch waren, die sie auf Barrys Laborgläsern fanden.48 Die Wissenschaftler kamen zu dem Schluss, dass seine Symptome wahrscheinlich auf eine „verunglückte Charge“ der Opioide, die er selbst hergestellt hatte, zurückzuführen waren.49 Schließlich wurde MPTP als Ursache von Barrys Symptomen ausfindig gemacht, derselbe Inhaltsstoff, der später die Gruppe in Kalifornien erkranken lassen sollte.50

Leider hörte Barry nicht auf, Drogen zu nehmen. An einem Septembermorgen im Jahr 1978 rief er einen Freund an, der ihn vom Haus seiner Eltern abholen sollte. Er verließ das Haus, und es war das letzte Mal, dass sie ihn sahen. „Er ging durch den Carport aus der Tür, lächelte und winkte zum Abschied“, sagte seine Mutter.51

Gegen 22.00 Uhr klingelte es an der Tür. Draußen standen drei Herren: ein Polizist, ein FBI-Agent und ein Gerichtsmediziner. Barry Kidston war unter einem Baum auf dem NIH-Campus tot aufgefunden worden, gestorben an einer Überdosis Kokain.52 Eine Autopsie seines Gehirns ergab später, dass die Nervenzellen in der Substantia nigra abgestorben waren.53

1985 berichteten die Kidstons ihre Geschichte als Zeugenaussage vor dem Kongress.54 Sie wollten, dass anderen Eltern der Verlust, den sie erlitten hatten, erspart bleiben würde, und hofften, dass die Tragödie ihres Sohnes zu etwas Gutem führen könnte.

Und tatsächlich kam etwas dabei heraus. Laut Langston fand nach dem schrecklichen Verlust, den die Kidstons erlitten hatten, „eine Renaissance in der Epidemiologie der [Parkinson-] Krankheit“ statt.55 Wissenschaftler begannen, nach anderen umweltbedingten Ursachen für Parkinsonismus zu suchen.

Schon bald stellten sie fest, dass die chemische Struktur des toxischen MPP+ (das aus MPTP hergestellt wird) einem Pestizid namens Paraquat bemerkenswert ähnlich ist.56 Diese strukturelle Ähnlichkeit veranlasste Langston in Kalifornien und andere Forscher dazu, weitere Substanzen ausfindig zu machen, die mit der Parkinson-Krankheit in Zusammenhang stehen. Zu diesen neu identifizierten Stoffen gehörten die Pestizide Rotenon und Agent Orange, letzteres wurde im Vietnamkrieg zur großflächigen Entlaubung der Dschungelwälder eingesetzt.57

Die Entdeckung der Bedeutung von MPTP beim Parkinsonismus hatte einen weiteren Vorteil. Langston erkannte, dass dies den Forschern ermöglichen würde, die Krankheit im Tierversuch zu modellieren (siehe Kasten Seite 14), was es vorher nicht gab.58 Bemerkenswert ist, dass es in der Natur kein einziges Tier gibt, das spontan an Parkinson erkrankt. In Langstons Worten handelt es sich um „eine Krankheit, die spezifisch für den Menschen ist“.59 Jetzt aber konnte man mit MPTP auch bei Tieren gezielt Symptome auslösen und neue Behandlungsmethoden an ihnen testen. So machten sich Langston und seine Kollegen die schädlichen Auswirkungen von MPTP zunutze, um die Parkinson-Forschung voranzutreiben.60

In den 1990er-Jahren untersuchten Forscher der Emory University, ob das weitverbreitete Pestizid Rotenon Parkinson auslösen könnte.

Was ist ein Tiermodell?

Wissenschaftler setzen Tiere ein, um Krankheiten zu untersuchen, dazu gehört auch Morbus Parkinson. Es gibt Krankheiten, die bei Tieren auf natürliche Art und Weise auftreten.61 Hunde können zum Beispiel spontan Bluthochdruck, Herzversagen oder Diabetes entwickeln, andere Krankheiten wie Parkinson treten nur beim Menschen auf. Um diese Erkrankungen zu untersuchen, induzieren Wissenschaftler sie gezielt bei Tieren, meist in Mäusen oder Ratten. Dies kann auf chemischem Wege geschehen – wie bei MPTP – oder indem die Gene des Tieres verändert werden.

Obwohl Tiermodelle zu vielen wissenschaftlichen Fortschritten beigetragen haben, zum Beispiel bei Impfstoffen gegen Masern und bei Insulin gegen Diabetes, haben sie auch ihre Grenzen.62 Trotz ihrer genetischen Ähnlichkeiten (Mäuse und Menschen haben zu 95 Prozent die gleichen Gene) lassen sich nicht alle an Mäusen gewonnenen Erkenntnisse auf den Menschen übertragen.

Diese Experimente haben auch ihren Preis – nämlich das Wohlergehen und das Leben der Tiere. In der Tierforschung gelten drei Prinzipien: Erstens, dass keine Tiere verwendet werden dürfen, wenn es Forschungsmethoden gibt, die keine Tiere erfordern und zuverlässige Resultate liefern. Zweitens: Die Zahl der verwendeten Tiere sollte minimiert werden, und drittens sollte der Schaden für die Tiere so gering wie möglich gehalten werden.63

Rotenon wird aus Pflanzen gewonnen und wurde früher als Haushaltsinsektizid verkauft. Noch heute wird es von der Fischerei zur Beseitigung invasiver Arten eingesetzt.64

Dr. Timothy Greenamyre und zwei junge Neurowissenschaftler, Dr. Ranjita Betarbet und Todd Sherer, verabreichten Ratten das Insektizid.65 Die Nager entwickelten daraufhin Merkmale der Parkinson-Krankheit, darunter langsame Bewegungen, einen unsicheren Gang, eine gebeugte Haltung und das „Zittern einer oder mehrerer Pfoten, vergleichbar mit [einem] Ruhetremor“, so die Forscher. Als sie anschließend die Gehirne der Ratten untersuchten, stellten sie weitere Anzeichen der Krankheit fest, so auch den Verlust von Dopamin-produzierenden Nervenzellen. Sie vermuteten, dass eine langfristige Exposition gegenüber geringen Mengen bestimmter schädlicher Substanzen letztendlich zu Parkinson führen könnte.66

Mit der Erkenntnis, dass Pestizide bei Mäusen und Ratten zu Parkinson führen können, versuchte Langston, die Arbeit auf den Menschen zu übertragen. Zu diesem Zweck schloss er sich Dr. Caroline Tanner an, einer Parkinson-Spezialistin mit einem Doktortitel in Umweltgesundheitswissenschaften, die jetzt an der University of California, San Francisco, tätig ist. Sie fragten sich, ob die Exposition gegenüber Rotenon und anderen Pestiziden bei Menschen, die in engem Kontakt mit Schädlingsbekämpfungsmitteln stehen, zu einem höheren Parkinson-Risiko führt, das heißt: bei Landwirten.67 Sie stellten fest, dass Landwirte, die bestimmte Pestizide, darunter Paraquat und Rotenon, verwendeten, mit mehr als doppelt so hoher Wahrscheinlichkeit an Parkinson erkrankten als Bauern, die diese Pflanzenschutzmittel nicht einsetzten. In vielen Fällen fand die Exposition fünfzehn Jahre oder noch länger vor der Diagnose statt. Die Ergebnisse legten nahe, dass eine chronische Exposition gegenüber bestimmten Pestiziden tatsächlich auch Jahre oder Jahrzehnte später zu einem Morbus Parkinson führen konnte.

Auf der Jagd nach genetischen Faktoren

Fünfzehn Jahre nachdem die erste umweltbedingte Ursache der Parkinson-Krankheit ausfindig gemacht worden war, fanden Forscher den ersten genetischen Auslöser.68 1997 entdeckten Dr. Mihael Polymeropoulos vom NIH und seine Kollegen bei einer italienischen Großfamilie und drei griechischen Familien mit Morbus Parkinson eine Mutation im Alpha-Synuclein-Gen (siehe Kasten Seite 16). Beim Menschen kodiert dieses Gen das sogenannte Alpha-Synuclein-Protein, das heißt, es stellt den Bauplan für dieses Eiweiß zur Verfügung. Das Protein wiederum unterstützt die Bewegung von Neurotransmittern innerhalb der Nervenzellen.

Was ist ein Gen?

Ein Gen ist ein Stück DNA, das Anweisungen zur Bildung eines Proteins gibt. Proteine beziehungsweise Eiweiße sind die Arbeiter einer Zelle und erfüllen verschiedene Funktionen: Sie bilden die Grundlage der Zellstruktur, transportieren Moleküle, bekämpfen Infektionen und führen chemische Reaktionen durch.

Der Mensch besitzt etwa 20.000 Gene. Wie jede Nachricht besteht ein Gen aus einer normalen Sequenz, d. h. einer Reihe von Buchstaben oder Symbolen. Mutationen verändern diese Sequenz, was dazu führen kann, dass Proteine anders zusammengesetzt werden. Ein Gen kann multiple Mutationen haben, die in ihrer Bedeutung stark variieren – sie können völlig wirkungslos sein, aber auch Krankheiten verursachen oder gar tödlich verlaufen.

Proteine werden im Allgemeinen in gefaltetem Zustand hergestellt, wie ein Stapel frisch gebügelter Wäsche. Die in den südeuropäischen Familien identifizierte Mutation führte jedoch dazu, dass deren Alpha-Synuclein-Proteine ihre Form änderten und infolgedessen eine Fehlfaltung bewirkten – was den sauberen Wäschestapel durcheinanderbrachte und Parkinson verursachte.69

Sowohl umweltbedingte als auch genetische Faktoren können eine Fehlfaltung von Proteinen auslösen (Abbildung 1.4). In solch einem Fall können falsch gefaltete Proteine für Nervenzellen toxisch werden und zu Krankheiten führen. Anstatt den Transport von Neurotransmittern zu unterstützen, wie es normalerweise der Fall ist, bildet das fehlgefaltete Alpha-Synuclein in den Nervenzellen Klumpen. Diese Fehlfaltung kann sich auch auf andere Nervenzellen ausbreiten, mit der Zeit weiteren Zelltod verursachen70 und zur Parkinson-Krankheit führen.

Achtzig Jahre bevor Polymeropoulos die genetische Mutation des Alpha-Synucleins identifizierte, hatte Dr. Fritz Jakob Heinrich Lewy, ein jüdischer Neurologe, der später aus Nazi-Deutschland fliehen musste, erkannt, welchen Schaden sie anrichten konnte. Mit den damals modernsten mikroskopischen Techniken untersuchte er die Gehirne von Verstorbenen, die an Parkinson erkrankt waren.71 In diesen Gehirnen beobachtete er als Erster die Verklumpungen des fehlgefalteten Proteins, das später als Alpha-Synuclein identifiziert wurde.72

Abbildung 1.4. Wie ein fehlgefaltetes Protein zur Parkinson-Krankheit führen kann.

Er beobachtete, dass die falsch gefalteten Proteine Klumpen bildeten, weil sie entsorgt werden sollten – quasi als zusammengefegter Müll in den Nervenzellen, wie in Müllsäcken gesammelt. Diese Proteinklumpen oder Cluster wurden als „Lewy-Körperchen“ bekannt. Man findet sie in den am stärksten von Parkinson betroffenen Hirnarealen, einschließlich der Substantia nigra. Die in fast allen Parkinson-Fällen vorhandenen Lewy-Körperchen gelten heute als definierendes Element der Krankheit.73

Obwohl die genetische Mutation des Alpha-Synucleins selten ist, war die Bedeutung ihrer Entdeckung immens: Sie zeigte, dass nicht alle Fälle von Parkinson nur auf die Umwelt zurückzuführen sind. Darüber hinaus trieb sie die Forscher an, zahlreiche andere Gene zu suchen, die bei Parkinson eine Rolle spielen. Mutationen in einigen dieser Gene, wie die im Alpha-Synuclein, reichen aus, um die Krankheit auszulösen. In anderen Fällen erhöhen Mutationen lediglich das Risiko, an Parkinson zu erkranken, was jedoch häufig mit dem Alter zunimmt.

Die Entdeckung eines persönlichen Risikos

Am 18. September 2008 schrieb Sergey Brin, der Mitbegründer von Google, einen Blog-Beitrag mit dem Titel „LRRK2“74. Vier Jahre zuvor hatte ein Forscherteam die häufigste genetische Ursache für Morbus Parkinson identifiziert – Mutationen im LRRK2-Gen.75 Wissenschaftler hatten herausgefunden, dass bei 20 bis 40 Prozent der aschkenasischen Juden und nordafrikanischen Berber, bei denen die Parkinson-Krankheit diagnostiziert wurde, LRRK2-Mutationen zugrunde lagen, im Vergleich zu ein bis zwei Prozent der Allgemeinbevölkerung mit Parkinson.76 Für Brin waren diese Ergebnisse von persönlicher Bedeutung.

Brins Mutter hatte die Krankheit und „war schon immer von Parkinson heimgesucht worden, weil ihre Tante daran gelitten hatte“, schrieb Brin. Als seine damalige Frau Anne Wojcicki das Unternehmen 23andMe mitbegründete, bei dem Privatpersonen ihr Erbgut untersuchen lassen können, gehörte Brin zu den ersten Kunden. Er entdeckte, dass er und seine Mutter die gleiche LRRK2-Mutation in sich trugen.77 Den Ergebnissen des Gentests zufolge hatte Brin ein deutlich höheres Risiko – zwischen 20 und 80 Prozent –, an Morbus Parkinson zu erkranken. Er schrieb:

Damit befinde ich mich in einer ziemlich einzigartigen Position. Ich weiß schon früh in meinem Leben, wozu ich im Wesentlichen prädisponiert bin. Jetzt habe ich die Gelegenheit, mein Leben so anzupassen, dass ich das Risiko minimieren kann […] Ich habe auch die Möglichkeit, zu dieser Krankheit zu forschen und andere Forschungsprojekte zu unterstützen, lange bevor sie mich betreffen könnte […] Ich schätze mich glücklich, in dieser Position zu sein. Bis der Jungbrunnen entdeckt ist, werden wir alle im Alter unter der einen oder anderen Krankheit leiden. Wir wissen nur nicht, welche es sein werden. Ich kann besser als fast jeder andere abschätzen, welche Krankheiten es bei mir sein können – und ich habe jahrzehntelang Zeit, mich darauf vorzubereiten.78

Seitdem haben Brin und die Stiftung, die er zusammen mit Wojcicki gründete, weit über 100 Millionen Dollar zur Parkinson-Forschung beigetragen.79

Da nun Umwelt- und genetische Faktoren als wahrscheinliche Ursachen für die Parkinson-Krankheit identifiziert worden waren, versuchten die Forscher, ihre relative Bedeutung zu bestimmen. Im Jahr 1999 führten Tanner und Langston in Kalifornien eine wegweisende Studie mit mehr als 17.000 Zwillingsbrüdern durch – sowohl zweieiigen als auch eineiigen. Dazu nutzten sie ein Verzeichnis aus dem Zweiten Weltkrieg und erhielten folgendes Ergebnis: Die Wahrscheinlichkeit, dass ein Zwillingsbruder Parkinson hatte, war bei zweieiigen Zwillingen, deren Gene sich wie bei zwei gewöhnlichen Geschwistern verhalten, und bei eineiigen Zwillingen, die die gleichen Gene haben, recht ähnlich. Die Ergebnisse deuteten darauf hin, dass Umweltursachen bei Parkinson eine größere Rolle spielen mussten. Tanner sagte: „Zum ersten Mal können wir heute sagen, dass bei Menschen mit Parkinson, bei denen die Diagnose nach dem 50. Lebensjahr gestellt wird, Umweltfaktoren zu den häufigsten Krankheitsursachen gehören.“80

Für diejenigen, die vor dem fünfzigsten Lebensjahr an Parkinson erkranken, scheinen jedoch eher genetische Faktoren bedeutsam zu sein.81 Je jünger der Betroffene beim Ausbruch dieser Krankheit ist, desto größer ist auch die Wahrscheinlichkeit, dass die Genetik eine Rolle spielt. Heute geht man davon aus, dass bei etwa zehn Prozent der Menschen, die mit Parkinson leben, eine genetische Ursache der Hauptgrund für ihre Krankheit ist.82 Das ist zwar nur ein kleiner Teil, aber diese genetischen Ursachen helfen den Wissenschaftlern zu verstehen, wie sich Parkinson entwickelt, und bieten mögliche Ziele für neue Behandlungen.

Wie bei vielen anderen Krankheiten sind die meisten Fälle von Parkinson wahrscheinlich auf eine Kombination von Umwelt- und genetischen Faktoren zurückzuführen.83 So erkrankt zum Beispiel nicht jeder, der Paraquat selbst in hohen Dosierungen ausgesetzt ist (etwa Landwirte, die jahrelang damit arbeiten), an Parkinson. Die meisten tun dies nicht, ebenso wie 85 bis 90 Prozent der Raucher keinen Lungenkrebs bekommen.84 Bei beiden Krankheiten müssen andere Faktoren – einige davon genetisch – eine Rolle spielen.85 Ebenso reichen die meisten genetischen Faktoren nicht aus, um Morbus Parkinson auszulösen; beispielsweise führen Mutationen im LRRK2-Gen nicht immer zu der Krankheit.86

Wissenschaftler haben daher nach Zusammenhängen zwischen Umwelt- und genetischen Faktoren gesucht und sind inzwischen fündig geworden. Im Jahr 2013 fanden Forscher heraus, dass die Nervenzellen bei Menschen mit einer Mutation im Alpha-Synuclein-Gen eher absterben, wenn sie bestimmten Pestiziden wie Paraquat und Rotenon ausgesetzt sind, selbst in Konzentrationen, die als unbedenklich gelten.87 Und Tierversuche haben ergeben, dass die gleiche Interaktion zum Verlust von Dopamin-produzierenden Nervenzellen führen kann;88 andere Studien haben ähnliche Ergebnisse bei LRRK2-Mutationen entdeckt.89

Zweihundert Jahre nach Parkinsons Abhandlung haben Forscher zahlreiche Ursachen für die gleichnamige Krankheit identifiziert, aber viele weitere müssen noch gefunden werden. Wie Krebs ist auch Parkinson keine einzelne Krankheit, sondern ein Konglomerat vieler Erkrankungen mit unterschiedlichen Faktoren. Der verstorbene Dr. William Weiner, ein Parkinson-Experte an der Universität Maryland, schrieb 2008, dass „es nicht die eine Parkinson-Krankheit gibt und […] es sie nie gegeben hat.“ Um den vielfältigen Ursachen der Krankheit, einschließlich der umweltbedingten Ursachen, gerecht zu werden, schlug Weiner den Begriff „Parkinson-Krankheiten“ vor.90 Die verschiedenen Versionen der Krankheit können jeweils ihre eigenen Ursachen, Symptome, Entwicklungsstadien und möglicherweise auch Behandlungen haben.91

Eine neue und erstaunliche Hypothese

Am Ende seines Essays aus dem Jahre 1817 appellierte Dr. Parkinson an andere Forscher, „die anatomische Untersuchung möglichst schmerzlos durchzuführen, um die Ursachen und die Natur […] dieser Krankheit zu erkennen.“ Auf diese Weise, so sagte er, könne ihre „wahre Natur“ auf ihre Behandlung oder Heilung bestimmt werden.92 Fast zwei Jahrhunderte später nahmen Wissenschaftler diese Herausforderung an. Zwei Anatomen, Dr. Heiko Braak und seine heute bereits verstorbene Frau Dr. Eva Braak, untersuchten Hunderte von Gehirnen. Im Jahr 2003 schlugen die Braaks und ihre Kollegen vor, die Krankheit in mehrere Stadien einzuteilen und stellten eine verblüffend neue Hypothese vor: Die Parkinson-Krankheit beginnt nicht im Gehirn.93

Die Forscher fragten sich, ob die Krankheit durch einen noch nicht identifizierten Erreger verursacht werden könnte, wobei der Begriff „Erreger“ hier alles umfasst, was Erkrankungen verursacht. Das könnte ein Virus, ein Bakterium oder irgendein anderer externer Faktor sein. Wir wissen, dass die vererbte genetische Mutation eine Ursache für die Fehlfaltung des Alpha-Synuclein-Proteins ist. Aber, so fragte sich Braak, könnte auch ein anderer Krankheitserreger durch die Nase oder den Darm in den Körper eindringen, eine Fehlfaltung des Alpha-Synuclein-Proteins bewirken, sich im Gehirn ausbreiten und die Krankheit verursachen?94

Abbildung 1.5. Foto von Dr. Heiko Braak und seiner Frau Dr. Kelly Del Tredici. Mit freundlicher Genehmigung von Dr. Heiko Braak.

Pestizide und andere chemische Substanzen in der Umwelt oder infektiöse Partikel sind mögliche Kandidaten. Sie können über die Nase eingeatmet oder über den Verdauungstrakt aufgenommen werden und zu einer Fehlfaltung von Alpha-Synuclein führen.95 Für diese Hypothese gibt es überzeugende Beweise. Braak und seine zweite Frau, Dr. Kelly Del Tredici (Abbildung 1.5) haben dieses Argument zusätzlich untermauert.96 Lewy-Körperchen – die Strukturen mit fehlgefalteten Alpha-Synuclein-Proteinen – finden sich zunächst nicht im Gehirn, sondern in den Nerven, die für den Geruchssinn und die Darmmotilität verantwortlich und in der Nase und im Darm angesiedelt sind. Nase und Darm könnten also die beiden Eintrittspforten für diese neurologische Erkrankung sein.

Verantwortlich für den Transport der Nahrung durch den Darm ist der Vagusnerv. Dieser Nerv nimmt seinen Ausgang in der Nähe der Unterseite des Gehirns, im Hirnstamm, und wandert zum Darm und zu vielen weiteren Organen, darunter auch Herz und Lunge, wo er die Herzrate und die Atmung kontrolliert.

Im Falle der Parkinson-Krankheit könnte der Vagusnerv der Weg sein, über den der „unbekannte Erreger“ der Braaks vom Darm bis zum Gehirn gelangt und dabei die Fehlfaltung der Proteine bewirkt.97 Ausgehend vom Vagusnerv breiten sich die pathologischen Vorgänge der Parkinson-Krankheit – die Merkmale der Krankheit – wie „im Dominoeffekt“ nach oben in die höheren Hirnzentren aus, die für die Steuerung von Bewegungen und Denkprozessen verantwortlich sind.98 Neuere Forschungen bestätigen, dass sich die Pathologie von Morbus Parkinson tatsächlich von Nervenzelle zu Nervenzelle ausbreiten kann – die Fehlfaltung scheint übertragbar zu sein.99

Die Ausbreitung der Lewy-Körperchen spiegelt die Entwicklung der Symptome wider.100 Die falsch gefalteten Proteine, die zuerst in Nase und Darm auftauchen, stimmen mit einigen der ersten Symptome der Parkinson-Krankheit überein – dem Geruchsverlust und der Obstipation. Diese Symptome können Jahre oder Jahrzehnte vor dem Auftreten der klassischen Bewegungssymptome beginnen.101 Die Symptomatik in den Bewegungen, wie zum Beispiel das Zittern, treten auf, sobald die Krankheit die Substantia nigra im Gehirn erreicht hat. Die Krankheit hört hier aber nicht auf. In den Spätstadien der Erkrankung breiten sich die Lewy-Körperchen weiter in die äußersten Gehirnareale aus, wo sie Demenz und Halluzinationen verursachen können.102

Die Hypothese der Braaks könnte tatsächlich stimmen. Die Ursache für Morbus Parkinson könnte außerhalb des Gehirns – und des Körpers – zu finden sein.103

Im Laufe der zwei Jahrhunderte, die seit der bahnbrechenden Beschreibung der Parkinson-Krankheit vergangen sind, hat sich unser Verständnis für diese Erkrankung weiterentwickelt. Wir verstehen jetzt besser, welchen Beitrag Umwelt, Gene und ihre Wechselwirkungen leisten, um einer möglichen Pandemie dieser Krankheit rechtzeitig entgegentreten zu können.

2

Die menschengemachte Pandemie

Wie Chemikalien die Krankheit grassieren lassen

„Könnte [die Parkinson-Krankheit] eine rein vom Menschen verursachte Krankheit sein?“

— Dr. William Langston, der im Jahr 1997 MPTP als Ursache für Parkinsonismus entdeckte1

1961 versammelten sich Neurologen aus den gesamten Vereinigten Staaten zur 86. Jahrestagung der American Neurological Association in Atlantic City, New Jersey. Man traf sich mit alten Freunden, tauschte auf der Promenade Neuigkeiten aus und erfuhr von der faszinierenden neuen Idee zweier Neurologen aus Harvard, Dr. David Poskanzer und Dr. Robert Schwab. Die beiden argumentierten, dass die Parkinson-Krankheit „bis zum Jahr 1980 als wichtiges Krankheitsbild“ verschwunden sein würde.2

Die Gründe für dieses Argument sind im Wien des Ersten Weltkrieges zu finden. Constantin von Economo, ein bis dahin an der russischen Front stationierter österreichischer Pilot, kehrte in die Reichshauptstadt zurück, um seinen Beruf als Neurologe wieder aufzunehmen. Es war das Jahr 1916 und sein Land brauchte ihn für die medizinische Versorgung verwundeter Soldaten.3

Von Economo kümmerte sich nicht nur um die Kopfverletzungen der Kriegsveteranen, sondern behandelte auch Patienten mit einer seltsamen, neuen Krankheit. Dieses Leiden, das er als „Schlafkrankheit“ bezeichnete, traf die Betroffenen aus heiterem Himmel. Er beobachtete, dass Menschen „beim Essen oder bei der Arbeit einschliefen […] häufig in einer höchst unbequemen Position.“4 Nach diesem abrupten Schlafanfall folgten Kopfschmerzen, Übelkeit und Fieber. Viele fielen ins Koma und starben.

Die Schlafkrankheit breitete sich in ganz Europa und Nordamerika aus und betraf zwischen 1915 und 1926 weltweit etwa 1 Million Menschen.5 Dann verschwand sie, bis 1928 gab es keine neuen Fälle dieser mysteriösen Krankheit. Seither sind nur noch seltene Fälle gemeldet worden.6

Diejenigen, die wieder gesund wurden, entwickelten oft Monate oder sogar Jahre später unterschiedliche Symptome, darunter verlangsamte Bewegungen, Steifheit und Zittern. Sie litten an etwas, das an Parkinson erinnerte.7 Die einzigen Unterschiede waren, dass die Patienten noch jung waren und dass eine vorangegangene Infektion die Krankheit ausgelöst hatte, sogar Teenager waren betroffen.8 Jahrzehntelang verharrten sie in einem körperlich erstarrten Zustand, unfähig, sich zu bewegen oder zu kommunizieren.

Der Neurologe und Autor Dr. Oliver Sacks, beschrieb viele dieser Patienten in seinem Buch Awakenings – Zeit des Erwachens. Die Betroffenen hatten die von Economo beschriebene Schlafkrankheit überstanden, nur um Jahre später einen tiefgreifenden Parkinsonismus zu entwickeln. Er schrieb: „Starrende Blicke, geprägt von Bewegungslosigkeit und Stillstand […] begannen sich in einer großen schwerfälligen, lethargischen Flut über viele der Überlebenden zu wälzen.“9

Die Patienten waren „so substanzlos wie Geister und so passiv wie Zombies“, schrieb Sacks. Sie „wurden in Krankenhäuser für chronisch Kranke, Pflegeheime und Irrenanstalten eingewiesen oder speziellen Siedlungen zugeordnet. [Sie] wurden völlig vergessen. Und doch lebten einige von ihnen weiter.“10

Sacks arbeitete in den 1960er-Jahren in einer psychiatrischen Klinik in der Bronx, als er Leonard Lowe zum ersten Mal begegnete. Lowe, 46 Jahre alt, war stumm und bis auf winzige Bewegungen seiner rechten Hand körperlich erstarrt. Die ersten Anzeichen von Parkinsonismus zeigten sich, als er ein Teenager war. „Seine rechte Hand wurde steif, schwach, blass und schrumpfte“, so Sacks. Die Symptome nahmen langsam und stetig zu, aber Lowe, ein eifriger Leser, schloss sein Harvard-Studium trotz allem mit Auszeichnung ab. In der Promotionsphase des Studiums aber „wurde seine Behinderung so schwerwiegend, dass sein Studium zum Stillstand kam.“11 Lowe und andere Patienten wie er „warteten auf ein Erwachen.“12

Das Erwachen kam im März 1969. Zwei Wochen nachdem Sacks begonnen hatte, Lowe mit Levodopa (siehe Kasten auf der nächsten Seite) zu behandeln, „trat eine plötzliche ‚Verwandlung‘ ein.

Was ist Levodopa?

Levodopa ist das wirksamste Medikament gegen Morbus Parkinson. Im Gehirn wird es in Dopamin umgewandelt, denn Menschen mit Parkinson haben einen Dopaminmangel. Wie alle Medikamente hat es jedoch Nebenwirkungen. Mit der Zeit kann es in hoher Dosierung unwillkürliche Bewegungen auslösen. Dabei handelt es sich oft um krümmende oder tanzähnliche Bewegungen, die es den Betroffenen manchmal schwer machen, still zu sitzen oder zu stehen. Levodopa und ähnliche Medikamente können auch zu impulsivem, für die Patienten sehr belastendem Verhalten führen.

Die Starrheit verschwand aus all seinen Gliedern und er fühlte sich erfüllt von übermäßiger Energie und Kraft. [Er] konnte wieder schreiben und tippen, von seinem Stuhl aufstehen, mit etwas Hilfe gehen und mit lauter und klarer Stimme sprechen. Er erfreute sich einer Mobilität, einer Gesundheit und eines Glücks, wie er all das nicht seit dreißig Jahren gekannt hatte.“

Zu Lowes Leidwesen waren die Vorteile von Levodopa aber nur von vorübergehender Dauer. Das Medikament löste unfreiwillige Bewegungen und aggressive Verhaltensweisen in ihm aus, die Sacks dazu veranlassten, das Medikament abzusetzen. Lowe, der später von Robert De Niro in dem Film Zeit des Erwachens dargestellt wurde, erholte sich nie wieder. Er verstarb im Jahr 1981.