Schlussakkord - Henriette Kaiser - E-Book

Schlussakkord E-Book

Henriette Kaiser

4,0

Beschreibung

"Das Sterben ist nichts anderes als die Fortführung des Lebens." Diese Aussage der krebskranken Katja wird zum Schlüsselsatz für Henriette Kaiser, die ihrer Freundin auf dem Weg in den Tod beisteht. Mit viel Einfühlungsvermögen schildert die Autorin diese ungeheuerliche Reise, die sie als Begleiterin erlebt hat, und zeigt, dass es trotz aller Ratlosigkeit und Trauer, trotz des Schmerzes eine tiefe Bereicherung für das eigene Leben sein kann, das Sterben mitzuerleben.

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Seitenzahl: 320

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Henriette Kaiser

Schlussakkord

Die letzten Monate mit Katja

Impressum

Bearbeitete Neuausgabe des gleichnamigen Buches von 2006

© Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2014

Alle Rechte vorbehalten

www.herder.de

Umschlaggestaltung: Verlag Herder

Umschlagfoto: © privat; Katja Anfang 20

E-Book-Konvertierung: le-tex publishing services GmbH, Leipzig

ISBN (E-Book): 978-3-451-80087-0

ISBN (Buch): 978-3-451-06308-4

In memoriam

Katja

18. Januar 1965 – 23. April 2002

Inhalt

Prolog

Krebsausbruch

Metastasen

Fünf Zimmer

I. Zimmer: Drei Wochen Krankenhaus

II. Zimmer: Zwei Wochen Palliativstation

III. Zimmer: Drei Wochen zu Hause

IV. Zimmer: Drei Wochen Palliativstation

V. Zimmer: Eine Woche Hospiz

Danach

Eine Einheit

Dank

Nachwort

Prolog

8. April 2002. »Fassbinder würde einen Film über diese Situation drehen. Oder eben meine Freundin Henriette?« Ich zucke zusammen. Katja kann nicht wissen, dass mir vor wenigen Tagen jemand vorgeschlagen hatte, ihr Sterben zu filmen. Ich sei Filmemacherin und würde vermutlich nie wieder etwas gleichermaßen Bewegendes miterleben, das auf individuelle Art ein so großes Thema erzählt. Aber alles in mir sträubte sich, trotz meines Interesses. Nie und nimmer hätte ich Katja fragen können, ob ich sie filmen dürfe, bei ihrem Kampf, bei ihrer Verzweiflung. Jetzt aber fordert sie mich mit funkelnden Augen von selbst auf. Ich schlucke meine Verwunderung hinunter und frage, warum sie solch einen Film machen wolle. Die Zeit würde allmählich doch arg knapp, sagt sie. Sie müsse endlich gewisse Gedanken formulieren. Schriftlich sei ihr das einfach nicht möglich. Auch mein Diktiergerät habe sie nicht angerührt. Sie glaube, dass die »dialogische Form« eines Filmes bei der Auseinandersetzung helfen könne. Sie hoffe auch, ihre bettlägerigen Tage durch die »Arbeit« zu strukturieren, ihnen damit einen Sinn zu geben. Dann seufzt Katja: »Und es gibt noch etwas. Das Sterben muss bekannter werden. Wir wissen doch alle nicht, was da passiert. Vielleicht kann mein Sterben anderen Leuten helfen. Ich bin doch erst siebenunddreißig. Vielleicht hilft es zu sehen, wie das ist, wenn ein so junger Mensch gehen muss. Wo doch immer mehr Menschen in meinem Alter Krebs bekommen.«

Wir filmen ein paar Tage. Am 23. April 2002 stirbt Katja.

Auch drei Jahre später habe ich die Aufnahmen noch nicht gesichtet. Nicht nur die Scheu vor einer Konfrontation hindert mich daran. Ich kann aus diesem Material keinen Film über ihr Sterben machen. Es ist zu wenig für einen eigenständigen Film, und Katjas Perspektive zu ergänzen verbietet sich mir. Etwas Allgemeines oder meine Sicht im Nachhinein hinzuzufügen, finde ich ebenfalls abgeschmackt. Ich sehe mich außerstande, Katjas Anliegen mit filmischen Mitteln gerecht zu werden. Auch in schriftlicher Form scheint es mir ausgeschlossen, die Sicht eines Betroffenen einnehmen oder das Sterben objektiv gültig darstellen zu können. Ich kann nur berichten, was ich bei Katjas Sterben in monatelanger Begleitung erlebt habe. Und das möchte ich versuchen.

Wie Katja ist auch mir eine vielfältige Verleugnung des Todes bewusst geworden, ganz abgesehen von deren Konsequenzen beim Sterben. Abstraktes Wissen um den Tod nützte weder ihr noch mir. Während aber meine Freundin im Sterben um das Annehmen des Todes ringen musste, hatte ich die Möglichkeit, ihm zu Lebzeiten einen Platz in meinem Bewusstsein einzuräumen. Ein großes Geschenk von Katja an mich.

Hilfreich für mich war, dass Katja in einer Palliativstation und einem Hospiz lag, Institutionen, die auf das Ende eines Menschen eingerichtet sind. Ihr Sterben, so schmerzhaft es war, wurde dort letzten Endes normal. Und das ist es wohl, egal, welche erschreckenden Ausnahmebilder wir davon haben.

Lange habe ich überlegt, wie ich die Intimität der Vorgänge relativieren, die Subjektivität umgehen könnte. Ohne Erfolg. Das Problem ist ja, dass man theoretisch über das Sterben Bescheid weiß. Darüber hinaus gibt es genügend Philosophien, Religionen, Gedichte, Romane, Bilder, ironische Aperçus, medizinische Abhandlungen zu diesem Thema. Wie wenig das alles mit einer echten Auseinandersetzung zu tun haben kann, erlebte ich ziemlich verwirrend. Deshalb schildere ich meinen Umgang mit Katjas Sterben so persönlich wie möglich. Ein wissenschaftliches Sachbuch oder ein vollständiger Bericht über das Sterben ist also nicht beabsichtigt. Ich hoffe eher, dass der Leser meinen verschlungenen Weg aus der vollkommenen Ahnungslosigkeit durch Unverständnis, Verzweiflung, Hilflosigkeit, Schmerz, Erahnen, Leere, Reichtum, Wut und Liebe nachempfinden kann. Um die Widersprüchlichkeit und den Facettenreichtum des Erlebten ein wenig zu spiegeln, vermische ich meine spontanen Tagebuchnotizen und E-Mails aus Katjas Sterbenszeit mit nachträglichen Reflexionen und Passagen aus meiner Radiosendung »Annehmen und Loslassen«, die auf Bayern 2 lief. Dazu zwei Gedichte von Katja, die sie wenige Monate vor ihrem Tod kommentarlos ihren Eltern überreicht hat.

Ich war nicht die einzige kontinuierliche Begleitperson von Katja. Die weiteren Vertrauten haben einiges anders erlebt und empfunden als ich. Aber wir haben die Punkte abgesprochen und sie akzeptieren meine Sicht. Alle Betroffenen, Familienmitglieder und Freunde, erlauben, dass sie als Handelnde oder Anschreibpartner unter ihrem authentischen Namen vorkommen. Ich bin ihnen für diese Unterstützung und ihr Vertrauen sehr dankbar. Zu ihrem Schutz vermeide ich allerdings Nachnamen. Die Korrespondenzpartner bezeichne ich nur mit ihren Initialen.

Ein paar Wochen vor ihrem Tod sagte Katja zu mir: »Das Sterben ist nichts anderes als die Fortführung des Lebens.« Das klingt banal und ist es auch. Als theoretischer Satz. Als gelebtes Prinzip aber machen die meisten nur zu gerne einen Bogen um diese Aussage. Als ob es einen Schlussakkord geben könnte, der von der Komposition losgelöst steht.

Krebsausbruch

DIE AUTOFAHRT

7. April 1999. Auf der Autofahrt nach Berlin platzt Katja wütend heraus: Diese unmögliche Ärztin, die behauptet, sie solle froh sein, schon ein Kind zu haben, und sich die Gebärmutter herausnehmen lassen. Wie bitte? Ich höre wohl nicht recht. Katja faucht weiter, ihr Pap-Abstrich sei zu hoch. Sie hätte vermutlich Krebs. Am liebsten möchte ich sofort wenden und nach München zurückfahren. Wie kann Katja bei dieser Gefahr jetzt einen Job in Berlin machen und dann mit ihrem Freund in Urlaub fahren? Nicht nur das. Sie möchte zuallererst einen Homöopathen aufsuchen. Ein Termin in Berlin ist schon vereinbart. Ich habe keine Chance mit meinen Einwänden. Ich kenne mich zu wenig aus. Wir fahren weiter nach Berlin und ich bete, dass dieser Heilpraktiker nicht zu der Sorte gehört, von der man immer wieder Erschreckendes lesen kann.

Meine Gebete werden erhört. Dieser Heilpraktiker und alle weiteren, die später in und um München aufgesucht werden, sehen sich nicht in der Lage, Katjas Krankheit zu heilen. Sie stimmen überein, dass die Gebärmutter entfernt werden müsse. Und zwar bald. Besorgnis erregend sind diese Aussagen trotzdem. Katja hat also aller Wahrscheinlichkeit nach einen ziemlich fortgeschrittenen Krebs. Krebs, diese Krankheit, die … Für einen Moment huscht der Tod durch meinen Kopf, aber mehr als ein Schreckgespenst wird er nicht, und verschwindet sofort wieder in einer Ritze der Unmöglichkeit. Es steht einfach nicht zur Debatte, dass Katja stirbt. Die Gebärmutter wird geopfert und damit das Unheil gebannt. Ein für alle Mal, Schluss, aus, vorbei. Katja allerdings möchte die Gebärmutter unter allen Umständen retten. Aber sie findet keinen Chirurgen, der eine Teiloperation in Betracht zieht. Alle sagen, der Tumor säße so ungünstig, die Gefahr der Streuung sei zu groß, die Gebärmutter müsse im Ganzen entfernt werden. Im Mai lässt sich Katja operieren.

NACH DER OPERATION

So oft wie möglich besuche ich Katja im Krankenhaus und versuche die Frühlingsstimmung dieses außergewöhnlich heißen Mais in ihr Zimmer zu bringen und ihr eine freundschaftliche Stütze zu sein.

Zahlreiche Probleme tauchen auf, mit denen Katja fertig werden muss. Sie muss zum Beispiel pinkeln lernen. Bei der Operation wurden auch die Nerven zur Blase durchtrennt. Diese medizinische Maßnahme schien uns bisher unbedeutend. Erst jetzt, als es darum geht, den Blasenkatheder zu entfernen, zeigt sich die Auswirkung. Katja spürt ihre Blase nicht mehr. Sie weiß nicht, wann sie voll oder leer ist. Eine nicht restlos entleerte Blase aber neigt zur Entzündung. Der Katheder kann erst abgenommen werden, wenn Katja wieder ein Gefühl dafür hat, wann die Blase entleert ist. Eine Demütigung der besonderen Art. »Dümmer als ein Baby« kommt sich Katja vor, da sie es nicht auf Anhieb schafft, den bis vor kurzem noch selbstverständlichsten aller Vorgänge zu erlernen. Irgendwann hat sie wieder einen Bezug zu der Blase. Der Katheder kann entfernt werden.

Ein anderes Problem lässt sich nicht so einfach lösen. Die Entfernung der Gebärmutter bedeutet für Katja nicht nur die Entfernung eines Organs. Katjas Weiblichkeit ist weg. Bisher hatte sie sich über ihre Weiblichkeit nicht allzu viele Gedanken gemacht. Aber jetzt fühlt sich Katja als geschlechtsloses Neutrum. Wenig hilft die Tatsache, dass das Organ krank war und die Operation an sich sinnvoll. Es tröstet auch kaum, dass die Ärzte mit Absicht die Eierstöcke da ließen, damit der Zyklus weiter funktioniert und Katja nicht als Vierunddreißigjährige in die Wechseljahre geschleudert wird. Das belastende Gefühl der Geschlechtslosigkeit betrifft konkret ihren Freund. Katja macht sich große Sorgen, ob Thomas sie verlassen wird, da sie nun keine richtige Frau mehr ist und keine Kinder bekommen kann. Sie würde es gut verstehen, wenn er sie verlässt. Es müsse für ihn äußerst schwierig sein, eine Frau zu lieben, »die nach fünf Monaten Freundschaft mit so einem Problem aufwartet«. Aber Thomas verlässt sie nicht. Er steht weiterhin zu ihr. Immer deutlicher wird, wie sehr sich Katja danach gesehnt hat, mit Thomas eine neue Familie zu gründen, nachdem ihre frühere Beziehung in die Brüche ging. In ihrer Verzweiflung überlegt sie sogar, eine Leihmutter im Freundeskreis zu finden. An mich denkt sie auch, aber letztendlich scheint ihr mein schmales Becken zu eng für das Baby, das bei ihrer Körpergröße von ein Meter achtundachtzig bestimmt überdurchschnittlich groß werden würde.

Und dann die Warum-Frage. Warum sie, warum nicht ich? Ich lebe doch viel ungesünder, wirft sie mir vor. Ich rauche mehr, ich gehe aus und trinke regelmäßig meinen Wein. Ich kann mich nur schwach verteidigen: Ich könne schließlich auch noch Krebs bekommen und so ungesund würde ich gar nicht leben. Ich sorge für genügend Bewegung, für frische Luft und müsse mir ernährungstechnisch keine Vorwürfe machen.

Um besser verstehen zu können, was in Katjas Innerstem vorgehen mag, versuche ich Ende Mai das Geschehen mit Katjas Formulierungen in Ich-Form wiederzugeben. Der Versuch scheitert, der Text bricht mittendrin ab.

Die Reise

Bis eben noch war ich vierunddreißig, verliebt und glücklich. Jetzt bin ich immer noch vierunddreißig und verliebt. Aber nicht mehr glücklich.

Mein Freund und ich wollten eine Reise machen. Weit weg, in ein Land mit sagenhaften Wasserfällen und anderen Naturspektakeln, ungeheuer exotisch und tropisch. Ich war happy. Endlich heraus aus dem Alltag, wo ich meinen Freund nur abends sehe, endlich wir zwei im Paradies. Dann der Schock. Es gibt keine Impfungen gegen Würmer, die sich durch die Fußsohlen in den Körper bohren und einen von innen auffressen. Nein, in ein Land mit solch ekligen Viechern wollte ich nicht reisen. Auf keinen Fall, nie und nimmer. Da würde ich keinen Schritt vors Haus setzen können. Ich schlug Alternativziele vor, aber die Reise ließ sich nicht mehr umbuchen. Ich gab nach. Dann also auf in dieses Würmerland. Wird schon gut gehen.

Ich ließ mich gegen alles impfen, wogegen man sich impfen lassen kann. Tabletten und Spritzen, so viele, dass mir ganz schwindlig wurde. Das konnte nicht gesund sein. Prompt bekam ich eine Blasenentzündung und einenJuckreiz im Genitalbereich. Ich suchte meine Frauenärztin auf. Sie bestätigte meinen Verdacht auf Blasenentzündung und Pilz, dann nahm sie Abstriche und schickte mich mit diversen Cremes nach Hause. Ein paar Tage später erhielt ich einen Anruf der Praxisassistentin. Ich müsse dringend zu einer Nachuntersuchung kommen. Der Abstrich sei nicht einwandfrei. Nicht einwandfrei? Noch ein Medikament mehr? Und das, wo ich mir jetzt schon wie eine achtzigjährige Großmutter vorkam, bei der Batterie von Kügelchen und Kapseln, die ich schluckte? Okay, dann halt noch eine Kapsel mehr. Ist auch egal, wenn ich mich wie eine einundachtzigjährige Großmutter fühle.

Die Ärztin sah mich durchdringend an. Dann blickte sie auf das Formular und sagte: Ihr Pap-Abstrichswert ist 4,5. Ab 5,0 ist Krebs garantiert. Seien Sie froh, schon ein Kind zu haben. Um alle Gefahren auszuschließen, ist es unumgänglich, dass die Gebärmutter entfernt wird. Sie hätte in einer Klinik bereits einen Termin vereinbart.

Ich war erzürnt. Gebärmutter raus. Und das, obwohl Krebs noch nicht einmal garantiert ist. Nicht mit mir! Wenn dieser Pap-Wert so schnell steigen kann, dann kann er genauso schnell sinken. Und das wird er tun. Mit allen Mitteln, die ich zur Verfügung habe, und mit allen mir noch nicht bekannten Methoden. Das wäre doch gelacht. Natürlich drängte sich auch das mulmige Gefühl auf: Was passiert, wenn die Ärztin Recht hat? Was, wenn ich wirklich Krebs habe? Was … Weiter konnte ich nicht denken. Ich durfte nicht weiter denken. Ich musste mich stärken zum Kampf. Zum Kampf gegen diese Krankheit, die eigentlich nur Leute bekommen, die sie sich herbeireden, die sie selbst zu verantworten haben, warum auch immer. Mist. Ich wusste doch, dass diese Impfungen ungesundsind. Sie haben mein Immunsystem geschwächt. Ich habe diesem unerbetenen Gast den Zugang erleichtert. Ihn eingeladen.

Und dann brach ich zusammen. Ich ahnte, dass aus der Reise nichts wird. Ich ahnte, dass ich mein ganzes Leben ändern muss, um diese unklare Zukunft zu überstehen …

DER SELBSTVORWURF UND DIE KRAFT

Auch nach der Unterleibsoperation kann niemand von uns Katjas Krebs als gegeben hinnehmen. Je nach Temperament und Veranlagung überwiegen esoterische Selbstverantwortungsthesen oder medizinische Kampfstrategien, wie der Krebs als Feind zu besiegen sei. Eine Erklärung für seine Entstehung, eine Methode zur Konkretisierung brauchen wir alle, um einen Weg zu finden, gegen ihn angehen zu können. Katja wählt schließlich eine Kombination aus Selbstverantwortung und Kampf.

Acht Monate vor der Krebserkennung hat sie Jakob, ihren sechsjährigen Sohn, zu seinem Vater nach Zürich gegeben. Natürlich war das kein einfacher Schritt für Katja. Aber in der Summe aller Überlegungen schien es den getrennten Eltern am sinnvollsten und für Jakob das Beste, ihn zumindest für die Grundschuljahre beim Vater leben zu lassen. Katja zog von Berlin nach München, um ihm näher zu sein. So schmerzhaft die Weggabe des Sohnes für Katja war, vieles sprach für die Richtigkeit und erhielt meine Unterstützung. Jakob fühlte sich in Zürich wohl und auch Katja blühte in München auf. Sofort fand sie eine hübsche Wohnung, kurz darauf die große Liebe, dann gute Jobs.

Jetzt aber bringt Katja die Trennung von ihrem Sohn mit dem Krebs in Zusammenhang. Der Krebs sei die Strafe, weil sie der Frucht ihrer Gebärmutter nicht genügen konnte. Warum habe sie ausgerechnet Unterleibskrebs bekommen, wenn das nicht der Grund sei? Vielleicht habe sie ihn sich sogar herbeigeredet, um sich zu bestrafen? Für mich führt diese Argumentation in eine fatale Richtung. Weder glaube ich an eine derart direkte Verknüpfung von Schuld und Strafe, noch, dass die Psyche solche organischen Auswirkungen haben kann. Aber ohne Gegenbeweise kann ich kaum Widerspruch leisten. Ihre Begründungen kommen nicht aus Selbstmitleid oder Naivität. Sie sind schlüssig in ihrer Konsequenz. Uneitel, unkokett. Sie entspringen der puren Verzweiflung. Da kann ich nicht sagen: »Hey, jetzt mach mal halblang. Der Krebs ist nun mal da, da musst du durch.« So lange kein anderer Grund erklärt, warum sie diesen Krebs hat, wird vermutlich die Theorie von Schuld und Bestrafung herhalten müssen. Bei Katja erzwingt der Selbstvorwurf noch einen weiteren Schritt.

Das Lymphsystem ist befallen, ein paar Krebszellen werden ausfindig gemacht. Die Ärzte schlagen eine Chemotherapie vor. Eine Chemo, die die geretteten Eierstöcke auf jeden Fall zerstört und Katja in die Wechseljahre katapultiert. Eine Chemo, die nicht garantieren kann, die Krebszellen zu erwischen, wie die Ärzte zugeben müssen. Katja wendet sich voller Inbrunst gegen die Chemo. Nicht nur wegen der drohenden Wechseljahre und der Unsicherheit auf Heilungserfolg. Sie will gegen den Krebs mit eigener Kraft angehen. Diese lächerlichen Krebszellen wird sie selbst besiegen. Oder die Zellen igeln sich irgendwie ein und werden unschädlich, wie es wohl manchmal passiert. Damit das geschehen kann, wird sie ihr bisheriges, »falsch« geführtes Leben ändern. Sie wird ihren Geist und ihren Körper umpolen, damit sie den Feind, den sie zugelassen hat, beherrschen lernt.

Befreundete Ärzte rasten aus. Das sei Katjas Todesurteil. Tod? Was wissen die denn! Es geht um das Leben! Sie schämt sich sogar für ihre »Schwäche«, die Gebärmutteroperation zugelassen zu haben. Wäre sie doch auf eine einsame Insel gegangen und hätte dort, wie in einigen Büchern beschrieben, den Krebs besiegt. Mein Einwurf, dass diese Fälle die absoluten Ausnahmen seien, wird überhört. Die Erinnerung daran, dass auch Heilpraktiker und Homöopathen für die Operation plädierten, wird ebenfalls weggewischt. Katja ist entschlossen. Keine Stellungnahme, aus welcher Richtung auch immer, kann sie umstimmen. Ich bin zerrissen. So wenig ich mich auf diese esoterische Form der Selbstheilung einlassen kann, so traurig muss ich zustimmen, dass die vage Chance der Schulmedizin kein schlagendes Argument ist. Und angesichts der allgemeinen Ratlosigkeit bin ich in erster Linie dankbar, dass Katja so viel Power hat. War sie bisher eher schicksalsgläubig zu nennen, mit einem Hang zum Phlegma, der mich nur deshalb nicht auf die Palme brachte, weil sie ihn stets herzlich und selbstironisch auslebte, weil ich ihren romantischen Idealismus liebte und sie immer eine intelligente Erdung beibehielt, freue ich mich jetzt über ihre Kraft. Ich bin entschlossen, sie zu unterstützen, egal was passieren wird. Das Leben, so sagen wir, ist eine Sache, die wir selbst bestimmen. Wir sind keine Opfer. Wir haben das Schicksal in unserer Hand. Und jetzt wird das Schicksal in Angriff genommen. Jetzt geht es los. Jetzt wird gekämpft. Jetzt wird gelebt.

DAS LEBEN

Für den Kampf muss Katja erst einmal wieder körperlich fit werden. Ohnehin schlank, hat sie nach der Operation zwölf Kilogramm abgenommen. Sie sucht eine Reha in den Alpen auf. Dort gibt es auch Therapierunden für die Krebspatienten. Halbseidenes, larmoyantes Geschwätz, das ihr nichts bringen könne, resümiert Katja voller Verachtung. Ich stimme ihr zu. Sie ist in der Lage, alle Facetten alleine durchzuspielen. Professionelle Hilfe ist da nicht nötig. Sie scheint innerlich gewappnet, sich dem Kampf zu stellen. Als Beweis ihrer Stärke dient mir auch ihre abgebrühte Reaktion auf den plötzlichen Tod einer Tischnachbarin. Voll Ironie erzählt sie, dass just diese Frau sich mit Plüschdeckchen und Nippes auf mehrere Monate in der Reha eingerichtet habe, nur um dann so schnell zu sterben. Wir wandern frohgemut durch die beeindruckende Berglandschaft, genießen die warmen Sommertage und begrüßen die Zukunft.

Nach der Reha beginnt Katja mit einer speziellen Yogaform. Gewissenhaft zieht sie die Übungen durch und versucht, sich auf die Meditationen einzulassen. Außerdem ist sie konsequent in der Nahrungsumstellung. Eine rigorose Körnerkur, kombiniert mit Alkoholverbot und Nikotinverzicht. So geht das ungefähr ein halbes Jahr. Die ersten Computertomographien sind zufrieden stellend. Metastasen sind nicht zu erkennen. Ein Freund aus dem Yogakreis wird sehr wichtig. Mit ihm reist sie zu einem Meister nach Florida.

Von dort zurück, normalisiert sich Katjas Essverhalten. Irgendwann trinkt und raucht sie auch in bescheidenem Maße wieder. Als ich sie einmal besuche, drückt sie mir eine Vorratspackung mit Kondomen in die Hand, die bei ihr nur »verschimmeln« würden, weil nichts mehr zu verhüten sei. Sonst taucht das Thema Krebs kaum noch auf und verschwindet irgendwann ganz aus unseren Gesprächen. Sie arbeitet viel, dringt in neue Bereiche vor. Katja wird eine gefragte Spezialistin für CD-ROMs, die Kindern die Vielfalt der Welt erklären. Darüber hinaus gehört sie der Gründungsgruppe an, die für Blinde die Audiodescription im Bereich Film vorantreibt. Mit jeweils einem sehenden und einem blinden Partner erarbeitet sie Filmschilderungen, damit Sehbehinderte die Möglichkeit haben, Filme im Fernsehen hörend zu erleben. Häufig spricht sie die Texte auch selbst ein. Mit jener hellen Stimme, in der stets sanfte Wärme, aber auch jugendlicher Trotz mitschwingt und die Vokale so eigentümlich flapsig abbrechen.

Durch die Arbeit an den Audiodescriptionen werde ich immer auch an die frühe Zeit unserer Freundschaft erinnert, die wir, nachdem wir uns in München kennengelernt hatten, gemeinsam in Berlin verbrachten. Es waren die achtziger Jahre, wir waren Anfang zwanzig und ausgehungert nach Leben. Partys, Konzerte, Kunst, Kreuzberg, durchfeiern, verlieben. Katja machte eine Ausbildung als Buchhändlerin in einer großen Kunstbuchhandlung und ich stob an der Universität zwischen den geisteswissenschaftlichen Fächern Germanistik, Musikwissenschaft und Philosophie herum oder arbeitete als Volontärin und Regieassistentin an Opernbühnen. Natürlich waren wir beide chronisch pleite und ständig auf der Suche nach einem lukrativen Job. Und da kam Katja auf die Idee, als Vorleserin tätig zu werden. Es war eigentlich jedermann klar, dass man damit kein Geld verdienen kann, aber Katja verliebte sich immer mehr in die Vorstellung, altersschwachen oder vereinsamten Herrschaften mit aufregenden Vergangenheiten in ihren verfallenen Villen die große Weltliteratur vorzulesen. Sie feilte an ihrer Sprachtechnik herum, dann gab sie Annoncen auf. Wenn mich meine Erinnerung nicht trügt, meldete sich ein einziger älterer Herr. Und der Blindenverband kam auf sie zu. Dort las sie fortan ehrenamtlich, ohne Gehalt. Das verdiente sie, wie eh und je, in einer Kneipe.

Nach abgeschlossener Lehre studierte Katja auch ein wenig herum. Aber zwischen der Arbeit im Buchladen und den Kneipenjobs fand sie weder die rechte Muße zum Studieren noch zum Schreiben eines Romans, was sie im Grunde ihres Herzens eigentlich wollte. Mein eigener Studienelan und mein Opernfanatismus stießen ebenfalls an ihre Grenzen. Film musste es sein, da war ich mir jetzt sicher. Nur im Film würde ich meine Inszenierungsideen umsetzen können. Ich wurde an der Filmhochschule in München aufgenommen, und somit hatte meine Berlin-Ära nach knapp fünf Jahren ihr Ende gefunden.

Katja blieb weiter in Berlin. Wir hielten regelmäßig Kontakt, in Briefen und über das Telefon. Wir sahen uns, so oft es ging, und waren jedes Mal erleichtert, dass sich durch die Entfernung nie ein Bruch zwischen uns einschlich. Während ich meine Erfahrungen als Drehbuchautorin und Filmregisseurin machte, beschloss Katja, nach Spanien zu ziehen. Zuerst fuhr sie mit ihrem damaligen Freund Robert durch die Gegend, dann zog sie alleine nach Madrid, um dort in einer deutschen Buchhandlung zu arbeiten. Sie war sehr einsam in Madrid. Und zu groß. Mit Schaudern schilderte sie mir, wie sie nur mit krummem Rücken durch die Straßen schlich, damit nicht alle Madrilenen mit dem Finger auf sie zeigten. Zurück in Berlin wurde sie bald von Robert schwanger. Mit ihm und dem kleinen Jakob zog sie in das Berliner Umland, in ein, wie sie sagte, idyllisches Bahnwärterhäuschen an einer stillgelegten Zuglinie. Andere öffentliche Verkehrsmittel gab es jedoch auch nicht und Katja hatte keinen Führerschein. Ich hatte meine Bedenken, ob diese Einsamkeit das Richtige für sie sei. Anfangs wollte sie solche Einwände nicht hören. Dann aber gab es ziemlich prompt wieder einen Rückzug nach Berlin. Bald darauf trennte sich Katja von Robert. Der zog zurück in seine Heimatstadt Zürich. Katja war nun allein erziehende Mutter mit sehr bescheidenen Geldmitteln. Alle beruflichen Idealziele verpufften endgültig. Sie hatte schon genügend Schwierigkeiten, ihren Kneipenjob mit der Betreuung des Kindes zu koordinieren.

Und jetzt ist Katja also innovative Vorreiterin für den Blindenverband, genießt ihr abwechslungsreiches Arbeitsleben und das Hotelzimmerdasein auf ihren vielen Geschäftsreisen. Sie liebt auch ihre privaten Fernreisen und Nahurlaube mit Thomas, mit dem sie meistens glücklich in der Beziehung ist, nur manchmal etwas traurig. Und wann immer es möglich ist, fährt sie zu Jakob nach Zürich.

Mit mir verreist Katja nicht. Mit mir geht sie ins »Adria«. Wir wollen uns nur für eine kurze Arbeitspause in unserem Stammcafé treffen, bleiben dann aber meist stundenlang, quatschen und zelebrieren eine spezielle Reihenfolge von Getränken und Speisen als feststehendes Ritual: Cappuccino, Eis, ein weiterer Cappuccino, ein Glas Prosecco, dann noch eines. Das erste Glas Prosecco ist Katjas Auslöser für eine Zigarette: »Du bist meine Verführerin. Nur mit dir rauche ich. Aber ich liebe es.« Genussvoll saugt sie den Rauch ein und grinst.

Ein Jahr nach der Operation geht es hauptsächlich um den Kummer, weil Jakob nicht bei ihr ist. Aber egal, welche Wege man vorschlägt, ihn zu holen, sie findet stets Gründe dagegen. Überall sieht sie Komplikationen, nichts ist ihr einleuchtend genug. Ich insistiere nach Leibeskräften, es ließe sich eine Lösung finden, wenn sie nur zu irgendetwas stehen, eine Änderung wagen, einen Kompromiss akzeptieren würde. Es sei der reinste Hohn, dass sie lieber leide, als ihren Sohn zu holen, ganz gleich, welche Reglements mit Robert vereinbart wurden. Aber es ist nichts zu machen. Es bleibt alles beim Alten.

Fragen ihren Krebs betreffend wischt Katja weg, als ob es diese Krankheit nicht gäbe. Dabei verschwindet der Krebs keineswegs aus unserem Umfeld. Überall taucht plötzlich Krebs auf. Auch bei unseren eigenen Eltern. Meine Mutter bekommt Brustkrebs. Katja unterstützt mich mit wertvollen Tipps und Anregungen. Sie versteht auch sofort, dass meine Mutter Seminare und alternative Hilfsangebote neben der schulmedizinischen Behandlung verweigert, die mir durchaus einleuchtend scheinen. Aber Bücher, die Katja mir empfiehlt, kann ich bedenkenlos meiner Mutter geben, ohne allzu sehr ins Fettnäpfchen zu treten.

In welcher Form auch immer der Krebs in Katjas Gesichtsfeld rückt, sie tangiert das alles nicht. Sie hat einfach keinen Krebs mehr. Sie hat ihn noch viel weniger, als ihr eigener Vater an Leukämie – Blutkrebs – erkrankt. Abgeklärt stellt sie nur fest, dass sie als junge Frau im Krankenhaus besser behandelt wurde als ihr Vater. Wenn ich manchmal frage, wie ihre eigenen Nachuntersuchungen verlaufen, geht sie nicht darauf ein. Ich gewinne den Eindruck, dass sie sich nicht mehr untersuchen lässt.

Dann kommt der Mai 2001. Ich verbringe ihn in Indien. In aufregender Form nehme ich wahr, wie dort der Tod seinen festen Platz in der Alltäglichkeit hat, wie dicht und farbenfroh dadurch das Leben wird, wie künstlich und steril dagegen die Realität bei uns wirkt, weil diese Intensität fehlt. Aufgeweckt und aufgewühlt kehre ich im Juni nach München zurück. Katja hat sich in der Zwischenzeit von Thomas getrennt. Alle Gespräche für und wider diese Entscheidung sind aber belastet. Katja hat Schmerzen im Rückgrat. Die Bandscheiben, vermutet sie. Oder eine psychosomatische Reaktion auf die Trennung. Orthopäden und andere Spezialisten können nichts entdecken. Ich selber spekuliere, dass bei ihrer Körpergröße, ihrem sitzenden Beruf und dem Mangel an Sport solche Schmerzen kein Wunder seien. Die Schmerzen werden heftiger, ziehen auch in das linke Bein. Es muss etwas geschehen. Nur was? Endlich lässt sich Katja von einer anderen Freundin überreden, zur Sicherheit eine Computertomographie zu machen. Damit ist zynischerweise der Tod, den ich eben noch in unserem Alltag vermisst habe, nicht mehr aufzuhalten.

Metastasen

DER ANRUF

4. Juli 2001. Katja ruft morgens an. Sie hat einen Tumor am Beckenknochen, so tief verwachsen, dass er vermutlich inoperabel ist. Ob ich Zeit für einen Besuch im Krankenhaus habe? Ich sage zu, lege den Hörer auf und klappe zusammen. Ein neuer Tumor so kurz nach dem ersten Auftreten in diesem jungen Alter, in dem sich die Zellen so schnell teilen, bedeutet das Ende. Ich bin derart durcheinander, dass ich unmöglich in diesem Zustand zu Katja kann. Ich rufe meine Mutter an. Ohne Rücksicht auf ihre Labilität wegen des eigenen Krebses im Jahr zuvor brülle ich ihr meine schlimme Befürchtung entgegen. Als meine Mutter anbietet zu kommen, werde ich wieder ruhiger.

Dieses Mal werde ich mich mehr in Katjas Vorhaben einmischen. Wenn Katja phlegmatisch zu nennen ist, bin ich ein Aktivist. Häufig zu rasch, zu ungeduldig. Aber als Filmemacherin darauf programmiert, dass es keine Probleme gibt, die nicht zu lösen sind. Ich maße mir nicht an, Katjas Leben retten zu können, aber ich bin entschlossen alles aufzutreiben, was ihr helfen könnte. Was auch immer das sein wird. Aufbaukuren, pflanzlich, chemisch, ich weiß nicht, was. Aber rasch muss es gehen und durchorganisiert sein. Und weder Katja noch ihre Familie sind Organisationstalente. Das bin ich. Und deswegen sind Katja und ich vielleicht auch so eng befreundet, weil wir uns ergänzen. Und- undund. Die Zeit der esoterischen Abenteuer jedenfalls ist vorbei. Jetzt muss gehandelt werden.

Ein wenig spirituelle Unterstützung muss trotzdem sein. Ich nehme von meinem Bücherregal einen kleinen Kristall, der angeblich ganz viel Glück spendet, und schwinge mich auf das Fahrrad. Im Weltmeistertempo durchquere ich die Stadt. Vor dem Krankenhaus muss ich erst einmal ausdampfen. Und als ich Katja sehe, schäme ich mich. Wie konnte ich nur eine Sekunde glauben, dass Katja zu naiv mit dem Tumor umgehen würde. Sie ist tief verzweifelt. Aber auch derart gefasst, dass mein Aktionismus geradezu lächerlich wirkt. Uns beiden hockt ein Kloß im Hals. Wir unterdrücken ihn und besprechen, was vermutlich die beste Vorgehensweise ist. Den Kristall nimmt sie dankbar an: »Hoffentlich hilft er.«

5. Juli. Lieber M.,

in der Tat gibt es seit vielen Jahren in München ein Filmfest. Natürlich ist es seit 1992 nicht mehr so strahlend, weil es das letzte Jahr war, in dem ein Film von mir lief. Himmel, sind das plötzlich Zeitabschnitte, die man da ansammelt. Wie auch immer. Ich versuche möglichst viele Filme meiner deutschen Kollegen anzusehen, damit ich weiß, was gerade gemacht wird, und ich gehe auf diese Empfänge von Sendern und sonstigen Geldgebern, wo lauter gottähnliche Redakteure herumstehen, die über das Schicksal der Filmprojekte entscheiden. Grauenhaft. Gehört aber leider dazu, da hin und wieder seine Visage zu zeigen, und manchmal macht es natürlich auch Spaß. Ich übertreibe dieses Jahr aber nicht. Außerdem passieren dann plötzlich auch Dinge, bei denen das alles furchtbar unwichtig wird.

Erfahre ich doch gestern früh, dass Katja einen neuen Tumor am Beckenknochen hat, der so tief sitzt, dass er wohl gar nicht zu entfernen ist. Man darf überhaupt nicht bis zum Ende durchdenken, was es heißt, wenn sich der Krebs nach so kurzer Zeit wieder zeigt. Für mich hieß es erst einmal, dass ich sofort alles stehen und liegen ließ und wie auch immer versuche, ihr Kraft zu geben. Aber es fällt mir schwer. Ich weiß nicht, was ich sagen soll, wenn sich Katja fragt, warum und was der Sinn der Krankheit ist. Sie hatte vor zwei Jahren so viel Elan gezeigt, ist so tapfer damit umgegangen, keine Gebärmutter mehr zu haben, aber jetzt ist sie am Ende. Auch ich bin vollkommen ratlos und komplett neben der Spur. So viele Gedanken schwirren durch meinen Kopf, keinen kann ich fassen, keiner bringt etwas. Und eine Erklärung, um irgendetwas begreifen zu können, erhalte ich auch nicht.

Vermutlich muss man das alles akzeptieren und ganz langsam Schritt vor Schritt setzen. Und man muss wohl begreifen, dass man jede Minute wertschätzen soll, die man bekommt. Es reduziert sich auf das Banalste. Ich versuche in Ansätzen zu verstehen, wie Hindus oder Buddhisten damit umgehen würden, aber das bringt mich auch nicht weiter. Ich bin nicht religiös. Und dieser Spruch mit der Lebensfreude wirkt manchmal auch nur schal.

CHAOS

Das zögerliche Abwägen der Ärzte, ob eine Operation sinnvoll oder sinnlos ist, frustriert. Ebenso die kaum gegebenen Verbesserungsmöglichkeiten durch Bestrahlung. Eine Chemo würde nichts bringen, heißt es. Mit der Nachricht von dem Tumor tritt Katjas Schwäche deutlich hervor. Die Operation vor zwei Jahren steckt noch in ihr. Außerdem ist sie sehr deprimiert. Die Schmerzen erinnern sie permanent an den Krebs. Sie kann ihn nicht verdrängen. Dieser Tumor ist reell vorhanden, keine schwammige Masse auf der Gebärmutter, keine abstrakte Zelle, die irgendwo im Körper herumschwirrt. Rückblickend betrachtet kommt es mir vor, dass wir zwei Jahre zuvor den Krebs wie ein Spiel oder einen Wettkampf angegangen sind. Wie ein lebensbedrohliches Spiel, wie einen gefährlichen Wettkampf zwar, aber eben doch sehr leichtfertig. Von Leichtfertigkeit ist jetzt nichts mehr zu spüren. Der Tod ist auch kein huschendes Schreckgespenst mehr. Die Vorstellung des Todes liegt schwer auf uns allen. Wir wissen um seine drohende Gefahr, um seine furchtbare Wahrscheinlichkeit. Aber die konkrete Bedeutung entzieht sich uns trotzdem. Dementsprechend nichtssagend sind auch die Zeitangaben der Ärzte und werden von uns emotionslos hingenommen. Sie sprechen von ein bis zwei Jahren Lebenserwartung. Sie könnten auch zehn Monate oder fünf Jahre sagen. Der Schrecken ist nicht mit Prognosen zu fassen. Wir wissen nicht, was das bedeutet, auch wenn das Ende selbst klar scheint. Außerdem sind wir auf Hoffnung und Heilung ausgerichtet, obwohl die Schulmedizin den Kopf schüttelt und, wenn überhaupt, nur von lebensverlängernden Maßnahmen unter Einbußen der Lebensqualität spricht.

Eine Aufbaukur scheint unumgänglich. Katja wird von Tag zu Tag schwächer. Nicht nur ich kümmere mich um Möglichkeiten. Auch Katjas Familie und viele Freunde eruieren Zentren der Krebs-, Immunund Stabilitätsbehandlung, die es in unzähligen Varianten und Kombinationen zwischen Homöopathie und Schulmedizin gibt. Heiler, Schamanen werden ausfindig gemacht. Katja verliert sich in den Angeboten. Immer wieder erinnere ich sie wie eine Sekretärin an notwendige Anrufe oder nehme ihr irgendetwas ab. In meinen Augen zögert sie zu sehr, entscheidet sich nicht kämpferisch genug.

Irgendwann kommt dann allerdings auch heraus, dass Katja etwas zurückhaltend ist, weil sie und ihre Familie nicht genügend Geld für Zusatzbehandlungen haben. Leider wird da längst nicht alles von der Krankenkasse übernommen. Natürlich sind viele der Angebote nicht ganz seriös, aber eines ist klar: Wegen Geldmangel darf Katjas Leben jetzt nicht gefährdet werden. Ich grüble über Geldquellen nach. Mit einem engen Freund von Katja und mir, der gerade in München zu Besuch ist, entwickle ich eine Spendenaktion. Wir wollen alle Menschen, die Katja kennen, anschreiben und um Geld für sie bitten. Katja hört sich den Vorschlag an und lehnt ab. Sie könne diese Hilfe und das Geld nicht annehmen. Ich sage: »Doch, du kannst.« Katja lässt sich überreden. Nachdem auch Freunde und Katjas Bruder zustimmend reagieren, lege ich meine eigenen Restskrupel ab.

Ich beginne mit den Listen. Da wir seit knapp zwanzig Jahren eng befreundet sind, kann ich viele Namen eigenständig zusammenstellen. Aber natürlich kenne ich nicht alle Menschen aus Katjas Leben. Besonders in Berlin müssen sich, nach meinem Rückzug, viele Freunde angesammelt haben, die mir fremd sind. Ich bitte Katja, ihr Adressbuch mit mir durchzugehen. Dieser Moment wird zu einem der intimsten Augenblicke, den ich mit Katja bisher erlebt habe. Der Blick in ihr System, wie sie Bekannte, Freunde, Familienmitglieder, Arbeitskollegen ordnet, lässt mich vieles erkennen. Wie vielfältig ein Leben ist. Wie vieles man auch bei nahen Freunden nicht mitbekommt. Und ich erschrecke. Die Unvollständigkeit, die unterschiedliche Notierungsart zeugen nur von einem abwechslungsreichen, lebendigen Dasein. Ein absehbares Ende ist da nicht eingeplant. Ich nehme mir augenblicklich vor, meinen eigenen Verhau besser zu ordnen. (Bis heute noch nicht geschehen und auch in Zukunft vermutlich nur ein Plan.) Wir tauchen anhand der Namen und Kürzel in Katjas Leben ein. So viele Geschichten, Ereignisse. Bei einigen Namen zögert sie, ob sie auf die Liste sollen. Manchmal kann ich die Bedenken entkräften, manchmal nicht. Oft bin ich überrascht, dass Katja nicht sieht, wie sehr sie gemocht wird. Sie macht sich wirklich keine Vorstellung davon, wie beliebt sie ist und welchen Eindruck ihr einnehmendes Wesen auch bei Menschen hinterlässt, die sie nur wenig kennen.

Und Katja weiß auch nicht, wie viele Menschen an ihrem Schicksal Anteil nehmen. Die Nachricht von ihrer Krankheit breitet sich wie ein Flächenbrand im Netz der Freunde, Familienmitglieder und Bekannten aus. In Berlin, München, Zürich und anderen Orten gibt es zahlreiche Leute, die bestürzt sind. Längst nicht alle können oder wollen das Katja direkt zeigen. Sie ziehen es vor, sich an Personen aus ihrem nahen Umfeld zu wenden. So auch an mich. Neben der Sympathie und dem Mitleid für Katja äußern alle das Bedürfnis zu helfen. Nur wie? Vielleicht kann eine Spende wenigstens bewirken, dass sie nicht ganz tatenlos zusehen müssen. Ein Aspekt der Aktion, den ich zu Beginn nicht einkalkulierte, der Katja auch nicht selbst betrifft, der aber doch nicht unwesentlich ist.

DER STREIT

Eine ehemals gute Freundin darf ich auf keinen Fall anschreiben. Katja hat sich vor kurzem mit ihr zerstritten. Der Streit sei hier erwähnt, weil er symptomatisch für ein Phänomen steht, das bis zu Katjas Tod immer wieder in unterschiedlichsten Facetten auftauchen wird und zu traurigen Missverständnissen führen kann.

Diese Freundin also warf Katja vor, dass sie zu ernste Literatur lese, zu traurige Musik höre. Die nötige Überlebenskraft könne sie nur aufbringen, wenn sie sich mit positiven Dingen umgebe. Bei diesem Hang zur Schwermut sei es kein Wunder, dass eine Krankheit über sie herfiele. Katja, wahrlich genügend esoterisch veranlagt, wehrte sich. Kunst baue sie auf, gebe ihr Kraft, und große Kunst sei nun einmal meistens eher melancholisch und ernst. Ihre Vorliebe für diese Art von Kunst sei ganz bestimmt nicht schuld an ihrem Krebs. Die beiden fanden keinen Ansatz für eine Versöhnung. Die Freundin beendete die Freundschaft.

Ich vermute, dass Katjas Darstellung ein wenig einseitig ist. Aber das ist egal. Es geht nicht um das, was gesagt wurde, auch wenn es mich gehörig überrascht, welche Formen von Lebenskonzepten möglich sind. Ich stimme Katja von ganzem Herzen zu, dass dieser Vorwurf absurd ist. Aber ich dränge auf Versöhnung. Vergebens. Katja, nachvollziehbar überempfindlich, hat sich da verschlossen.

Mein Versöhnungsversuch entspringt nicht nur meinem ach so großen Harmoniebedürfnis. Ich versuche indirekt, mich selber zu schützen. Auch ich könnte nämlich nur zu leicht mit Katja in Konflikt geraten. Und ich ahne, dass dafür eben jenes Phänomen verantwortlich ist, das zu diesen Missverständnissen führen kann.

Einmal von außen betrachtet: Was passiert hier überhaupt? Katja hat ein großes Problem, man möchte helfen. Dann aber lehnt Katja die Hilfe, die Ratschläge ab. Das kann verletzen. Ich muss immer wieder kräftig schlucken, wenn sich Katja meine Vorschläge zu einer möglichen Behandlung anhört, sich vielleicht bedankt, dann aber etwas anderes oder nichts macht. Es gibt genügend Situationen, in denen Katja in meinen Augen etwas »falsch« macht, mich enttäuscht, mir widerspricht. Aber irgendetwas in mir verhindert, das zu problematisieren. Sie handelt nicht gegen mich, wenn sie ablehnt, sondern sie sucht ihren Weg, mit der Krankheit umzugehen. Entweder unterstütze ich sie auf diesem Weg, um vielleicht sogar die in meinen Augen größten »Irrtümer« zu verhindern, oder ich muss mich verletzt zurückziehen. Das aber will ich nicht. Katja ist meine Freundin, und die ist in Not. Allerdings bleibt mir gar nichts anderes übrig, als in all diesen Momenten mein Ego zurückzunehmen und eine sehr ungewohnte Art der Selbstlosigkeit zu beherzigen. Das hört sich vielleicht übertrieben an, aber meines Erachtens geht es genau darum. Und es ist verdammt schwer, sich mit all dem Mitleid, der Liebe, dem Kummer einzubringen, ohne sich selbst als Person ins Zentrum zu setzen oder wichtig zu nehmen.

Warum ist das so schwer, so ungewohnt? Warum kann man so leicht verletzt werden? Es ist doch nur zu selbstverständlich, dass man sich als Person zurücknimmt, wenn ein anderer ein ernstes Problem hat. Aber eine tödliche Krankheit ist nicht nur ein Problem. Sie ist die existenzielle Gefahr überhaupt, mit der man als Mensch konfrontiert werden kann. Und angesichts einer solchen Bedrohung bekommen vermutlich auch die Hilfsversuche eine außerordentliche Bedeutung. Sie sind nicht nur nett und altruistisch, wie sie