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Mühselig und unendlich scheinen die Wege zu Schule und Kirche für die "Winterkinder" zu sein, bei sibirischer Kälte, grandios und unbarmherzig die Natur. Ein grimmiger Vater, geliebt und gefürchtet, eine sehr fromme, aber wissenshungrige Mutter, die einander im Einsatz für die Lebensreformbewegung fanden, führen mit ihrer Großfamilie ein Leben im Kontrast von idealisierter Romantik und plagender Not. Die Kinder bauen sich daneben ihre Abenteuerwelt, die sie mit eigenwilligen Einsichten und kapitalen Missverständnissen zu einem lädierten Idyll ordnen. Michael Frank lässt die dörfliche Scheinidylle seiner Kinderwelt in der unmittelbaren Nachkriegszeit aufleben, die Abenteuer zwischen Rechtgläubigkeit und ideologischem Aufruhr, unter dem Einfluss von Kirche, Schule und "Besatzern" und den rätselhaften Einbrüchen der Moderne.
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Seitenzahl: 223
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Copyright © 2020 Picus Verlag Ges.m.b.H., Wien
Alle Rechte vorbehalten
Grafische Gestaltung: Dorothea Löcker, Wien
Umschlagabbildung: IMAGNO/Votava
ISBN 978-3-7117-2096-2
eISBN 978-3-7117-5417-2
Informationen über das aktuelle Programmdes Picus Verlags und Veranstaltungen unterwww.picus.at
Michael Frank, 1947 in Oberbayern geboren, ist über die Deutsche Journalistenschule in München zu seiner Profession und später zur »Süddeutschen Zeitung« gekommen, für die er als Nachrichtenredakteur, als Kritiker und Berichterstatter unter anderem über Entwicklungspolitik gearbeitet hat. Das alte, engere Mitteleuropa erschloss sich ihm als eine der Schicksalsregionen des Kontinents, die er von 1986 bis 2012 als Auslandskorrespondent beobachtete, wechselweise mit Sitz in Prag und Wien. Er wurde mit dem Joseph-Roth-Preis und der Goldenen Feder für deutsch-tschechische Verständigung ausgezeichnet. Im Picus Verlag erschien 2003 »Alles Wien. Stadtansichten«.
Michael Frank
Roman
Picus Verlag Wien
Herr Neudegger, der immerfort sägte, oblag neben dem Sägen noch einer anderen Leidenschaft: dem Messen. Herr Neudegger maß winters die Schneedecke und die Eisschicht, er maß sommers die Humuslage im Garten, er maß das natürliche Wachstum der Staubschicht auf dem Dachboden, er maß die Rußablagerungen im Ofen, im Kamin und auf dem Schnee ringsum, Herr Neudegger maß Baumrinden und Getreidehalme, er vermaß Ameisenstraßen und Spinnennetze, die Dichte des Mooses und die Zähigkeit des frischen Honigs. Herr Neudegger vermaß sogar mehrmals jährlich den Abstand zwischen den Gipfeln der Nördlichen Karwendelkette, auf die man vom Schmalensee aus immerwährend blickte, weil sie die weiten Buckelwiesen einrahmte mit ihren schroffen Wänden, er hatte sogar eine Gerätschaft dafür hinter der Holzlege errichtet, hatte einen sogenannten Franzosen auf ein Holzgestell vor ein Brennglas montiert, um von Zeit zu Zeit den Durchmesser von Sonne und Mond zu überprüfen und die Distanz der Tiroler Berge zum Wetterstein und umgekehrt.
Der Mann war ziemlich klein mit einem kugelrunden, wie gedrechselten Kopf mit glatten schwarzen kurzen Haaren, die sich so an den Kopf schmiegten, dass sie ihn noch runder machten, und er vertrat die These, alles in der Welt werde größer, weiter, dicker, mehr. Ja, größer, mehr, dicker, was schon groß und dick sei; kleiner, kürzer, zarter, was zart und zurückhaltend sei, aber das komme viel seltener vor als das Längerwerden und Anwachsen. Abstände würden weiter, Schichten stärker, Spalten breiter, ja, alles, die belebte Natur sowieso, wie zum Beispiel seine drei halbwüchsigen Kinder, die auch viel aufgeschossener waren als er, aber auch viel vorlauter und frecher, als er es selbst als Kind je zu sein gewagt hätte. Aber sogar die unbelebte Natur bewege sich in die Länge und Breite und Höhe, selbst die Gestirne und natürlich die Grate und Zinnen des Karwendels wüchsen heimlich und zögen sich auseinander, zu Zeiten natürlich, da man es nicht vermute, unmerklich stets, aber unbestreitbar, er hatte es ja nachgemessen.
Kaum der Rede wert, dass Herr Neudegger natürlich auch Dinge maß, die andere auch messen, die sogar massenhaft gemessen werden, gezielt und von Amts wegen, Sonnenstunden, Regenzeiten, Niederschläge, Temperaturen. Als wir Kinder in der noch kaum grauenden Dämmerfrühe an Herrn Neudeggers Haus vorbeikamen, einem Haus, das einmal eine Baracke des Reichsarbeitsdienstes gewesen war wie das unsere auch, das sich unter Herrn Neudeggers unablässigem Sägen und Nageln und Sägen und Nageln wundersam verwandelt hatte und noch immer wandelte, an diesem Morgen also stand Herr Neudegger vor seinem Haus und berichtete uns, denen er als den Ersten berichten konnte, wenn wir auf dem Schulweg vorbeikamen vor allen anderen im Dorf, die sich viel später erst sehen ließen, mussten sie ja nicht die Fünfviertelstunden zu Fuß ins Städtchen, da berichtete er uns also als den Ersten von seinem neuesten Triumph, nein, er schrie tonlos leise: zweiundvierzig Grad! Unten am Schmalensee habe er an diesem Morgen vor kaum einer Viertelstunde zweiundvierzig Grad unter dem Gefrierpunkt gemessen, zweiundvierzig Grad, er hauchte die Zahl, als wollte er sie mit seinem Atemdampf in die eisige Luft schreiben, als wäre die Ungeheuerlichkeit dieser Mitteilung hingeatmet noch viel ungeheuerlicher, als wenn er sie hinaustrompetet hätte.
Es war so kalt, dass uns Herrn Neudeggers triumphaler Beweis dafür, dass immer alles älter, wärmer, kälter werde, so auch hier, wo man schon einmal achtunddreißig Grad, sogar vierzig gemessen hatte, nie und nimmer aber zweiundvierzig Grad, dass also auch der Schmalensee, der eigentlich ein für die Gebirgswelt warmer Moorsee war, im Winter immer kälter werde und die Luft über ihm naturgemäß auch, diesen Beweis, diesen Weltbeweis vermochten wir gerade jetzt nicht zu würdigen, denn uns war so kalt, dass wir keinen Unterschied mehr zu spüren vermochten zwischen dreißig oder vierzig Grad, was machten da drei Grad mehr, oder fünf, oder fünfzehn, wir hätten nur wie verrückt weitergefroren, stapften, ohne Herrn Neudegger für seine epochale Mitteilung mit dem rechten Erstaunen zu lohnen, durch den schon fast gläsern knirschenden Schnee der Straße zu, am Seeufer vorbei, zweiundvierzig Grad, hin zur fernen Schule, die uns an solchen frühen Tagen noch entrückter, noch sinnloser, noch verwunschener erschien, als sie uns ohnehin schon vorkam, wenn wir nur an den langen Weg dachten. Und es ziepte so an den Augenlidern, wenn die Wimpern, immer leicht feucht, an solchen Frühtagen zusammenfroren und wir zu tun hatten, die Augen offen zu halten, buchstäblich.
Ob Herrn Neudeggers Messung etwas mit dem Abend zu tun gehabt haben könnte, an dem wir alle Prügel bekamen, man alle Kinder vom Schmalensee den Rohrstock schmecken ließ, den Teppichklopfer, den Handbesen, den Schürhaken, ganz nach dem Temperament oder dem erzieherischen Impetus der Eltern? Oder bei uns zu Hause den Rohling für den Stimmstock, wie Vater ihn in die Fideln einbaute, ein geheimnisvolles Hölzchen, das als Einziges nie verleimt oder sonst wie befestigt, sondern nur geklemmt wurde, ohne das die ganze Fidel nichts gewesen wäre, nicht geklungen hätte, das, war es einmal umgefallen, der Vater vor Konzentration und Anstrengung unglaubliche Grimassen schneidend mit dem merkwürdig wie ein Kleeblatt geformten Metallbesteck durch die schmalen Schalllöcher hindurch wieder aufzustellen suchte, was immer gelang, wenn auch nach mehreren vergeblichen Versuchen, und was immer ein großer Sieg war. Und diese runden, langen Rohlinge, von denen für die Stimmstöcke einfach abgeschnitten wurde, bissen auf dem Hintern wie eine Weidenrute oder wie Bambus, natürlich die für die Bassinstrumente oder wenigstens den Tenor, denn der dünne Diskant wäre sofort zerbrochen. Aber auch die dickeren brachen zum Glück leicht. Auch kam mit Bedacht kein Fidelbogenholz infrage, denn wenn das brach, war das Stück perdu, was immer eine Katastrophe war, denn alles, auch das Kleinste, was zu Hause kaputtging oder unbrauchbar wurde, war immer eine Katastrophe, zumindest schien es uns so, denn die Eltern machten dann Gesichter, die, ohne dass sie je jammerten, Sorgen von vier harten Wintern ausstrahlten und mir so kalt machten, dass ich am liebsten reiche Eltern gehabt hätte, nur um diese Sorgengesichter nicht sehen zu müssen.
Dass wir einer demonstrativen Strafaktion unterzogen wurden, war also dieses Mal nirgendwo dem Zufall oder dem spontanen Zorn überlassen, denn wir bekamen allesamt Schläge, auch die Kinder in den Häusern, in denen nie geschlagen wurde, nicht einmal der Hund oder die Hausfrau, also auch in diesen Häusern setzte es Prügel, für alle, auch für jene wenigen, die gar nicht dabei gewesen waren – man kann ja nie wissen, wozu es nützt, wovor es schützt –, auch dort lag diesmal schon ein Strafinstrument bereit, wurde eine Art Gerichtshof einberufen, der kurzum den Schuldspruch fällte, sofortige Exekution anordnete und die Züchtigung auch gleich selbst vornahm.
Unsere Reihe war lang, wie viele von uns acht Geschwistern wirklich dabei waren, vermag sich keiner zu erinnern, jedenfalls wir »drei Kleinen«, wie man uns immer nannte, wir waren es diesmal sicher nicht allein, selbst Reinhard, der große Bruder, der mir schon immer erwachsen vorgekommen war, seit ich mich seiner erinnerte, bekam diesmal etwas ab, wie es das vorher nie gegeben hatte und auch nachher nie mehr. Er müsse uns ja wohl nicht erklären, worum es ginge, sagte der Vater dunkel umwölkt. Und dass es ganz ernst war, erkannte ich an den Kiefermuskeln, denn wenn Vater auch immer den Schein des Unbewegten zu wahren suchte, so fielen die leisen, aber unübersehbaren Zeichen seines Grimms umso bedrohlicher aus, wenn er die schwarzen Augenbrauen zusammenzog und sich, wie finstere Vorboten ungehemmt ausbrechender Gewalt, die Schläfen spannten und die Kiefermuskeln unter der Haut so wild spielten, dass sie sogar unter dem großen dunklen Vollbart sichtbar wurden. Dass es ganz ernst war, diese Ahnung kroch kalt den Rücken herauf, weil Mutter diesmal besorgten Blickes still danebenstand und nicht, als Vater zu den ersten Streichen ausholte, wie sonst mit zwei Worten, ihren zwei Zauberworten, die Bedrohlichkeiten zerstreute, den Vulkan im Vater löschte, einfach ausblies, indem sie »… aber Karl!« sagte. Leise sagte sie das, beschwörend, bestimmt, weniger begütigend als zurechtweisend, vielleicht ihrerseits Bedrohlichkeit ausströmend, aber nicht für uns, eher für Vater, zumindest musste er es so verspüren, denn noch nie hatte er und würde er auf so ein »… aber Karl!« hin noch irgendeine Feindseligkeit uns Kindern gegenüber fortgesetzt oder zu Ende geführt haben. Nein, sein Kiefermuskelspiel schwoll dann immer auf Kürze noch an, verebbte aber allmählich, der unmittelbare Ausbruch schien meist abgewendet, manchmal so besänftigt, dass das Beben im angstvollen Schweigen des großen Vierecks des Familientischs versickerte, ein quälendes Schweigen, das für sich schon Strafe genug gewesen wäre, wofür auch immer. Oder die untergründig tobende Wut mündete wenigstens in eine mildere Variante familiärer Sanktion, die zumeist aus einer vom Delinquenten selbst zu vollführenden Drohgebärde äußersten Gewichts bestand, nämlich dass der Hauptübeltäter in die Werkstatt entsandt wurde, um von dort das allfällige Züchtigungsinstrument selbst mitzubringen, meist doch ein Fidelbogenholz, woran wir den Symbolcharakter der Drohung erkannten, oder in schlimmeren Fällen den geschilderten Stimmstockrohling, was derartiges Entsetzen verbreitete, oft schon allein zu Tränen unter Beteiligten und Unbeteiligten führte, was schon so viel Strafe war, dass es zu Tätlichkeiten eigentlich fast nie mehr kommen musste, oder sagen wir besser, nur sehr selten kam, und dann nicht mit dem Stimmstock, der ja doch nur als Drohung taugte, nicht aber als Züchtigungsinstrument, dafür war er viel zu brüchig, was den Schrecken dennoch nicht milderte. Eine gefährliche Gratwanderung übrigens, denn Geheule pflegte den Ingrimm des Patriarchen noch anzufachen. Diesmal aber stand Mutter, die den ohnehin sehr seltenen Züchtigungen, sofern sie nicht selbst spontan den Handbesen benutzte, grundsätzlich fernblieb, schweigend mit beinah unbewegter feierlicher Miene daneben und sagte nichts.
Ich wusste natürlich überhaupt nicht, worum es ging, bekam auch knappe, lässliche Streiche ab, eher symbolisch, während ich den älteren Geschwistern anmerkte, wie wenig sie die Hiebe selbst schmerzten, wie viel mehr dafür die Demütigung, in ihrem Alter noch Prügel zu beziehen, oder überhaupt, denn ich war mir sicher, noch nie beobachtet zu haben, dass etwa Reinhard oder Barbara, die mir ja, wie gesagt, schon immer erwachsen vorgekommen waren, überhaupt je etwas abbekommen hätten.
Ich hatte bis dahin gerade zweimal etwas abbekommen, ich glaubte mich, der ich mich bis heute an jede dieser Gelegenheiten minutiös erinnere, in dieser Stunde der Exekution genau an meine beiden einzigen vorherigen Hinrichtungen zu erinnern, von denen eine wie ein Donnerschlag aus heiterem Himmel gekommen war, während sich die andere auf unheilvolle und zugleich lustvolle Weise angekündigt hatte, gleichsam unausweichlich über mich gekommen war.
Das eine Mal, ich war vielleicht drei Jahre alt, waren es vier Ohrfeigen in blitzschneller Folge, zwei rechts, zwei links, die mich in die Zimmerecke schleuderten, in der ich völlig benommen aus meinen seligen Träumen erwachte, die mich in diese Lage gebracht hatten, so benommen, dass ich nicht einmal losheulte, wie man mir später berichtete. Ich hatte, winzig wie ich war, auf dem winzigen Schemel gesessen und mit einem winzigen Instrument, einer Nagelfeile vielleicht, in die schöne schwarze Holztafel neben mir winzige Ornamente zu graben begonnen, die sich so schön abhoben, weil, wenn ich grub und bohrte, der weiße Holzgrund aus der schwarzen Fläche hervortrat, so schön, wie ich das noch nie vorher gesehen hatte. Die schöne schwarze Holztafel war aber eine Wand des Bücherschranks gewesen, und Bücher waren zu Hause etwas ungemein Feierliches, etwas Heiliges und Ungeheuerliches, für Mutter, wie mir schien, manchmal die einzige Labe, die letzte Zuflucht vor der totalen Erschöpfung, und für Vater großer Stolz, so wie vielleicht der Herr Kämmer stolz auf sein Auto war, einen Volkswagen, das einzige weit und breit, weshalb der Bücherschrank naturgemäß ein edles, ja ein gebenedeites Gefäß war, so heilig wie der Tabernakel in der Kirche. Auch war er wahrscheinlich das einzige einigermaßen ansehnliche Stück unter all unseren Möbeln im Barackstil, wie die älteren Geschwister sagten, wiewohl sehr einfach, gerade und kantig, aber ein durchaus eleganter Kasten mit zwei Glasschiebescheiben, in den Kerben zu schnitzen wohl so viel bedeutete, wie die Bücher selbst zu zerschneiden.
Das andere Mal quoll das Unheil aus mir heraus in angstvoller Wollust, indem ich ums Haus, die Baracke, schritt, gravitätisch, ganz auf mich konzentriert, ungestört, allein. Das Haus war abgeschlossen, und warum ich allein, die Tür zu und niemand in Reich- oder Rufweite war, weiß niemand mehr, ich damals wusste es auch nicht, wusste nicht, dass ich vielleicht hätte die Hosen herunterlassen können oder sonst eine Gegenmaßnahme treffen, so wie ich merkwürdigerweise lange Zeit die einfachsten Dinge des Lebens nicht wusste. Es war wohl so, dass das Ereignis unausweichlich seinen Lauf nehmen musste, als ich erkannt hatte, dass das Klosett im Hause unerreichbar wäre und mir keine andere Möglichkeit eingefallen war, oder auch nur gedanklich zur Verfügung gestanden hätte, meiner Erleichterung auf konventionellere Weise dienlich zu sein. Es quoll weich und warm aus mir heraus und hüllte mich von hinten ein in unnachahmlicher Liebkosung, wie ich sie nie gekannt hatte und später kaum mehr erlebt habe, bis mir, Erleichterung verschafft, die Hose voll und nach Augenblicken der wärmenden Glückseligkeit die Angst nackt und furchtbar war. Einer anderen Gelegenheit, dass ich in die Hosen gemacht hätte, entsinne ich mich nicht, nur dieser verwegen lustvollen, die erst durch eine umständliche rituelle Reinigung und dann mit einer umständlichen rituellen Tracht Prügel geahndet wurde, zu der ich, frisch gewaschen, mit dem Handtuch um die Schultern wie ein römischer Triumphator hatte antreten müssen, oder vielmehr wie ein armer Christ, um in der Arena von einem blindwütigen Gladiator abgeschlachtet zu werden. Was die volle Hose so verwerflich hatte machen können, war mir nie aufgegangen, war ich doch einer, der des Öfteren nächtens ins Bett pieselte, was immer ein nasskaltes Erwachen von den bepissten Laken und vom Angstschweiß war, was aber von Vater unter heftigstem Spiel der Kiefermuskeln schweigend hingenommen wurde und von Mutter mit stiller Resignation, zumal wenn, was nie gut roch, im Winter die Leintücher über dem Ofen im Wohnzimmer als dem einzigen stets geheizten Ort im Hause zum Trocknen aufgehängt werden mussten, weil sie draußen sofort im Frost steifgefroren wären.
Das hätte zu schwereren Verlusten an kostbarer Wäsche führen können, denn wenn man mit den durch plötzliche Kälte gefrorenen Textilien unbeholfen umging, brachen sie in den Händen wie Pappe, verloren Hemden Ärmel und Kragen und waren nur mehr als Putzlumpen zu brauchen. Um die Eiswäsche zu retten, war es nur der Mutter gestattet, sie von der Leine zu nehmen, wir durften sie uns allenfalls auf die ausgestreckten Arme stapeln lassen, um sie hineinzutragen, wie man sonst die Holzscheite, die einem jemand auf die Arme gestapelt hatte, zum Herd hineintrug, nur viel vorsichtiger, und dass die Frostlaken viel leichter waren.
Ich habe immer Nachthemden geliebt, lange Nachthemden, dicke Nachthemden, nicht weil ich gefroren hätte, im Gegenteil, mir war nicht selten zu warm, ich schwitzte eher, als dass mich fröstelte, dennoch waren mir die dicken Nachthemden die liebsten, wohl auch, weil man in ihnen, wenn man schon schwitzen musste, nicht so feucht lag, weil das dicke Flanell alles aufsaugte. Kurze Nachthemden habe ich immer gehasst, nicht nur weil sie sich immer hochrollen und den halben Menschen bloßlegen, sondern weil sie immer das Symbol für besonders harten, ja gefährlichen Frost waren, denn als irgendwann einmal mein Kindernachthemd unten abgeschnitten wurde, wohl weil es zerschlissen oder sonst wie untragbar geworden war, verband ich das damit, dass es nach dem Waschen draußen im strengen Frost zerbrochen sei, weil jemand, den ich nie erriet und dem ich nie etwas nachweisen konnte, absichtlich unachtsam damit umgegangen wäre, natürlich deshalb, weil ich gerade dieses Hemd so liebte.
Der Vorfall mit dem Abschneiden muss eine Maiangelegenheit gewesen sein, was sich unabweislich daraus ergibt, dass ich als scheinheiligen Trost für die grausame Verkürzung des Nachthemds einen winzigen Schokoladenmaikäfer bekam, denn ich muss gemault, gejammert, ja vielleicht sogar erbärmlich geheult haben, was ich ganz selten tat, und so kam einer dieser Schokoladenkrabbler zum Vorschein, die es sonst nie gab, die es allenfalls zu ganz großen Anlässen gab, wenn etwa Tante Dora zu Besuch kam, die gar keine wirkliche Tante war, aber der einzige Besuch, der sich weigerte, Mutters striktes Süßigkeitenverbot zu befolgen, zu dem hinter unserem Rücken alle Besucher so dringlich wie heimlich angehalten wurden. Wenn es gar Himbeerbonbons gab, dann färbten wir uns die Lippen mit dem Süßzeug, machten eine spitze Schnute und spielten »feine Dame«, indem wir das Gehen mit Stöckelschuhen simulierten. Also so ein Krabbelschokotier aus Tante Doras verborgenen Süßigkeitenschätzen sollte mich über mein Unglück hinwegtrösten, im Mai offensichtlich, in einer lindgrünen Zeit mit Sonne, deren Nächte in dieser Höhe im Gebirge aber noch so kalt sein konnten, dass die dicken Nachthemden selbst der sonst um unsere Gesundheit wenig ängstlichen Mutter noch immer angezeigt schienen. Trotzdem blieb ich dabei, dass mein Nachthemd im Frost mutwillig zerbrochen worden sei, was, einmal die Mutwilligkeit ausgenommen, wirklich so gewesen sein kann, denn oft lag an den herrlichsten Maitagen noch in der Sonnenfrühe als klarer Gruß der Gebirgsnacht Eis auf den Pfützen und auch auf der Lache in der Zinkwanne, die um diese Zeit schon als unseren Verhältnissen angemessenes Freibad im Garten unter dem großen Wasserhahn stand, der auf seinem langen, dünnen Rohr einfach aus der Wiese ragte.
Mutter stand also da, sah blass und ernst aus und war offenbar durch nichts zu dem erlösenden »… aber Karl!« zu bewegen. Sie sagte diese Worte selten, hatte wohl ihren impulsiven Gatten, in dem Geysire der Wut in Sekundenbruchteilen aufbrausen konnten, im Laufe des gemeinsamen Lebens mit der Kraft impertinenter Sanftmut gut gezähmt. Ein Leben, das ja ein Ausbund von Harmonie und edlem Verständnis hatte sein sollen, das vieles davon zeitweilig vielleicht sogar war, und wenn nicht wirklich, so doch gut und edel aussehen sollte, ja, zu gut und zu edel gespielt wurde, derart, dass wir Kinder unsere Eltern nie haben streiten sehen, nie einen heftigen Wortwechsel erlebten, nie vor uns auch nur Meinungsverschiedenheiten angesprochen, geschweige denn ausgetragen worden wären, sodass dieses »… aber Karl!« den absoluten Höhepunkt aller denkbaren Konfrontation abgab. Das muss auch ein wirkliches Kräftemessen gewesen sein, in dem Mutter Vater so zu zügeln gewusst hatte, dass meistens, war sie anwesend, die cholerischen Anfälle direkt in die Kiefermuskeln mündeten, dass sie sich ohne tobende Umwege im Spiel der Gesichtsmuskulatur eines nach außen scheinbar ungerührten Gesichts auslebten.
War sie nicht da, so konnte es gehen wie mit dem Dreirad, um das sich drei der Älteren so lange rauften, bis der Vater den Streitfall dadurch bereinigte, dass er das herrliche und einzige gemeinsame Spielgerät der Kinder ergriff, in der Holzlege auf den Hackstock stellte und mit der riesigen Arbeitsdienstaxt zertrümmerte. Dieser Axt, mit der man ohne Weiteres halbe Baumstämme spalten konnte, dieser Weltenrächeraxt fiel irgendwann einmal eben der Urteilsspruch wegen der Verfügungsstreitigkeiten über das große Schaukelpferd anheim, das mehr als drei Reiter einfach nicht aufzunehmen vermochte. Ein Richtspruch, der sich nach drei gewaltigen Streichen in einem armseligen Haufen gesplitterten Holzes niederschlug.
Wie groß die Wut war und welche Kräfte sie verlieh, erkannten wir erbebend an dem Kartenspiel, das nach Vaters Ordnungsvorstellungen von uns entschieden zu unachtsam gehandhabt wurde, das, obwohl nur wenige Tage neu, schon Eselsohren und andere Spuren ungestümen Spiels aufwies, was besonders vom »rasenden Knatterton« kam, einem Spiel, bei dem es auf die Blättergeschwindigkeit ankam und das eigentlich »rasender Teufel« hieß, was aber unsere ungemein fromme Schwester Gertrud wie eine böse Beschwörung in der Seele schmerzte, was wiederum Mutter gefiel, die auch ungern hörte, wenn des Teufels Namen von uns oder anderen im Munde geführt wurde. Barbara schlug ersatzweise den »Knatterton« vor, der ihr so gefiel, weil sie heimlich in einer illustrierten Zeitung die Zeichenbildergeschichten von Nick Knatterton gelesen hatte, dem rasenden Detektiv, was eigentlich strengstens verboten war, denn Comiclesen war Sünde zu Hause. Aber als Barbara den Comichelden Nick Knatterton vorschlug, um dem Teufel ein Schnippchen zu schlagen, merkten die Eltern gar nichts, was bewies, dass sie das, was sie uns verboten hatten, selbst nie angeschaut haben.
Dieses herrliche bayerische Blatt mit Schellen statt Karo und Gras statt Pik und Eicheln statt Kreuz raffte Vater nach ein paar knirschenden Ermahnungen plötzlich mitten im Spiel zusammen und zerriss es mit einem Griff in einem Stapel, so wie der berühmte Graf Luckner die Telefonbücher zerrissen hat, weswegen er ein weltberühmter Seeheld wurde, was ein normaler Mensch gar nicht kann, schon gar nicht auf einmal ein Kartenspiel zerreißen. Der Vater tat es. Dann kam es in den Ofen. So hat man mir das eigentlich nie geglaubt. Wenn ich anderen Leuten erzählte, mein Vater hätte in einem Streich ein Kartenspiel zerrissen, meinten alle, ich wollte nur damit angeben, wie stark mein Vater sei, dabei wollte ich nur seine Wut erklären, denn was das für ein Kraftakt gewesen war, ist mir erst viel später bewusst geworden, so wie mir die wahre Größe des Grafen Luckner lange Zeit ein Rätsel geblieben ist.
Dass Vater ein starker Mann war, wussten wir nicht nur, weil er der Vater war und damit der Stärkste, stärker als die meisten, wenn nicht der stärkste Mensch, den es gab auf der Welt. Ganz sicher war er viel stärker als Herr Neudegger oder Herr Kunzmann oder dessen rotzfrecher Sohn, den wir Kunse nannten, der schon deshalb viel stärker war als ich, weil er viel älter und größer war. Vater war auch stärker als der Schandl Paul, der schon sehr stark war, der Stärkste sicherlich, wenn der Vater nicht gewesen wäre. Aber das half Vater nichts, als dem Schandl Paul seine Wiese zu klein wurde, die rings um unser Haus lag, weil dem Schandl Paul, dem »nodigen Krippe«, so sagten die Leute, was so viel heißt wie »geiziger Krüppel«, neben der Wiese ums Haus auch das Haus selbst und der Garten gehörte. Drum meinte er irgendwann, seine Viecher hätten zu wenig Heu im Winter und er brauche unseren Garten zu seiner Wiese dazu, damit er noch mehr Heu machen könne. Und so nahm der Vater die riesige Axt und hieb die großen Balken um, die wie ein mächtiger Galgen mitten in unserem Garten standen und die Schaukel trugen, die schönste Schaukel der Welt, weil man mit ihr alles, den Bach, den Schandl-Stadel und den Karrner-Stadel, sogar den Bahndamm anders und besser sah als sonst, wenn man ganz hoch schaukelte. Wenn man am höchsten schaukelte, dann konnte man über dem Bahndamm sogar den großen Baum sehen, die fünfstämmige gewaltige Kiefer, die man sonst nicht sehen konnte und von der Mutter sagte, dass sie den alten Heiden bestimmt schon als heiliger Baum gegolten habe und sie sich unter ihr versammelt hätten, um wichtige und heilige Dinge zu besprechen. Wir bestiegen den geduldigen fünfarmigen Riesen unentwegt und befehligten von dort aus Germanenheere und Indianerstämme, und die erste heilige und wichtige Sache, die ich unter dem großen Baum lernte, war die, ganz ruhig und harmlos, als schliefe man, auf dem Rücken zu liegen und zu warten, bis die Mädchen vorbeikämen, denn wenn die Mädchen über einem vorbeigingen, könne man ihnen unter den Rock schauen. Mein Lerneifer hielt sich in Grenzen, weil mir nicht klar wurde, warum man den Mädchen unter den Rock schauen sollte, sogar musste, weil das offenbar etwas ganz Wichtiges, ja das Tollste überhaupt war, wie uns der Kunse zu versichern verstand, was die anderen vielleicht begriffen, ich jedenfalls nicht. Die Mädchen ihrerseits hielten das offenbar für ein ganz gefährliches Spiel, denn zumindest wenn der Kunse dabei war, achteten sie peinlich darauf, dass ihnen niemand unter den Rock schielen konnte, und wenn, wurden sie ganz böse.
Den großen Baum also konnte man sehen, wenn man ganz hoch schaukelte, und wer am allerhöchsten schaukelte, der konnte vom Gerberkreuz an der Westlichen Karwendelspitze vorbei über die Viererspitze hinweg bis zum Wörner schaukeln und zurück, und die Karwendelspitze hatte immerhin zweitausenddreihundert Meter über dem Meeresspiegel, was man aber nicht sagen durfte, denn dann geriet der auf Maße und Gewichte versessene Herr Neudegger außer sich und schrie, das heiße nicht über dem Meeresspiegel, sondern über Normalnull. Diese wunderbarste aller Schaukeln, mit der sogar ich, der Kleinste, wenn ich ganz mutig war, den großen Baum sehen und über die Viererspitze hinwegschaukeln konnte, die musste der Vater umhacken, weil dem Schandl Paul seine Viecher nicht genug Heu zu fressen bekamen im Winter. Immer wenn Vater mit der Axt ins Holz hieb, rief er keuchend »Grüß Gott, Herr Huber«, was sonst sein aufmunternder Arbeitsruf war, diesmal aber war es ein Fluch, als wollte er dem Schandl Paul den Kopf abschlagen, der einen Galgen mit einer Schaukel für acht Kinder umlegen ließ, mit der man nicht nur den großen Baum sehen und über die Viererspitze schaukeln konnte, sondern die so stabil war, dass sogar der Vater selbst, von dem alle sagten, dass er ungeheuer schwere Knochen hätte, darauf ganz hoch schaukeln konnte, mit jemandem von uns auf den Knien, so fest, so stark war sie. Mit Vater zu schaukeln, das waren selige Momente, das waren Augenblicke kühner Geborgenheit, in denen das Abenteuer sich mit absoluter, unumstößlicher Sicherheit verband, denn auf Vaters Knien ruhte man fraglos noch unangreifbarer als in Abrahams Schoß, auch wenn man noch höher kam als der ganze Karwendel. Wenn er uns in bestgelaunten Momenten in die Luft warf, war das das Gegenteil, denn wir fürchteten uns, so durch die Luft zu fliegen, auch wenn es keine Zweifel gab, dass der Vater uns sicher auffinge, so war das doch ein zu luftiges Abenteuer, das uns äußerste Beherrschung abverlangte, denn hätten wir zu heulen angefangen, wonach uns bei dieser Prozedur durchaus gewesen wäre, dann hätten wir Vaters beste Laune in tiefe Enttäuschung getaucht über die Verzagtheit seiner Brut, der er doch zeitlebens gerne genauso viel Kühnheit zugetraut hätte wie sich selbst.