Schmales Gewässer, gefährliche Strömung - Stephan Thome - E-Book

Schmales Gewässer, gefährliche Strömung E-Book

Stephan Thome

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Beschreibung

Man vereinfacht die Dinge tatsächlich nur ein kleines bisschen, wenn man sie so zusammenfasst: Alles hängt an Taiwan.

Es ist ein Konflikt, der die Welt in Atem hält: Die kommunistische Führung in Peking betrachtet Taiwan als »abtrünnige Provinz«, die mit dem Mutterland vereinigt werden muss. Taipeh wiederum will seine faktische Unabhängigkeit und die hart erkämpfte Demokratie bewahren. Als führender Chip-Hersteller und aufgrund seiner Lage im westlichen Pazifik besitzt der Inselstaat zudem eine enorme Bedeutung für die Rivalität zwischen der Volksrepublik China und den USA. Nirgendwo ist eine direkte Konfrontation der beiden Supermächte wahrscheinlicher als in der Taiwanstraße.

Stephan Thome, einer der besten deutschen Taiwan-Kenner, beleuchtet in seinem hochaktuellen Buch die Hintergründe dieses Konflikts, die in der medialen Berichterstattung meist zu kurz kommen. Er zeigt, warum Taiwans Geografie so wichtig ist und was aus ihr für eine mögliche militärische Auseinandersetzung folgt. In großen historischen Bögen erläutert er, wie Chinas Selbstverständnis als alte und neue Weltmacht, aber auch die amerikanische Bündnispolitik im Pazifik zur heutigen Situation beigetragen haben. Der Kampf um Taiwan hat längst begonnen und betrifft uns in Europa viel stärker, als wir glauben.

»Ich will Leserinnen und Lesern helfen, den Konflikt in der Taiwanstraße besser zu verstehen ... Die aktuellen Spannungen resultieren aus historischen Entwicklungen, politischen Interessen und nationalen Pathologien, die in Deutschland nur zum Teil als bekannt gelten dürfen. Sie offenzulegen, ist das Hauptanliegen meines Buches.«

»Eines der wichtigsten politischen Bücher unserer Tage.« Jürgen Osterhammel, Historiker

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Cover

Titel

3Stephan Thome

Schmales Gewässer, gefährliche Strömung

Über den Konflikt in der Taiwanstraße

Suhrkamp

Impressum

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eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2024

Der vorliegende Text folgt der Erstausgabe, 2024

© Suhrkamp Verlag AG, Berlin, 2024

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Umschlaggestaltung: Rothfos & Gabler, Hamburg

eISBN 978-3-518-78046-6

www.suhrkamp.de

Widmung

Für Knut Dethlefsen,dreißig Jahre nach unserem ersten gemeinsamen Chinesischkurs

Übersicht

Cover

Titel

Impressum

Widmung

Inhalt

Informationen zum Buch

Inhalt

Cover

Titel

Impressum

Widmung

Inhalt

Karte

Einleitung: Zwei Konflikte, drei Akteure

1

Schmales Gewässer: Von der Geographie zur Strategie

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Chinas militärische Optionen und ihre Probleme

Wendepunkte: Drei historische Skizzen

1945

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1950

Vom Ende des Pazifikkriegs zum Beginn des Koreakriegs

1972

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1979

Vom Durchbruch in China zum Abbruch in Taiwan

1989

-

1996

Vom Schock zum Konsens zur Krise

3

Gefährliche Strömung: Chinas wachsende Konfliktbereitschaft

4

Kann sich Taiwan verteidigen? Was werden die

USA

tun?

Nationalismus: Zwei sich ausschließende Narrative

Das Narrativ des großchinesischen Nationalismus

Das Narrativ des neuen taiwanischen Nationalismus

Wo bereits gekämpft wird: Drei aktuelle Beispiele

Öffentlichkeit: Taiwans Kampf gegen Desinformationen und Fake News

Diplomatie: Chinas Kampf gegen Taiwans internationale Sichtbarkeit

Halbleiter: Der Kampf um die Zukunft

5

Abschreckung: Das komplizierte Zusammenspiel von Angst und Zeit

6

Gibt es Hinweise auf Chinas kriegerische Absichten?

Fazit mit Blick nach vorn: Deutschland, die

EU

und das Ticken der Uhren

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Anmerkungen

Dank

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Einleitung: Zwei Konflikte, drei Akteure

Der Entschluss, dieses Buch zu schreiben, fiel im Frühjahr 2022. Nach Russlands Überfall auf die Ukraine war in internationalen Medien plötzlich auffallend oft von meiner Wahlheimat Taiwan die Rede, und auch dort kursierten auf einmal Slogans wie »Heute die Ukraine, morgen Taiwan«. Die auf den ersten Blick ähnliche Konstellation zweier Demokratien, deren Existenzrecht von einer benachbarten Autokratie nicht anerkannt wird, weckte offenbar alte und neue Ängste. Hatten die beiden Staatschefs Wladimir Putin und Xi Jinping nicht gerade erst eine weitreichende strategische Partnerschaft verkündet? Dass sich die Volksrepublik China beharrlich weigerte, Russlands Invasion zu verurteilen, wurde als Hinweis auf ein geheim vereinbartes Quidproquo gedeutet: Pekings Unterstützung für den Krieg in der Ukraine gegen Moskaus spätere Hilfe bei einer Invasion der Insel Taiwan. Diese endlich mit dem Mutterland zu vereinen ist bekanntlich ein lange gehegter Traum der chinesischen Führung.

Ein halbes Jahr später schien es so weit zu sein. Auf den Taiwanbesuch der damaligen Sprecherin des US-Repräsentantenhauses Nancy Pelosi antwortete die Volksrepublik im August 2022 mit den umfangreichsten Militärmanövern, die das Land bisher in der Taiwanstraße durchgeführt hat. In großer Zahl überquerten chinesische Kampfflugzeuge und Schiffe die sogenannte Mittellinie, eine inoffizielle Grenze zwischen chinesischer und taiwanischer Seite. Nicht wenige ausländische Beobachterinnen und Beobachter äußerten die Befürchtung, dass ein Krieg um Taiwan – womöglich unter Beteiligung der USA – näher rücke und vielleicht bereits unausweichlich sei. Nach einer Woche wurden die Manöver zwar beendet, aber China kündigte an, fortan regelmäßige Militärübungen in der Taiwanstraße abzuhalten, ausdrücklich auch östlich der Mittellinie. Diese Vorgänge waren für mich der konkrete Anlass, die Arbeit am vorliegenden Buch zu beginnen.

Wenngleich die entscheidenden Anstöße also aus der jüngsten Zeit stammen, beschäftigt mich das schwierige Verhältnis zwischen China und Taiwan schon, seit ich beide Länder vor fast dreißig Jahren zum 10ersten Mal besucht habe. Im Sommer 1995 kam ich als Sprachstudent in die Millionenstadt Nanjing am Unterlauf des Yangzi, ohne Chinesisch zu sprechen oder über Geschichte und Kultur meines Gastlandes viel zu wissen. Staunend lief ich durch eine Stadt, in der überall rund um die Uhr gebaut wurde; sogar nachts im Bett spürte ich die beständige Vibration des Bodens. Seitdem ist Chinas wirtschaftlicher Aufstieg – ohne den es die aktuellen Spannungen so nicht gäbe – für mich kein abstraktes Konstrukt aus Wachstumsraten und Handelsbilanzen, sondern etwas, womit ich unauslöschliche Erinnerungen verbinde: an ein im Wortsinn aufgewühltes Land, so dicht eingehüllt in Dunst und Staub, dass ich die Sonne auch dann nicht sah, wenn sie schien.

Im ersten Semester erschien ich jeden Morgen zum Unterricht, im zweiten nahm ich mir die Freiheit, lieber auf Reisen zu gehen. Die Züge fuhren langsam – für die Strecke zwischen Peking und Shanghai benötigte man etwa fünfmal so viel Zeit wie heute –, brachten mich aber in jeden Winkel des Landes: Nach Yunnan an die Grenze zu Myanmar, nach Heilongjiang im äußersten Nordosten und im Frühjahr 1996 in die ganz im Süden gelegene Metropole Guangzhou, wo ich allerdings nur wenige Stunden blieb, ehe die Nachtfähre nach Hongkong ablegte. Mein eigentliches Ziel auf dieser Reiseetappe war Taiwan. Ein Freund aus Berlin studierte dort, aber mangels direkter Flugverbindungen konnte ich die Insel nur auf dem Umweg über die britische Kronkolonie erreichen.

Mein spärliches Wissen über China wurde von dem über Taiwan noch einmal deutlich unterboten. Offiziell hieß das Land Republik China und war eine junge Demokratie, die ersten freien Präsidentschaftswahlen lagen gerade einmal zwei Monate zurück. Dass die Volksrepublik darauf mit Militärmanövern geantwortet und Raketen in küstennahe taiwanische Gewässer gefeuert hatte, erklärte ich mir mit dem Bürgerkrieg, den Maos Kommunisten und die Nationalisten unter Chiang Kai-shek ein halbes Jahrhundert zuvor ausgefochten hatten. Nie durch einen Friedensvertrag oder Waffenstillstand beendet, war der Krieg in einen prekären, kalten Frieden übergegangen, denn damals wie heute betrachtete Peking die Insel als »abtrünnige Provinz«, die de jure der Souveränität der Volksrepublik unterstand.

11Angekommen in Taiwan, fand ich die Insel noch einmal ganz anders als sämtliche chinesischen Gegenden, die ich bis dahin bereist hatte: sichtlich wohlhabender, spürbar freier und irgendwie vertrauter. Statt wie ich in einem Wohnheim für Ausländer zu leben, das einheimische Kommilitonen nur nach Vorlage ihres Ausweises betreten durften, wohnte mein Freund in einem privat angemieteten Zimmer. Auf der Straße sah ich keine Propagandaslogans, in den Kinos liefen westliche Filme, es gab englischsprachige Tageszeitungen und ein Nachtleben, das sich von dem in deutschen Städten kaum unterschied. Gleichzeitig jedoch kam mir Taiwan viel chinesischer vor als die Volksrepublik: Überall stieß ich auf gut besuchte Tempel, in den meisten Geschäften stand ein Ahnenaltar, und im Palastmuseum am Stadtrand von Taipei konnte ich all die Kunstwerke bewundern, die ich kurz zuvor bei meinem Besuch in Pekings Verbotener Stadt vermisst hatte. Dem Bild, das ich mir vor meinem Studienjahr von China gemacht hatte, entsprach die Insel Taiwan viel eher als das im rapiden Umbruch begriffene Festland.

Seit diesem ersten Besuch bin ich dem auf der Spur, was beide Seiten der Taiwanstraße miteinander verbindet und was sie trennt. Taipei ist inzwischen mein Hauptwohnsitz, auf dem Festland habe ich auf ausgedehnten Reisen so gut wie alle Provinzen besucht, auch die ganz entlegenen wie Tibet und Xinjiang. Da mein taiwanischer Zungenschlag sofort verrät, wo ich lebe, sind mir im Lauf der Jahre unzählige Reaktionen auf das Stichwort »Taiwan« begegnet. Von kriegslüsternen Taxifahrern, die die Insel lieber heute als morgen »befreien« wollten, bis zu nachdenklichen Geschäftsleuten und Lehrerinnen, die in Taiwans demokratischer Entwicklung ein Vorbild für die Volksrepublik sahen, war alles darunter. Umgekehrt kenne ich in Taipei sowohl Menschen mit vielfältigen Verbindungen nach China als auch solche, die das verhasste Nachbarland niemals betreten würden. Was man auf Chinesisch liang an guanxi, »das Verhältnis beider Ufer« der Taiwanstraße, nennt, ist seit über siebzig Jahren eine äußerst komplizierte Geschichte.

In letzter Zeit allerdings nehmen die Spannungen spürbar zu. Die Volksrepublik China wird politisch, wirtschaftlich und militärisch 12immer mächtiger und tritt stets dann besonders aggressiv auf, wenn ihre territorialen Ansprüche betroffen sind. Xi Jinping scheint von dem Wunsch getrieben zu sein, als größter Staatsmann seit Mao in die Geschichte seines Landes einzugehen, was er nur auf einem Weg erreichen kann: indem er Taiwan der Herrschaft der Kommunistischen Partei unterwirft. Ab und zu betont er in Reden, dass die Lösung der Taiwanfrage nicht immer weiter von einer Generation auf die nächste abgeschoben werden dürfe. Sollte der 1953 geborene Xi die »Wiedervereinigung«, wie es im offiziellen Sprachgebrauch heißt, tatsächlich innerhalb seiner Regierungszeit anstreben – was man aus guten Gründen bezweifeln, aber keineswegs ausschließen kann –, wäre das verbleibende Zeitfenster sehr klein.

Hinzu kommt, dass nicht nur die Feindseligkeit zwischen beiden Ufern der Taiwanstraße zunimmt, sondern auch die zwischen beiden Ufern des Pazifiks. Wir haben es mit einem regionalen Konflikt zu tun, der im Zentrum eines viel größeren, letztlich globalen Spannungsfeldes liegt und sich um die Frage dreht, wer im 21. Jahrhundert die Ordnungsmacht Nummer eins im pazifischen Raum sein wird. Seit 1945 waren das die USA, dank eines dichten Netzes von Allianzen sind sie es auch gegenwärtig noch, aber das will Peking ändern. Wenngleich das ganze Ausmaß der chinesischen Ambitionen schwer abzuschätzen ist, vor der eigenen Haustür möchte das Land selbst zur bestimmenden Macht werden. Die Insel Taiwan aus der Kette der amerikanischen Verbündeten herauszulösen und dem eigenen Herrschaftsbereich einzuverleiben wäre der entscheidende Schritt der Wachablösung, den Peking unbedingt gehen und den Washington mit allen Mitteln verhindern will. Dass der sonst so sachliche Economist Taiwan bereits vor dem Besuch von Nancy Pelosi den »gefährlichsten Ort der Welt« genannt hat, mag nach journalistischer Sensationslust klingen, dennoch gilt: Nirgendwo auf der Welt ist eine direkte Konfrontation der beiden Supermächte wahrscheinlicher als hier.

Die naheliegende Frage, wie wahrscheinlich ein Krieg um Taiwan ist, wird die folgende Darstellung auf eher indirekte Weise leiten. Auch wenn ich meine Einschätzung im letzten Kapitel offenlegen werde, bleibt das eigentliche Ziel ein anderes: Ich will Leserinnen und Le13sern helfen, den Konflikt in der Taiwanstraße besser zu verstehen. Die Einschätzung von Eskalationspotenzial ist zwar wichtig, sich zu sehr darauf zu konzentrieren führt aber fast zwangsläufig zur Fokussierung auf den Worst Case und zu einer Verengung des Blicks auf militärische Szenarien. Tatsächlich resultieren die aktuellen Spannungen aus historischen Entwicklungen, politischen Interessen und nationalen Pathologien, die in Deutschland nur zum Teil als bekannt gelten dürften. Sie offenzulegen ist das Hauptanliegen meines Buches.

Auf seinen Kern reduziert, dreht sich der chinesisch-taiwanische Konflikt um die Frage, ob die Insel Taiwan zur Volksrepublik China gehört oder nicht. Das Regime in Peking erhebt einen Souveränitätsanspruch, dem sich Taipei nicht beugt, bzw. Taipei besteht auf einer Eigenständigkeit, die Peking nicht akzeptiert. Eine wesentliche Dynamik des Konflikts liegt in der Entwicklung einer dezidiert taiwanischen Identität, die im frühen 20. Jahrhundert zaghaft begonnen hat und sich nun, da die Insel eine Demokratie ist, deutlicher artikuliert und von immer größeren Teilen der Bevölkerung vertreten wird. Keine Frage, das Aufkommen dieses explizit nichtchinesischen Nationalgefühls hat die gefährliche Strömung in der Taiwanstraße deutlich verstärkt. Die andere Dynamik besteht in Chinas wachsenden militärischen Fähigkeiten, die eine gewaltsame Einnahme der Insel allmählich machbar erscheinen lassen. Aus dem Säbelrasseln eines rückständigen Landes sind die Drohungen eines Regimes geworden, das über zwar unerfahrene, aber hochmoderne Streitkräfte verfügt.

Diese Verschiebung wirkt zwangsläufig auf den chinesisch-amerikanischen Konflikt zurück. Erstaunlich spät haben die USA die größte Herausforderung für ihre globale Vormachtstellung erkannt, umso entschiedener versuchen sie seither, diese zu behaupten. Nachdem sie zum Frieden in der Taiwanstraße jahrzehntelang beigetragen haben, indem sie die eine Seite von militärischen Abenteuern und die andere von einer formalen Unabhängigkeitserklärung abhielten, verfolgen die Vereinigten Staaten in jüngster Zeit eine eindeutig gegen China gerichtete Agenda. Teile des politischen Betriebs bedienen sich, wenn es um die Volksrepublik geht, einer geradezu manichäischen Rhetorik. Die frühere US-Diplomatin Susan Shirk hat die Dynamik treffend 14beschrieben als Wechselspiel von overreach and overreaction: Peking übernimmt sich mit seinen zunehmend globalen Ambitionen und dem totalitären Machtanspruch, Washington überreagiert, wenn es jeden chinesischen Vorstoß als Teil eines epochalen Kampfs zwischen Demokratie und Diktatur, Freiheit und Tyrannei versteht. Die Folge ist eine massive Verschlechterung der bilateralen Beziehungen, die die Gefahr einer militärischen Konfrontation weiter erhöht.

In diesem Konflikt, den manche bereits als neuen Kalten Krieg beschreiben, ist Taiwan der Zankapfel zwischen den Fronten. Ohne die Insel bleibt Xi Jinpings Traum von der »großen Wiederauferstehung des chinesischen Volkes« unerfüllt; ohne den taiwanischen Partner – mangels vertraglich geregelter Allianz vermeide ich das Wort »Verbündeter« – wäre Washingtons Position im Indopazifik eine viel schwächere als heute. Dass Taiwan der weltweit wichtigste Produzent von Halbleiterchips ist, von dem Firmen in China wie in den USA und überhaupt auf der ganzen Welt abhängen, erhöht den Einsatz zusätzlich und sorgt für eine unauflösliche Verquickung beider Konflikte. Daher verwende ich im Untertitel des Buches zwar den Singular, versuche aber durchgängig, die (teilweise) unterschiedlichen Dynamiken zu beachten, die hier am Werk sind. Sosehr Taiwan auf die amerikanische Unterstützung – nicht zuletzt durch Waffenverkäufe – angewiesen ist, befürchten Teile der Bevölkerung auch, dass die Rivalität mit den USA Pekings Entschlossenheit erhöhen könnte, den Anspruch auf die Insel durchzusetzen. Manche unterstellen Washington gar, die gegenwärtigen Spannungen zum Schaden Taiwans mutwillig anzuheizen. Seit dem Besuch von Nancy Pelosi und der darauf folgenden Krise sind solche Stimmen deutlich lauter geworden.

Wie nähert man sich nun einem derart komplexen Konfliktfeld? Die ersten beiden Kapitel skizzieren zunächst die geographischen Gegebenheiten und fragen, wie diese in Pekings militärische Planspiele eingehen. Taiwan liegt ca. 180 Kilometer vor der chinesischen Küste, die vorgelagerten Inseln Kinmen (Quemoy) und Matsu befinden sich gar in Sichtweite des Festlands – diese Territorien zu kontrollieren betrachtet Peking als sicherheitspolitisch unbedingt geboten. Dass 15Taiwan im Kreuzungspunkt wichtiger internationaler Schiffsverbindungen liegt und das zentrale Glied einer Inselkette bildet, die Chinas Zugang zum Pazifik beschränkt, verleiht der Insel aber auch für die USA höchste strategische Bedeutung. Außerdem folgt aus Taiwans besonderer Geographie, dass eine militärische Eroberung ein äußerst riskantes Unterfangen wäre. Nicht zuletzt mit Blick auf das gewaltige Zentralmassiv sprechen Militärexperten von einem die Verteidiger eindeutig begünstigenden Terrain.

So aufschlussreich diese Fakten sein mögen, taugt ein Blick auf die Karte allenfalls als erster Schritt, um den Konflikt in der Taiwanstraße zu verstehen. Im nächsten Abschnitt versuche ich daher, in Form dreier historischer Skizzen zu zeigen, auf welche markanten Wendepunkte im 20. Jahrhundert die heutige Konstellation zurückgeht.

Die erste Skizze umfasst den Zeitraum vom Ende des Pazifikkriegs 1945 bis zum Ausbruch des Koreakriegs 1950. Mit dem Pazifikkrieg endete die fünfzigjährige japanische Kolonialherrschaft über Taiwan: Gemäß der Kairoer Erklärung von 1943 wurde die Insel an die Republik China übergeben. Wenig später brach auf dem Festland ein Bürgerkrieg zwischen den Kommunisten unter Mao Zedong und den Nationalisten unter Chiang Kai-shek aus, der 1949 mit der Flucht der Letzteren nach »Formosa« endete, wie man damals sagte. Seitdem existiert auf der einen Seite der Taiwanstraße die Volksrepublik China, auf der anderen die offiziell immer noch so genannte Republik China, die sich inzwischen meistens Taiwan nennt. Nicht zuletzt wegen des Koreakriegs, der die USA zu einer abrupten Kehrtwende in ihrer Asienpolitik zwang, bestehen die seinerzeit geschaffenen Verhältnisse bis heute fort.

Die zweite Skizze beginnt 1972 mit Richard Nixons historischem Chinabesuch und endet mit dessen um sieben Jahre verzögerter Konsequenz: der Aufnahme diplomatischer Beziehungen zwischen den USA und der Volksrepublik bzw. des Abbruchs diplomatischer Beziehungen zwischen Washington und Taipei 1979. Der Übergang wurde begleitet von einer Reihe bilateraler Vereinbarungen, auf deren Grundlage Peking und Washington den Status quo in der Taiwanstraße heute sehr unterschiedlich interpretieren. Außerdem umfasst 16der Zeitraum gewichtige Einschnitte in der inneren Entwicklung Chinas und Taiwans: hier Mao Zedongs Tod und der Aufstieg Deng Xiaopings zum starken Mann der Volksrepublik, dort Chiang Kai-sheks Tod und die Übernahme der Staatsgeschäfte durch seinen Sohn Chiang Ching-kuo, der 1987 das Kriegsrecht aufheben und damit eine große Hürde auf dem Weg zur Demokratisierung der Insel beseitigen sollte. Erneut dürfte unmittelbar einsichtig sein, inwiefern wir gegenwärtig noch immer mit den Folgen der damaligen Veränderungen leben.

Das gilt auch für die dritte Skizze, die die Taiwanstraße nach dem Ende des Kalten Kriegs betrachtet. Das Massaker auf dem Tian’anmen-Platz sorgte 1989 für eine erhebliche Verschlechterung des chinesisch-amerikanischen Verhältnisses, während geheime Gespräche zwischen Peking und Taipei kurzzeitig ein Klima der Entspannung schufen, das zum berühmten »Konsens von 92« führte. Bei näherem Hinsehen zeigt sich aber, dass dieser so nie bestanden hat, weil die jeweiligen Positionen in Wahrheit unvereinbar waren. Kein Wunder, dass die Hoffnung auf eine Beilegung des Konflikts 1995/96 mit der sogenannten dritten Krise in der Taiwanstraße unterging, die weitreichende Konsequenzen zeitigte: Seitdem ist Peking davon überzeugt, dass die USA Taiwan benutzen, um Chinas Aufstieg zu verhindern, weshalb die ersehnte »Wiedervereinigung« nur aus einer Position der militärischen Stärke heraus geschehen kann. Diese will sich die Volksrepublik daher so schnell wie möglich erarbeiten, und während Fachleute noch darüber streiten, wie schlagkräftig die chinesischen Streitkräfte bereits sind, dürfte eines unstrittig sein: Die Kräfteverhältnisse in der Region haben sich radikal zugunsten Pekings verschoben.

Ob daraus folgt, dass die Eroberung Taiwans nur noch eine Frage der Zeit ist, untersuchen die beiden nächsten Kapitel. Seit langem sieht das Regime in Peking die Vereinigung mit Taiwan als unausweichlichen Trend der Geschichte und versucht unter Xi Jinping auf vielfältige Weise, den Status quo in der Taiwanstraße auszuhöhlen. Sogenannte Grauzonen-Aktivitäten zehren das taiwanische Militär aus und drohen die Verteidigungsfähigkeit der Insel nachhaltig zu schwächen, was auch die USA vor große Herausforderungen stellt. Fieber17haft arbeitet Washington nicht nur an einer Strategie, um Chinas Aufstieg zu verlangsamen, sondern auch an der Bereitstellung von Waffen, die eine Einnahme Taiwans noch schwieriger machen würden, als sie aufgrund der geographischen Gegebenheiten ohnehin ist. Diese Strategie beinhaltet jedoch ihrerseits Risiken, insofern sie China zwingen könnte, einen Militärschlag zeitlich vorzuziehen. Für Taiwan bedeutet das ein klassisches Sicherheitsdilemma: Maßnahmen, mit denen sich das Land schützen will, könnten heraufbeschwören, was sie abwehren sollen. Zudem hindern sowohl interne Uneinigkeit als auch Unstimmigkeiten mit den USA die Insel daran, konsequent auf eine asymmetrische Verteidigungsstrategie umzustellen. Ein Zwischenfazit wird daher lauten, dass die Zeit gegenwärtig nicht für Taiwan arbeitet (wie die beiden Schlusskapitel deutlich machen sollen, folgt daraus aber noch nicht, dass sie für China arbeitet).

Mit »Nationalismus: Zwei sich ausschließende Narrative« ist der nächste Abschnitt überschrieben, der zu den Wurzeln des chinesisch-taiwanischen Konflikts vorzustoßen versucht. Zeigen will er, dass beide Länder heute an einem Punkt ihrer Geschichte stehen, wo nur der Widerstand der jeweils anderen Seite sie an der Erfüllung eines seit Jahrzehnten gehegten Traums hindert. Nicht erst seit Staatschef Xi Jinping den »Chinesischen Traum« zum zentralen Propagandaslogan seiner Amtszeit erkoren hat, träumt die Volksrepublik von dem, was sie die volle Wiederherstellung ihrer territorialen Integrität nennt: die Rückgewinnung aller Gebiete, die einmal zu China gehört haben. Dabei orientiert sich Peking an der gewaltigen Ausdehnung des Kaiserreichs im 18. Jahrhundert unter der Qing-Dynastie, von der schon die nationalistischen Revolutionäre des frühen 20. Jahrhunderts die Vorstellung der »eigentlichen« Grenzen übernommen hatten, in denen China existieren sollte – solange das nicht der Fall ist, hat die Kommunistische Partei ihre historische Mission der großen Wiederauferstehung der chinesischen Nation nicht vollendet. Die Rückkehr zu alter Größe soll die Wunden heilen, die der westliche und der japanische Imperialismus dem Land zugefügt haben. In dieses längst zur Staatsdoktrin gewordene Narrativ von China als Opfer passt jedoch nicht, dass die Qing-Dynastie im 17. und 18. Jahrhundert selbst ein äu18ßerst erfolgreicher imperialistischer Akteur war, der durch gewaltige Eroberungsfeldzüge das Reichsgebiet mehr als verdoppelte. Keineswegs zufällig drehen sich die größten Konflikte gegenwärtig um die damals hinzugewonnenen Territorien: Tibet, Xinjiang und Taiwan.

Taiwan wurde im späten 17. Jahrhundert erobert und damit erstmals dem Qing-Reich eingegliedert. Die heute von der Kommunistischen Partei verfochtene Behauptung, die Insel gehöre »seit Urzeiten« zu China, ist schlicht falsch. Von 1895 bis 1945 war sie eine japanische Kolonie, danach wurde sie von Chiang Kai-sheks Truppen besetzt und blieb politisch vom Festland getrennt. Für die Kommunistische Partei stellt Taiwans Existenz als de facto unabhängiger Staat daher die territoriale Integrität – und damit die Souveränität – der Volksrepublik China nachhaltig in Frage. Das sogenannte »Jahrhundert der nationalen Demütigung«, das vom ersten Opiumkrieg bis zur Gründung der Volksrepublik 1949 reicht, ist nicht ganz und gar vorüber, solange die demütigende Trennung Taiwans vom Mutterland bestehen bleibt. Anders sind die bisweilen hysterischen Reaktionen Pekings auf jede Andeutung taiwanischer Eigenständigkeit nicht zu verstehen. In der stolz geblähten Brust, mit der sich China heute auf der internationalen Bühne präsentiert, schlägt ein überraschend nervöses Herz; das auf den ersten Blick wie in Stein gemeißelte Selbstbild der Volksrepublik erweist sich bei näherem Hinsehen als brüchig und historisch unhaltbar; im Nationalstaat von heute lebt ein Kolonialreich fort, das nie dekolonisiert wurde und panische Angst davor hat, zu enden wie die Sowjetunion. Um das zu verschleiern, hat die Regierung ein nationalistisches Narrativ etabliert und zum Dogma erhoben, das nur in sehr losem Verhältnis zur historischen Wahrheit steht. Ironischerweise liegt sein Ursprung in der großchinesischen Ideologie der Republikzeit, also in den frühen Jahren jenes Staates, der heute zum Ärger des kommunistischen Regimes auf Taiwan fortlebt.

Dort, auf der anderen Seite der Taiwanstraße, hat sich in jüngster Zeit allerdings ein neues Narrativ geformt, das dem großchinesischen diametral entgegengesetzt ist. Seine Ursprünge lassen sich zurückverfolgen bis in die Mitte der japanischen Kolonialzeit vor gut hundert Jahren. Damals ermutigte eine Reihe von Reformen die kleine einhei19mische Elite, mehr Mitbestimmung in politischen Fragen zu fordern, womit die langwierige Herausbildung einer dezidiert taiwanischen Identität begann, die Taiwans Gesellschaft heute maßgeblich prägt, auch wenn sie keineswegs unumstritten ist. Das Narrativ des taiwanischen Nationalismus handelt von der Verschmelzung verschiedener Ethnien – indigene Völker wie auch Einwanderer vom chinesischen Festland – zu einer neuen Gemeinschaft, die sich im Kampf gegen Fremdherrschaft und Unterdrückung allmählich als Volk konstituiert hat und nun nach politischer Anerkennung verlangt. Für die Anhänger dieses Narrativs ist eine staatliche Einheit mit der Volksrepublik vollkommen unannehmbar; nicht nur, weil es sich um eine kommunistische Diktatur handelt, sondern auch, weil es sich um eine chinesische kommunistische Diktatur handelt. Behauptet Pekings Narrativ, dass China Taiwan zurückgewinnen muss, um endlich wieder es selbst zu sein, antwortet das taiwanische, dass Taiwan nur es selbst sein kann, wenn es sich Chinas Zugriff entzieht. Ein Kompromiss zwischen beiden Positionen ist nicht denkbar, sie schließen einander aus.

Der Abschnitt »Wo bereits gekämpft wird: Drei aktuelle Beispiele« soll zeigen, dass der Konflikt um Taiwan nicht zu verstehen ist, wenn man ihn ausschließlich als künftig drohenden Krieg betrachtet. Tatsächlich hat der Kampf längst begonnen und bestimmt unsere Gegenwart auf vielerlei Weise. Durch Desinformationskampagnen will das Pekinger Regime die taiwanische Bevölkerung verunsichern und sein eigenes Narrativ global durchsetzen. Auf dem Feld der Diplomatie versucht es mit allen Mitteln, die Insel zu isolieren und den Rest der Welt auf das Ein-China-Prinzip zu verpflichten; als sich Litauen dem im Herbst 2021 nicht fügte, statuierte Peking ein Exempel und erließ massive Sanktionen, um potenzielle Nachahmer abzuschrecken. Im Bereich der Halbleiterproduktion wiederum sind es die USA, die China den Zugang zur neuesten, oft aus Taiwan stammenden Technologie verwehren wollen, wogegen sich die Volksrepublik mit ihrer geballten Wirtschaftsmacht wehrt. Immer stärker berührt der Handelskrieg, der tatsächlich ein Kampf um globale Vorherrschaft ist, auch die Interessen europäischer und deutscher Firmen.

Was aber folgt aus alldem? In den beiden Schlusskapiteln werde 20ich darlegen, dass die komplexen, teils widersprüchlichen Entwicklungen, die mein Buch nachzeichnet, am Ende auf eine wichtige Einsicht hinauslaufen: Die größte Gefahr für eine militärische Eskalation in der Taiwanstraße droht in der zweiten Hälfte des laufenden Jahrzehnts – nicht etwa weil die Volksrepublik immer mächtiger wird, wie oft behauptet wird, sondern weil sie im Gegenteil auf große interne Probleme zusteuert, die den Machtanspruch des Regimes schwächen und den Chinesischen Traum zum Platzen bringen könnten. Das mag für manche Ohren beruhigend klingen, birgt aber die Gefahr, dass Peking mit Blick auf Taiwan einer brandgefährlichen Logik des »Jetzt oder nie« folgt. Anzeichen dafür gibt es bereits, weshalb sich das diffizile Problem der Abschreckung mit äußerster Dringlichkeit stellt. Um eine Katastrophe zu verhindern, müssen alle Beteiligten erhebliches staatspolitisches Geschick beweisen, und zwar jetzt. Was General Douglas MacArthur, Oberkommandierender der US-Streitkräfte im Pazifikkrieg, einst »the vital moment« nannte, der über Krieg und Frieden entscheidet, dieser Moment ist in der Taiwanstraße längst gekommen. Sollten die Verantwortlichen – zu denen weder an erster noch an letzter Stelle die Europäische Union gehört – ihn ungenutzt verstreichen lassen, werden sie jene tragische Geschichte des Versagens fortschreiben, die man MacArthur zufolge in zwei Worten zusammenfassen kann: zu spät.

Um falschen Erwartungen vorzubeugen: Mein Buch ist kein Ratgeber, und es enthält nur im abschließenden Fazit einige grundsätzliche Überlegungen zum politischen Umgang mit dem Konflikt. Auch ein Weck- oder Warnruf will es höchstens in zweiter Linie sein. Vor allem richte ich mich in aufklärerischer Absicht an Leserinnen und Leser ohne sinologische Fachkenntnisse, um ein Thema zu durchleuchten, das in tagesaktuellen Medienberichten buchstäblich zu kurz kommt. Statt eine chronologische Geschichte des Konflikts zu erzählen, trage ich Aspekte zusammen, die ihn von verschiedenen Seiten beleuchten und so seine Vielschichtigkeit enthüllen. Daher muss man die folgenden Abschnitte nicht unbedingt in der Reihenfolge lesen, in der sie hier präsentiert werden.

21Wer sich primär für die aktuelle politische Konfrontation interessiert, mag mit den drei Beispielen in dem Abschnitt »Wo bereits gekämpft wird« beginnen. Historisch Interessierte hingegen wollen vielleicht lieber über die entsprechenden Skizzen einsteigen. Lediglich die sechs durchnummerierten Kapitel bauen unmittelbar aufeinander auf und versuchen, den drohenden bzw. bereits schwelenden militärischen Konflikt umfassend darzustellen – sie kann man daher auch direkt hintereinander lesen. Mit »Zwei sich ausschließende Narrative« zu beginnen würde ich jedoch nur denen empfehlen, die über chinesische und taiwanische Geschichte bereits einiges wissen.

Ganz bewusst also wechselt meine Darstellung zwischen Abschnitten über den gegenwärtigen Konflikt mit solchen über seine historischen Wurzeln und kulturellen Implikationen. Das kann hier und da zu Wiederholungen führen, aber es war mir wichtig, die Vertracktheit des Problems nicht durch eine allzu geschmeidige Präsentation zu verdecken. Am Ende käme das nur Pekings Versuchen entgegen, das schwierige Thema auf wenige apodiktische Behauptungen zu reduzieren, die größtenteils auch noch falsch sind. Um sich gegen verführerische Vereinfachungen zu wappnen, braucht es eine erheblich größere Chinakompetenz, als die deutsche Öffentlichkeit sie gegenwärtig aufbieten kann. Die intellektuelle Herausforderung, die von der Volksrepublik ausgeht, mag gelegentlich eine Überforderung sein, stellen müssen wir uns ihr umso dringender! Wenn ich meine Sache gut gemacht habe, gibt dieses Buch einen Anstoß dazu.

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1Schmales Gewässer: Von der Geographie zur Strategie

Das Verhängnis der Taiwaner war, dass ihre Insel nicht weit genug vom Festland entfernt lag, um die Trennung dauerhaft und ihr Leben in der Grenzregion sicher vor Einmischung zu machen. Die Insel war zu klein, um unabhängig zu sein, aber zu groß und zu reich, um sie zu ignorieren.

George Kerr, Formosa Betrayed

Kaum hatte Nancy Pelosi die Insel wieder verlassen, sprachen die Waffen. Zwar war es lediglich eine militärische Sprechübung, mit der Peking im August 2022 sein Missfallen über den Taiwanbesuch der amerikanischen Politikerin kundtat, aber die Botschaft kam international an. Mehrere Tage lang beherrschte das Thema die Nachrichten, und zu großen Teilen ging es um die Frage, wie akut die Kriegsgefahr in der Taiwanstraße sei bzw. ob dort »nur« eine chinesische Invasion drohe oder womöglich der große Showdown zwischen der Volksrepublik und den USA. Hinweise darauf, dass in jenem Sommer beides gleichermaßen unwahrscheinlich war, drohten im allgemeinen Alarmismus unterzugehen.1

Vieles an den damaligen Ereignissen ist für die gegenwärtige Situation in der Taiwanstraße bezeichnend; nicht zuletzt die Tatsache, dass die Konfliktparteien weiterhin kaum direkt miteinander sprechen. Nach der Wahl von Taiwans Präsidentin Tsai Ing-wen 2016 hat China alle offiziellen bilateralen Kontakte abgebrochen, und auch zwischen Peking und Washington bestehen derzeit zu wenige offene Kommunikationskanäle. »Intensive Rivalität verlangt nach intensiver Diplomatie«, weiß Joe Bidens Sicherheitsberater Jake Sullivan, doch statt Letztere zu praktizieren, stellen beide Regierungen ihre Standpunkte entweder deklarativ in den Raum, oder sie kommunizieren durch symbolische Demonstrationen der Stärke, etwa die Verletzung der taiwanischen Luftraumüberwachungszone durch chinesische Kampfjets oder den Transitverkehr amerikanischer Kriegsschiffe in 23der Taiwanstraße.2 Oft werden öffentliche Statements und symbolische Akte kombiniert, so wie wenige Wochen nach Pelosis Besuch, als zwei amerikanische Kreuzer die Taiwanstraße durchfuhren und ein Sprecher des Weißen Hauses erklärte, das amerikanische Militär werde weiterhin überall dort segeln, fliegen und operieren, wo internationales Recht es erlaube. Im Juni zuvor hatte Chinas Außenministerium nämlich erklärt, die Taiwanstraße unterstehe der Jurisdiktion der Volksrepublik. Wenn »gewisse Länder« die Meerenge ein internationales Gewässer nennten, täten sie das, »um einen Vorwand zu finden, unter dem sie Taiwan betreffende Angelegenheiten manipulieren und die Souveränität und Sicherheit Chinas bedrohen können«.3

Die eine Seite beruft sich auf Grundprinzipien der regelbasierten internationalen Ordnung, die andere sieht ihre staatliche Souveränität und Sicherheit gefährdet. Offenbar steht in der Taiwanstraße viel auf dem Spiel, und so waren die chinesischen Manöver im August 2022 nicht nur ein Ausdruck von Missfallen. Sie ließen auch erkennen, dass das chinesische Militär eine Blockade Taiwans übte, was eines Tages ein alternativer oder ein vorbereitender Schritt zur Invasion der Insel sein könnte. Egal von welchem Szenario man ausgeht: dass Taiwan eine Insel ist, die an der schmalsten Stelle der Taiwanstraße nur 130 Kilometer vor Chinas Küste liegt, ist das geographische Faktum, an dem jede Betrachtung des heutigen Konflikts ansetzen muss. Aus ihm folgt viel mehr, als es auf den ersten Blick den Anschein hat.

Geographie als Schicksal

Bereits seit dem 17. Jahrhundert werden die Geschicke der Insel maßgeblich von ihrer geographischen Lage bestimmt. Neben der Nähe zum chinesischen Festland – wie auch zu Japan – betrifft das vor allem die Tatsache, dass Taiwan im Kreuzungspunkt wichtiger internationaler Schiffsverbindungen liegt. Wer früher von Macau nach Nagasaki segelte, begegnete in taiwanischen Gewässern denen, die von chinesischen Häfen wie Xiamen (Amoy) unterwegs nach Manila waren. Kein Wunder, dass die Spanier 1626 eine kleine Kolonie im Norden 24der Isla Hermosa (Taiwan) errichteten und dies mit der Notwendigkeit begründeten, ihre philippinischen Besitzungen vor möglichen japanischen Angriffen zu schützen. Taiwans strategisch günstige Lage hatten sie allerdings nicht als Einzige erkannt. Im Süden der Insel unterhielt die holländische Ostindien-Kompanie bereits seit 1624 einen Stützpunkt, von dem aus sie Handel mit China und Japan betrieb und gemeinsame Sache mit verschiedenen Piraten- und Schmugglerbanden machte, um die Geschäfte von Portugiesen und Spaniern in der Region zu stören. 1642 gelang es den Holländern, die spanische Konkurrenz aus Taiwan zu vertreiben und die eigene Präsenz auszubauen. Ihren Stützpunkt Fort Zeelandia kann man in der Stadt Tainan heute noch besichtigen.4

Im 17. Jahrhundert begann eine vermehrte Einwanderung vom chinesischen Festland nach Taiwan, was eine direkte Folge der holländischen Aktivitäten war: Für den lukrativen Anbau von Reis und Zuckerrohr wurden Arbeitskräfte gebraucht. Vereinzelt waren chinesische Siedler schon in früheren Jahrhunderten nach Taiwan gekommen, Forscher schätzen ihre Zahl vor der holländischen Kolonisierung des Südwestens auf etwa 1500 bis 2000.5 Die Übersiedlung war mit erheblichen Risiken verbunden, was an den häufigen Stürmen in der Taiwanstraße, den klimabedingten Krankheitsherden auf der Insel (Malaria) und an den indigenen Völkern lag, die regelmäßig Überfälle auf chinesische Siedlungen verübten. In der chinesischen Vorstellung jener Zeit galt Taiwan als Heimat gefährlicher Tiere und menschenfressender Wilder, lokalisiert »hinter dem Meer« (haiwai), also jenseits der Zivilisation.6 Mangels einer staatlichen Autorität waren Neuankömmlinge vom Festland auf sich allein gestellt – aber genau das änderten die Holländer.

Durch ihre administrative und militärische Präsenz wurde zumindest die nähere Umgebung von Fort Zeelandia zum sicheren Ort, sowohl für einfache Arbeiter wie für wohlhabende Unternehmer aus China. Abenteuerlustig musste man immer noch sein, um die Übersiedelung zu wagen, aber nicht mehr verzweifelt oder lebensmüde. Sobald sich das in den chinesischen Küstenregionen herumgesprochen hatte, nahm die Einwanderung zu. Die allmählich entstehende Zu25sammenarbeit zwischen der holländischen Ostindien-Kompanie und chinesischen Partnern hat der US-amerikanische Historiker Tonio Andrade als »Co-Kolonisierung« bezeichnet.7 Tatsächlich fiel die Entstehung eines »chinesischen Taiwans« zusammen mit der Integration der Insel ins globale Wirtschaftssystem der Frühen Neuzeit und also in die Konkurrenzkämpfe verschiedener chinesischer, japanischer und europäischer Akteure. Die geographische Lage der Insel – nah an China und Japan und im Knotenpunkt internationaler Seewege – war dabei ein entscheidendes Moment.

Trotz des erfolgreichen Wirtschaftsmodells dauerte die holländische Präsenz in Südtaiwan nur knapp vierzig Jahre. 1662 geriet die Insel zum ersten Mal unter ein chinesisches Regime, nämlich das des Ming-Loyalisten und Rebellen Zheng Chenggong, der im Westen unter der latinisierten Form seines kaiserlichen Ehrennamens bekannt wurde: Koxinga. In vielen taiwanischen Tempeln wird er bis heute als eine Art Schutzheiliger der Insel verehrt, die chinesische Staatspropaganda (v)erklärt ihn zum Nationalhelden, der Taiwan vom Joch der holländischen Kolonialherrschaft befreien wollte.8 Das ist, wie wir gleich sehen werden, eine sehr zweifelhafte Deutung seiner Absichten.

Koxingas Vater war der Anführer einer jener Schmugglerbanden, die mit den Holländern zusammenarbeiteten. Seine Mutter stammte aus Japan, weshalb Koxinga dort zur Welt kam, ehe er als Kind in die Küstenprovinz Fujian zog, gegenüber der Insel Taiwan. Statt wie sein Vater zwielichtige Geschäfte zu machen, legte er die Beamtenprüfungen ab und lehrte an der kaiserlichen Akademie Guozijian. Als das Jägervolk der Mandschus die Ming-Dynastie 1644 von Norden her überrannte und der Kaiser sich das Leben nahm, floh Koxinga mit dessen Nachfolger in seine alte Heimat Fujian. Das machte ihn zum Todfeind der neuen Herrscher, die in der Hauptstadt Peking die Qing-Dynastie gründeten. Um den Kampf aufzunehmen, wurde Koxinga zum Feldherrn und Rebellen.

In den 1650er Jahren brachte er in einer Reihe von Feldzügen zwar große Landstriche unter seine Kontrolle, aber der Versuch, die alte Kaiserstadt Nanjing einzunehmen, scheiterte.9 In zunehmend bedrängter Lage entschloss er sich, mit seinen Truppen nach Taiwan 26überzusetzen. Dass ihn die Holländer dort nicht mit offenen Armen empfangen würden, dürfte ihm klar gewesen sein, aber sein Hauptziel war nicht die Befreiung der Insel von holländischer Herrschaft, sondern die Etablierung eines sicheren Stützpunkts für den weiteren Kampf gegen die Qing-Dynastie. Nach längerer Belagerung von Fort Zeelandia gelang seinen Truppen dessen Einnahme, Gouverneur Frederick Coyett unterzeichnete eine Kapitulationserklärung, und die kurze holländische Kolonialzeit in Taiwan endete. Prompt schickte Koxinga einen Unterhändler nach Manila, um von den Spaniern Tributzahlungen zu verlangen und für den Fall der Weigerung mit der Einnahme der Philippinen zu drohen. Wie ernst es ihm damit war, ist schwer zu entscheiden, denn er starb wenige Monate nach der Einnahme von Fort Zeelandia, wahrscheinlich an Malaria. Hätte er seine Ankündigung wahr gemacht, würde die chinesische Regierung heute vermutlich behaupten, die Philippinen hätten schon immer zu China gehört.

Bleiben wir bei den historischen Tatsachen. Koxinga war kein chinesischer Nationalist, so etwas gab es zu seiner Zeit noch gar nicht, sondern der Loyalist einer untergegangenen Dynastie. Allerdings trug seine Flucht nach Taiwan dazu bei, dass den Herrschern in Peking die schlecht beleumundete Insel in neuem Licht erschien. Gegen die Widerstände eines über Jahrhunderte gepflegten Denkens, in dem nur die kontinentalen Grenzen des Reiches zählten, setzte sich am Hof allmählich ein Bewusstsein von Taiwans strategischer Bedeutung durch.

Taiwan als Barriere oder Brückenkopf

Wie groß die Widerstände waren, lässt dieses Zitat erkennen: »Taiwan ist nicht größer als ein Klumpen Dreck. Wir gewinnen nichts, wenn wir die Insel besitzen, und verlieren nichts, wenn wir es nicht tun.«10 So reagierte laut Hofprotokoll Kaiser Kangxi (reg. 1661-1722) auf die Nachricht im Herbst 1683, dass seine Truppen besagte Insel erobert hatten. Etwas mehr Enthusiasmus wäre durchaus denkbar gewesen, schließlich beseitigte der Feldzug die Bedrohung durch ein auf Taiwan 27stationiertes Rebellenheer, denn Koxingas Männer hatten dort nach dem Tod ihres Anführers ein eigenes Königreich gegründet. Kangxi allerdings, der dritte Qing-Kaiser und einer der größten in Chinas Geschichte, richtete seinen strategischen Weitblick nicht aufs Meer, sondern auf die Grenzgebiete im Westen, wo von Mongolen, Dsungaren, Russen und anderen Nachbarvölkern die akutere Gefahr für das Reich ausging. Über das Wasser kamen lediglich exotische Europäer, die im 17. Jahrhundert noch keine Bedrohung darstellten.

Den Feldzug gegen Koxinga hatte der Kaiser dennoch mit aller Härte geführt. In der Provinz Fujian waren ganze Küstenabschnitte entvölkert worden, um die Rebellen auf Taiwan von der Unterstützung vom Festland abzuschneiden. Nun aber, da die Insel befriedet und im Besitz des Reiches war, erwog Kangxi, alle chinesischen Siedler zurück in die Heimat zu holen und Taiwan sich selbst zu überlassen. Dieses Ansinnen entsetzte den Mann, der als Oberbefehlshaber die Eroberung der Insel geleitet hatte und der sie aus eigener Anschauung kannte. Admiral Shi Lang wusste deshalb nicht nur von Taiwans fruchtbaren Böden, er hatte auch das Interesse anderer Nationen im Blick, insbesondere Hollands und Japans, für die ein chinesischer Rückzug ein Geschenk des Himmels wäre. In einer Eingabe an den Thron nannte Shi Lang die Insel einen »strategischen Dreh- und Angelpunkt«, der für die südöstlichen Küstenprovinzen einen »schützenden Zaun« bilde.11

Diese Ansicht setzte sich am Hof schließlich durch. Im Frühjahr 1684 wurde Taiwan als Präfektur der Provinz Fujian in die Qing-Verwaltung eingegliedert, auch wenn sich die Kontrolle der Insel auf die Ebenen im Norden, Westen und Süden beschränkte und nie das Zentralmassiv oder den östlichen Küstenstreifen umfasste, wo die meisten indigenen Völker lebten. Dennoch hatte Taiwan damit »die Landkarte betreten« (ru bantu) und wurde allmählich vom fremden Gebiet hinter dem Meer zum eigenen Territorium. Dessen strategische Bedeutung geriet mit der Zeit zum Gemeinplatz: Unter chinesischer Kontrolle bildete die Insel eine schützende Barriere gegen Angriffe vom Meer, in feindlicher Hand hingegen war sie ein potenzieller Brückenkopf für militärische Attacken.

28In der Hochphase des Imperialismus sollte sich diese Einsicht nachhaltig bestätigen. Ende des 19. Jahrhunderts warfen neben Japan auch europäische Nationen begehrliche Blicke auf die schöne Insel. Der preußische Gesandte Albrecht zu Eulenburg empfahl König Wilhelm I. die Errichtung eines Marinestützpunkts auf Formosa, der Geograph und Forschungsreisende Ferdinand Freiherr von Richthofen – der Erfinder des Ausdrucks »Seidenstraße« – plädierte für die Annexion der gesamten Insel.12 Aus diplomatischen wie ökonomischen Gründen wurde das Vorhaben zwar nie umgesetzt, aber die Idee eines »deutschen Hongkong« auf Formosa spukte noch geraume Zeit durch die Köpfe preußischer Politiker. Im Jahr 1874 unternahm Japan eine Strafexpedition nach Taiwan, nachdem 54 japanische Fischer dort gestrandet und von Ureinwohnern umgebracht worden waren.13 Zehn Jahre später waren es die Franzosen, die im Zuge des Krieges mit China – der sich um den konkurrierenden Einfluss beider Länder im heutigen Vietnam drehte – mehrere taiwanische Häfen blockierten, um Druck auf die Qing-Regierung auszuüben. All das dürfte dazu beigetragen haben, dass der Kaiserhof Taiwan 1885 in den Rang einer Provinz des Reichs erhob und die Insel stärker als bisher in seine Verwaltung integrierte. Zu spät, möchte man sagen. Nur zehn Jahre darauf verlor China den ersten Krieg gegen Japan – der sich um den konkurrierenden Einfluss beider Länder in Korea drehte – und Taiwan ging als Kriegsbeute an den Sieger.

Von der strategischen Bedeutung der Insel hatten die japanischen Kolonialherren eine sehr genaue Vorstellung. Bei der Vorbereitung des Pazifikkriegs kam Taiwan, das sich in einen subtropischen Norden und einen tropischen Süden teilt, eine Schlüsselrolle zu. Japanische Mediziner konnten hier die Bedingungen erforschen – zum Beispiel mit dem Klima zusammenhängende Krankheitserreger –, unter denen die kaiserlichen Soldaten in den Kriegsschauplätzen des südlichen Pazifiks würden kämpfen müssen. Für die Marine war Taiwan später eine Zwischenstation auf dem Weg von den japanischen Hauptinseln nach Süden, die Luftwaffe unterhielt Flugfelder, die 1941 beim Angriff auf die Philippinen eine wichtige Rolle spielten.

Auch beim Ausbruch des zweiten Chinesisch-Japanischen Kriegs 291937 starteten Langstreckenbomber von taiwanischen Flugfeldern, um den Vormarsch der Armee das Yangzi-Tal hinauf zu unterstützen. Damit bewahrheitete sich erneut, dass die Insel in feindlicher Hand eine existenzielle Bedrohung für das chinesische Festland darstellte, und das wiederum bestätigte die 250Jahre zuvor aufgestellte Maxime von Admiral Shi Lang: Um vor Angriffen von Osten her sicher zu sein, muss China Taiwan beherrschen. An der Triftigkeit dieses Grundsatzes hat sich aus Sicht des aktuellen Pekinger Regimes nichts geändert.

Aufgrund seiner geographischen Lage hat Taiwan, was der US-amerikanische Politologe Alan Wachman »a history of ambiguity« nennt.14 Jahrhundertelang befand sich die Insel an der Grenze wettstreitender Reiche, gehörte aber nur für so kurze Zeit zu einem davon, dass ihr Status notgedrungen unklar und umstritten blieb. Für die meiste Zeit seiner Geschichte wurde Taiwan als Teil von etwas anderem verstanden: Als Überseebesitz europäischer Kolonialmächte (Spanien, Holland), Präfektur einer Provinz (Fujian), Provinz eines Kaiserreichs (Qing), Kolonie eines anderen Kaiserreichs (Japan), von 1945 bis 1949 als Provinz eines Nationalstaats (Republik China) und seitdem in den Augen Pekings als »abtrünnige Provinz« eines anderen Nationalstaats (Volksrepublik China). Mit den wechselnden Zugehörigkeiten gingen je andere Zwecke einher, welche die Insel für die verschiedenen Regime erfüllen sollte, denen sie unterstand. Dass General Douglas MacArthur Taiwan am Vorabend des Koreakriegs als »unsinkbaren Flugzeugträger« bezeichnete, reihte sich nahtlos in die funktionalen Zuschreibungen von außen ein. Bis ins späte 20. Jahrhundert hinein blieb ausgeblendet, was die Insel für jene Menschen bedeutete, die dort lebten. Mit der taiwanischen Binnenperspektive hielten sich die auswärtigen Machthaber nicht auf.

Glied einer Inselkette vs. Tor zum Pazifik

Auch den heutigen Streit zwischen China und den USA um Taiwan bestimmen konträre strategische Interessen, die mit der geographi30schen Lage der Insel zu tun haben. Wollen die USA die Ordnungsmacht Nummer eins im pazifischen Raum bleiben, können sie auf Taiwan nicht verzichten. Will China diesen Status erlangen, gilt dasselbe. Warum?

Schon ein oberflächlicher Blick auf die Karte zeigt, dass Taiwan ein zentrales Glied in der sogenannten Ersten Inselkette von US-Verbündeten und -Partnern ist, die derzeit Pekings Wunsch vereitelt, eine möglichst weit vor der eigenen Küste liegende Verteidigungslinie aufzubauen. Die Kette reicht von der südlichsten japanischen Hauptinsel Kyūshū über die ebenfalls zu Japan gehörenden Ryūkyūs nach Taiwan und trennt in ihrem nördlichen Teil das Ostchinesische Meer vom offenen Pazifik. Ihre Fortsetzung läuft über die Philippinen nach Malaysia, ehe sie im südlichen Vietnam wieder auf Festland trifft, also einen Ring um das Südchinesische Meer bildet. Nimmt man hinzu, dass ganz im Norden das Gelbe Meer am südlichen Teil der koreanischen Halbinsel endet, einem weiteren US-Verbündeten, wird Chinas eingeengte Lage vollends deutlich. Es ist kein Zufall, dass Peking derzeit fieberhaft daran arbeitet, den einzigen Freiraum innerhalb der ersten Inselkette, nämlich das Südchinesische Meer, für sich zu reklamieren – sehr zum Unwillen von Anrainern wie den Philippinen und Vietnam, die dadurch enger an die Seite Washingtons rücken. Ähnliches gilt für Japan, Südkorea und Indien: Zwar ist China ihr wichtigster Handelspartner, aber die politischen Beziehungen leiden unter Territorialstreitigkeiten, und um Pekings wachsender Macht zu begegnen, halten alle diese Länder Amerikas Einfluss für unverzichtbar für die Stabilität in der Region.15

Innerhalb dieser labilen Konstellation konfligierender Handels- und Sicherheitsinteressen wäre Chinas Kontrolle über Taiwan eine tiefe Zäsur. Sollte der Eindruck entstehen, die USA hätten die Insel fallengelassen, dürften sich vor allem Japan und Südkorea gezwungen sehen, ihre sicherheitspolitische Abhängigkeit von Washington zu überdenken. Japans Nationale Sicherheitsstrategie von 2022 nennt Taiwan – obwohl beide Länder keine diplomatischen Beziehungen unterhalten – erstmals »einen extrem wichtigen Partner und treuen Freund« und erklärt, Frieden und Stabilität in der Taiwanstraße seien 32unverzichtbar für Sicherheit und Wohlstand der internationalen Gemeinschaft.16 Von Chinas Präsenz so nahe an den Ryūkyū-Inseln würde sich Tokio massiv bedroht fühlen. In Seoul wiederum erinnert man sich noch gut an die Wirtschaftssanktionen, die Peking als Antwort auf den Ausbau des amerikanischen THAAD-Raketensystems verhängt hat.17 Auch für die Philippinen würde ein zu China gehörendes Taiwan eine dramatische Verschlechterung der eigenen Sicherheitslage bedeuten, selbst Australien und Neuseeland wären betroffen.

Die Gründe dafür liegen in den gewaltigen, keineswegs auf Landesverteidigung beschränkten militärischen Möglichkeiten, die sich China böten, sollte es Taiwan kontrollieren. Östlich der Insel erstreckt sich die Philippinische See, eines der tiefsten Weltmeere, das einen großen Teil des Raumes zwischen erster und zweiter Inselkette einnimmt. Durch die Installation von Unterwassermikrofonen könnte die Volksrepublik amerikanische Kriegsschiffe, vor allem Flugzeugträger viel besser als bisher orten und im Konfliktfall angreifen. Derzeit sind es die USA, die durch solche Abhörmaßnahmen an strategischen Schnittstellen den Bewegungsspielraum chinesischer U-Boote einschränken, insbesondere außerhalb der ersten Inselkette. Mit U-Booten, die direkt in den Tiefwasserhäfen entlang Taiwans Ostküste stationiert würden, könnte sich China der Überwachung entziehen und seine Macht in die Philippinische See, den westlichen Pazifik und darüber hinaus projizieren.18 Die Seewege, die sich in den Gewässern um Taiwan kreuzen, sind im 21. Jahrhundert noch viel wichtiger, als sie es im 17. waren. Durch das Südchinesische Meer führt ein Drittel des globalen Seehandels, Kabel auf dem Meeresgrund gewährleisten den internationalen Datenverkehr, und was in Friedenszeiten gilt, wäre im Kriegsfall noch entscheidender: Wer die Insel Taiwan kontrolliert, dessen Macht reicht weit über ihre unmittelbare Umgebung hinaus.

Chinesische Strategen wissen das nur zu gut. Sie bezeichnen Taiwan und die südchinesische Insel Hainan als »Augenpaar«, das das Südchinesische Meer und den westlichen Pazifik beobachtet. In vielen Texten findet das ursprünglich defensive Bild vom schützenden Zaun seine offensive Entsprechung darin, Taiwan das »Tor zum Pazifik« zu nennen, also zu dem maritimen Raum, den die Volksrepublik kon33trollieren muss, um wirklich zur Supermacht aufzusteigen.19 Eingeschlossen in der ersten Inselkette kann das Land schlecht als neue Ordnungsmacht im Indopazifik auftreten, umso weniger, als die Kette angelegt wurde von der alten Ordnungsmacht USA, die einem gängigen Topos zufolge »Taiwan benutzt, um China zu kontrollieren« (yi tai zhi hua). Aus der Perspektive Pekings ist die Insel das entscheidende Territorium, das der chinesische Drache braucht, um seine Fesseln zu sprengen.20 Schließlich gäbe es ohne Taiwan gar nicht eine erste Inselkette, sondern zwei, und dazwischen klaffte eine Lücke: Das Tor zum Pazifik stünde endlich offen. Es wäre, so die Hoffnung, der Beginn eines schrittweisen Zerfalls des gesamten Systems amerikanischer Allianzen im pazifischen Raum, wodurch die Volksrepublik zum unangefochtenen Hegemon in der Region werden würde.

Man vereinfacht die Dinge tatsächlich nur ein kleines bisschen, wenn man sie so zusammenfasst: Alles hängt an Taiwan.

Aufgrund ihrer geographischen Lage, das sollte deutlich geworden sein, kommt der Insel also eine besondere Bedeutung im Wettstreit zwischen China und den USA zu. Bevor es im nächsten Kapitel um die Frage geht, welche strategischen Erwägungen sich daraus ergeben, gilt es allerdings kurz innezuhalten. Das Verhältnis von Geographie und Strategie ist immer eigentümlich wechselseitig. Militärplaner behandeln geographische Gegebenheiten als ebendas: Dinge, die sich nicht ändern lassen und an die sich operative Überlegungen anpassen müssen. Vieles folgt daraus, dass Taiwan eine Insel ist. Gleichzeitig nimmt jede Strategie eine spezifische Interpretation der Geographie vor, in der diese als etwas Bestimmtes erscheint. Dass Taiwan Teil einer Inselkette ist, zeigt genau genommen nicht – wie ich eben noch geschrieben habe – ein oberflächlicher Blick auf die Karte, sondern erst der von Intentionen oder Ängsten geleitete Blick durch eine bestimmte Brille. Keineswegs zufällig wurde der Ausdruck »erste Inselkette« in den Schriften chinesischer Militärs in den späten 1980er und frühen 1990er Jahren prominent. Im Zuge des wirtschaftlichen Aufschwungs verlagerte sich das ökonomische Zentrum des Landes immer mehr in die Küstenregionen, genauer gesagt in drei große Bal34lungszentren – das Perlfluss-Delta (Süden), das Yangzi-Delta (Mitte) und die Bohai-Bucht (Norden) –, wo heute mehr als ein Drittel des chinesischen Bruttoinlandsprodukts erwirtschaftet wird. Dort befinden sich auch die wichtigsten Häfen, die China mit der Welt verbinden. Über 90 Prozent der Importe und mehr als 85 Prozent der Exporte werden über das Wasser abgewickelt.21

Mit anderen Worten, Chinas Öffnung zur Welt war zuerst und vor allem eine Öffnung zum Meer. Damit gewann die 14500 Kilometer lange Küste des Landes nicht nur ökonomisch an Bedeutung, sondern auch verteidigungspolitisch. Frühere strategische Konzepte, die darauf abgezielt hatten, etwaige Angreifer tief ins Landesinnere zu locken, um dort ihre überdehnten Versorgungswege abzuschneiden, wurden obsolet, ja geradezu selbstmörderisch. Um die wirtschaftlich lebenswichtigen, äußerst dicht besiedelten Küstenregionen zu sichern, brauchte es vielmehr eine »Vorwärtsverteidigung« (jiji fangyu)22 inklusive der Einrichtung maritimer Pufferzonen. In dieser Konstellation erschien es nun problematisch, dass zwischen China und dem Pazifik eine Reihe von Inseln lag, die den Zugang auf wenige schmale Durchgänge begrenzten. Dass diese Inseln größtenteils enge Beziehungen zu den USA unterhielten, machte die Sache nicht besser, ab einem gewissen Punkt sogar deutlich schlimmer. Jetzt auf einmal sah das Ganze nach einer Kette aus, die China daran hinderte, vitale nationale Interessen wahrzunehmen, denn: Kein wichtiger Hafen des Landes liegt außerhalb ihrer.

Die »erste Inselkette« stellt also keine bloße geographische Gegebenheit dar, sondern sie ist ein in strategischer Absicht vorgenommenes Konstrukt. Mutatis mutandis gilt das auch für das zentrale Glied dieser Kette, nämlich die Insel Taiwan. Zwar handelt es sich dabei um ein faktisch dicht vor der chinesischen Küste liegendes Stück Land, aber ein zu China gehörendes und deshalb von China zu kontrollierendes Territorium von höchster strategischer Relevanz haben daraus erst bestimmte Interessen gemacht, die viel weniger alt sind, dafür aber bis in die jüngste Vergangenheit deutlich wechselhafter waren, als Peking heute zugibt.

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2Chinas militärische Optionen und ihre Probleme

Taiwans Geographie ist ein Gottesgeschenk an die Verteidiger.

Ian Easton

Damit kommen wir zu einigen konkreten militärischen Szenarien, die nicht nur Taiwans geographische Lage und die damit verbundene Position der Insel im Machtgefüge des Westpazifiks berücksichtigen müssen. Auch bestimmte geographische Eigenschaften der Insel selbst spielen eine wichtige Rolle in allen derzeit in Taipei, Peking und Washington angestellten Überlegungen, wie ein Krieg in der Region verhindert werden kann bzw. wie er ablaufen würde, sollte es doch dazu kommen. Konkret sind vor allem drei Fakten wichtig: 1.) Zwischen der Insel und dem Festland liegt eine tückische Meerenge, die chinesische Truppen überwinden müssten, um Taiwan einzunehmen. In Friedenszeiten eine Barriere für potenzielle Angreifer, würden die Taiwanstraße und der westliche Pazifik im Kriegsfall zum Hindernis bei der Versorgung der Insel mit dringend benötigten Gütern werden. Wasser trennt Taiwan nicht nur von seinem größten Feind, sondern auch von allen potenziellen Unterstützern. Gleichzeitig ist klar, dass die »stopping power of water« (John Mearsheimer) zwar für Truppen gilt, nicht aber für Raketen.

2.) Neben der Hauptinsel Taiwan gibt es weitere derzeit von Taipei regierte Inseln, nämlich die Pratas-Inseln im Südchinesischen Meer, den Penghu-Archipel (Pescadores) in der Taiwanstraße sowie die beiden Inseln bzw. Inselgruppen Kinmen (Quemoy) und Matsu, die teilweise in Sichtweite vor der chinesischen Küste liegen. Eine Invasion würde dadurch deutlich komplizierter, da sie mehreren, wiederum durch Wassermassen separierten Territorien gelten müsste.

3.) Die Hauptinsel Taiwan weist bestimmte Charakteristika auf, zum Beispiel ein Zentralmassiv mit über 200 Gipfeln von mehr als 3000 Metern Höhe. Darin liegt ein wesentlicher Grund, weshalb Militärexperten von einer »favorable defensive geography« sprechen, also einem natürlichen Vorteil für die Verteidiger der Insel.

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Geographie als strategische Herausforderung

Hätten sich Chiang Kai-shek und seine Truppen 1949 nicht nach Taiwan, sondern an einen Ort auf dem Festland zurückgezogen, wären sie früher oder später von der Volksbefreiungsarmee gestellt und besiegt worden. Dann gäbe es heute keinen Streit um Taiwan. Dass die Republik China seinerzeit überlebt hat, verdankt sich der simplen Tatsache, dass große Wassermassen ein formidables Hindernis für Heere darstellen. Die Einnahme einer feindlichen Insel gehört sogar zu den kompliziertesten militärischen Operationen überhaupt, da sie eine exakte Koordination von Marine, Luftwaffe und Armee erfordert und die Truppen während der Überfahrt und bei der Landung besonders verwundbar sind. Umso mehr, wenn die Verteidiger über gut befestigte Stellungen verfügen und einen Angriff erwarten. Taiwan tut das seit über siebzig Jahren.

Im Pazifikkrieg haben die USA erwogen, das damals zu Japan gehörende Taiwan mit Bodentruppen zu besetzen. Operation Causeway wurde am Ende zwar nicht durchgeführt, weil sich General MacArthur mit dem Vorschlag durchsetzte, stattdessen Okinawa anzugreifen, aber die Planungen lassen erkennen, von welchem Szenario die US-Streitkräfte seinerzeit ausgingen.1 Obwohl sie 1944 eindeutig die Lufthoheit über dem Pazifik besaßen, glaubten sie aufgrund der besonderen Geographie Taiwans, dass die normalerweise für Landungsoperationen angestrebte Überlegenheit von drei zu eins Soldaten nicht ausreichte und eine Ratio von fünf zu eins erforderlich sein würde, um den Erfolg der Operation zu gewährleisten.2 Angesichts der 100000 Verteidiger planten die USA also für ein Invasionsheer von 500000 Mann. Trotz Lufthoheit, überlegener Feuerkraft und fünfmal mehr Soldaten rechneten sie aber immer noch mit einem Feldzug von drei Monaten und rund 150000 toten oder verwundeten GIs.

Für die heutige Situation nicht unmittelbar relevant, aber historisch dennoch interessant ist der Vergleich des amerikanischen Plans mit dem, den die Volksbefreiungsarmee 1950 aufstellte, als sie ihre Invasion Taiwans vorbereitete. Seinerzeit verfügte Chiang Kai-shek über ca. 300000 Soldaten auf Taiwan und weitere 200000 auf den 37Inseln Kinmen und Matsu. Maos Invasionstruppen sollten eine halbe Million Mann umfassen, das hätte Gleichstand bedeutet. Zudem lag die Lufthoheit eindeutig bei den Verteidigern, und die Angreifer besaßen keine Marine und keinerlei Erfahrung mit Amphibien-Operationen. Dennoch gingen chinesische Planer davon aus, dass sie Taiwan binnen 15Tagen würden einnehmen können! Bemerkenswert ist das, weil oft geschrieben wird, allein der Ausbruch des Koreakriegs und der militärische Schutz der USA hätten seinerzeit Taiwans Überleben gesichert. Nach dem Vergleich beider Invasionspläne zieht der US-amerikanische Sicherheitsexperte Ian Easton einen anderen Schluss: »[D]as seit langem etablierte Narrativ dürfte falsch sein; wahrscheinlich hätte Chiang Kai-sheks Armee die chinesischen Kommunisten zurückgeschlagen, wäre ihr Angriff in den frühen 1950er Jahren erfolgt.«3

Zu einem Angriff auf Taiwan kam es in den 1950er Jahren zwar nicht, wohl aber zu erbitterten Gefechten um die beiden vorgelagerten Inseln Kinmen und Matsu. Die Ereignisse von 1954/55 und 1958 nennt man heute die erste und zweite Krise in der Taiwanstraße. Es waren Fortsetzungen des formal nie beendeten Bürgerkriegs, den die Kommunisten auf eine für sie unbefriedigende, weil unvollendete Weise gewonnen hatten: Die feindlichen Bastionen direkt vor der eigenen Küste bedeuteten eine inakzeptable militärische Bedrohung und stellten der geplanten Invasion Taiwans ein gewaltiges Hindernis entgegen. Um dem vorzubeugen, hatte Mao im Oktober 1949 gegen den Rat seiner Generäle den Befehl zur Einnahme von Kinmen gegeben und damit die letzte große Niederlage seiner Truppen im Bürgerkrieg herbeigeführt. Binnen zwei Tagen verlor die Volksbefreiungsarmee 10000 Soldaten.4

Während der ersten beiden Krisen in der Taiwanstraße kam es zwar zu heftigen Bombardements von Kinmen und Matsu, aber an der militärischen Ausgangslage änderte sich nichts. Ein Invasionsversuch im August 1958 scheiterte ebenso kläglich wie der neun Jahre zuvor. Als Mao einsah, dass die vor seiner Küste verschanzten feindlichen Truppen nicht kapitulieren würden, fuhr er den Beschuss auf eine gesichtswahrende, den Anspruch auf Taiwan symbolisch hochhaltende 38Maßnahme zurück: die fortgesetzte Bombardierung Kinmens an den ungeraden Tagen des Monats. Dabei blieb es für die nächsten zwanzig Jahre.

Alternative Szenarien

Bekanntlich haben sich die Kräfteverhältnisse in der Taiwanstraße seitdem radikal zugunsten Chinas verschoben. Damals besaß die Volksrepublik keine Marine, heute verfügt sie über die nach Anzahl der Schiffe größte der Welt, und damit erscheinen die geographischen Gegebenheiten zumindest teilweise in anderem Licht. Zunächst einmal strebt in Taiwan niemand mehr eine Rückeroberung des Festlands an, womit die mögliche Brückenkopffunktion von Kinmen und Matsu entfällt. In den Planungen der Volksbefreiungsarmee spielt das Szenario zwar weiterhin eine Rolle, ist aber mehr auf einen amerikanischen als auf einen taiwanischen Angriff ausgerichtet. Umgekehrt zweifelt man weder in Taipei noch in Washington an der chinesischen Fähigkeit, die Inseln Kinmen und Matsu einzunehmen, sollte Peking das anstreben. Kinmen liegt sechs Kilometer vor der Millionenstadt Xiamen, aber 187 Kilometer vor Taiwans Küste. Sogar ihr Trinkwasser bezieht die Insel größtenteils vom Festland. »Wenn die Chinesen uns erobern wollen«, sagte mir ein Einheimischer im Sommer 2023, »müssen sie keine Bomben werfen, sondern nur das Wasser abstellen.« Jahrzehntelang war die Insel militärisches Sperrgebiet, heute sind dort lediglich noch 2000 bis 3000 Soldaten stationiert. Lokalpolitiker fordern gar eine komplette Demilitarisierung.5 Die kilometerlangen Tunnel, in denen sich einst Soldaten vor Maos Bomben verkrochen, können längst von Touristen besichtigt werden, die durch die Schießscharten – wo sie nicht von Pflanzen überwuchert sind – auf die Skyline von Xiamen schauen.

Russlands Annexion der Krim 2014 hat Spekulationen genährt, dass Peking mit Kinmen und Matsu ähnlich verfahren könnte: eine rasche, sowohl territorialen Anspruch wie militärische Tatkraft demonstrierende Besetzung. Da sich große Teile der Bevölkerung dem Festland nicht nur geographisch nahe fühlen und wohl keinen Wider39stand leisten würden, stünden die USA vor einem Dilemma: Soll man geschehen lassen, was wie ein erster Schritt zur »Befreiung« Taiwans aussähe, oder 10000 Kilometer von der Heimat entfernt um ein Stück Land kämpfen, das innerhalb chinesischer Hoheitsgewässer liegt? Letzteres wäre ein hoffnungsloses Unterfangen.

Dass Peking den vermeintlich einfachen Schritt bisher nicht getan hat, lässt allerdings auf Bedenken schließen. Die Besetzung von Kinmen oder Matsu wäre ein symbolischer Sieg, mehr nicht, und sollten die USA