Schmelzt das Eis in euren Herzen! - Angaangaq - E-Book

Schmelzt das Eis in euren Herzen! E-Book

Angaangaq

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Beschreibung

Ein freies Herz macht stark!
Was wir von der Weisheit der Kalaallit lernen können


„Schmelzt das Eis in euren Herzen!“ Die Botschaft des grönländischen Schamanen Angaangaq ist von bestechender Klarheit und Kraft. Sie ermutigt zu einem couragierten, liebevolleren Leben in Harmonie mit sich selbst und anderen, im Gleichgewicht mit der Natur. Ein mit tiefer Weisheit geschriebenes Buch zu Lebensthemen wie: Familie, Partnerschaft, Sexualität, Geben und Nehmen, Werden und Vergehen, Heilen, Feiern und vielem mehr. Mit eindrucksvollen Fotos der Landschaft und des grönländischen Lebens.

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Seitenzahl: 308

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Angaangaq – der Schamane aus Grönland

Schmelzt das Eis in euren Herzen!

Aufruf zu einem geistigen Klimawandel

Herausgegeben von Christoph Quarch

Kösel

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.
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Copyright © 2010 Kösel-Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 MünchenChristoph Quarch (CQ), www.lumen-naturale.de Covergestaltung: Favoritbüro Covermotiv: Shutterstock/jarino; Tama2u;Jozef Klopacka;Transia Design ISBN: 978-3-641-05083-2 V004
www.koesel.de

Mein Bruder Angaju sagte zu mir: »Wenn du dieses Buch schreibst, dann muss es der Lehren würdig sein. Du musst es so schreiben, dass die Lehren in jeder Leserin und in jedem Leser lebendig sein werden.« Er hat mir auch einen Brief geschrieben, den ich diesem Buch voranstellen möchte. Ich bin mir der großen Verantwortung bewusst. Es hat lange gedauert, bis ich mich reif genug fühlte, dieses Buch zu schreiben. Denn ich hatte die große Sorge, meine Sprachkraft würde nicht ausreichen, um den Lehren und Zeremonien meines Volkes gerecht zu werden.

Nun habe ich dieses Buch geschrieben.

Möge es deinen Geist erheben!

Möge es deinen Geist erheben, so wie es die Lehren der Alten taten, die mein Volk über Jahrtausende beseelt haben!

Möge es deinen Geist erheben, damit du verstehen lernst, wer du bist! Und wer du sein sollst! Und wie du zur Blüte deines Lebens findest!

Möge es dir den Weg nach Hause weisen, damit du lernst, dich zu lieben und die Welt zu verwandeln!

Möge es das Eis in deinem Herzen zum Schmelzen bringen!

Inhalt

Prolog

Die Feier des Lebens

A Call to Pray

Vom Gebetsruf

Vom Beten

Vom schönsten Gebet

Von den Schamanen

Von den Zeremonien

Von deiner Bestimmung

Vom Leben der Eskimos

Von deinem Weg

Von den Lehrern

Von der Religion

Vom Geschichtenerzählen

Von der Stille

Von den Liedern

Vom Kreis

Vom Rauch und vom Räuchern

Von der Friedenspfeife

Vom Atem des Lebens

Von der Schwitzhütte

Vom Sonnenaufgang

Die Gaben des Lebens

Von der Seele

Vom Wunder des Daseins

Von der Verantwortung der Völker

Von den Federn

Vom Schenken

Von der »Medizin«

Von der Kralle der Robbe

Vom Instrument des Großen Himmels – Qilaut

Vom Herzschlag

Vom Geruch

Vom Lächeln des Herzens

Vom niederen und vom höheren Selbst

Vom Tiergeist in dir – »Animal Spirit«

Vom Eisbären

Vom Adler

Vom großen Wal

Vom Delphin

Von der Robbe

Vom Karibu

Von der Gans

Von unserer Verantwortung für die Tiere

Von der Schönheit der Pflanzen

Von der Heilkraft der Pflanzen

Von den Mineralien

Vom Gleichgewicht des Lebens

Vom Schmelzen des Eises

Vom Wandel der Welt

Von der Absicht

Vom Zusammenhang alles Lebendigen

Von der Klugheit der Tiere

Vom Jagen

Vom Süßgras

Von den Krankheiten

Vom Heilen

Von den drei Gebeten

Vom Berühren

Vom Heilen der Erde

Von der Göttin des Meeres

Vom Walross

Von Feen, Trollen und Zwergen

Die Zeiten des Lebens

Von den Jahreszeiten

Von den vier Lebensaltern

Vom Tod

Vom Sterben

Vom Nordlicht

Vom Kreislauf des Lebens

Von Geburt und Schwangerschaft

Von den Wurzeln

Von der Erziehung

Von der Familie

Von der Verantwortung für die Kinder

Von den Bäumen

Von der Jugend

Von den Männern

Von den Frauen

Von Männern und Frauen

Von der Sexualität

Vom Heiraten

Von der Ehe

Von der Harpune

Von der Liebe

Von den Gemeinschaften

Von den Großmüttern

Vom Zerfall der Gesellschaften

Vom Krieg

Von der Grenzenlosigkeit

Vom Alter

Vom höchsten Punkt des Lebens

Von deiner Aufgabe, anderen den Weg zu weisen

Vom Mond

Alles, was es braucht, ist »Ich liebe dich«

Nachwort des Herausgebers

Biografische Notizen

»My way is not the only way«

(Aanakasaa, Angaangaqs Großmutter)

Prolog

Immer wenn ich von meinen Reisen quer durch die Welt zurückkehrte, lud unsere Mutter Aanaa Aanaqqii alle Ältesten ein, die sie kannte. Ich sollte ihnen von diesen Reisen erzählen. So hielten es mein Vater und meine Mutter seit dem Jahr 1975. Für sie beide war es sehr wichtig, dass die Ältesten wussten, was ich in meiner Welt erlebte. Nachdem unser Vater Aataa Aataqqii die irdische Welt verlassen hatte, setzte meine Mutter diese Tradition fort. Sie lud die Ältesten in ihr Haus.

Eines Tages im Jahr 1978 kam ich wieder einmal von einer Reise mit Vorträgen, Diskussionen und Sitzungen zurück. Ich hatte vor den Menschen der westlichen Welt – unter anderem vor den Vereinten Nationen – davon gesprochen, dass das Große Eis in Grönland schmilzt, und die Menschen hatten mir Applaus gespendet. Ich war stolz. Und voller Eifer kehrte ich nun heim und erzählte den Ältesten, was für eine bedeutende Rede ich gehalten hatte. Die Ältesten erwiderten: »Haben sie dich gehört, mein Sohn?« Da begriff ich, dass ich vor lauter Stolz gar nicht darüber nachgedacht hatte, ob die Menschen, die dort saßen, meine Worte wirklich gehört hatten. Und je mehr ich redete und reiste, desto bedrückter fühlte ich mich. Ich sprach und sprach, doch ich spürte immer stärker, dass ich die Menschen nicht erreichte. Ich erinnere mich sehr gut daran, dass ich meine Mutter aufsuchte und ihr sagte, ich hätte den Eindruck, nichts würde sich ändern. Jedes Mal, wenn ich sprach, applaudierten die Menschen. Sie stimmten mir zu und nickten freundlich. Aber nichts geschah. Also fragte ich meine Mutter, was ich tun solle. Wir waren in ihrem Wohnzimmer. Sie saß auf einem Stuhl, der unserem Vater gehört hatte. Er war zu ihrem Lieblingsstuhl geworden. Sie stand auf. Ich tat es ihr nach. Sie nahm meine beiden Hände und schaute zu mir auf, denn ich war um einiges größer als sie. Dann lächelte sie ihr bezauberndes Lächeln. Sie schloss ihre Augen, und ich tat es ihr nach.

Da sagte sie: »Sohn, du weißt, dass du andere Wege beschreiten wirst.« Ich erinnere mich, dass ich lebhaft »Ja« sagte. Wir blieben so stehen. Wir hielten unsere Hände und schauten uns mit geschlossenen Augen an. Und sie sagte zu mir: »Mein Sohn, du weißt, dass du andere Wege beschreiten wirst. Du wirst ausziehen, um das Eis in den Herzen der Menschen zu schmelzen. Nur indem wir das Eis in den Herzen des Menschen schmelzen, hat der Mensch die Chance, sich zu ändern und sein Wissen weise anzuwenden.« Dann schwieg sie.

Ich glaubte, sie sei fertig. Ich öffnete meine Augen und schaute sie an. Da öffnete auch sie ihre Augen. Sie lächelte ihr bezauberndes Lächeln. Ich sagte: »Ja. Aber wie mache ich das?« Erneut schloss sie ihre Augen. Das bezaubernde Lächeln spielte weiter auf ihren Lippen. Auch ich schloss meine Augen. Da sagte sie noch einmal: »Sohn, du musst lernen, das Eis in den Herzen der Menschen zu schmelzen! Nur indem wir das Eis in den Herzen des Menschen schmelzen, hat der Mensch die Chance, sich zu ändern und sein Wissen weise anzuwenden.« Dabei drückte sie sanft meine Hände. Und als ich meine Augen erneut öffnete, da schaute ich meine Mutter an und sah ihr ganz besonders zauberhaftes Lächeln. Und bevor ich nur ein Wort sagen konnte, drehte sie sich um und ging in ihre geliebte Küche.

Ich stand da und bedachte die Anweisung, die ich gerade empfangen hatte. Und ich fragte mich, was sie bedeuten würde. Denn bei den vielen Lehren, die sie uns allen gab, hatte sie mir doch nie erklärt, wie ich es anstellen könnte, das Eis in den Herzen der Menschen zu schmelzen – so, dass der Mensch lernen würde, sein Wissen weise anzuwenden.

Heute reise ich als Schamane, Ältester, Heiler, Geschichtenerzähler und Weisheitshüter von einem Ende der Welt zum anderen. Überall treffe ich die Ältesten der Völker, Stämme und Dörfer. Überall lasse ich mich nieder, um den Festen der Großmütter beizuwohnen.

Ich staune, wie aufmerksam sie sind: wie aufmerksam diese Menschen die Veränderungen der Welt verfolgen – und wie genau sie die spirituellen Bedürfnisse der Menschheit wahrnehmen. Ich habe Orte dieser Welt besucht, an denen die Menschen sich selbst nicht mehr kannten – verloren in ihrem Überlebenskampf, verzweifelt auf der Suche nach einer Liebe, die sie ersehnen.

Ich bin in einem kleinen Dorf in Grönland aufgewachsen. Die Menschen dort waren – und sind es noch heute – Fischer und Jäger. Wir lebten ganz so, wie unsere Großväter es getan hatten – wir lebten und überlebten dank der Gaben der Natur. Es gab tatsächlich nichts anderes als das, was Mutter Natur uns gewährte.

Das Volk der Kalaallit-Eskimos hat eine alte Prophezeiung: Wenn eines Tages das einst steinharte Große Eis so weich wird, dass du ihm keinen Abdruck deiner Hand einprägen kannst, dann wird das ein Zeichen dafür sein, dass Mutter Erde in großer Aufruhr ist. Meine Mutter Aanaa Aanaqqii sagte, sie hätte nie gedacht, dass sich diese Prophezeiung zu ihren Lebzeiten erfüllen und sie Zeugin dieser Erfüllung werden würde. Und doch: Im Jahre 1963 kamen zwei Jäger meines Volkes in unser Dorf und berichteten von einem sonderbaren Phänomen: Ein Rinnsal tröpfelte von der mächtigen Eiskappe des Inlandeises herunter. Heute ist dieses Rinnsal ein Fluss – und der Ozean droht, uns alle zu verschlingen.

Wir können lernen, der Stimme dieses Gebirges aus Eis zu lauschen. Es spricht zu uns in einer Sprache aus lang vergangener Zeit – so alt ist die Sprache, dass niemand ihr Alter kennt. Ganz wie die Zeit selbst, die reglos vor uns steht – in Erwartung der Entscheidungen, die du treffen wirst und deren Pfad du folgen wirst. Es ist die Zeit gekommen zu lauschen – zu lauschen – immer mehr zu lauschen. Dem Ton deines eigenen Herzens zu lauschen. Die Qilaut, die Windtrommel der Eskimos, ist kreisförmig. Ein Kreis hat keinen Anfang und kein Ende. Diesem Kreis gehören wir alle an. Die ganze Menschheit ist eine Qilaut. Der EINE GROSSE – der Mann, der uns geschaffen hat – er allein hält ihren Griff. Und jedes Mal, wenn Er den Rand der Trommel berührt, tönt der Herzschlag des Menschen. Und je kräftiger der Herzschlag tönt, desto besser geht es dem Menschen.

Es gibt ein altes Gebet. Es sagt: »Meine Hoffnung ist, dass wir alle einen kräftigen Herzschlag haben, sodass wir alle miteinander gesund sein können.« Und da es auch dein Herzschlag ist, wird dir dein Herz antworten, wann immer du zu ihm sprichst. Je kräftiger der Herzschlag, desto gesünder ist der Mensch. Hörst du den Herzschlag der Menschen? Wie stark ist er? Wie kraftvoll könnte er sein? Schau die Welt an, in der wir leben. Siehst du, dass wir es sind, die die Veränderungen ausgelöst haben?

Nie zuvor waren die Menschen so gebildet wie heute. Aber das große Wissen, dass wir uns angeeignet haben, hat das Leben nicht zum Guten gekehrt. Wir haben die Dinge immer schwieriger werden lassen. Wir haben nicht gelernt, unser immenses Wissen weise anzuwenden. Wir haben nicht gelernt, weise Entscheidungen zu treffen.

Nun, da das Eis auf dem Boden schmilzt und die Tränen von Mutter Erde in Fluss kommen, scheint es, als würde das Eis in den Herzen der Menschen noch fester gefrieren – fester als je zuvor. Doch je fester das Eis in den Herzen der Menschen gefriert, desto schwieriger ist es, einen wirklichen Wandel zu vollbringen. Deshalb sagte meine Mutter Aanaa Aanaqqii, dass die Menschheit sich nicht ändern würde, solange das Eis in den Herzen der Menschen nicht schmilzt.

Das Eis auf dem Boden ist leicht zu schmelzen – verglichen mit dem Eis im Herzen der Menschen. Du brauchst nur deine Hand auf das Eis zu legen, und innerhalb einer Minute wird die Kontur deiner Hand sichtbar. So einfach ist es, das Eis auf dem Boden zu schmelzen. Aber, wie meine Mutter Aanaa Aanaqqii sagte: »Am härtesten ist es, das Eis in den Herzen des Menschen zu schmelzen. Und nun ist die Zeit gekommen, genau das zu tun.«

Ich bin durch die ganze Welt gereist, um diese Lehren weiterzugeben: Solange wir nicht lernen, unserer spirituellen Verantwortung gerecht zu werden und uns dieser Lehren als würdig zu erweisen, werden wir nicht lernen, das Eis in den Herzen zu schmelzen – nicht in unseren Herzen und nicht in den Herzen anderer Menschen. Schmelzt du aber das Eis in deinem Herzen, dann wird die Welt sich verändern. Dann wirst du in der Lage sein, anderen dabei zu helfen, das Eis in ihren Herzen zu schmelzen. Dann wird unser aller Welt sich verändern – heute, morgen und zu jeder Zeit.

Ich bete, dass du und ich besser vorbereitet sein mögen – dass wir lernen mögen, das Eis in den Herzen der Menschen zu schmelzen.

Wie wir damit beginnen?

Wir beginnen mit einem Lächeln.

Die Schönheit eines Lächelns bringt – ohne ein Wort zu verlieren – das Eis in deinem Herzen zum Schmelzen.

Ich bete, dass wir lernen, zu unseren Lebzeiten die Welt zu verändern. Damit unsere Kinder noch viele, viele, viele Frühlinge über das Land ziehen sehen.

Zeremonie für die Ahnen, Aajuittup Tasersua, Westgrönland, 15. Juli 2009, © SN

Die Feier des Lebens

A Call to Pray

I walk to the top of the mountain to pray.

Here I am – alone – at the very top of the world looking at the vastness surrounding me.

I feel very small – just like a speck within the greatness of creation.

The Great One, the Creator. Will He see me? Will He hear me?

Then I realized that I am not alone.

The minerals are here with me, but they are asleep.

I know this because when I walk on them I do not see their beauty.

They stay asleep.

I need to awaken them so they can show their powerful beauty to the Creator and pray with me.

The plants are here with me, but they are asleep.

I know this because as I walk amongst them they are not blooming.

I need to awaken them, so they can show their beautiful blossoms to the Creator and pray with me.

I see the animals in a distance.

They too are asleep.

I know this because they are walking with their heads hanging low.

I need to awaken them, so the new ones can be born and play.

I need to awaken them, so they can walk in a good way and pray to the Creator.

I see the people of the world are also out there.

They too are asleep.

I know this because they are not chanting the songs of the heart.

I need to awaken them so their hearts can speak to the Creator.

Once I awaken the mineral world, the plant world and the animal world, the people too will awaken.

Then the Creator will hear our prayer and see me.

Vom Gebetsruf

Eines Tages wanderte ich über das Land. Ich sah all die Steine und Felsen. Sie waren da, einfach nur da, stumm und reglos. Da verstand ich, dass sie nicht beteten. Doch da ich so dachte, fingen sie an zu beten. Und es entstanden die schönsten Mineralien, die man sich denken kann: Diamanten und Smaragde, Kristalle, Silber, Gold, Platin – unzählige Steine in prächtigen Farben und glänzenden Formen. Sie sind das Zeichen dafür, dass die Welt der Mineralien zu ihrem Schöpfer betet.

Ich ging weiter und betrachtete die Pflanzen. Sie waren einfach nur da, stumm und reglos. Doch da ich sie betrachtete, fingen sie an zu beten. Und sie enthüllten ihre schönsten, kraftvollsten, bezauberndsten Blüten – eine unendliche und unbeschreibliche Mannigfaltigkeit von Blumen und Bäumen. Sie sind das Zeichen dafür, dass die Pflanzenwelt ihre Gebete spricht.

Weiter führte mich mein Weg, und ich kam zu der Welt der Tiere. Ich sah all die schwimmenden Wesen, die kriechenden Wesen, die gehenden Wesen und die fliegenden Wesen. Sie waren da, aber sie lebten einfach nur. Doch dann fingen sie an zu beten. Und sie zeugten all die wunderschönen kleinen Tiere. Sie gaben das Leben weiter und erfüllten das Land mit zauberhaften Geschöpfen – in einer Fülle, die kein Mensch je zu zählen vermag.

Dann sah ich den Menschen. Er sah mühselig aus, bedrückt und beschwert. Bis zu dem Tag, an dem er zu beten begann: Er stand auf und lächelte. Und Schönheit floss aus seinem Herzen. So richtete er sich auf zu seiner Größe. Da stand er: aufrecht, in seiner Kraft und Schönheit – gerade so, wie er sein sollte.

Deswegen ergeht an uns alle der Ruf zu beten. Wenn du den Ruf vernimmst, folge ihm. Ich bete, dass du das Beten lernen mögest. Dann wirst du die Welt der Mineralien in ihrer unglaublichen Schönheit erfahren, dann wirst du die Pflanzenwelt in ihrer bezaubernden Fülle sehen, dann wird dich die Tierwelt in ihrer Mannigfaltigkeit erfreuen. Und der Geist* des Menschen wird ein Lächeln auf deine Lippen zaubern.

Dann wirst auch du den EINEN GROSSEN rufen.

Zeremonie für die Ahnen, Aajuittup Tasersua, Westgrönland, 15. Juli 2009, © SN

Die Menschen in Ostgrönland sagen: Wenn die Sonne aufgeht und wir hinausgehen, um sie zu begrüßen, dann ist sie so kraftvoll und so groß, dass auch wir schwache und kleine Menschen uns groß und kraftvoll fühlen. Für uns ist es so, als würde die Sonne durch diese ganze wundervolle Welt hindurchdonnern. Und das ist der Grund dafür, warum wir zu unserem Schöpfer so laut reden, wie wir nur können. Anderenfalls würde die Sonne uns übertönen. Wenn wir die Zeremonie der aufgehenden Sonne feiern, beten wir deshalb mit der ganzen Kraft unserer Stimme. Der Gesang kommt aus der tiefsten Tiefe unseres Wesens. Wir lassen ihn aufsteigen und bringen unser Innerstes dem Schöpfer dar. Wir singen so laut wir nur können. Womöglich würde der EINE GROSSE uns sonst übersehen. Vielleicht würde er uns überhören.

Das ist der Grund dafür, warum viele Eingeborene in Nord- und Südamerika bei ihren Gebeten sagen: »Gott, kannst du mich sehen? Gott, kannst du mich hören?« Wir wissen es ja tatsächlich nicht. Wir sind kleine Wesen in einer immensen Schöpfung. Wenn du mit gedrückter Stimme stammelst: »Mein Gott, erhöre mich«, wird er dich nicht hören. Doch wenn du dem Gebetsruf folgst, wenn du bei dir zu Hause bist, inmitten der großen Natur, dann kannst du sicher sein, dass du gehört wirst. Bete kraftvoll aus deinem Herzen, und Er wird dich hören.

Und bete gemeinsam mit anderen! Wenn wir gemeinsam singen, wird unser Gesang zum Großen Himmel steigen.

Ich hoffe und bete, dass du und ich eines Tages diesen Gesang gemeinsam anstimmen.

Angaangaq bei einer Zeremonie für die Ahnen, Aajuittup Tasersua, Westgrönland, 15. Juli 2009, © SN

* Angaangaq spricht von »Spirit«, was am präzisesten mit »Geist« übersetzt werden kann. Das deutsche Wort »Geist« hat jedoch Nebenbedeutungen, die hier zu Missverständnissen führen können – vor allem zu einer Einschränkung von »Geist« auf kognitive Funktionen (englisch: mind, hier »Verstand« oder »Intellekt«). Deshalb ist »Geist« hier und im Folgenden kursiv gesetzt (Anm.d.Hrsg.).

Vom Beten

Einst ging ich in St. Petersburg in eine Kirche. Es war ein schlechter Tag. Ich hatte die Nachricht erhalten, dass meine Nichte bei einem Autounfall in Grönland tödlich verunglückt war. Ich brauchte einen Augenblick der Stille. Ich wollte mich sammeln. Ich wollte den Schöpfer fragen, warum er meine Nichte genommen hat – obwohl sie so jung und so schön war, erst fünfzehn Jahre alt. Ich brauchte spirituellen Beistand. Als ich die Kirche betrat, war es eiskalt. Nichts war einladend, keinerlei Wärme ging von dem Ort aus. Niemand begrüßte mich. Es war sehr einsam. Dabei waren viele Menschen dort. Sie saßen auf den Holzbänken und schienen in tiefes Gebet versunken.

Als ich mich umschaute, hatte ich das Gefühl: Hier gehöre ich nicht hin. Aber ich konnte auch nicht einfach hinausgehen. Denn ich musste die Antwort finden, warum mir meine Nichte genommen wurde, obwohl niemand da war, der mir helfen konnte. Also ging ich zum Altar. Ich stand dort und sah die prachtvollen Gerätschaften. Ich durfte sie nicht berühren. Was konnte ich also anderes tun, als meine Trommel auszupacken. Ich schloss meine Augen und rief – ganz still – meinen Schöpfer. Als ich meine Zeremonie abgeschlossen hatte, fühlte ich mich zu Hause. Ich konnte wieder kraftvoll und aufrecht stehen.

Ich öffnete meine Augen. Vor mir stand ein Mann in einer langen Robe. Im Gesicht trug er einen eindrucksvollen, langen Bart. Er schaute mich an. Ich schaute ihn an. Ich berührte mein Herz und verbeugte mich vor ihm. In Dankbarkeit dafür, dass ich in seiner Kirche sein durfte. Er sagte: »Das war ein Gebet!« Und dann ging er davon. Ich hatte keine Vorführung aus meinem Gebet gemacht. Ich wollte die anderen Menschen nicht dazu bringen, meinen Gesang zu hören. Ich musste einfach nur mit meinem Schöpfer reden. Das war alles. Denn ich war einsam und es war kalt. Meine Nichte war tot. Er hatte sie genommen – von mir, von ihrer Mama und ihrem Papa. Ich brauchte eine Antwort.

Warum machen wir alles so kompliziert? Im Norden begegnest du Menschen, die irgendwo auf einer Anhöhe stehen und singen. Du hörst zu. Wenn du gut zuhörst, wird dir klar werden, dass du ein Teil ihres Gebetes bist. Du bist kein Zuhörer oder Zuschauer. Du bist Teil des Gebetes. So wie der Priester in St. Petersburg Teil meines Gebetes war.

Die Alten sagen: »Beten heißt, die Sprache des Schöpfers zu sprechen.« Sie sagen: »Im Laufe deines Lebens wirst du diese Sprache lernen.« Ich weiß nicht, wie das geht. Aber ich weiß, dass sich alles verändert, wenn Menschen in ein tiefes Gebet gehen: der Ton, die Sprache, die Blicke, der Geist. Ich habe es oft bei den Ältesten beobachtet. Eine andere Energie füllte den Raum. Du kannst es spüren.

Beten heißt nicht, den Schöpfer um dies oder das zu bitten. Beten heißt: Ich offenbare meinem Schöpfer mein Herz. Beten heißt: Bewusst sein. Beten heißt: In der Stille dem nachzuspüren, was du deinem Schöpfer zu sagen hast. Zu meditieren und dein Gebet im Herzen zu bewegen, bis eine Antwort in dir entsteht. Dann liegt es an dir, das, was du als Antwort vernommen hast, in dir lebendig werden zu lassen. Gott hat dir geantwortet, und nun ist es deine Verantwortung, seiner Antwort Gestalt zu geben.

Ein Gebet, dem kein Handeln folgt, ist nur leeres Gerede.

Die wenigsten Menschen beten so. Die meisten wenden sich an den Schöpfer wie an einen Freund, den sie um etwas bitten – und von dem sie annehmen, dass er dann schon dafür sorgen wird, dass diese Bitte erfüllt wird. Und dann sitzen sie und warten bis ans Ende ihrer Tage, dass das geschieht. Sie warten auf ein Wunder, aber es geschieht nicht. Die Zeit der Wunder ist vorbei. Das einzige Wunder, das geblieben ist, ist das Wunder, dass du lebst. Warum warten die Menschen vergeblich auf ein Wunder? Warum warten sie auf die Erfüllung ihrer Gebete? Weil sie ihre Gebete nicht in der Stille des Herzens bewegen. Weil sie die Antwort auf ihre Gebete nicht vernehmen und die Verantwortung für ihre Gebete nicht übernehmen. Deshalb sagen die Alten: »Ein Gebet ohne Handlung ist wertlos.« Wenn ich meinem Gebet keine Handlungen folgen lasse, ist es ein leeres Gerede. Große Worte machen – das kann jeder. Aber die wenigsten werden je dahin kommen, ihren Worten Taten folgen zu lassen. Auch mir fällt das oft schwer. Jeden Tag ringe ich mit mir. Denn ich will nicht zu denen gehören, die nur reden und nie handeln.

Vom schönsten Gebet

Für meine Gebete brauche ich keine Kirche. Ich steige auf einen Berg. Ich sehe ihn jeden Tag, aber ich steige nicht jeden Tag auf seinen Gipfel. Wenn ich auf seinen Gipfel steige, dann, um mit meinem Schöpfer zu reden. Ich suche die Intimität des Gespräches mit Ihm. Und dann schütte ich Ihm mein Herz aus. Dann bin ich zu Hause. Dann bin ich bei mir zu Hause. So, wie es auch in der Kirche sein sollte. Ich sitze da, ich rede mit meinem Schöpfer, ich bin bei mir zu Hause. So sollte es sein.

Wenn du bei dir zu Hause bist, bist du überall zu Hause. Für uns Eskimos ist das wichtig. Denn wir leben auf der größten Insel der Welt. Und wir sind sehr wenige. Das Land ist immens. Da ist es wichtig, bei sich zu Hause zu sein. Aber nicht nur in Grönland. Überall. Die größte Kirche dieser Welt heißt: Natur. Suchst du sie auf, kommst du nach Hause. Nach Hause zu dir selbst. Nur: Die wenigsten von uns wollen nach Hause kommen. Denn wir wissen nicht, wer wir sind. Wie könnten wir zu uns nach Hause kommen, wenn wir nicht wissen, wer wir sind? Es ist unmöglich. Also stehen wir vor der Aufgabe, uns zu erkennen. Denn sonst können wir nicht nach Hause kommen. Sonst können wir nicht bei uns sein. Sonst können wir nicht blühen.

Das schönste Gebet ist ein blühender Mensch: aufrecht, kraftvoll, schön. Dafür sind wir gemacht. Für alle Zeit. Nicht gebeugten Geistes, nicht gebeugten Körpers – sondern aufrecht und kraftvoll und in Schönheit. Darum geht es. Das ist es, was der Große Himmel – andere nennen ihn Gott – für uns vorgesehen hat. Für ihn gehen wir aufrecht. Für ihn gehen wir kraftvoll. Für ihn gehen wir in Schönheit. Für ihn blühen wir. Wie die Pflanzen, wie die Tiere, wie die Steine.

Vielleicht fragst du dich: Wie kann ich auf diese Weise beten? Wo ist meine Kirche? Hier ist keine Natur. Hier ist keine Stille. Hier ist keine Intimität für ein Gespräch mit dem Schöpfer. – Du hast recht. Das moderne Leben macht es schwer, mit deinem Schöpfer zu reden. Alle Welt ist so sehr damit beschäftigt, den Lebensunterhalt zu verdienen, dass wir zu beten verlernt haben. Das ist die eigentliche Tragödie.

Sacred Fire Ceremony, Aajuittup Tasersua, Westgrönland, 19. Juli 2009, © CQ

Von den Schamanen

Viele Menschen stellen sich unter einem Schamanen eine Art Zauberer oder Magier vor: einen, der über übersinnliche Kräfte verfügt. Sie glauben, ein Schamane sei ein Exot in merkwürdigen Kleidern. Aber das ist nicht das, was einen Schamanen ausmacht. Ein Schamane ist ein Mensch wie du und ich – ein Mensch unter Menschen. Ein Schamane ist kein Über-Mensch, sondern ein wirklicher Mensch: ein Mensch, der in großer Achtsamkeit lebt – ein Mensch, der sich selbst erforscht und die drei Welten seiner selbst erforscht hat und der deshalb in der Lage ist, dich auf deinem inneren Weg zu begleiten; der in der Lage ist, dir dabei zu helfen, deine eigene Schönheit zu erkennen, dich selbst zu lieben und bei dir selbst anzukommen.

Einen Schamanen erkennst du nicht an seiner Trommel, an seinen Kleidern, an seinen Zeremonien. Einen Schamanen erkennst du an seiner Präsenz, an seiner Achtsamkeit, an seiner Liebe. Nicht jeder, der (in deiner Vorstellung) wie ein Schamane aussieht, ist ein Schamane. Und es gibt Schamanen, die nicht wie Schamanen aussehen, aber doch Schamanen sind. Der Dalai Lama etwa ist ein Schamane, Franz von Assisi war ein Schamane: große Lehrer, die sich der Verantwortung gestellt haben, Menschen den Weg zu weisen.

Die Lehren der Schamanen handeln immer von dir. Sie verraten dir etwas über dein Leben. Wenn etwa die Rede davon ist, dass die Schamanen in die Unterwelt reisen, dann ist damit nicht gemeint, dass sie sich durch die Steine und die Erde graben. Sondern es geht darum, dass sie in die Tiefen des menschlichen Lebens hinabsteigen. Und wenn es heißt, dass sie dort viele Menschen treffen, dann ist damit gemeint, dass sie all die Beziehungen aufdecken, die jeden Menschen mit vielen anderen verbinden. So erkunden sie die Gründe und Tiefen des Lebens. Wenn ich in die Unterwelt deines Lebens hinabsteige, dann werde ich erkennen, wer du bist. Und ich werde dir dabei helfen zu erkennen, wer du bist. Denn das ist das Wichtigste: zu erkennen, wer du bist. Die Alten sagen: »Der Grund, weshalb wir auf Erden wandeln, ist, uns selbst kennenzulernen.« Denn wenn wir uns selbst erkennen, werden wir auch den Schöpfer erkennen. Sie sagen: »Du bist ein Ebenbild des Schöpfers!« Ein Ebenbild, kein Doppelgänger! Ich sehe nicht aus wie der Schöpfer, aber ich bin doch sein Ebenbild. Und deshalb werde ich den EINEN GROSSEN erkennen, wenn ich mich selbst – sein Ebenbild – erforsche. Das ist der Sinn unserer Lebensreise.

Da aber die Verstrickungen in mir mächtig sind, ist es oft schwer, mich selbst zu erkennen. Viele Menschen haben Angst davor. Sie wollen gar nicht bei sich ankommen. Sie scheuen ihre verborgene Essenz und richten ihre Aufmerksamkeit lieber auf andere. Sie lassen sich von sich ablenken.

Wenn du dich selbst verstehen willst, schau dir an, welche Spur du in deinem Leben hinterlassen hast.

Deshalb haben wir die Lehren: damit wir wieder auf uns selbst gelenkt werden und die Augen für uns selbst öffnen. Die Lehren unterstützen uns dabei. Ebenso die Schamanen. Sie sind Instrumente, die dir helfen, dich besser zu verstehen. Sie steigen in deine Tiefe und sagen dir etwas über deine verborgene Essenz. Sie blicken in deine Instinkte und bringen die verborgenen Triebfedern deines Tuns ans Licht. Sie lenken deine Aufmerksamkeit darauf, wer oder was dich geprägt hat: wen du getroffen hast, was du gesehen hast, was du erlebt hast, wen du verletzt hast. So öffnen sie dir die Augen für dich selbst. Sie bringen dir zu Bewusstsein, was deine Handlungen bewirkt haben. Das kann schmerzhaft sein, das kann peinlich sein, das kann beschämend sein. Aber nur, wenn du dir dessen bewusst bist, welche Spur du in deinem Leben hinterlassen hast, kannst du dich selbst verstehen. Ein Schamane wird dich dabei nie anklagen. Er redet nicht von Sünde, sondern von Vergebung. Das ist ein großer Unterschied. Denn durch Vergebung kommen wir dazu, uns selbst anzunehmen und uns als Ebenbilder des EINEN GROSSEN zu erkennen.

Und nur, wenn du dich selbst verstehst und mit dir selbst im Reinen bist – in dem, was du bist und als der, zu dem du geworden bist –, wirst du dein gegenwärtiges Leben meistern. Auch dabei kann ein Schamane dich unterstützen. Er tut dies, indem er – wie wir sagen – deine menschliche Welt bereist. Die »menschliche Welt«, das ist dein alltägliches Leben: deine Familie, deine Freunde, deine Bekannten. Wenn er dorthin geht, wird er vieles sehen. Und er wird dir davon erzählen, wer und was ihm dort alles begegnet ist. Er wird darauf achten, welchen Einfluss all diese Menschen auf dich haben. Und oft haben sie einen großen Einfluss, dessen du dir überhaupt nicht bewusst bist. Oft hast auch du einen großen Einfluss auf sie, dessen du dir überhaupt nicht bewusst bist. Weil du einfach nur vor dich hin lebst. Weil du blind durchs Leben gehst und dabei die Menschen deiner Umgebung verletzt, ohne es zu merken. Der Schamane wird dich darauf stoßen. Er wird dir deine menschliche Welt zu Bewusstsein bringen.

Und er wird den Raum deiner Möglichkeiten ausloten. Das ist gemeint, wenn wir sagen, dass der Schamane den Großen Himmel bereist. Indem er das tut und dir davon Kunde gibt, wird er deinen Horizont weiten und dich öffnen, sodass du wirklich zu dem werden kannst, der du bist. Mit allen deinen Anteilen. Sodass du kraftvoll, aufrecht und in Schönheit durchs Leben schreiten kannst.

Die Aufgabe des Schamanen ist es, dich auf deinem inneren Weg zu begleiten. Er ist dafür da, dich mit dir bekannt zu machen – und dich zu der Einsicht zu bringen, wie schön du bist. Sodass du dich selbst erkennen und dich selbst lieben kannst. Dich darin zu unterstützen – durch Lehren, Geschichten und vor allem durch Zeremonien – das ist die Arbeit der Schamanen.

Von den Zeremonien

Du fragst, was dir am meisten fehlt? Am meisten fehlen dir die Zeremonien. Es gibt nichts Wichtigeres im Leben als Zeremonien. Wenn du einen Schamanen um Hilfe bittest, wird er eine Zeremonie mit dir abhalten. Er wird dies tun, um deinen Geist zu erheben. Er wird es tun, um dich zu heilen. Nichts fehlt euch Menschen des Westens mehr als Zeremonien. Ihr glaubt, Zeremonien seien etwas Geheimnisvolles und Schwieriges. Ganz so wie das Leben, das euch auch kompliziert erscheint. Aber die Wahrheit ist: Das Leben ist ganz einfach. Und wunderschön. Ihr seid es, die das Leben kompliziert macht.

Ihr Menschen im Westen habt den Sinn für das Fest des Lebens eingebüßt. Ihr habt die Zeremonien vergessen. Mehr noch: Ihr habt vergessen, dass ihr die Zeremonien vergessen habt.

Aber es gibt auch eine Gegenbewegung. Es begeistert mich, dass immer mehr Menschen mich einladen, um als Schamane mit ihnen Zeremonien zu feiern – damit sie herausfinden, was es ist, das sie vergessen haben. Ist das nicht faszinierend? Ich komme aus einem kleinen Dorf am Ende der Welt. Doch die Lehren, die ich mitbringe, werden von den Menschen überall auf der Welt verstanden und anerkannt. Überall bekomme ich gesagt: »Wow, die Lehren vom Ende der Welt sind gar nicht mal so schlecht.« Und warum? Weil sie Leben bringen. Weil sie dir Leben bringen. Weil sie es dir möglich machen, herauszufinden, wer du bist.

Mein jüngster Bruder wurde am 16. April 1958 geboren. Als er seinen ersten Fisch fing – eine Forelle –, ließen meine Mutter und mein Vater alles stehen und liegen und trommelten das ganze Dorf zusammen, um dieses Ereignis zu zelebrieren. Jeder kam, alle fünfzig Einwohner kamen zu unserem Boot. Die Großmütter brachten weitere Fische. Und dieser eine Fisch, den mein kleiner Bruder gefangen hatte, wurde zunächst nicht angerührt – nicht von meinem Vater, nicht von meiner Mutter, nicht von meinem Bruder. Dann aber, als alle da waren, erhielt jeder, der gekommen war, ein kleines Stück von ihm. Und mein kleiner Bruder, der damals zwei Jahre alt war, wurde somit zum Versorger eines ganzen Dorfes. Natürlich brauchten wir andere Fische, um unser Fest** zu feiern, aber es hatte doch jeder Dorfbewohner ein kleines Stück vom Fisch meines Bruders bekommen. Was für ein schönes Fest! Meine Mutter weinte, mein Vater konnte gar nicht mehr aufhören zu lächeln, so stolz war er. Nur mein kleiner Bruder wusste nicht recht, wie ihm geschah. Aber gleichwohl hat sich dieses Fest in seine Seele eingebrannt – dieses Fest, bei dem ein kleiner Junge im Alter von zwei Jahren seinen ersten Fisch gefangen hatte und damit zum Versorger der Seinen wurde. Heute ist er ein alter Mann – und noch immer liebt er es, fischen zu gehen. Er erinnert sich nicht mehr an seinen ersten Fisch, aber die Geschichte ist ihm von vielen Menschen immer wieder erzählt worden.

Und so gibt es bei uns unzählige Zeremonien und Feste: Wir feiern den ersten Fisch, die erste Robbe, die erste Kartoffel. Alle diese Feste erinnern uns daran, dass das Leben eine Zeremonie in sich selbst ist – wert, mit einer Zeremonie gefeiert zu werden. Doch die Menschen heute tun dies nicht mehr. Sie haben ihre Zeremonien vergessen. Und mit ihren Zeremonien vergessen sie das Leben. Die wenigen Zeremonien, die es noch gibt, sind zu Ritualen erstarrt. Meine Großmutter Aanakasaa sagte: »Wenn wir bei den Dingen, die wir tun, die Begeisterung verlieren, dann werden sie zu Ritualen.« Denn dann begehen wir sie nur noch, weil sie immer schon begangen wurden. Das gilt auch für die Zeremonien. Wenn der Geist aus ihnen geschwunden ist, werden sie zu Ritualen. Deswegen sagte meine Großmutter kurz vor ihrem Tod im Juli 1969, ihre größte Sorge sei es, ein Ritual geschaffen zu haben – dass man nämlich nach ihrem Tod sagen würde: »Wir müssen dies und jenes so tun, weil Großmutter es tat.« Sie wusste, dass Zeremonien leben und wachsen wollen – wie ein Baum, der sich zu immer größerer Schönheit und Kraft entfaltet – und dass eine Zeremonie nur noch für das Feuer taugt, wenn sie aufgehört hat, Früchte zu tragen.

Mit Zeremonien entdecken wir die Schönheit des Lebens.

Leider ist die Welt von heute voll von Ritualen und arm an Zeremonien. So viele Zeremonien haben ihren Geist verloren. Sie werden nur noch begangen, weil es seit Jahrhunderten so üblich ist. Die Rituale sind leer. Die Zeremonien hingegen helfen uns, die Schönheit und Einfachheit des Lebens zu entdecken. Sie bringen uns zu Bewusstsein, dass das Leben zu kurz und zu kostbar ist, um es in Niedergeschlagenheit und Angst zu verbringen: dass wir freundlich mit uns umgehen und die Augen für die Schönheit in und um uns öffnen sollten. Denn wenn wir die Schönheit nicht wahrnehmen, werden wir bitter und kalt. Mit dem Blick auf die Schönheit um uns verlieren wir unsere eigene Schönheit. Wir verlieren unser Gespür für das Leben, wenn wir seine Schönheit mit leeren Augen anstarren, ohne sie zu spüren. Dann hören wir auf, mit dem Herzen zu lächeln, und das Leben wird kalt und grau. Dann blicken wir wie mit Scheuklappen in die Welt, statt uns an ihrer Herrlichkeit zu erquicken. Dann geht es uns wie den Menschen, von denen die Geschichte vom Gebetsruf erzählt: Wir sind niedergeschlagen und müde.