Schmetterlinge lügen nie - Lucinde Hutzenlaub - E-Book

Schmetterlinge lügen nie E-Book

Lucinde Hutzenlaub

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Beschreibung

Verlieben über einen Chat

Auf nach Nizza! Für Charlie ist klar, dass sie schnellstmöglich nach Südfrankreich reisen muss. Denn nach einer schier endlosen Funkstille hat sich Maxim wieder bei ihr gemeldet - mit liebevollen und fast schüchternen Nachrichten über Snapchat, unterzeichnet mit "Love, Schroeder". Die können nur von Maxim sein! Denn außer ihrem besten Freund Theo weiß keiner, dass Charlie der weltallergrößte Peanuts-Fan ist. Doch als sie dann vor ihm steht, weiß Maxim nichts von den Nachrichten. Wie ist das möglich? Schmetterlinge lügen doch nicht ...

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Das Buch

Auf nach Nizza! Für Charlie ist klar, dass sie schnellstmöglich nach Südfrankreich reisen muss. Denn nach einer schier endlosen Funkstille hat sich Maxim wieder bei ihr gemeldet – mit liebevollen und fast schüchternen Nachrichten über einen Messenger-Dienst, unterzeichnet mit »Love, Schroeder«. Die können nur von Maxim sein! Denn außer ihren besten Freunden weiß keiner, dass Charlie der weltallergrößte Peanuts-Fan ist. Aber als sie dann vor ihm steht, weiß Maxim nichts von den Nachrichten. Wie ist das möglich? Schmetterlinge lügen doch nicht!

Die Autorin

© Jakob Bunt @jakobgeisselephotography

Lucinde Hutzenlaub wurde in Stuttgart geboren und lebt nach mehreren Auslandsaufenthalten auch wieder dort. Sie arbeitet als Autorin und Kolumnistin, ist verheiratet und hat drei Töchter und einen Sohn im Alter zwischen 13 und 24. Bei jeder (Liebes-)geschichte der vier lacht, liebt und leidet Lucinde immer auch ein bisschen mit.

Mehr über Lucinde Hutzenlaub: www.lucinde-hutzenlaub.de

Lucinde Hutzenlaub auf Facebook:www.facebook.com/HutzenlaubLucinde

Lucinde Hutzenlaub auf Instagram:www.instagram.com/lucindeschreibt

Der Verlag

Du liebst Geschichten? Wir bei Planet! in der Thienemann-Esslinger Verlag GmbH auch!Wir wählen unsere Geschichten sorgfältig aus, überarbeiten sie gründlich mit Autoren und Übersetzern, gestalten sie gemeinsam mit Illustratoren und produzieren sie als Bücher in bester Qualität für euch.

Deshalb sind alle Inhalte dieses E-Books urheberrechtlich geschützt. Du als Käufer erwirbst eine Lizenz für den persönlichen Gebrauch auf deinen Lesegeräten. Unsere E-Books haben eine nicht direkt sichtbare technische Markierung, die die Bestellnummer enthält (digitales Wasserzeichen). Im Falle einer illegalen Verwendung kann diese zurückverfolgt werden.

Mehr über unsere Bücher, Autoren und Illustratoren:www.planet-verlag.de

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Viel Spaß beim Lesen!

1

EINEN FREUND ZU HABEN, IST WICHTIG. EINER ZU SEIN, EBENSO. (SNOOPY)

Ma Chérie, wie geht es dir? Mir geht es gut. Wir haben sehr viel Spaß, aber tu me manques! Ich vermisse dich! XXX, Maxim

Ein letztes Mal las Charlie Maxims WhatsApp von vor ein paar Tagen, bevor sie aufstand und das Handy in die Gesäßtasche ihrer Shorts schob.

»Wer zuerst bei Toni ist, hat gewonnen!« Sie stupste ihre beste Freundin und Nebensitzerin Anouk mit dem Ellbogen an, schnappte sich ihr Zeugnis und steckte es in ihre Umhängetasche. Endlich Sommerferien! Und allerhöchste Zeit für eine kleine Ferienanfangsfeier mit Anouk, Johann und Theo am See. Wenn sie heute Abend zu Hause war, hatte Maxim bestimmt geschrieben. Schließlich hatte sie in ein paar Stunden Geburtstag, da hatte er sich sicher eine ganz besonders romantische Message für sie ausgedacht.

Jetzt wollte Charlie vor allem so schnell wie möglich raus hier, in die Sonne und zu Antonio »Toni« Bertazzoni, ihrer aller Lieblingseisdiele am See. Mit dem Fuß schob sie ihren Stuhl an den Tisch. Ein freudiges Kribbeln breitete sich in ihrem ganzen Körper aus. Sie hatte sich beinahe ein ganzes Jahr auf diesen Moment gefreut und konnte nun kaum noch eine Sekunde länger still sitzen.

»Perfekt! Und wer die besseren Noten hat, bezahlt!« Anouk stand ebenfalls auf. »Also ich!«, ergänzte sie fröhlich. »Aber das ist es mir so was von wert.«

Die komplette 10a des Otto-Hahn-Gymnasiums lachte und redete durcheinander. Keinen hielt es länger als nötig im Klassenzimmer. Sommerferien! Und nicht nur das: Morgen war Charlies sechzehnter Geburtstag. Mit dem Abschluss der zehnten Klasse hatten alle zweiunddreißig Schüler der 10a auch den Realschulabschluss in der Tasche. Keiner war durchgefallen, auch wenn das am Anfang des Schuljahres noch nicht sicher gewesen war. Schon gar nicht bei Charlie und ihrer Französisch-Fünf in der Neunten.

Draußen schien die Sonne und wartete nur darauf, die vielen viel zu blassen Schüler zu wärmen und ihnen den einen oder anderen Sonnenbrand zu verpassen.

»Tschüss, Zehner, und schöne Sommerferien!«, rief die Klassenlehrerin Frau Schubert in den allgemeinen Tumult. »Erholt euch gut und kommt gesund wieder. Ach ja, und einen Moment noch, s’il vous plaît! Was dürft ihr nicht vergessen?« Sie grinste vergnügt, als sie noch ein letztes Mal den Schülern ihr Sprücheritual aufzwang. Es war die letzten zwölf Monate so nervig wie hilfreich gewesen, und Charlie war froh, dass sie ihre Klassenlehrerin noch ein Jahr behalten würden. Auch wenn selbstverständlich nicht Frau Schuberts Sprüche, sondern vor allem Maxim der Grund dafür war, dass sich ihre Franz-Noten so deutlich verbessert hatten. Trotzdem schob sie den Gedanken an ihren Freund vorerst beiseite. Er konnte getrost noch ein bisschen warten. Denn in ein paar Tagen würde sie nach Nizza fahren und ihn endlich wiedersehen – und sich nicht nur dank der vielen Selfies, die er ihr schickte, daran erinnern müssen, wie er aussah, wie er roch und wie er sich anfühlte. Tu me manques … Du fehlst mir! Nicht mehr lange, Maxim, schwor sie sich in Gedanken. Für den wirklich allerletzten Grammatik-Spruch in ihrem Leben als Zehntklässlerin ließ Charlie sich allerdings gern noch einmal auf der Tischkante nieder.

»Vor e und i sprich ›sche‹ und ›schi‹, vor a, o, u sprich ›ga‹, ›go‹ und ›gu‹«, antwortete die Klasse das letzte Mal für dieses Schuljahr im Chor.

Frau Schubert nickte zufrieden. »Très bien. Und jetzt: Geht endlich! Au revoir!« Lächelnd scheuchte sie die Schüler nach draußen, bevor sie ebenfalls ihre restlichen Schulsachen in ihre Tasche packte, aber das sahen Charlie und Anouk schon nicht mehr.

Beide Mädchen quetschten sich kichernd durch die Klassenzimmertür, um als Erste bei den Fahrrädern zu sein. Als sie dort ankamen, waren sie völlig außer Atem. Sie versuchten, jeweils schneller als die andere das Fahrradschloss aufzuschließen.

»Erste!« Anouk hielt triumphierend ihr Schloss in die Höhe.

»Angeber!«, gab Charlie zurück. Auch sie hatte es geschafft.

Beide warfen ihre Schlösser und Schulsachen in ihre Fahrradkörbe.

»Weißt du, ob Johann und Theo auch kommen?« Anouk schob ihr Rad neben Charlies aus dem Fahrradschuppen.

»Sind Sommerferien?«, fragte Charlie zurück. »Scheint die Sonne? Ist Wasser im See? Habe ich morgen Geburtstag?«

Anouk unterbrach sie lachend. »Schon gut, schon gut, ich habe es begriffen!«

Kopfschüttelnd fuhr Charlie fort, als hätte Anouk nichts gesagt: »Was für eine Frage! Natürlich kommen sie! Es sei denn natürlich, sie sind längst da!«

Theo und Charlies Bruder Johann waren zwar nicht mehr auf dem sprachlich orientierten OHG, sondern seit dem letzten Schuljahr auf dem benachbarten Wirtschafts-Gymnasium, aber Ferien hatten sie schließlich auch. Und wo, wenn nicht am besten Ort der Welt mit den besten Menschen der Welt, sollten sie sonst sein? Also jedenfalls, wenn man mal von Maxim und dem steinigen Strand von Nizza absah.

Charlie stieg auf ihr weißes Rad, das sie ihrer Oma abgeschwatzt hatte, weil es so schön altmodisch war und einen total bequemen Sattel hatte. Sogar ein geflochtener Korb war vorne am Lenker befestigt, den Charlie noch zusätzlich mit Seidenblumen geschmückt hatte, sodass ihr Bruder jedes Mal einen Lachkrampf bekam, wenn er sah, wie sie dieses Rad anstelle ihres modernen Mountainbikes benutzte. Aber Johann hatte schließlich auch keinen blassen Schimmer von Style und interessierte sich nur für Geschwindigkeit und Sport und … seit Neuestem auch noch für ihre beste Freundin Anouk, aber das war eine ganz andere Geschichte. Leider hatte das Rad tatsächlich nur drei Gänge, somit war ihre Chance, zeitgleich mit Anouk oder gar vor ihr am See zu sein, bei null. Aber das machte nichts. Hauptsache, sie würden gleich alle zusammen in den bunten Klappliegestühlen chillen und aufs Wasser schauen.

»Theo und du, ihr braucht echt kein Telefon, um euch zu verabreden, oder?«, fragte Anouk, während sie nebeneinander durchs Schultor nach draußen radelten.

»Was meinst du?« Charlie war ein wenig vom Abschiednehmen abgelenkt. Sechs Wochen ohne den Pausenhof, das Basketballfeld und die Schulglocke.

Bye-bye, OHG und zehnte Klasse, dachte Charlie, au revoir und auf Wiedersehen in der Elften. Hello, Sommerferien. Salut, Maxim. Tu me manques aussi! Ich vermisse dich auch!

Ihr Bauch kribbelte voller Vorfreude. Höchste Zeit, dass sie sich wiedersahen. Sie hatte schon vergessen, wie seine Stimme klang, wenn er ihren Namen sagte.

Ach, Maxim. Sie seufzte.

»Alles klar?« Anouk schielte zu ihr rüber.

»Ja, klar alles klar! Ich habe nur gerade …«

»… an Maxim gedacht«, vervollständigte ihre beste Freundin Charlies Satz und schnaubte.

»Woher …?« Verwirrt sah Charlie zu Anouk hinüber.

»Woher ich das weiß?«, erwiderte sie grinsend und verdrehte die Augen. »Na, ganz einfach: Weil ich diesen Seufzer seit den letzten Sommerferien schon bestimmt tausend Mal gehört habe.« Sie schüttelte den Kopf. »Aber ganz ehrlich: Wenn er im richtigen Leben nicht mehr zu sagen hat, als in seinen WhatsApps, dann verstehe ich echt nicht, was du an ihm findest. Ich meine, mehr als Hallo, Charlie, was geht ab, ich vermisse dich, hier das dreimillionste coole Surferfoto von mir, hat er dir noch nie geschickt, oder?«

Charlie wusste, dass ihre Freundin es nicht böse meinte, aber trotzdem versetzte ihr die Art und Weise, wie Anouk von dem Jungen sprach, in den Charlie verliebt war, einen Stich, und sie schluckte die bissige Bemerkung hinunter, die ihr auf der Zunge lag.

»Was hast du damit gemeint, dass Theo und ich kein Telefon brauchen, um uns zu verabreden?«, lenkte sie schnell vom Thema ab. Die Sommerferien und ihr Geburtstag waren wichtiger und besser, als mit Anouk wegen Maxim zu streiten. Schließlich kannte sie ihn überhaupt nicht und hatte keine Ahnung, wie er wirklich war. Aber eine leise schmerzhafte Stimme wisperte tief in ihr, dass an dem, was Anouk gesagt hatte, sehr wohl was dran war. Und abgesehen davon hatte Maxim schon eine halbe Woche gar nichts mehr geschrieben. Noch nicht einmal ein Foto von sich hatte er geschickt, und das war noch nie vorgekommen. Besser also, sie beschäftigte sich mit Anouks Theorie von der Gedankenübertragung zwischen ihr und ihrem besten Freund Theo. Schräg genug war es ja schon, dass sie beide diese ganz spezielle Verbindung hatten.

»Weißt du eigentlich immer, wo er ist?«, fragte Anouk und trat in die Pedale, um sich besser in den Verkehr einfädeln zu können. Den ersten Teil der Strecke mussten sie auf der Straße fahren, bevor am Ortsausgang endlich der Fahrradweg begann.

Charlie gab Gas, damit ihre Freundin ihr nicht davonfuhr.

»Keine Ahnung, da habe ich noch nicht wirklich drüber nachgedacht«, behauptete sie und war froh, dass Anouk ihr nicht ins Gesicht sehen konnte, denn dann hätte sie bemerkt, dass Charlie schwindelte. Sie hatte sehr wohl darüber nachgedacht. Und sie hatte sich dabei selbst ziemlich oft gefragt, woher diese Verbindung kam und warum es sie gab. Klar, sie war auch mit Anouk total eng, und schon allein weil sie in dieselbe Klasse gingen und mit denselben Leuten abhingen, wusste sie meistens, wo sie ihre Freundin finden konnte, aber mit Theo war es trotzdem anders. Sie waren miteinander aufgewachsen, schon klar, aber das hieß noch lange nicht, dass sie auch dieselben Sachen lustig finden mussten, die außer ihnen anscheinend keiner witzig fand. Dass sie einfach wusste, wo Theo war, und noch viel schräger, wie er sich fühlte. Seit einiger Zeit war das allerdings nicht mehr ganz so deutlich spürbar für sie gewesen. Theo war irgendwie … verschlossen. Er hielt Charlie immer ein klitzekleines bisschen auf Abstand, was außer ihr niemand merkte. Es hatte direkt begonnen, nachdem sie Theo von Maxim erzählt hatte. Bescheuert, was sie da dachte. Als ob er darauf Einfluss nehmen konnte oder gar eifersüchtig auf Maxim war. Sie schüttelte über sich selbst den Kopf. Sie waren beste Freunde, auch wenn sie beide letztes Jahr für einen Augenblick beinahe gedacht hatten, dass mehr daraus werden würde. Ein kurzer Kuss in einer Sommernacht, mehr ein Zufall als Absicht, und ein kurzes Aufflattern von Schmetterlingen, die sich irgendwie verirrt haben mussten … Ein Irrtum. Ein Versehen. Nicht schlimm. Über kurz oder lang würde auch Theo jemanden kennenlernen, und dann würde sie sich für ihn freuen, so wie er sich für sie und Maxim freute. Eifersüchtig. Beinahe hätte sie laut aufgelacht.

»Du bist heute echt merkwürdig drauf, Charlie Brown!« Anouk sah sie von der Seite an. »Was ist denn jetzt wieder? Überlegst du etwa schon, wer von uns das Eis zahlt? Nichts zu machen, ma chère, ich habe definitiv die bessere Franz-Note, Maxim hin oder her.« Sie grinste.

»Aber du kannst sagen, was du willst«, gab Charlie gut gelaunt zurück, »dank ihm rücke ich auf!« Es stimmte: Der zweiwöchige Französischsprachkurs in Nizza hatte Charlie wirklich wahnsinnig viel gebracht, aber Maxim hatte mit der stabilen Drei vermutlich mehr zu tun als der Paukkurs. Immerhin wollte sie ihm zuliebe diese schrecklich schwierige Sprache plötzlich lernen und es hatte funktioniert. Mit Anouk und ihrem Einserschnitt würde sie trotzdem nie mithalten können, aber das war auch nicht wichtig. Hauptsache, sie konnten auch im nächsten Schuljahr wieder nebeneinandersitzen.

Auf dem Parkplatz vor dem kleinen Wäldchen, durch das man an den See und somit auch zur Eisdiele gelangte, standen ziemlich viele Autos. Um diese Zeit waren normalerweise kaum Schüler am See, dafür eine ganze Menge Mütter mit ihren kleinen Kindern oder Rentner, die mit unglaublichem Ehrgeiz Bahnen zogen, und Rentnerinnen, die knietief im Wasser standen und sich mit geblümten Badekappen auf dem Kopf den neuesten Klatsch erzählten oder über die Wasserqualität fachsimpelten. Aber heute war der erste Ferientag und ab sofort gehörte der See den Schülern.

Anouk und Charlie tauchten in das kühle Grün des Wäldchens. Rollsplit knirschte unter ihren Rädern und das typische Kreischen und Juchzen von Kindern und Jugendlichen, die vom hölzernen Sprungturm sprangen oder im flacheren Wasser Ball spielten, drang an ihr Ohr. Und noch etwas:

»Charlie? Charlie Brown? Hey, wartet doch mal!«

Gerade als sie den Wald hinter sich gelassen hatten, hörten sie, wie zwei Fahrräder schnell zu ihnen aufschlossen. Rechts und links der beiden Mädchen tauchten Johann und Theo auf, aber da war es wieder: Selbst wenn Theo nicht ihren Namen gerufen hätte, Charlie hätte gespürt, dass er es war. Die beiden Jungs waren von oben bis unten komplett mit Schlamm bespritzt. Direkt neben dem See war ein sogenannter Trail, ein schmaler und steiler Pfad, auf dem nicht nur Johann und Theo, sondern auch noch viele andere Jugendliche mit ihren Mountainbikes ziemlich waghalsig bergab fuhren. Ihr größtes Glück war dabei eine kleine Senke, die selbst an heißen Tagen wie heute so viel Wasser gespeichert hatte, dass es für eine ordentliche Schlammdusche reichte.

»Na? So gute Laune? Seid ihr etwa doch noch versetzt worden?« Theo fuhr freihändig und rieb sich über sein verschwitztes und schlammverspritztes Gesicht, aber damit verschlimmerte er es nur noch. Die beiden Mädchen lachten.

»Wir schon, aber wie sieht es mit euch aus?« Anouk machte absichtlich einen kleinen Schlenker in Johanns Richtung, sodass er ausweichen musste, knapp vorbei an einem tief hängenden Ast.

»Hey! Sollen wir dir deine Stützräder wieder anmontieren, Nucki?« Johann nannte Anouk hartnäckig bei ihrem Spitznamen aus Kindergartenzeiten, von dem sie behauptete, dass sie ihn überhaupt nicht leiden konnte. Aber Charlie glaubte ihr kein Wort. Warum sonst hätte sie sich sowohl auf Instagram als auch auf Snapchat so nennen sollen?

»Was? Du kannst einen Schraubenschlüssel halten?«, konterte sie und strahlte Charlies Bruder an.

»Na warte! Das wirst du nachher büßen, wenn wir im Wasser sind! Wie lange genau kannst du die Luft anhalten?«

Charlie spürte, wie ein unglaubliches Glücksgefühl in ihr aufstieg, während sie dem fröhlichen Geplänkel ihrer Freunde und ihres Bruders zuhörte. Hier war sie, Charlotte Haferkamp, versetzt in die elfte Klasse, nur noch ein paar Stunden von ihrem sechzehnten Geburtstag entfernt, mit den Menschen, die sie außer ihrer Familie am liebsten hatte. Das heißt, einer fehlte natürlich. Maxim.

In dem Moment, als der See funkelnd und verheißungsvoll vor ihnen auftauchte und Charlies Clique weiter herumalberte, mischte sich eine unglaubliche Sehnsucht in ihr Glück.

Wenn nur Maxim auch hier sein könnte. Oder besser noch: Charlie bei ihm in Nizza. Aber diesen Wunsch musste sie ihren Freunden ja nicht auf die Nase binden. Sie würden es vermutlich sowieso nicht verstehen. Vielleicht aber hatte er ja wenigstens geschrieben.

2

MEINE NEUE PHILOSOPHIE: ALLES IST GUT. (SALLY BROWN)

»Okay, Leute, wer nimmt was? Und natürlich das Wichtigste: Wer zahlt?« Grinsend nahm Theo seinen Helm ab und fuhr sich durch die braunen Haare, die in alle Richtungen abstanden. Charlie musste lachen. Überall da, wo der Helm und die Sonnenbrille sein Gesicht bedeckt hatten, war er sauber, aber um seine Augen herum trug er eine Extra-Brille aus Dreck. »Du siehst aus wie ein Panzerknacker, Theo. Hat dir noch nie jemand gesagt, dass man das Visier auch runterklappen kann?«

»Ach, dafür ist das Ding da!« Übertrieben erstaunt schlug er sich gegen die Stirn. Seine grünen Augen blitzten vergnügt. »Und ich dachte immer, das nimmt man nur, wenn es regnet … Panzerknacker, also wirklich! Ich bin doch kein dummer Bankräuber! Du liest einfach zu viele Comics, Charlie Brown!« Er wuschelte ihr durch die langen rotblonden Haare.

Es stimmte: Charlie liebte Comics. Am allermeisten aber liebte sie Snoopy, Lucy, Sally, Woodstock und eben Charlie Brown von den Peanuts und mochte es dementsprechend auch, wenn Theo sie Charlie Brown nannte. Es klang so vertraut. Klar, auch die anderen benutzten diesen Spitznamen, aber wenn Theo sie Charlie Brown nannte, dann fühlte es sich an wie ein Geheimcode für ihre Freundschaft. Darin steckte alles, was sie beide ausmachte und verband. Lustig, dass sie sich nie einen Spitznamen für Theo ausgedacht hatte. Wenn sie Charlie Brown war, wer war dann er? Charlie musste lachen, als Theo seinen Kopf schüttelte und kleine Dreckbröckchen durch die Gegend flogen. Ganz einfach: Wie hieß das schmutzigste Wesen bei den Peanuts?

»Was grinst du so, Charlie Brown?« Er hatte sie natürlich ertappt.

»Ich? Ach, nichts, liebster Theo. Ich habe mir nur gerade überlegt, wer von den Peanuts du wohl wärst.«

»Und auf wen bist du gekommen?«

»Da gibt es nur einen: Pig Pen! Ein netter Kerl, ehrlich, aber dass er immer diese Wahnsinns-Staubwolke um sich hat …« Sie drehte sich schnell weg, als Theo sich noch einmal extra stark schüttelte.

»Was meinst du mit Staubwolke?« Er lachte, als sie sich demonstrativ über die Arme wischte. »Also, ich hätte da an jemand ganz anderen gedacht«, sagte er dann lächelnd.

Es sollte bestimmt ein Scherz sein, aber Charlie spürte, dass mehr dahintersteckte als nur ein kurzer alberner Dialog zwischen ihnen beiden. Und natürlich war Theo nicht Pig Pen. Auch wenn er das Dirtbikefahren liebte, so war er doch abgesehen davon immer frisch geduscht und roch ziemlich gut. Außerdem trug er diesen lässigen Skater-Style, bestehend aus Shirt, kurzer Hose und Vans oder Flip-Flops, meist gekrönt von einer Cap oder Mütze, die an ihm gut aussah, ohne dass er eitel rüberkam.

Theo war mindestens einen Kopf größer als Johann und ziemlich schlaksig, dabei hatte er immer Hunger und aß alles auf, was ihm in die Finger kam. Seine Arme, sein Gesicht und seine Beine waren schon leicht gebräunt, weil er ständig draußen war. Dementsprechend waren seine Noten wie die von Charlie auch eher durchschnittlich. Auf Theo würde daher vermutlich ebenfalls nicht das Los fallen, das Eis für seine Freunde zahlen zu müssen. Johann, Charlies großer Bruder, war da schon eher ein Kandidat. Er war mit seinen blonden längeren Haaren optisch genau das Gegenteil seines Freundes, außerdem schon achtzehn und ihm auch, was die Noten anging, ein paar Schritte voraus. Charlie war stolz auf ihren großen Bruder, weil er superzuverlässig war, ein megaguter Sportler und weil er ein Ziel hatte: Johann wollte Medizin studieren und irgendwann bei Ärzte ohne Grenzen dabei sein. Dass er freiwillig für ein Einser-Abi paukte, konnte Charlie zwar überhaupt nicht verstehen, aber sie fand es toll, wie zielstrebig er unterwegs war. Und dass er trotzdem ein echt guter Freund und immer zur Stelle war, wenn ihn jemand brauchte. Das hatte er mit Theo gemeinsam. Und zumindest in diesem Moment – den Dreck im Gesicht.

»Dieses Jahr ist definitiv Anouk dran mit Bezahlen«, sagte Johann gerade. »Ich habe leider nur einen Schnitt von eins Komma acht, dank Deutsch.« Er verdrehte die Augen. »Ich verstehe es einfach nicht. Warum muss man auf dem Wirtschafts-Gymnasium auch unbedingt Noten in Deutsch bekommen? Ich habe doch dorthin gewechselt, weil ich gut mit Zahlen umgehen kann und eben nicht mit Buchstaben. Zum Glück hab ich noch ein Jahr bis zum Abi.« Er fuhr sich durch seine blonden Haare und seufzte theatralisch. »Wenigstens hab ich nicht auch noch Französisch«, fuhr er fort. »Das wäre echt mein Tod!«

Charlie und Anouk lachten, während sich Theo über ihre Räder beugte, um sie zusammenzuschließen.

»Apropos Französisch, Charlie: Wie sieht’s denn bei dir aus?«, schaltete sich Theo ein, ohne aufzusehen. »Musst du wieder in deinen Paukkurs oder kannst du diesen Sommer ein bisschen länger mit uns abhängen?«

Schwierige Frage. Charlie hoffte natürlich sehr darauf, dass sie noch mal nach Frankreich und zu Maxim fahren durfte. Aber ihre Eltern hatten nichts dergleichen gesagt und bloß immer wieder erwähnt, wie sehr sie sich über Charlies gute Französischnote freuten. Eine schlechte Note zu schreiben, nur um nach Nizza fahren zu können, war also nicht wirklich eine Option gewesen. Und dann gab es da noch die Tatsache, dass ihre Beziehung zu Maxim das Einzige war, worüber Theo und sie noch nie wirklich gesprochen hatten und sie nach wie vor nicht so richtig wusste, wie er darüber dachte.

»Ich … also … keine Ahnung …« Sie zuckte mit den Schultern. »Mal sehen«, murmelte sie. Höchste Zeit, das Thema zu wechseln. »Ich hab jedenfalls eine Drei in Franz.« Plötzlich war die Freude über das gute Zeugnis irgendwie verpufft, daran änderte auch das Gejohle ihrer Freunde und Theos Faustcheck nichts. Sie musste zwar lachen, aber irgendwie fühlte sich alles so falsch an, auch wenn Theos Gesicht vor Glück strahlte. Wenn sie doch auch nur so glücklich über ihre Note sein könnte …

Anouk legte den Arm um sie. Sie war die Einzige, der Charlie alles von Maxim erzählt hatte. »Wird schon klappen«, flüsterte sie, »auch wenn …«

»Ich weiß«, unterbrach Charlie ihre Freundin und verdrehte die Augen, »auch wenn du Maxim für einen selbstverliebten Angeber hältst und dir wünschst, ich würde das endlich einsehen.«

»Wer ist ein selbstverliebter Angeber?«, schaltete sich Johann ein. »Ihr sprecht hoffentlich nicht von mir!«

»Na, von wem sonst, Bruderherz?«, gab Charlie zurück und alle lachten.

»Hey, und überhaupt: Eine Drei ist noch lang kein Grund, auf ein Eis zu verzichten!« Anouk grinste und stieß ihre Freundin mit dem Ellbogen in die Seite, bevor sie sich wieder an Johann wandte. »Aber sieht tatsächlich so aus, als würde ich zahlen, Jonny.« Sie zeigte mit dem Daumen auf sich selbst. »Eins Komma drei, tut mir leid.« Sie grinste. »Also … wenn du mal Deutschnachhilfe brauchst, darfst du dich gern melden.« Sie hielt Charlie die Faust hin, damit sie dagegenboxen konnte, wie immer bei einem besonders gelungenen Scherz, und lachte, als Johann stöhnend die Hände vors Gesicht schlug.

»Du machst mich fertig, Nucki!«

»Immer gern«, antwortete sie und warf ihm eine Kusshand zu. Charlie sah das glückliche Glitzern in ihren Augen, als er sie fing. Auch ihr Bruder strahlte über das ganze Gesicht. Das hier schien die Sommerromanze schlechthin zu werden. Fehlte nur noch jemand für Theo, dachte Charlie.

»Ecco: Was darfe sein, junge Dame?« Theo unterbrach ihre Gedanken, indem er eine kleine Verbeugung in Richtung Anouk machte. Er ahmte damit Antonio »Toni« Bertazzoni perfekt nach, den Besitzer der Eisdiele am See. Dort kellnerten die vier seit dem letzten Sommer regelmäßig oder gönnten sich selbst ein Eis.

»Ich nehme Mango und Minze.« Johann überkreuzte die Arme vor der Brust. »Selbstverständlich mit Sahne. Weil du es bist, Nucki, sogar die doppelte Menge!«

»Ekelhaft!«, konterte sie und meinte ziemlich sicher die Eiskombination.

Johanns Geschmacksnerven waren vermutlich aus Beton, sonst würde er sich nicht immer die seltsamsten Eissorten aussuchen. Charlie war sich sicher, dass er der Erste wäre, der begeistert Erdbeer-Tortilla oder Kirsch-Salami ausprobieren würde, wenn Toni auf die absurde Idee käme, solche Sorten zu produzieren. Glücklicherweise war Minze das Exotischste, was er im Programm hatte. Schlimm genug.

Gemütlich schlenderten sie die wenigen Meter von den Fahrradständern zu Tonis Theke, von wo aus er ihnen schon zuwinkte.

»Allora, da seid ihr ja endlich! Habe ich schon gedacht, ihr versteckt euch zu Hause, weil eure Noten so schlecht sind!« Er kicherte über seinen eigenen Scherz.

Toni war mindestens sechzig und hatte sowohl einen riesigen Bauch als auch einen riesigen Schnauzbart und ein riesiges Herz. Seine Frau Anna stand in der Küche und machte außer dem Eis auch noch kleine köstliche Panini, Pizzaiolas und Bruschette, die die Seegäste ihr beinahe aus den Händen rissen. Die beiden hatten nicht nur drei Kinder, sondern auch unzählige Enkel, die aber alle in Italien, genauer gesagt in Syrakus, Sizilien, lebten, und nach denen sich sowohl Anna als auch Toni unglaublich sehnten. Ab Ende September bis Ende April war die Eisdiele deshalb auch geschlossen und die beiden fuhren nach Hause. Aber im Sommer arbeiteten sie rund um die Uhr und behandelten stattdessen Theo, Charlie, Anouk und Johann, als wären sie ihre eigenen Kinder.

Der See war der beste Platz der Welt, da waren sich alle einig, aber ein Sommer dort ohne Toni und Anna war unvorstellbar.

»Ecco: Was darfe sein, junge Dame?« Es hörte sich genauso an, wie Theos Version und selbstverständlich fehlte auch die Verbeugung nicht. Als dann auch noch Johann seine merkwürdige Bestellung aufgab und Toni sich mit vor Ekel verzogenem Gesicht schüttelte, lachten alle.

»Bene, einmal Mango, Minze und Sahne«, wiederholte er und schüttelte sich gleich noch einmal. »… Das ist eine schreckliche Combinazione, Giovanni, mein Freund.« Kopfschüttelnd reichte er Johann sein Eis.

»Was ist mit dir, Anita? Teodoro? Carlotta?« Toni war felsenfest davon überzeugt, dass jeder Name italienische Wurzeln hatte, und weigerte sich dementsprechend, sie anders zu nennen. Besonders »Anita« fand ihren Namen komplett bescheuert, aber sie liebte Toni und deshalb reagierte sie auch darauf.

»Ich nehme eine Eisschokolade. Und du, Theo?«

»Ich hätte gern eine Kugel dunkle Schokolade und einmal Stracciatella, natürlich auch mit Sahne. Also, wenn Sahne zu Stracciatella okay ist, Toni …« Er strahlte und Toni strahlte zurück. Mit leckerem Essen konnte man beide sehr glücklich machen.

»Sì sì, naturalmente iste das okay! Das iste perfetto, um genau zu sein!« Schwungvoll steckte er eine Extra-Waffel in die Sahne.

»Und Charlie nimmt Spaghetti-Eis, wie ich sie kenne. Oder, Charlie?«, fragte Theo und leckte genüsslich den ersten Löffel ab.

Charlie war gerade dabei, Anna zu umarmen, die aus ihrer Küche gekommen war, und hielt erstaunt in der Bewegung inne.

Theo hatte sich sicher gar nichts dabei gedacht, aber das war es, was Anouk vorhin gemeint hatte. Jetzt kam es Charlie selbst ziemlich seltsam vor, dass Theo genau wusste, was sie gerade bestellen wollte – denn Charlie nahm nicht etwa immer Spaghetti-Eis. Um genau zu sein, sogar eher selten. Meistens war es ihr zu viel und auch zu teuer und ihr reichte eine Kugel Vanille oder Schoko. Aber manchmal und zu besonderen Anlässen musste es eben Spaghetti-Eis sein.

Für Theo war es das Normalste der Welt und sicher hatte auch sie schon tausend Mal Eis für ihn bestellt, ohne überhaupt zu fragen, was er wollte. Aber irgendwas war daran nicht normal. Sonst würde Anouk sie auch nicht so wissend ansehen und dabei grinsend nicken.

Charlie schob die Grübeleien beiseite. Es war auf jeden Fall ein schönes Gefühl, dass Theo und sie sich so gut kannten. Basta. Und trotzdem und aus Prinzip: »Nein, heute nicht. Heute …« Sie tat so, als müsse sie überlegen. »… Heute nehme ich einen Krokantbecher.«

Theos Gesichtsausdruck hätte nicht verblüffter sein können. Er starrte sie mit offenem Mund an. Dazu der Dreck über den Augen … Charlie konnte nicht anders, sie musste einfach lachen. Sie hasste Krokant, und Theo wusste es.

Glücklicherweise wusste das auch Toni. »Das habe ich überhört, junge Dame. Du bekommste Spaghetti-Eis. Sonste sind keine richtigen Ferien. Und noch ein Wort zu dir, Giovanni: Du haste mich schwer enttäuscht. Minze und Sahne … also ehrlich.« Er schnalzte mit der Zunge. »Ich weiße nicht, ob du überhaupt noch ein einziges Mal ein Eis von die beste Bertazzoni verdienst. Den anderen bringe ich ihre Eisbecher soforte!« Brummelnd ließ er die vier stehen und ging wieder in die Küche, wo er sich sicher noch einmal bei Anna über »Giovanni« beschweren würde.