Schnee an der Riviera - Rosa Cerrato - E-Book
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Rosa Cerrato

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Beschreibung

Gestatten: Rosso, Nelly Rosso.

Anfang vierzig, stattliche eins achtzig, rote Locken, Sommersprossen und kein bisschen zimperlich. In ihrem ersten Fall nimmt es die eigensinnige Kommissarin mit einer skrupellosen Drogenbande, einer etwas zu einflussreichen Genueser Familie und einer Handvoll Jugendlicher auf, die nicht wissen, was sie tun. Wenn nur nicht einer davon ihr Sohn Maurizio wäre ...

"Ein Krimi mit Klasse, der den Leser von der ersten bis zur letzen Seite gefangen hält. Rosa Cerrato ist in jeder Hinsicht eine Grande Dame des Kriminalromans." Il Giornale.

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Seitenzahl: 449

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Rosa Cerrato

Schnee an der Riviera

Nelly Rosso ermittelt

Kriminalroman

Aus dem Italienischen von Verena von Koskull und Esther Hansen

Impressum

Die Originalausgabe unter dem Titel

Delitto al Paul Klee

erschien 2006 bei Fratelli Frilli Editori

ISBN 978-3-8412-0510-0

Aufbau Digital,

veröffentlicht im Aufbau Verlag, Berlin, Juli 2012

© Aufbau Verlag GmbH & Co. KG, Berlin

Die deutsche Erstausgabe erschien 2009 bei Aufbau Taschenbuch, einer Marke der Aufbau Verlag GmbH & Co. KG

Delitto al Paul Klee © 2006 Fratelli Frilli Editori

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jegliche Vervielfältigung und Verwertung ist nur mit Zustimmung des Verlages zulässig. Das gilt insbesondere für Übersetzungen, die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen sowie für das öffentliche Zugänglichmachen z.B. über das Internet.

Umschlaggestaltung © Mediabureau Di Stefano, Berlin unter Verwendung mehrerer Fotos von Marje Cannon, Roberta Casaliggi, Danny Smythe, Serghei Starus, Duncan Walker, Isabelle Zacher-Finet/iStockphoto

Konvertierung Koch, Neff & Volckmar GmbH,

KN digital – die digitale Verlagsauslieferung, Stuttgart

www.aufbau-verlag.de

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Impressum

Inhaltsübersicht

ERSTER TAG – Morgen

ERSTER TAG – Nachmittag

ERSTER TAG – Abend

ZWEITER TAG – Morgen

ZWEITER TAG – Nachmittag

ZWEITER TAG – Abend

DRITTER TAG – Morgen

DRITTER TAG – Nachmittag

DRITTER TAG – Abend

VIERTER TAG – Morgen

VIERTER TAG – Nachmittag

VIERTER TAG – Abend

FÜNFTER TAG – Morgen

FÜNFTER TAG – Nachmittag

FÜNFTER TAG – Abend

SECHSTER TAG – Morgen

SECHSTER TAG – Nachmittag

SECHSTER TAG – Abend

SIEBTER TAG – Morgen

ACHTER TAG – Morgen

ACHTER TAG – Nachmittag

ACHTER TAG – Abend

NEUNTER TAG – Morgen

NEUNTER TAG – Nachmittag

NEUNTER TAG – Abend

ZEHNTER TAG – Morgen

Zwei Wochen später

Auf der Terrasse

Woanders

ERSTER TAGMorgen

Kommissarin Nelly Rosso öffnete die Augen nur, um sie sofort wieder zu schließen. O nein, nicht schon wieder ein Tag! Der Frühling ließ sich so mühsam an, so zäh, und sie war so müde. Der Wecker hatte noch nicht geklingelt, und ehe sein quälendes Piepen die letzten Überbleibsel ihres Traumes verdrängen konnte, tastete sie danach und schaltete ihn aus. Obwohl sie versuchte, an den Traumbildern festzuhalten, schlüpfte ihr alles Wesentliche durch die Finger und verlor sich bis auf einige Fetzen langsam im Nebel. Es war ein schöner Traum gewesen, ihre Mutter war darin vorgekommen, auch ihr Kater Negus, und sie war klein gewesen ... Es half nichts, der Traum verkroch sich wieder in die hintersten Winkel des Unterbewusstseins, aus denen er hervorgekommen war, und seufzend stand Nelly auf.

An der Wand gegenüber dem großen, schlichten, lediglich aus einem dunklen Holzrahmen bestehenden Ikea-Bett hing ein riesiger, rahmenloser Spiegel, aus dem ihr Bild sie allmorgendlich begrüßte, sofern sie Lust hatte, es sich anzusehen. An diesem Morgen hielt Nelly den Blick gesenkt, um ihre kräftige, für eine Frau recht muskulöse Gestalt mit den verwuschelten roten Haaren und dem müden Gesicht nicht sehen zu müssen, und tapste lustlos und mit halbgeschlossenen Lidern Richtung Bad. Vielleicht würde eine kalte Dusche ihr ein bisschen Schwung verpassen, aber erst mal musste sie Mau wecken.

Maurizio, genannt Mau, lag zusammengekauert wie ein Fötus, ohne Decke und nur mit einer Unterhose bekleidet da und schlief.

»Es bleibt ihm gar nichts anderes übrig, als zusammengekauert zu schlafen«, dachte die Mutter, »das Bett ist schließlich viel zu kurz.« Dabei war es ein ganz normales Erwachsenenbett, nur dass Mau mit seinen siebzehn – Verzeihung – achtzehn Jahren und einem Monat einen Meter neunzig groß war. Nelly hoffte heimlich, er würde nicht noch mehr wachsen, denn er überragte jetzt schon seine Freunde, seine Lehrer und auch sie selbst, obwohl sie mit ihren eins achtundsiebzig alles andere als klein war.

»Mau, na los, aufstehen, mein Schatz.«

Sie rüttelte ihn sanft, bis er grunzte, dann schob sie eine CD in die Stereoanlage, drückte auf »on«, und softe Santana-Klänge erfüllten das kleine Zimmer. Der Junge drehte sich seufzend auf die andere Seite. Entschlossen betrat Nelly das Badezimmer.

Die Dusche brachte die entscheidende Wendung, und die Frau, die aus der Kabine trat, war um einiges lebendiger als die, die darin verschwunden war. Erstaunlicherweise war Mau bereits in der Küche, und ein verlockender Geruch nach Toast lag in der Luft. Der Tisch war sorgfältig gedeckt, Butter, Marmelade, Crostini, sogar gekochte Eier. Gurgelnd stieg der duftende Kaffee in der Espressomaschine hoch.

»Womit hab ich denn das verdient?«, fragte Nelly fröhlich und versuchte, ihren Jungen zu küssen. Doch der wich ihr sofort aus, was bei seiner Länge keine große Kunst war. Er ließ sich schon seit einer ganzen Weile nicht mehr küssen, und wenn, dann nur äußerst widerwillig.

»Du hast vor achtzehn Jahren den richtigen Typen rangelassen«, gab er heiser zurück.

Nelly sah ihn an und fragte sich, was wohl hinter dieser Schnoddrigkeit steckte. Maus Vater war gestorben, als er gerade zwei war, er erinnerte sich nicht an ihn, und womöglich litt er darunter.

»Vielleicht sollte ich ihm mehr von seinem Vater erzählen ... Wenn es nur nicht noch immer so weh täte ...«, dachte sie. Sie beschloss, die Sache nicht weiter zu vertiefen. Ihre bewährte Überlebensstrategie.

»Da hast du wohl recht, ich hab verdammtes Glück gehabt«, antwortete sie versöhnlich.

»Die Katzen haben schon was bekommen.« Mau zog es vor, das Thema zu wechseln. »Hätte ich den Biestern nichts gegeben, hätten die glatt mich gefressen«, fügte er hinzu und übertrieb wie immer maßlos.

Mau mochte Hunde, war aber von klein auf gezwungen gewesen, mit Generationen von Katzen zusammenzuleben. Die jetzigen drei, Pippo, Minni und Silvestro, Musterexemplare der in unterschiedlichen Nuancen grauschwarz getigerten europäischen Hauskatze, hockten mit der ihrer Spezies eigenen Eleganz vor drei farbigen Näpfen auf der Terrasse. Hastig schmierte sich Nelly einen Toast mit Butter und Bitterorangenmarmelade und trat hinaus. Wie immer überkam sie ein Glücksgefühl. Der großspurig »Terrasse« genannte Austritt bestand lediglich aus zwei insgesamt fünf Quadratmeter großen Ebenen mit einer winzigen Laube auf der ersten, doch der Ausblick war einfach atemberaubend. Das tiefblaue, ruhige Meer erstreckte sich bis zum Horizont; rechts zogen sich die Berge Richtung Frankreich, links konnte man die ganze Küste bis nach Portofino überblicken, dessen Kap an einen riesigen, im Wasser liegenden Dinosaurier erinnerte. Geradeaus der Hafen, der Leuchtturm, und direkt unter ihr das schiefergraue Dächermeer der Altstadt. Die von Mau liebevoll gepflegten Geranien, die Nellys schwarzen Daumen überlebt hatten, dufteten, und das vom Basilikum dominierte Aroma der Kräuter (um die sich ebenfalls Mau kümmerte, weil sie weder Zeit noch Lust dazu hatte) wehte ihr entgegen.

»Wir beide können uns echt glücklich schätzen, weißt du das, Mau?«

Mau hatte für Gefühlsduseleien nichts übrig und sie eigentlich ebenso wenig.

»Kommt drauf an«, gab er lakonisch zurück und schlüpfte in seine vorschriftsmäßig geflickte Jeansjacke.

Er hatte eine unglaubliche Menge Toasts und drei gekochte Eier verdrückt, doch sah man ihm das nicht an. Er war dünn wie ein Strich, und das rötlichbraune, schulterlange und zu Dreadlocks verfilzte Haar ließ sein Gesicht noch länger und hagerer erscheinen, kaschierte aber immerhin die pickelige Teenagerhaut ein wenig.

»Ciao, Ma.«

Noch ehe Nelly etwas antworten konnte, war er verschwunden. Kurz darauf verließ auch sie das Haus. Die kleine Piazza lag noch im Schatten, und nach und nach öffneten die Läden. Wie immer bog sie links in die erste Gasse ein und betrat Beppes Bar. Eigentlich war es weniger eine Bar, denn eine enoteca, ein Weinlokal alten Stils, von denen es selbst in der Altstadt nur noch wenige gab. Sonderlich sauber war es darin nicht, aber in dem sowieso ziemlich schummrigen Schankraum fiel das kaum auf. Abgesehen von dem relativ neuen Tresen (zwanzig Jahre alt?) hatte sich das Inventar seit der Eröffnung vor vierzig Jahren, als Beppe aus dem Piemont hierhergekommen war, nicht verändert. An den Wänden ringsum reihten sich die klassischen, einfachen Metallregale, deren rostige Stellen mit zahllosen Schichten grauer Farbe übertüncht worden waren. Allerdings sah man von den Regalen ohnehin nicht viel, waren sie doch vollgestopft mit den unglaublichsten Flaschen, von denen die obersten über und über mit Staub bedeckt waren. Es gab nichts, was es nicht gab: uralten Fernet Branca, Liquore Strega, Tausende Cordials – sogar den Cordial Campari, den Nellys Mutter so gern getrunken hatte – und Cynar, Stock 84, Vecchia Romagna sowie unzählige Grappas, sämtliche Grappas Italiens, dazu eine Weinauswahl, die selbst die Genueser Wein- und Spirituosenmesse blass aussehen ließ. Schon beim Betreten des Lokals ging Nelly das Herz auf. Beppes Geheimwaffe allerdings war sein Cappuccino (was jedoch nur die wenigen Stammkunden wussten): fraglos der beste der ganzen Stadt. Es war gewissermaßen ein doppelter Cappuccino. Mau wäre sicher beleidigt gewesen, hätte er gewusst, dass seine Mutter jeden Morgen einen (manchmal auch zwei) Cappuccino bei Beppe trank, nachdem er sich so viel Mühe mit dem Frühstück gemacht hatte. Es war wie ein geheimes Laster, ihre Art, gut in den Tag zu kommen, ein Ritual eben.

An diesem Morgen jedoch hatte Nelly es eilig und konnte sich nicht für ein Schwätzchen zu den üblichen, ihr wohlbekannten Stammgästen setzen, größtenteils Pensionäre, die bereits in aller Frühe über Sport und Politik diskutierten und einander das einzige, druckfrische Exemplar des Secolo aus den Händen rissen. Sie stürzte ihren Cappuccino hinunter, grüßte und hastete unter den verdutzten, fragenden Blicken der Rentner wieder hinaus. Beppe, graues Haar, bordeauxfarbenes Polohemd, stämmig, mit lebhaften Augen im braungebrannten, zerfurchten Gesicht, zuckte enttäuscht die Achseln, denn der kleine Plausch mit der Kommissarin gehörte nun einmal zum Tagesanfang. Mit ihr konnte man gut diskutieren. Und manchmal ließ es sich auch herrlich mit ihr streiten.

Eilig legte Nelly das Stück bis zum Tunnel neben dem Wolkenkratzer zurück (der erste Genuas, noch aus der Zeit des Faschismus, und deshalb bis heute »der Wolkenkratzer« genannt), während die bunte Menschenvielfalt in den Gassen nach und nach den Gesichtern der im Zentrum arbeitenden Angestellten wich. So schnell sie konnte und mit angehaltenem Atem durchquerte sie den Tunnel Richtung Meer. Der morgendliche Verkehr tobte, die Luft war zum Ersticken. Sie ging gern zu Fuß, doch wie jeden Morgen kam ihr in den Sinn, dass man eigentlich eine Gasmaske bräuchte, um den Tunnel, der das Stadtzentrum mit dem Foce-Viertel verband, unbeschadet zu durchqueren.

Kaum hatte man die Unterführung hinter sich, tauchte rechts das helle Gebäude des Liceo D’Oria auf, daneben die Kolumbus-Treppenanlage mit den drei aus Frühlingsrabatten gepflanzten Karavellen, und schließlich der mächtige Bau des Polizeipräsidiums. Links davon lagen die herrliche Piazza della Vittoria und dahinter die Gärten des Bahnhofs Genova Brignole.

Das Polizeipräsidium war zu Zeiten Mussolinis in schönstem faschistischen Stil erbaut worden, genau wie die angrenzende Piazza della Vittoria mit dem Gefallenendenkmal. Nelly mochte es dennoch. Sie mochte einfach alles an ihrem Arbeitsplatz. Für sie, die aus der tiefsten piemontesischen Provinz stammte, war Genua immer wieder eine Überraschung, ein Geschenk: Der selbst im Winter häufig blaue Himmel, das Meer unweit des Präsidiums und die immergrünen Parks machten ihr sofort gute Laune. Sie liebte diese Stadt, trotz der Abgase und des ständigen Verkehrschaos, dem man immer wieder mit ebenso abenteuerlichen wie sinnlosen Einbahnstraßenregelungen beizukommen versuchte, und trotz ihrer Bewohner, die oftmals alles taten, um die schlimmsten Vorurteile über ihresgleichen zu bestätigen. Genua hatte einen unschlagbaren Pluspunkt: Jeder scherte sich nur um seinen eigenen Kram, und so war man frei. Frei, nicht so elegant zu sein wie in Mailand und auf Klatsch oder erzwungene Geselligkeit zu pfeifen, die sowieso fast alle mieden. Frei, so zu leben, wie man wollte, ohne irgendjemandem Rechenschaft ablegen zu müssen. Wer wie Nelly in einem Dorf aufgewachsen war, in dem alle über alles und jeden informiert waren und nichts lieber taten, als ihre Nasen in anderer Leute Angelegenheiten zu stecken, wusste diese bittersüße Freiheit zu schätzen.

Die Kehrseite der Medaille, die Einsamkeit, störte sie nicht: Sie hatte Mau, die Katzen, ihre Arbeit, einige wenige, gute und dauerhafte Freundschaften und hin und wieder ... Der höfliche Gruß des Wachbeamten riss sie aus ihren Gedanken: »Guten Tag, Dotto’.«

Das konnte Dottore oder Dottoressa heißen, in ihrem Job spielte das keine Rolle. Der Mann war blutjung und neu in Genua. Er hieß Nicola und kam aus Kalabrien. Nelly lächelte ihm zu.

»Ciao, Nicola. Ist Dottor Auteri schon da?«

»Nein, Dottoressa Rosso. Ich hab ihn noch nicht gesehen.«

Vizekommissar Marco Auteri war mit Nelly in einer Einheit. Normalerweise war er vor ihr da. Auch Nicola wusste das und schien erstaunt.

»Na gut, sag mir Bescheid, sobald er kommt.«

»Wird gemacht, Dotto’.«

Der junge Mann sah der Kommissarin nach. Sie war nett, freundlich und tat sich nicht wichtig wie viele ihrer männlichen Kollegen. Zwar war sie nicht sein Typ, zu groß und kräftig und dazu noch rothaarig, mit Locken und leicht sommersprossigem Teint, außerdem zu alt (für Nicola waren alle Frauen jenseits der dreißig alt), doch sie hatte schöne braune, leicht mandelförmige Augen, wach und »durchdringend«, das war das Adjektiv, das ihm in den Sinn kam. Und ihre Lippen waren voll und sexy. Wer weiß, ob sie einen Freund hatte, verheiratet war sie jedenfalls nicht, doch angeblich hatte sie einen Sohn. Plötzlich wurde es in der Warteschlange der Immigranten, die um ihre Aufenthaltsgenehmigung anstanden, unruhig, und Nicola rief einen Kollegen zur Verstärkung herbei. An die Dottoressa Rosso dachte er nicht mehr.

»Wieso muss dieser ganze beschissene Papierkram eigentlich immer bei mir landen?«, stöhnte Nelly.

Sie saß an ihrem Schreibtisch und starrte frustriert auf den Stapel Post und Akten, den ihr Valeria, die mit der Sekretariatsarbeit betraute Polizistin, hingelegt hatte. Valeria tauchte in der Tür zum Vorzimmer auf, lächelte entschuldigend und breitete wortlos die Arme aus. Wenn es um die Durchsicht von Unterlagen ging, war mit Kommissarin Rosso nicht zu spaßen. Sie hatte sich kaum wieder an ihren Platz gesetzt, da rauschte Lojacono herein, Nellys neapolitanischer Kollege im Morddezernat. Sie sah von den Papieren auf, die sie sich resigniert vorgenommen hatte, und blickte ihn argwöhnisch an. Der Kerl hatte die teuflische Gabe, ihr sämtliche kniffligen, nervigen Fälle mit verschwindend geringen Aussichten auf eine rasche Aufklärung, geschweige denn einen Hauch von Anerkennung überzuhelfen. Darüber hinaus neigte er zu verdächtig effektiven Methoden, um an Geständnisse zu kommen, die Nelly ganz und gar nicht gefielen. Er sah kein bisschen grob oder brutal aus, sondern wirkte eher schmächtig und umgänglich, doch etwas in seinem Blick verriet, dass man sich vor Commissario Carmine Lojacono besser in Acht nahm.

»Und, Nelly, was gibt’s Neues? Hast du schon gehört, was an der Schule deines Sohnes passiert ist?«

Nelly, die noch nicht einmal Gelegenheit gehabt hatte, einen Blick in die Zeitung zu werfen, sah ihn fragend an und spürte, wie sich ihr die Nackenhaare hochstellten. Alles, was direkt oder indirekt mit Maurizio zu tun hatte, versetzte sie in Alarmbereitschaft.

»Nein, was ist denn passiert?«

»Die Meldungen gehen auseinander. Angeblich sind zwei oder drei Schüler plötzlich durchgedreht, haben eine Lehrerin niedergeschlagen und sind aufs Schuldach geflohen. Vor Ort sind Nucci mit Mandelli und Sassu, aber es wurde Verstärkung angefordert ...«

Noch ehe der Kollege seinen Satz beenden konnte, war Nelly aufgesprungen.

»Weiß man, wie die Schüler heißen?«

»Nein, aber das wird wieder mal einer dieser typischen Jungenstreiche sein, heutzutage ticken die doch alle nicht mehr sauber, genau wie die Eltern.«

»Ich fahre hin. Ist Auteri inzwischen gekommen?«

Ein zufriedenes Grinsen darüber, ihr noch eine schlechte Nachricht überbringen zu können, huschte über Lojaconos Gesicht.

»Wir werden wohl ein paar Wochen ohne den lieben Marco auskommen müssen. Gerade hat mich seine Freundin angerufen. Heute früh hatte er auf dem Weg hierher einen Autounfall, zum Glück nichts Ernstes, sie haben ihn ins Galliera-Krankenhaus gebracht; wenn du willst, kann ich dir ...«

Noch ehe Lojacono ausreden und den Mund wieder zuklappen konnte, war Nelly bereits die Treppe hinuntergestürzt, hatte sich erkundigt, welcher Fahrer und welcher Wagen frei waren, sich ins Auto geschwungen und war mit heulenden Sirenen zur Schule ihres Sohnes aufgebrochen. Der verdatterte Lojacono stand in ihrem Büro und rang nach einer geistreichen Bemerkung.

»Ihr Frauen seid viel zu emotional«, sagte er kopfschüttelnd und sah Valeria herausfordernd an. »Das ist eure Schwäche: Kaum geht’s um eure Kinder, verliert ihr den Verstand.« Die stumme Verachtung der Sekretärin hielt ihn von weiteren Kommentaren ab, und er trollte sich.

Das musisch orientierte Paul-Klee-Gymnasium lag im Zentrum, auf halber Höhe des Hügels, auf dessen Kuppe die obere Altstadt thronte. Man erreichte es über die Salita Bertani und eine breite, ziegelgepflasterte creuza1, die rechts in einen Torbogen mündete. Trat man aus dessen Schatten wieder heraus, tat sich dahinter einer der zahllosen versteckten und verwunschenen Winkel Genuas auf, die man, selbst wenn man unmittelbar nebenan wohnte, womöglich erst nach dreißig Jahren per Zufall entdeckte. Es war ein abgeschiedener, grüner, stiller Ort, unerreichbar mit dem Auto: lediglich eine Art breiter Bürgersteig, von dem ein etwas schmalerer Weg zum Eingang des Gymnasiums führte. Wie viele Gebäude der Altstadt war es gleich den Rängen eines zum Meer hin geöffneten Amphitheaters an den Berghang gebaut. Während sich über dem Portal nur wenige Stockwerke erhoben, reichten sie auf der anderen Seite bis hinunter zum Fuß des Hügels. Auf der Rückseite führte die Standseilbahn entlang, die das Zentrum mit dem Corso Magenta im oberen Stadtteil verband.

Wie oft hatte Nelly diesen Weg in den letzten Jahren zurückgelegt, um mit dem Direktor zu sprechen! Die berufliche Routine ließ sie vollkommen gefasst erscheinen, doch eine dumpfe Unruhe erfüllte sie. Zwei Jungs, vielleicht drei. Was bedeutete das? Weshalb sollte ausgerechnet Mau ...? Doch die Unruhe blieb. »Gleich bin ich schlauer«, sagte sie sich.

Der Polizeiwagen hielt auf dem Platz vor dem Santuario del Padre Santo. Nelly machte dem Fahrer Marcello ein Zeichen, zu warten, und lief die steile Straße hinunter. Sie hätte den Wagen auch unten herum fahren lassen können, wo sich die einzige Zufahrt zum Gymnasium befand, doch das hätte länger gedauert, und sie hatte keine Zeit zu verlieren. Dass sie keinen Herzinfarkt bekam, war allein ihrem regelmäßigen Jogging am Righi zu verdanken. In wenigen Sätzen war sie vor der Schule. Nucci kam ihr sofort entgegen. Er war von ihrer Ankunft in Kenntnis gesetzt worden und hatte vor dem Eingang bereits auf sie gewartet.

»Dottoressa Rosso, es handelt sich um zwei Jungs aus der 12 a; es gab eine Routinedurchsuchung mit Drogenhunden, und plötzlich ist das Chaos ausgebrochen.«

»Eine Routinekontrolle in der Schule meines Sohnes, und ich arbeite im Polizeipräsidium und weiß nichts davon, verdammt!«, dachte Nelly. Allerdings fiel dies nicht in ihr Ressort, um so etwas kümmerte sich Santangelo, Nuccis Chef.

»Und? Was ist passiert? Was meinst du mit Chaos?«

»Als die Mathelehrerin die Polizisten und Drogenhunde ankündigte, hat offenbar einer versucht, auf die Toilette zu flüchten. Die Lehrerin wollte ihn zurückhalten, er hat sie geschubst, sie ist mit dem Kopf aufgeschlagen und bewusstlos liegen geblieben, und da hat der Junge wohl Panik gekriegt, ein anderer ist ihm gefolgt, weshalb, weiß man nicht, und die beiden sind aufs Dach geflohen. Beinahe hätte ich das SEK gerufen, zur Sicherheit ...«

»Das SEK, du tickst wohl nicht mehr richtig, das hier ist doch kein amerikanischer Actionstreifen! Wie ... wie heißen die Jungs denn?«

»Francesco Bagnasco und Maurizio Tondelli.«

Nelly hatte es geahnt, aber es war trotzdem ein Schock. Sie hatte vom ersten Moment an gewusst, dass Mau irgendwie in die Sache verwickelt war, auch wenn es überhaupt keinen Grund zu der Annahme gab. Oder doch? Gibt es heutzutage nicht immer und auf jeden Fall einen Grund? Doch es blieb keine Zeit, um in der jüngsten Vergangenheit nach irgendwelchen Auffälligkeiten oder Verdachtsmomenten herumzustochern.

»Der eine ist mein Sohn. Maurizio Tondelli, um genau zu sein.«

Ihre Stimme klang neutral und fest.

»Himmel!«, rutschte es Nucci heraus.

In dem Moment erblickte Nelly Professor Giacometti, den Direktor. Auch er hatte sie gesehen und wiedererkannt und kam sichtbar erschüttert auf sie zu.

»Commissario ... Dottoressa ... es ist unglaublich, nicht zu fassen, so etwas an einer Schule ... und dann auch noch Maurizio ...«

Sie unterbrach ihn mit einer Handbewegung; dies war nicht der richtige Moment, um den Kopf zu verlieren.

»Wir müssen die in den Klassen verbliebenen Schüler beruhigen, die sind bestimmt zu Tode erschreckt, kümmern Sie sich bitte darum, Herr Direktor. Welcher von den beiden hat die Lehrerin gestoßen?«

»Bagnasco«, sagte Nucci.

Maurizios bester Freund, verdammt noch mal, sein bester Freund, der bei ihnen zu Hause ein und aus ging, die beiden waren Kumpels seit der Grundschule, ein dunkler, hagerer Junge, der nur aus Augen, Nase und Brille bestand. Total nett, weltfremd und völlig harmlos. Wie war das möglich?

»Haben Sie mit den Jungs Kontakt aufgenommen?«

»Sie haben gesagt, sollten wir versuchen, uns zu nähern, würden sie sich vom Dach stürzen«, stieß Nucci hervor und sah sie besorgt an.

Entschlossen lief Nelly Richtung Treppe und war fast oben angekommen, als ein Schuss und ein markerschütternder Schrei ertönten, unmittelbar gefolgt von einem dumpfen Aufprall. Die Kommissarin begriff sofort, stürzte die Stufen wieder hinunter und rannte von Nucci und Professor Giacometti gefolgt hinaus. Sie mussten noch die seitliche Außentreppe hinab und halb um das Gebäude herum, begleitet von Sassus Schreien, der auf dem Dach stand und wie ein Wahnsinniger brüllte. Unten, zu Füßen des Gebäudes, auf dem von spärlichem Unkraut überwucherten Zement, lag wie ein Lumpensack ein zusammengekrümmter Körper. Darübergebeugt Gian, der Hausmeister der Schule, wie Nelly mechanisch registrierte.

»Fassen Sie ihn nicht an, nicht anfassen!«, rief Nelly mit einer ihr vollkommen fremden Stimme.

Mit völlig leerem Kopf erreichte sie den gestürzten Jungen und drehte ihn behutsam um. Francesco Bagnasco lag da wie eine kaputte Puppe. Er rührte sich nicht mehr. Offenbar war er sofort tot gewesen, der Sturz war aus fast dreißig Meter Höhe erfolgt. Einzig ihre Erfahrung und Selbstbeherrschung bewahrten die Kommissarin vor einer Ohnmacht. Sie riss sich zusammen, wies Nucci an, den Gerichtsmediziner und die Spurensicherung zu rufen und den Staatsanwalt zu informieren. Da war diese Detonation gewesen; merkwürdig, sie meinte, ein seltsames Echo gehört zu haben, als wären zwei Schüsse gefallen – wer zum Teufel hatte da geschossen? Und war Franci vor seinem Sturz getroffen worden? Auf den ersten Blick ließ sich nichts feststellen. Nelly bedeckte das Gesicht des Jungen mit ihrer Jacke, ließ Nucci neben dem Toten zurück und machte sich wieder in Richtung Schulgebäude auf.

In der Schule herrschte Chaos. Der von einer Nervenkrise erfasste Direktor lief händeringend hinter ihr her und stammelte zusammenhangloses Zeug, und die Schüler drängelten sich panisch schreiend an den Fenstern. Manche waren ohnmächtig geworden, die Drogenhunde jaulten.

»Herr Direktor«, zischte Nelly, »reißen Sie sich sofort zusammen, sehen Sie zu, dass Sie gemeinsam mit den Lehrern die Schüler beruhigen, statt Ihre Hände zu kneten, sonst stürzt womöglich noch einer aus dem Fenster.«

Der Mann atmete tief durch, rang mühsam um Fassung und setzte sich in Bewegung. Wie Christus auf dem Kreuzweg erklomm Nelly die Stufen des Gymnasiums, begleitet von den verzweifelten Schreien der geschockten Schüler, von den Klagen, Flüchen und dem entsetzlichen Vorwurf:

»Ihr habt ihn umgebracht, Mörder, Mörder!«

Mau kauerte auf dem Boden neben der Terrassentür, bewacht von Sassu, der ihm Handschellen angelegt hatte. Aschfahl und reglos stand Mandelli daneben und starrte auf den kleinen, teils von Unkraut, teils von Nellys blauer Jacke verdeckten Umriss hinunter. Seine Dienstwaffe lag neben ihm am Boden. Mau war noch blasser als der Polizist. Seine Augen waren weit aufgerissen, Nelly musterte seine Pupillen, die ebenfalls geweitet waren. War nur die Angst daran schuld? Immerhin hatte er soeben seinen besten Freund sterben sehen, kein Wunder, dass er außer sich war. »Mach jetzt bloß nicht auf Mutti«, sagte sie sich kalt.

»Was ist passiert, Mau?«

Mühsam wandte er ihr den Kopf zu. Ganz offensichtlich stand er unter Schock. Er strahlte eine seltsame, unnatürliche Ruhe aus, nur ab und zu zuckte er schaudernd zusammen.

»Du hast doch gesehen, was passiert ist. Deine Polizistenkollegen, diese Schweine, haben Franci umgebracht.«

Maus Stimme brach.

»Ich war nicht rechtzeitig hier, um zu sehen, was passiert ist. Vielleicht erzählst du’s mir?«

Der Junge stand kurz vor einem Kollaps, seine Lippen begannen zu beben.

»Er hatte ein bisschen Hasch und hat sich ins Hemd gemacht wegen der Drogenhunde, er wollte aufs Klo, um es wegzuschmeißen, doch die Galli, diese Hexe, hat ihn nicht rausgelassen, sie hat sich vor die Tür gestellt, und da ist ihm die Sicherung durchgebrannt, er hat sie geschubst, und sie ist gefallen. Franci dachte wohl, er hätte sie umgebracht und hat die Krise gekriegt, ich hab versucht, ihn zurückzuhalten, ihn zur Vernunft zu bringen, deshalb bin ich hinter ihm her, aber diese Drecksäcke«, er deutete mit dem Kinn auf die zwei Polizisten, »haben sofort angefangen zu brüllen und uns zu drohen, ergebt euch, macht keinen Scheiß, sonst rufen wir das SEK, da hat er einfach den Kopf verloren, wollte sich runterstürzen, ich hab versucht, ihm klarzumachen, dass es total bescheuert war, abzuhauen, dass die ihm wegen einem bisschen Gras überhaupt nix anhaben können, dass die Galli nicht gleich tot ist, nur weil sie hinfällt, aber er war völlig neben der Kappe. Ich hatte ihn fast überzeugt, da ist der da«, er zeigte auf Mandelli, »auf dem Dach aufgetaucht, und Franci hat sich aus lauter Angst ein Stück Ziegelstein gegriffen, es nach ihm geworfen, ist auf die Brüstung gesprungen, und der ... hat auf ihn geschossen! Er hat auf ihn geschossen, verstehst du? Die haben Franci umgebracht, ermordet, Franci, der keiner Fliege was zuleide tat, Franci ...«

Jetzt gingen Maus Nerven restlos mit ihm durch, und er brach in verzweifeltes Schluchzen aus. Von oben konnte Nelly sehen, dass der Gerichtsmediziner und die Spurensicherung eingetroffen waren. Sie rief nach Doktor Parodi. Der rundliche, glatzköpfige Mann mittleren Alters blickte zu ihr empor. Nachdem er festgestellt hatte, dass man für Francesco Bagnasco nichts mehr tun konnte, kam er eilends zu ihr nach oben, begriff sofort, was los war, und gab Maurizio eine Beruhigungsspritze, die das stärkste Pferd umgehauen hätte. Doch Mau war nicht der Einzige, der ein Beruhigungsmittel nötig hatte. Mandelli war kreidebleich und zitterte. Sassu stand neben ihm und musste ihn stützen.

»Das wollte ich nicht, das wollte ich nicht, ich glaub’s einfach nicht, ich bin gestolpert, und da hat sich der Schuss gelöst, ich hatte im Traum nicht vor, zu schießen, nur einschüchtern wollte ich sie, ich glaub’s einfach nicht, dass mir das passiert ist. Nach dreißig Jahren Dienst bringe ich einen Jungen um, der nicht älter ist als mein Jüngster, o Gott, o Gott ...«

Nelly tauschte sich kurz mit Doktor Parodi aus.

»Kann man schon etwas Genaueres über die Todesursache sagen, Dottore?«

Parodi warf ihr einen spöttischen Blick zu: »Ein Sturz aus dreißig Meter Höhe gehört nicht gerade zu den gesündesten Sportarten.«

»Sie wissen genau, was ich meine.«

»Klar weiß ich, was Sie meinen. Sein Schädel ist übel zugerichtet, der Rest ebenfalls. Wir werden sehen, ich möchte dazu noch nichts sagen. Das letzte Wort hat sowieso der unfehlbare Nardini.«

Nardini war Pathologe. Abgesehen davon verstanden Parodi und er sich nicht sonderlich gut. Es hieß also abwarten, bis man etwas Verbindliches wusste. Zwecklos, weiterzubohren.

Eine halbe Stunde später lag Mau im Krankenhaus und schlief tief und fest. Nelly hatte Mandelli in Sassus Obhut gelassen, der ihn vergeblich zu beruhigen versuchte, und tat automatisch genau das, was in solchen Fällen zu tun ist: auf den Staatsanwalt warten und versuchen, sich dem in der Schule und in ihrem Inneren herrschenden Chaos möglichst zu entziehen. Rund drei Stunden später, während die Spurensicherung noch auf der Dachterrasse und im Schulgebäude zugange war, brachte sie dem stellvertretenden Polizeichef Esposito den ersten Bericht.

Esposito war ziemlich jung und nicht minder attraktiv. Er sah nicht im Entferntesten wie ein Polizist, geschweige denn wie ein Süditaliener aus, doch genau wie Lojacono war auch er waschechter Neapolitaner. Obwohl er erst vor wenigen Monaten zur Genueser Kripo versetzt worden war und sie sich noch nicht besonders gut kannten, war er Nelly sympathisch und sie ihm ebenfalls. Das spielte jetzt allerdings keine Rolle.

»Dottoressa Rosso, was können Sie mir erzählen?«

Er hatte den Bericht gelesen und versuchte, seine Betroffenheit zu überspielen.

»Es gibt noch viele Ungereimtheiten, die geklärt werden müssen.«

Nelly wunderte sich über ihre feste, sichere Stimme.

»Verstehe ...« Nachdenklich blätterte er durch die soeben überflogenen Seiten. Dann gab er sich einen Ruck: »So wie es aussieht, ist Ihr Sohn nur aus Freundschaft zu diesem Francesco Bagnasco in die Sache hineingerutscht, er befand sich sozusagen als ... Vermittler auf dem Dach.«

»So ist es«, bestätigte Nelly.

»Angesichts der Tatsache, dass es momentan keinerlei Anlass gibt, gegen ihn zu ermitteln, spricht für mich nichts dagegen, dass Sie den Fall übernehmen. Sollte dabei etwas herauskommen, was Ihren Jungen belastet, ist das natürlich etwas anderes.«

»In Ordnung, danke, Dottor Esposito.«

»Aber der dickste Hund ist diese schreckliche Sache mit Mandelli. Wie kann ein derart erfahrener Beamter einen so eklatanten Fehler begehen? Dieser arme Junge, abgeknallt wie ein Köter, und jetzt wird sich die ganze Stadt auf uns stürzen. Als würde die Presse nur darauf warten, die Polizei in den Dreck zu ziehen. Wir sollen sie schützen, und wehe, wenn nicht, aber kaum macht einer von uns einen Fehler, dreschen alle auf uns ein ...«

Während Esposito sich weiter in Rage redete, saß Nelly schweigend daneben und versuchte, wieder Ordnung in ihre Gedanken und Gefühle zu bringen. Dauernd hatte sie Francis leblosen Körper vor Augen, der sich in den ihres Sohnes verwandelte. Und dass Mandelli auf Franci geschossen haben sollte, erschien ihr genauso absurd wie vieles andere an diesem irrwitzigen Tag: Ausgerechnet ein so nüchterner, bedachter Mann wie Mandelli, der alles andere als ein Rambo war. Die Ruhe in Person.

»Es ist noch nicht endgültig geklärt, ob der Junge durch Mandellis Schuss zu Tode gekommen oder vor Schreck vom Dach gestürzt ist. Wenn Sie nichts dagegen haben, würde ich jetzt die Identifizierung von Fr... des Opfers durch dessen Eltern veranlassen, Mandelli befragen, sollte er sich inzwischen beruhigt haben, mir Mau... den anderen Jungen noch einmal vornehmen, außerdem ist die Spurensicherung noch am Tatort zugange. Wenn Sie mich also entschuldigen würden.«

»Solange nicht alles restlos aufgeklärt ist, ist Mandelli natürlich vom Dienst suspendiert und soll sich zur Verfügung halten. Und dass Sie mich bloß auf dem Laufenden halten, ich muss nämlich den Polizeichef informieren, der buchstäblich die Wände hochläuft. Und bitte, kein Sterbenswörtchen gegenüber der Presse.«

»Selbstverständlich«, versicherte Nelly und verließ das Büro.

Wie eine gequälte Seele saß Wachtmeister Mandelli in Nellys Büro und konnte sich nicht beruhigen. Seine Hände zitterten.

»Dottoressa Rosso, ich bin ein gebrochener Mann. Ich bin am Ende, das werde ich mir niemals verzeihen.«

Seine Augen waren gerötet. Nelly wusste, dass er ehrlich war.

»Die Ermittlungen stehen noch ganz am Anfang, Mandelli. Beruhige dich, dadurch wird die Sache auch nicht besser. Wir sind noch nicht einmal sicher, ob Francesco Bagnasco überhaupt getroffen wurde, ehe er vom Dach stürzte.«

»Und was soll das ändern? Ich habe einen Jungen umgebracht, ein halbes Kind ... selbst wenn ich ihn nicht getroffen habe und er vor Schreck hinuntergefallen ist.« Er vergrub das Gesicht in den Händen.

»Geh nach Hause, nimm ein Beruhigungsmittel, und morgen solltest du unsere Psychologin aufsuchen.«

Bei dem Wort »Psychologin« brach Mandelli in haltloses Schluchzen aus. Es war, als wäre er in einem Alptraum gelandet – und nicht nur er.

ERSTER TAGNachmittag

Schmächtig und verloren lag Francesco Bagnasco in der gerichtsmedizinischen Abteilung des San-Martino-Krankenhauses auf einem Tisch und sah höchstens wie dreizehn oder vierzehn aus. Der Kopf war zertrümmert, das Gesicht bis zur Unkenntlichkeit entstellt. Nelly musste all ihren Mut zusammennehmen. Draußen warteten die Eltern. Sie kannte sie, wie man Eltern von Freunden der Kinder eben kennt. Man traf sich vor der Schule, bei den Elternabenden, bei Geburtstagspartys und bei den Pfadfindern. Sogar bei den Pfadfindern waren Franci und Mau zusammen gewesen und vor zwei Jahren gemeinsam ausgetreten. Nelly und Francis Eltern duzten sich, schließlich saß man im selben Boot, war ungefähr gleich alt und in der gleichen Lage ... Doch jetzt waren sie nicht mehr in der gleichen Lage. Franci war gestorben, und unter welchen Umständen! Und Mau war am Leben. Obwohl sie wusste, wie abwegig solch ein Gedanke war, hatte Nelly fast ein schlechtes Gewissen. Wie würde sie sich an deren Stelle fühlen? Würde sie sie hassen, weil sie noch immer hätten, was sie selbst für immer verloren hätte? Und dazu nicht durch einen »normalen« Unfall, sondern auf derart tragische Weise, in die auch noch die Polizei verwickelt war, und sie die Polizei.

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