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Ein Meisterwerk neu in der Sprache unserer Zeit 1932 erschien eines der größten utopischen Bücher des 20. Jahrhunderts: ein heimtückisch verführerischer Aufriss unserer Zukunft, in der das Glück verabreicht wird wie eine Droge. Sex und Konsum fegen alle Bedenken hinweg und Reproduktionsfabriken haben das Fortpflanzungsproblem gelöst. Es ist die beste aller Welten – bis einer hinter die Kulissen schaut und einen Abgrund aus Arroganz und Bosheit entdeckt. Endlich erscheint die längst fällige Neuübersetzung von Uda Strätling. Das prophetische Buch, dessen Aktualität jeden Tag aufs Neue bewiesen wird, erhält eine sprachlich zeitgemäße Gestalt.
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Seitenzahl: 386
Aldous Huxley
Schöne Neue Welt
Ein Roman der Zukunft
Aus dem Englischen von Uda Strätling
FISCHER E-Books
Mit einem Nachwort von Tobias Döring
Les utopies apparaissent comme bien plus réalisables qu’on ne le croyait autrefois. Et nous nous trouvons actuellement devant une question bien autrement angoissante: Comment éviter leur réalisation définitive? … Les utopies sont réalisables. La vie marche vers les utopies. Et peut-être un siècle nouveau commence-t-il, un siècle où les intellectuels et la classe cultivée rêveront aux moyens d’éviter les utopies et de retourner à une société non utopique, moins ›parfaite‹ et plus libre.
Nicolai Alexandrowitsch Berdiajew2
Ein grauer, gerade mal vierunddreißigstöckiger Klotz. Über dem Hauptportal der Hinweis CITY-BRÜTER UND KONDITIONIERUNGSCENTER LONDON und auf einem Wappen der Wahlspruch des Weltstaats3: KOLLEKTIVITÄT, IDENTITÄT, STABILITÄT4.
Der große Raum im Erdgeschoss ging nach Norden. Kalt starrte, trotz des Sommers hinter den Scheiben, trotz der tropischen Hitze im Raum selbst, ein dürres, hartes Licht zu den Fenstern herein, suchte nach drapierten Gliederpuppen, nach der bleichen Gänsehaut erforschter Körper, fand aber nur Glas, Nickel und das kahl schimmernde Porzellan eines Labors. Der einen Wintrigkeit entsprach die andere. Die Overalls der Laborkräfte waren weiß, ihre Hände von fahlem, leichenfarbenem Gummi umschlossen. Das Licht war gefroren, tot, ein Gespenst. Nur den gelben Tuben der Mikroskope entlehnte es ein wenig Leben, legte sich Strich um satten Strich wie Butter auf die Röhren der langen, blanken Batterie auf den Labortischen.
»Und dies«, sagte der Direktor, indem er die Tür aufstieß, »ist die Fertilisationsstation.«
Tief über ihre Instrumente gebeugt, waren die dreihundert Fertilisatoren ganz bei der Sache, als der Direktor City-Brüter und Konditionierungscenter den Raum betrat – mit angehaltenem Atem oder unter abwesendem, einem Selbstgespräch ähnelnden Pfeifen beziehungsweise dem Summen höchster Konzentration. Ein Pulk neuer Studenten, sehr jung, rosig und unreif, folgte dem Direktor nervös und ziemlich devot auf den Fersen. Alle hatten sie Notizbücher dabei, in die sie, wann immer der große Mann sprach, eifrig kritzelten. Aus berufenem Munde. Seltenes Privileg. Der DCK London bestand stets darauf, Studienanfänger persönlich durch die Abteilungen des Centers zu führen.
»Damit Sie sich ein allgemeines Bild machen können«, sagte er ihnen dann. Ein allgemeines Bild mussten sie schließlich schon haben, wenn sie qualifizierte Arbeit leisten sollten – allerdings, da aus ihnen ja gute, glückliche Mitglieder der Gesellschaft werden sollten, eben so allgemein wie nur möglich. Denn der Schlüssel zu Tugend und Glück liegt, wie wir wissen, im Besonderen; das Allgemeine ist ein intellektuell notwendiges Übel. Nicht Philosophen, sondern Laubsäger und Briefmarkensammler bilden das Rückgrat der Gesellschaft.
»Ab morgen«, fügte er gerne an und lächelte seinen Studenten mit fast verhängnisvoller Leutseligkeit zu, »werden Sie sich reinknien müssen, da wird Ihnen für das Allgemeine keine Zeit bleiben. Bis dahin aber …«
Bis dahin war es ein seltenes Privileg. Aus berufenem Munde direkt ins Notizbuch. Die Neulinge kritzelten wie verrückt.
Hochgewachsen und etwas hager, aber sehr aufrecht führte sie der Direktor hinein. Er hatte ein langes Kinn, große Zähne und einen ausgeprägten Überbiss, den seine vollen, üppig geschwungenen Lippen gerade noch bedeckten, wenn er nicht sprach. Alt, jung? Dreißig, fünfzig, fünfundfünfzig? Schwer zu sagen. Außerdem stellte sich die Frage nicht; in diesem ihrem Jahr der Stabilität, 632 n.F., wäre sie niemandem in den Sinn gekommen.
»Ich fange am Anfang an«, verkündete der DCK, und die Streber unter den Zuhörern hielten seine Absicht in ihren Notizbüchern fest: Fange am Anfang an. »Das …«, er wedelte mit der Hand, »sind die Inkubatoren.« Er zog eine Schutztür auf und zeigte ihnen unzählige Stellagen nummerierter Reagenzröhrchen. »Die wöchentliche Lieferung Ova«, erklärte er, »die wir hier bei Körpertemperatur lagern, während die männlichen Gameten«, er zog eine weitere Tür auf, »von siebenunddreißig auf fünfunddreißig Grad runtergeregelt werden. Volle Körpertemperatur macht steril.« Thermowäsche macht den Bock zum Hammel, aber keine Lämmer.
Sich mit einer Hand an den Inkubatoren abstützend, gab er ihnen, während Bleistifte unleserlich über Seiten hasteten, einen kurzen Abriss des modernen Fertilisationsprozesses, sprach zunächst, natürlich, von seinem operativen Vorlauf – »dem freiwilligen Eingriff zum Wohle der Gesellschaft, mal ganz abgesehen von der Prämie eines Halbjahresgehalts –«; ging dann über zu einer Grobskizzierung der zur Erhaltung lebensfähiger, ja aktiv sich fortentwickelnder Eierstöcke eingesetzten Technik; holte zu einer Erläuterung optimaler Temperatur, Salinität, Viskosität aus; sprach von dem Liquor, in den die extrahierten und gereiften Eizellen gelegt wurden; und demonstrierte gleich darauf, indem er seine Schützlinge an die Labortische führte, wie der Liquor aus den Reagenzröhrchen auf die vorgewärmten Objektträger der Mikroskope geträufelt wurde; wie die enthaltenen Eizellen auf Defekte untersucht, gezählt und in einen porösen Behälter transferiert wurden; wie dieser (dabei zog er mit ihnen zum entsprechenden Arbeitsgang weiter) in eine temperierte Nährbouillon mit frei schwimmenden Spermatozoen getaucht wurde – bei einer Mindestkonzentration von hunderttausend pro ccm, wie er betonte –; und wie der Behälter dann nach zehn Minuten der Nährlösung wieder entnommen und sein Inhalt erneut untersucht wurde; wie in der Folge, sofern noch Eizellen unbefruchtet geblieben waren, der Tauchgang wiederholt wurde, und gegebenenfalls noch ein drittes Mal; wie daraufhin die befruchteten Eizellen in die Inkubatoren zurückgelegt wurden, wo Alphas und Betas nun bleiben würden, bis man sie auf Flaschen zog,5 während man Gammas, Deltas und Epsilons nach nur sechsunddreißig Stunden wieder entfernte und dem Bokanowski-Verfahren unterzog.6
»Dem Bokanowski-Verfahren«, betonte der Direktor, und die Studenten unterstrichen die Worte in ihren kleinen Notizbüchern.
Eine Eizelle, ein Embryo, ein Erwachsener – im Normalfall. Eine bokanowskifizierte Keimzelle dagegen knospe und proliferiere. Acht bis sechsundneunzig Zellknospen, und aus jeder entstehe ein tadellos gebildeter Embryo, aus jedem Embryo ein normalgroßer Erwachsener. Also sechsundneunzig menschliche Wesen, wo zuvor nur eines entstanden war. Fortschritt.
»Im Wesentlichen«, schloss der DCK seinen Vortrag, »besteht die Bokanowskifizierung aus einer Reihe entwicklungshemmender Schritte. Wir blockieren den Reifungsprozess, und paradoxerweise reagiert die Keimzelle mit Vermehrung durch Zellknospung.«
Vermehrung durch Zellknospung. Die Bleistifte waren emsig.
Er zeigte dorthin, wo auf einem sehr langsam laufenden Band eine voll beschickte Reagenzstellage in einen großen Stahlkasten befördert wurde, aus dem ein zweiter gerade wieder auftauchte. Maschinen surrten leise. Acht Minuten seien die Reagenzröhrchen darin unterwegs, sagte er ihnen. Acht Minuten starke Röntgenstrahlung seien das Äußerste, was eine Eizelle verkrafte. Einige stürben ab, von den übrigen bildeten die unempfindlichsten zwei, die meisten vier, manche auch acht Zellknospen; sie alle kämen daraufhin wieder in die Inkubatoren, wo die neuen Knospen sich weiterentwickelten, bis sie nach zwei Tagen heruntergekühlt würden, heruntergekühlt und gehemmt. Dann träten aus zwei, vier, acht Zellknospen wiederum Knospen aus, die mit einer nahezu tödlichen Dosis Alkohol behandelt würden und sich daraufhin neuerlich vermehrten: Knospe aus Knospe aus Knospe, die fortan – da weitere Wachstumsblockaden sich in der Regel als fatal erwiesen – in Ruhe reifen dürften. Unterdessen seien also aus dem ursprünglichen einen Ei acht bis sechsundneunzig Embryonen geworden – ein ungeheurer Fortschritt, nicht wahr, gegenüber der Natur. Eineiige Zwillinge – aber nicht die albernen Zweier- und Dreierpacks vergangener viviparer Tage, als eine Eizelle sich gelegentlich spontan geteilt habe, sondern gleich im Dutzend, in Mengen.
»Mengen«, wiederholte der Direktor und warf die Arme auseinander, als verteile er Spendabilität. »Mengen.«
Einer der Studenten aber war so unvorsichtig zu fragen, worin denn dabei der Vorteil liege.
»Mein lieber Junge!« Der Direktor schoss sich sofort auf ihn ein. »Verstehen Sie denn nicht? Verstehen Sie nicht?« Er hob mit feierlich ernster Miene die Hand. »Bokanowskis Verfahren ist ein Hauptinstrument gesellschaftlicher Stabilität!«
Hauptinstrument gesellschaftlicher Stabilität.
Genormte Männer und Frauen in konstanten Mengen. Aus einer einzigen bokanowskifizierten Eizelle die Belegschaft eines mittelgroßen Werks.
»Sechsundneunzig identische Zwillinge bemannen sechsundneunzig identische Maschinen!« Die Stimme bebte förmlich vor Begeisterung. »Da weiß man doch wirklich, was man hat. Zum ersten Mal in der Geschichte.« Er zitierte den planetarischen Wahlspruch: »Kollektivität, Identität, Stabilität.« Große Worte. »Könnten wir endlos bokanowskifizieren, alle unsere Probleme wären gelöst.«
Gelöst durch genormte Gammas, standardisierte Deltas, Einheits-Epsilons. Millionen eineiiger Zwillinge. Das Prinzip der Massenproduktion übertragen auf die Biologie.
»Doch leider«, der Direktor wiegte den Kopf hin und her, »können wir eben nicht endlos bokanowskifizieren.«
Sechsundneunzig schien die Obergrenze zu sein, zweiundsiebzig guter Durchschnitt. Aus ein und demselben Eierstock und mit Gameten eines einzigen Vertreters des männlichen Geschlechts die maximale Menge eineiiger Zwillinge zu produzieren – das war das Optimum (wenn auch leider suboptimal). Und selbst das war gar nicht so einfach.
»Denn in der Natur vergehen dreißig Jahre, bis zweihundert Eizellen heranreifen. Unsere Aufgabe jedoch ist es, die Bevölkerung zum gegenwärtigen Zeitpunkt zu stabilisieren, hier und heute. Ein Vierteljahrhundert stockende Zwillingsproduktion – was nützte uns das?«
Fraglos gar nichts. Doch hatte der Reifungsprozess dank der Podsnap-Technik7 enorm beschleunigt werden können. Inzwischen waren mindestens einhundertundfünfzig Eizellen binnen zwei Jahren garantiert. Fertilisieren und bokanowskifizieren – sprich mit zweiundsiebzig multiplizieren – und man bekam innerhalb von plus minus zwei Jahren im Schnitt nahezu elftausend Brüder und Schwestern in hundertundfünfzig Chargen eineiiger Zwillinge.
»In Ausnahmefällen können wir aus einem einzigen Eierstock über fünfzehntausend Erwachsene gewinnen.«
Er machte einem hellhaarigen, rotbackigen jungen Mann, der soeben vorbeiging, Zeichen. »Mr Foster8!«, rief er. Der rotbackige junge Mann kam zu ihnen. »Kennen Sie den Rekord für einen einzigen Eierstock, Mr Foster?«
»Sechzehntausendundzwölf in unserem Center«, antwortete Mr Forster wie aus der Pistole geschossen. Er sprach sehr schnell, hatte lebhafte blaue Augen und offenkundig Freude an Zahlen. »Sechzehntausendundzwölf bei einhundertundneunundachtzig baugleichen Serien. Selbstverständlich sind die Kollegen in einigen tropischen Centern weit erfolgreicher«, sprudelte er. »Singapur erreicht oft sechzehntausendfünfhundert, und Mombasa hat sogar die Siebzehntausendermarke geknackt. Aber die sind auch fein raus. Sie müssten mal sehen, wie ein negrider Eierstock auf Hypophysenpräparate anspricht! Ganz erstaunlich, wenn man nur europäisches Material gewohnt ist. Trotzdem«, fügte er mit einem Lachen (aber auch kämpferisch blitzenden Augen und herausfordernd gehobenem Kinn) hinzu, »sind wir fest entschlossen, sie zu übertreffen. Ich arbeite da gerade an einem herrlichen Delta-Minus-Eierstock. Erst achtzehn Monate alt. Und schon über zwölftausendsiebenhundert Nachkommen, teils dekantiert, teils noch im Embryonalstadium. Und kein Ende abzusehen. Denen zeigen wir’s schon noch.«
»Das ist die rechte Einstellung!«, lobte der Direktor und klopfte Mr Foster auf die Schulter. »Begleiten Sie uns doch, und lassen Sie die Jungen von Ihrer Fachkenntnis profitieren.«
Mr Foster lächelte bescheiden. »Mit Vergnügen.« Sie zogen weiter.
An der Füllstation herrschten harmonische Hektik und wohlgeordneter Hochbetrieb. Lappen frischen, passgerecht vorgestanzten Schweinebauchfells sausten per Rohrpost aus dem Organmagazin in einem Untergeschoss herauf. Zzzt und klack!, flogen die Rohrpostklappen auf; der Flaschen-Auskleider brauchte nur die Hand auszustrecken, einen Lappen zu greifen, ihn einzuführen, anzudrücken, und noch ehe die ausgekleidete Ballonflasche auf dem Endlosband außer Reichweite war, zzzt, klack!, kam bereits der nächste Bauchfelllappen aus der Tiefe hochgeschossen und wartete darauf, in eine weitere Flasche eingepasst zu werden, die nächste in der endlos vorrückenden Prozession auf dem Band.
Neben den Auskleidern standen die Matrikulatoren. Die Prozession zog herauf; eine nach der anderen wurden die befruchteten Eizellen aus ihren Reagenzröhrchen in die größeren Ballonflaschen transferiert; der jeweilige Bauchfellnährboden wurde rasch angeritzt, die Morula eingeführt, die Salzlösung eingefüllt … und schon war die Flasche vorübergezogen, und die Etikettierer kamen zum Einsatz. Heredität, Fertilisationsdatum, Bokanowski-Gruppe – die Daten wurden von den Reagenzröhrchen auf die Flaschen übertragen. Nicht länger anonym, sondern bezeichnet, identifiziert, schob sich die Prozession durch eine Wandschleuse gemächlich weiter zur Sozialprädestinationsstation.
»Achtundachtzig Kubikmeter Registersätze«, verkündete Mr Foster genussvoll bei ihrem Eintreten.
»Mit allen einschlägigen Daten«, fügte der Direktor hinzu.
»Jeden Morgen aktualisiert.«
»Und nachmittags korreliert.«
»Die Basis der Kalkulationen.«
»Soundso viele Einzelwesen der verlangten Qualität«, sagte Mr Foster.
»In der und der Stückmenge geliefert.«
»Fortlaufend optimierte Dekantier-Rate.«
»Unverzüglicher Ausgleich aller Ausfälle.«
»Unverzüglich«, wiederholte Mr Foster. »Wenn Sie wüssten, wie viele Überstunden nach dem jüngsten japanischen Erdbeben bei mir aufgelaufen sind!« Er lachte gutgelaunt und schüttelte den Kopf.
»Die Prädestinatoren legen den Fertilisatoren ihre Zahlen vor.«
»Die ihnen die bestellten Embryonen zuteilen.«
»Und hier landen die Flaschen zur Prädestinationsfeinabstimmung.«
»Um anschließend ins Embryonenmagazin befördert zu werden.«
»Wo wir selbst uns nun hinbegeben wollen.«
Und mit diesen Worten öffnete Mr Foster eine Tür und führte sie eine Treppe tiefer ins Untergeschoss.
Die Temperatur war noch immer tropisch. Sie stiegen in ein sich verdichtendes Zwielicht hinab. Zwei Türen und ein doppelt gewendeter Korridor schirmten das Untergeschoss vor jedem Lichteinfall ab.
»Embryonen sind wie fotografischer Film«, scherzte Mr Foster und stieß die zweite Tür auf. »Sie vertragen nur rotes Licht.«
Und in der Tat war die drückende Dunkelheit, in welche die Studenten ihm nun folgten, sichtbar und blutrot, als blickte man bei geschlossenen Lidern in die Nachmittagssonne eines Sommertags. Die bauchigen Ränder endloser, sich in der Ferne verlierender Glasballons, Reihe um Reihe, Regal um Regal, funkelten von ungezählten Rubinen, und zwischen den Rubinen hantierten schemenhaft Männer und Frauen mit purpurvioletten Augen und allen Anzeichen von Lupus erythematodes. Das Surren und Rattern der Apparaturen wälzte kaum merklich die Luft um.
»Nennen Sie uns doch ein paar Zahlen, Mr Foster«, meinte der Direktor, der des Redens müde war.
Mr Foster war nur zu gerne bereit, ihnen ein paar Zahlen zu nennen.
Zweihundertundzwanzig Meter lang, zweihundert breit, zehn hoch. Er deutete nach oben. Die Studenten hoben wie Hühner beim Trinken die Augen zur fernen Decke.
Drei Lagerebenen: Parterre, erste und zweite Galerie.
Die spinnenartigen Verstrebungen der Galerieebenen verloren sich nach allen Seiten hin im Dunkel. Unweit von ihrer Gruppe entluden drei rote Gespenster an einer Fahrtreppe Glasballons.
Die Rolltreppe aus der Sozialprädestinationsstation.
Jeder Ballon kam auf eines von fünfzehn Regalen, jedes Regal war, obwohl man das mit bloßem Auge nicht sah, ein Förderband, das sich mit einer Geschwindigkeit von dreiunddreißigeindrittel Zentimeter pro Stunde bewegte. Zweihundertundsiebenundsechzig Tage lang acht Meter pro Tag. Zweitausendeinhundertundsechsunddreißig Meter insgesamt. Eine Runde ums ganze Untergeschoss, eine auf der ersten, anderthalb auf der zweiten Galerie und am zweihundertundsiebenundsechzigsten Morgen ins Licht des Tages der Dekantierstation. Ins unabhängige Dasein – das sogenannte.
»Doch bis dahin«, schloss Mr Foster, »haben wir mit ihnen einiges anstellen können. O ja, eine ganze Menge.« Sein Lachen klang vielsagend und selbstzufrieden.
»Das ist die rechte Einstellung!«, bekräftigte der Direktor. »Sehen wir uns doch einmal um. Wenn Sie dann alles erklären wollen, Mr Foster.«
Und Mr Foster erklärte.
Erklärte, wie der Embryo auf seinem Bauchfelllappen reifte. Ließ sie von dem reichhaltigen Blutsurrogat kosten, von dem der Embryo sich nährte. Erklärte, weshalb er mit Plazentin und Thyroxin stimuliert werden musste. Erzählte vom Corpus-luteum-Extrakt. Zeigte ihnen die Düsen, durch die dieser von der Null- bis zur 2040er-Marke alle zwölf Meter automatisch eingespritzt wurde. Sprach von der graduell gesteigerten Hypophysärdosierung auf den letzten sechsundneunzig Produktionsmetern. Beschrieb den künstlichen maternellen Kreislauf, der bei Meter 112 an jeder Ballonflasche angebracht wurde, zeigte ihnen den Blutsurrogattank, die Kreiselpumpe, die für die ständige Durchfeuchtung der Plazenta sorgte und das Surrogat durch die synthetische Lunge und Abbaustofffilter trieb. Erwähnte des Embryos lästige Anämieneigung und die erheblichen Dosen Schweinemagenextrakt und Fohlenfötusleber, die folglich verabreicht werden mussten.
Zeigte ihnen die einfache Vorrichtung, mit deren Hilfe auf den letzten beiden aller acht Meter sämtlichen Embryonen simultan die Bewegungsgewöhnung angerüttelt wurde. Deutete die Schwere des sogenannten Dekantiertraumas an und zählte die Vorbeugungsmaßnahmen auf, die diesen gefährlichen Schock beim Flaschenembryo durch entsprechendes Training verringern sollten. Klärte sie über die Tests zur Geschlechtsbestimmung ungefähr an der 200-Meter-Marke auf. Erläuterte das Etikettiersystem – ein T für männliche, ein Kreis für weibliche und für die zu Freemartins prädestinierten Embryonen ein schwarzes Fragezeichen auf weißem Grund.
»Denn in den allermeisten Fällen«, sagte Mr Foster, »ist Fertilität nur störend. Unter zwölfhundert ein fruchtbarer Eierstock – das wäre für unsere Zwecke vollkommen ausreichend. Nur brauchen wir eben auch eine ordentliche Auswahl. Und dann muss man zur Sicherheit natürlich Extrabestände vorhalten. Also lassen wir bei bis zu dreißig Prozent der weiblichen Embryonen die Entwicklung normal laufen. Die übrigen erhalten auf ihrem verbleibenden Weg alle vierundzwanzig Meter eine Dosis männlicher Sexualhormone. Das heißt, sie werden als Freemartins dekantiert – strukturell ganz normal (bis auf die Tatsache, wie er einräumte, dass sie doch ein klein wenig mehr zu Bartwuchs neigten), nur eben steril. Garantiert steril. Und damit«, schloss Mr Foster, »treten wir endlich aus der Sphäre lediglich sklavischer Nachahmung der Natur in die sehr viel interessantere der menschlichen Intervention.«
Er rieb sich die Hände. Denn selbstverständlich begnügte man sich nicht damit, Embryonen auszubrüten, das konnte schließlich jede Kuh.
»Nein, wir prädestinieren und konditionieren. Wir dekantieren unsere Babys als sozialisierte Wesen, als Alphas oder Epsilons, als künftige Klärwerkskräfte oder …« – er hatte sagen wollen Weltcontroller, besann sich aber rasch und sagte: »künftige Direktoren von Brütern«.
Der DCK quittierte das Kompliment mit einem Lächeln.
Sie passierten gerade an der 320-Meter-Marke das Regal 11. Ein junger Beta-Minus-Monteur hantierte mit Schraubenzieher und Maulschlüssel an der Blutsurrogatpumpe einer vorüberziehenden Ballonflasche. Mit jeder minimalen Drehung der Mutter stimmte er das Brummen des E-Motors weiter herunter. Tiefer, tiefer … eine letzte Teildrehung, ein Blick auf den Drehzahlmesser, und fertig. Der Monteur rückte zwei Schritte weiter und nahm sich die nächste Pumpe vor.
»Verringert die Drehzahl«, erklärte Mr Foster. »So zirkuliert das Surrogat langsamer, sprich durchströmt die Lunge in längeren Abständen, sprich der Embryo bekommt weniger Sauerstoff. Es geht nichts über Sauerstoffmangel, wenn man einen Embryo unterdurchschnittlich halten will.« Wieder rieb er sich die Hände.
»Aber weshalb wollen Sie den Embryo denn unterdurchschnittlich?«, fragte einer der Studenten arglos.
»Schwachkopf!«, bemerkte der Direktor und brach damit sein langes Schweigen. »Haben Sie sich noch nie überlegt, dass ein Epsilon-Embryo nicht nur eine Epsilon-Heredität verlangt, sondern auch ein Epsilon-Milieu?«
Nein, das hatte der Student sich offenbar noch nie überlegt. Er wand sich vor Verlegenheit.
»Je niedriger die Kaste«, erklärte Mr Foster, »desto weniger Sauerstoff.« Als erstes Organ wurde das Gehirn affiziert. Dann der Knochenbau. Bei siebzig Prozent der normalen Sauerstoffzufuhr kamen Zwerge heraus. Bei weniger als siebzig Prozent augenlose Monster.
»Die uns rein gar nichts nützen«, schloss Mr Foster.
Dabei wäre (hier wurde sein Ton verschwörerisch und sehr eindringlich) die Entwicklung einer Technik, die den Reifezyklus abkürzen könnte, ein wahrer Triumph, eine Wohltat für die Gesellschaft!
»Denken Sie nur an das Pferd.«
Sie dachten.
Mit sechs Jahren ausgewachsen, der Elefant mit zehn. Während der Mensch mit dreizehn noch nicht geschlechtsreif war und erwachsen erst mit zwanzig. Daher natürlich die Frucht der verzögerten Entwicklung: die menschliche Intelligenz.
»Doch bei Epsilons«, sagte Mr Foster sehr treffend, »brauchen wir keine menschliche Intelligenz.«
Brauchten sie nicht und bekamen sie nicht. Obwohl aber das Epsilon-Hirn mit zehn ausgereift war, blieb der Epsilon-Körper erst mit achtzehn einsatzfähig. Lange Jahre überflüssiger und vergeudeter Unreife. Ließe sich die körperliche Entwicklung auf das Tempo beispielsweise von Kühen beschleunigen, was für eine enorme gesamtgesellschaftliche Ersparnis!
»Enorm!«, murmelten die Studenten. Mr Fosters Enthusiasmus war ansteckend.
Er wurde nun etwas sehr technisch, sprach von endokrinen Anomalien, die für das verzögerte Wachstum des Menschen verantwortlich waren, nannte als mögliche Ursache germinale Mutationen. Konnten deren Folgen aufgehoben werden? Konnte der einzelne Epsilon-Embryo durch geeignete Methoden auf die Normalität von Hunden und Kühen zurückgeführt werden? Das war die Frage. Und sie war fast gelöst.
Pilkington9 in Mombasa hatte Wesen produziert, die mit vier geschlechtsreif und mit sechseinhalb voll ausgewachsen waren. Ein wissenschaftlicher Triumph. Gesellschaftlich allerdings irrelevant. Sechsjährige Männer und Frauen waren selbst für Epsilon-Arbeit zu blöd. Und leider hieß es bei dem angewandten Verfahren eben alles oder nichts: entweder die ganze Modifikation oder gar keine. Noch suchte man also den idealen Kompromiss zwischen zwanzig- und sechsjährigen Erwachsenen. Bisher erfolglos. Mr Foster seufzte und wiegte bekümmert den Kopf.
Ihr Rundgang durchs blutrote Zwielicht hatte sie in die Nähe der 170-Meter-Marke am Regal 9 geführt. An diesem Punkt verschwand Regal 9 in der Ummantelung des Tunnelbrüters, in dem die Ballonflaschen den restlichen Weg zurücklegten und in dem es nur hier und da Scharten von zwei, drei Metern Breite gab.
»Hitzekonditionierung«, bemerkte Mr Foster.
Heiße und kühle Tunnelabschnitte wechselten einander ab. Mit der Kühle ging Unbehagen in Gestalt harter Röntgenstrahlung einher. Bis zur Dekantierung würden die Embryos eine Aversion gegen Kälte entwickelt haben. Sie waren zur Emigration in die Tropen prädestiniert, als Bergleute, Acetatseidenspinner oder Stahlarbeiter. Ihre Hirne würden beizeiten dazu gebracht werden, das Urteil ihrer Körper zu billigen. »Wir konditionieren sie darauf, viel Hitze zu vertragen«, schloss Mr Foster. »Die Kollegen oben werden sie lehren, sie zu lieben.«
»Und genau das«, merkte der Direktor geschwollen an, »ist das Geheimnis von Tugend und Glück – zu lieben, was man tun muss. Darauf zielt alle Konditionierung ab: den Menschen ihre unentrinnbare soziale Bestimmung genehm zu machen.«
In einer der Lücken zwischen zwei Tunnelabschnitten führte eine Pflegerin vorsichtig eine lange, dünne Kanüle in den gallertartigen Inhalt eines vorbeiziehenden Glasballons ein. Die Studenten und ihre Mentoren blieben stehen und sahen einen Augenblick schweigend zu.
»Nun, Lenina10«, sagte Mr Foster, als sie schließlich die Nadel herauszog und sich aufrichtete.
Die junge Frau fuhr überrascht herum. Unverkennbar war sie trotz Lupus und purpurvioletter Augen ungemein hübsch.
»Henry!« Sie strahlte ihn an – eine Reihe korallroter Zähne.
»Reizend, reizend«, murmelte der Direktor, der ihr zwei-, dreimal den Hintern tätschelte und im Gegenzug ein eher respektvolles Lächeln erhielt.
»Und was injizierst du?«, fragte Mr Foster betont geschäftsmäßig.
»Ach, den üblichen Typhus und Schlafkrankheit.«
»Tropenarbeiter werden ab Meter 150 vakziniert«, erklärte Mr Foster den Studenten. »Da haben die Embryonen noch Kiemen. Wir immunisieren den Fisch gegen die Krankheiten des künftigen Menschen.« Dann wandte er sich erneut Lenina zu und sagte noch rasch: »Heute um zehn vor fünf wieder auf dem Dach?«
»Reizend«, wiederholte der Direktor und eilte nach einem letzten Tätscheln seiner Gruppe hinterher.
Die kommende Generation von Chemiekräften des Regals 10 wurde reihenweise auf Blei-, Ätznatron-, Teer- und Chlortoleranz getrimmt. Die ersten Stellagen einer Charge von zweihundertundfünfzig pränatalen Raketeningenieuren passierten soeben die Elfhundertmetermarke auf Regal 3. Eine spezielle Vorrichtung sorgte für stetige Rotation der Glasballons. »Um ihren Gleichgewichtssinn zu schulen«, erklärte Mr Foster. »Denn Außenreparaturen an einer Rakete im Einsatz vorzunehmen ist heikle Arbeit. Wir drosseln den Kreislauf, wenn sie aufrecht stehen, bis sie fast verhungern, und verdoppeln den Surrogatfluss, wenn sie kopfüber hängen. Irgendwann setzen sie die verkehrte Welt mit Wohlbefinden gleich; im Grunde fühlen sie sich am Ende nur wirklich wohl, wenn sie auf dem Kopf stehen.«
»Und jetzt«, fuhr Mr Foster fort, »möchte ich Ihnen noch die sehr interessante Konditionierung unserer Alpha-Plus-Intellektuellen vorführen. Wir haben gerade eine große Charge im Regal 5. Erste Galerie«, rief er zwei Jungen zu, die im Begriff waren, ins Parterre hinabzusteigen.
»Sie sind etwa bei Meter 900«, erläuterte er. »Effektive intellektuelle Konditionierung ist eigentlich erst möglich, wenn die Föten ihre Schwänze verloren haben. Hier entlang.«
Doch der Direktor schaute auf seine Uhr. »Zehn vor drei«, sagte er. »Ich fürchte, für die intellektuellen Embryonen bleibt uns keine Zeit. Wir müssen zur Frühlernstation hinauf, ehe die Kinder ihren Mittagsschlaf beendet haben.«
Mr Foster war enttäuscht. »Aber doch wenigstens einen Blick in die Dekantierstation«, flehte er.
»Also gut.« Der Direktor lächelte begütigend. »Einen kurzen Blick.«
Mr Foster blieb auf der Dekantierstation zurück. Der DCK und seine Studenten betraten den nächstbesten Fahrstuhl und wurden in den fünften Stock befördert.
FRÜHLERNSTATION. NEOPAWLOWSCHER KONDITIONIERUNGSTRAKT11 verkündete die Anschlagtafel.
Der Direktor öffnete eine Tür. Sie betraten einen großen, leeren Raum, sehr hell und sonnig, weil die ganze Südfront aus Glas bestand. Ein halbes Dutzend uniformierte Pflegerinnen in den vorgeschriebenen Anzügen aus weißem Viskoseleinen, die Haare aseptisch mit weißen Kappen bedeckt, war damit beschäftigt, auf dem Fußboden in einer langen Reihe Rosenschalen abzustellen. Große, randvolle Schalen. Tausende weit offener, seidiger Blüten, rund wie die Backen unzähliger Putten, Putten aber, die im strahlenden Licht nicht ausschließlich rosarot arisch waren, sondern teils schimmernd chinesisch, teils mexikanisch, teils apoplektisch vom übermäßigen Blasen der Himmelsposaunen, teils totenbleich, von posthumer Marmorblässe.
Die Pflegerinnen nahmen Haltung an, als der DCK den Raum betrat.
»Legen Sie die Bücher aus«, befahl er knapp.
Still kamen die Pflegerinnen der Aufforderung nach. Zwischen die Rosenschalen wurden Bücher platziert – eine lange Reihe Bilderbücher im Quartformat, deren einladend aufgeschlagene Seiten fröhlich bunte Abbildungen von Tieren, Fischen und Vögeln zeigten.
»Und nun bringen Sie die Kinder herein.«
Die Pflegerinnen hasteten davon und kehrten nach ein, zwei Minuten schon zurück, jede eine Art Stummen Diener vor sich her schiebend, dessen vier übereinander gestapelte Maschendrahtverschläge mit acht Monate alten Kleinstkindern beladen waren, alle vollkommen identisch (unverkennbar eine einzige Bokanowski-Gruppe) und alle (da sie der Kaste der Deltas angehörten) in Khaki gekleidet.
»Setzen Sie sie auf den Boden.«
Die Kleinstkinder wurden abgeladen.
»Drehen Sie sie so, dass sie die Blumen und Bücher sehen können.«
Gedreht, verstummten die Kinder, dann krabbelten sie auch schon auf die geballten, geschmeidigen Farben zu, auf die so lustigen und blanken Bilder auf den weißen Seiten. Im selben Moment brach die Sonne hinter einer Wolke hervor. Die Rosen loderten wie von plötzlichem innerem Feuer auf; neue und tiefe Bedeutung tränkte die leuchtenden Buchillustrationen. Von der krabbelnden Phalanx stiegen kleine, aufgeregte Kiekser auf, gurgelnde, glucksende Freudentöne.
Der Direktor rieb sich die Hände. »Ausgezeichnet!«, sagte er. »Fast wie bestellt.«
Die schnellsten Krabbler hatten bereits ihr Ziel erreicht. Kleine Hände grapschten, berührten, packten, entblätterten die verklärten Rosen, zerknitterten die illuminierten Buchseiten. Der Direktor wartete, bis alle eifrig beschäftigt waren. Dann sagte er: »Und nun passen Sie auf.« Mit erhobener Hand gab er das Signal.
Die Oberpflegerin, die am anderen Ende des Raums schon an einer Schalttafel bereitstand, drückte einen kleinen Hebel herunter.
Es tat einen Donnerschlag. Schrill und schriller jaulte eine Sirene. Alarmglocken bimmelten wild.
Die Kinder schraken zusammen, sie schrien und grimassierten vor Angst.
»Und nun«, brüllte der Direktor (denn der Lärm war ohrenbetäubend), »nun verleihen wir der Lektion noch mit milden Elektroschocks Nachdruck!«
Er gab erneut ein Zeichen, und die Oberpflegerin legte einen zweiten Hebel um. Das Kreischen der Krabbelkinder nahm ganz neue Töne an. Ihnen entfuhren nun Japser und spitze Schreie von einer verzweifelten, halb wahnsinnigen Dringlichkeit. Die kleinen Körper zuckten und krampften, ihre Glieder ruckten, als würde an unsichtbaren Drähten gezupft.
»Wir können den gesamten mittleren Bodenstreifen unter Strom setzen!«, bellte der Direktor zur Erklärung12. »Aber das genügt jetzt.« Er gab der Pflegerin ein Zeichen.
Das Donnergetöse hatte schlagartig ein Ende, die Glocken hörten zu bimmeln auf, Ton um Ton erstarb das Jaulen der Sirene. Die steif ruckenden Körper entspannten sich, und was sich zum Geheul frühkindlicher Berserker ausgewachsen hatte, beruhigte sich wieder zu gewöhnlichem Angstbrüllen.
»Und nun drehen Sie sie noch einmal den Blumen und Büchern zu.«
Die Pflegerinnen gehorchten, doch schon beim Anblick der Rosen, schon bei Sichtung der kunterbunten Bilder von Hoppe-Hase und Ki-ke-ri-ki und Muh-Kuh kauerten sich die Kleinstkinder panisch zusammen, und das Gebrüll nahm prompt wieder an Lautstärke zu.
»Sehen Sie?«, freute sich der Direktor. »Sehen Sie?«
Bücher und schrille Töne, Blumen und Stromschläge – schon jetzt waren diese Pole im frühkindlichen Hirn negativ gekoppelt und würden nach zweihundert Wiederholungen dieser und ähnlicher Lektionen eine feste Verbindung eingehen. Denn was der Mensch zusammengefügt hat, soll die Natur nicht scheiden.13
»Sie werden mit einer, wie die Psychologen einst sagten, ›instinktiven‹ Abscheu vor Büchern und Blumen aufwachsen. Einem unabänderlich konditionierten Reflex. Sie werden ihr Leben lang vor Büchern und der Botanik gefeit sein.« Der Direktor wandte sich an seine Pflegerinnen. »Bringen Sie sie fort.«
Noch immer laut plärrend wurden die Khaki-Babys auf die Stummen Diener geladen und hinausgerollt, und es blieben nur der Geruch nach saurer Milch und eine sehr willkommene Stille zurück.
Einer der Studenten hob die Hand, und obwohl ihm natürlich einleuchtete, dass man Niedrigkastigen schlecht gestatten konnte, Zeit, die dem Kollektiv gehörte, mit Büchern zu vergeuden und womöglich etwas zu lesen, was dummerweise ihre Reflexe dekonditionierte, war ihm … na ja … das mit den Blumen nicht ganz klar. Wozu sich die Mühe machen, Deltas Gefallen an Blumen psychisch zu verunmöglichen?
Der DCK erklärte geduldig. Kinder dazu zu bringen, schon beim Anblick von Rosen zu schreien, geschah im übergeordneten Interesse der Ökonomie. Vor nicht allzu langer Zeit (hundert Jahren vielleicht), waren Gammas, Deltas, ja, selbst Epsilons konditioniert worden, Blumen zu mögen – Blumen im Besonderen und die unberührte Natur im Allgemeinen. Dahinter habe das Kalkül gestanden, sie in jeder freien Minute aufs Land streben und somit Transport konsumieren zu sehen.
»Haben sie das denn nicht?«, fragte der Student.
»In hohem Maße«, erwiderte der DCK. »Aber eben sonst nichts.«
Primeln und Landschaft, erläuterte er, hätten eben einen entscheidenden Nachteil: Es gebe sie umsonst. Die Liebe zur Natur laste keine Produktionsanlagen aus. Man beschloss daher, die Liebe zur Natur abzuschaffen, zumindest bei den niedrigen Kasten, nicht aber den Bedarf an Transport. Denn selbstverständlich war man darauf angewiesen, dass die Menschen, und sei es widerstrebend, aufs Land hinaus fuhren. Die Herausforderung bestand darin, einen ökonomisch schlüssigeren Grund für den Transportkonsum zu finden als die schlichte Freude an Primeln und Landschaft. Er wurde gefunden.
»Wir konditionieren die Massen«, schloss der Direktor, »auf Naturfeindlichkeit bei gleichzeitiger Begeisterung für alle Natursportarten. Und wir sorgen dafür, dass alle Natursportarten die Nutzung vielfältiger Geräte erfordern. So werden neben dem Transport auch noch Sportartikel konsumiert. Und deshalb die Elektroschocks.«
»Verstehe«, sagte der Student und schwieg schwer beeindruckt.
Das Schweigen drohte lastend zu werden, da räusperte sich der Direktor und hob erneut zu sprechen an. »Einst, als Unser Ford14 noch auf Erden weilte, lebte ein kleiner Junge namens Reuben Rabinovitch.15 Reuben war das Kind polnischer Eltern.« Der Direktor unterbrach sich. »Sie wissen, was Polnisch ist, oder?«
»Eine tote Sprache.«
»Wie Französisch und Deutsch«, ergänzte ein zweiter Student neunmalklug.
»Und ›Eltern‹?«, fragte der DCK.
Es herrschte betretenes Schweigen. Etliche Jungen wurden rot. Sie hatten noch nicht gelernt, den entscheidenden, aber oftmals sehr feinen Unterschied zwischen Schweinkram und Wissenschaft zu machen. Einer aber traute sich schließlich, die Hand zu heben.
»Menschen waren einmal …« – er zögerte, das Blut schoss ihm in die Wangen. »Nun, sie waren einmal lebendgebärend.«
»Ganz recht, vivipar.« Der Direktor nickte wohlwollend.
»Und wenn Babys dekantiert wurden …«
»Geboren«, wurde er korrigiert.
»Nun, dann waren sie Eltern – das heißt, nicht die Kinder natürlich, die anderen.« Der arme Kerl war ganz konfus vor Verlegenheit.
»Kurz gesagt«, fasste der Direktor zusammen, »Eltern waren der Vater und die Mutter.« Dieser Schweinkram, der in Wahrheit Wissenschaft war, platzte wie eine BOMBE ins betretene, jeden Blickkontakt meidende Schweigen der Jungen. »Mutter«, wiederholte der Direktor deutlich vernehmbar und die Wissenschaftlichkeit unterstreichend, um sich dann auf seinem Stuhl zurückzulehnen. »Es sind in der Tat unschöne Fakten«, räumte er nüchtern ein. »Aber im Grunde sind die meisten historischen Fakten unschön.«
Er kehrte zu Klein-Reuben zurück, Klein-Reuben, in dessen Zimmer Vater und Mutter (BOMBE! und BOMBE!) eines Abends aus Versehen das Radio angelassen hatten.
(»Denn Sie müssen bedenken, dass Kinder in dieser kruden Ära viviparer Reproduktion stets von ihren Eltern betreut wurden, nicht in Weltstaatskonditionierungscentern.«)
Während das Kind schlief, setzte die Übertragung eines Rundfunkprogramms aus London ein, und am Morgen wiederholte Reuben – zur Verwunderung von BOMBE! und BOMBE! (die mutigeren Studenten riskierten mittlerweile ein Grinsen) – beim Aufwachen Wort für Wort einen sehr langen Vortrag des kuriosen einstigen Autors (»einer der wenigen, dessen Werke man auf uns hat kommen lassen«) George Bernard Shaw16, der einer gut dokumentierten Tradition zufolge über sein eigenes Genie sprach. Für Klein-Reubens GRINS! und ZWINKERN! war der Vortrag natürlich vollkommen unverständlich, und aus Angst, ihr Kind habe plötzlich den Verstand verloren, schickten sie nach einem Arzt. Der verstand zum Glück Englisch, erkannte in der Rede eben diejenige Shaws aus der Rundfunksendung des vorigen Abends, erfasste die Bedeutung des Vorgangs und sandte ein Kommuniqué an die medizinische Fachpresse.
»Das Grundprinzip des Schlaflernens, der Hypnopädie, war gefunden.« Der DCK machte eine bedeutungsvolle Pause.
Das Prinzip war gefunden, aber es sollte noch viele, viele Jahre dauern, ehe es nutzbringend angewandt werden konnte.
»Die Sache mit Klein-Reuben geschah nur dreiundzwanzig Jahre, nachdem das Modell T Unseres Ford auf den Markt gelangt war.« (Hier machte der Direktor auf Bauchhöhe das T-Zeichen, und alle Studenten folgten andächtig seinem Beispiel.) Und doch …
Die Studenten kritzelten eifrig. Hypnopädie, offiziell erstmals 214 n.F. Warum nicht eher? Zwei Gründe: (a) …
»Frühe Experimente«, erläuterte der DCK, »gingen in die falsche Richtung. Man dachte, die Hypnopädie könnte zur Erziehung des Geistes eingesetzt werden …«
(Ein kleiner Junge schläft auf der rechten Seite, sein rechter Arm ragt über die Bettkante hinaus, die rechte Hand hängt schlaff herab. Aus dem runden Sprechloch eines Kastens säuselt eine Stimme.
»Der Nil ist der längste Fluss Afrikas und der zweitlängste der Welt. Wiewohl nicht so lang wie der Missouri-Mississippi-Strom, übertrifft der Nil alle anderen Flüsse im Hinblick auf die Länge seines Fließwegs, welcher sich vom 35sten Breitengrad bis …«
Morgens beim Frühstück wird jemand fragen: »Tommy, weiß du, welches der längste Fluss Afrikas ist?« Ein Kopfschütteln. »Erinnerst du dich nicht an Worte, die so beginnen: ›Der Nil ist der …‹?«
»Der-Nil-ist-der-längste-Fluss-Afrikas-und-der-zweitlängste-der-Welt …« Die Worte stürzen in einem Schwall hervor. »Wiewohl-nicht-so-lang …«
»Na siehst du, welches ist also der längste Fluss Afrikas?«
Leerer Blick. »Weiß ich nicht.«
»Na, der Nil, Tommy.«
»Der-Nil-ist-der-längste-Fluss-Afrikas-und-der-zweitlängste-der-Welt …«
»Welches ist also der längste Fluss, Tommy?«
Tommy bricht in Tränen aus. »Ich weiß es nicht!«, jault er.)
Dieses Gejaule machte der Direktor nun für die Resignation früher Forscher verantwortlich. Die Experimente wurden eingestellt. Es wurde kein weiterer Versuch unternommen, Kindern die Länge des Nils im Schlaf beizubringen.17 Und zu Recht. Man lernt ein Fach nicht, wenn man keine Ahnung hat, worum es dabei geht.
»Hätten sie dagegen mit der moralischen Erziehung begonnen …«, sagte der Direktor und schritt voraus zu einer Tür, während ihm die Studenten, im Gehen und noch im Fahrstuhl eifrig kritzelnd, folgten, »die nie, unter keinen Umständen, rational sein darf …«
»Ruhe, Ruhe«, wisperte ein Lautsprecher, als sie im vierzehnten Stock ausstiegen; »Ruhe, Ruhe« wiederholten die Posaunenmäuler in Intervallen unermüdlich auf allen Fluren. Die Studenten und selbst der Direktor gingen bald automatisch auf Zehenspitzen. Sie mochten zwar Alphas sein, doch selbst Alphas sind wohlkonditioniert. »Ruhe, Ruhe.« Im ganzen vierzehnten Stock säuselte die Luft diesen kategorischen Imperativ.
Nach fünfzig Metern auf Zehenspitzen gelangten sie an eine Tür, die der Direktor vorsichtig aufdrückte. Sie traten über die Schwelle ins Zwielicht eines lamellenverdunkelten Schlafsaals. Achtzig Gitterbetten standen in Reih und Glied an der Wand. Man hörte leises, gleichmäßiges Atmen und ein anhaltendes Murmeln – wie sehr fernes Getuschel.
Eine Pflegerin erhob sich bei ihrem Eintritt und stand vor dem Direktor stramm.
»Was wird heute Nachmittag gelehrt?«, fragte er.
»Die ersten vierzig Minuten hatten wir Grundstufensex«, antwortete sie. »Jetzt läuft Grundklassenbewusstsein.«
Langsam schritt der Direktor die lange Reihe Gitterbetten ab. Rosig und schlafgelockert lagen dort sanft atmend achtzig kleine Jungen und Mädchen. Unter jedem Kopfkissen war ein Flüstern. Der DCK blieb stehen, beugte sich über eines der kleinen Betten und lauschte aufmerksam.
»Grundklassenbewusstsein, sagen Sie? Dann wollen wir doch mal eine Posaune auf laut stellen.«
An der Stirnseite des Raums ragte ein Lautsprecher aus der Wand. Der Direktor trat hin und betätigte einen Schalter.
»… tragen alle grün«, begann eine sanfte und doch sehr klare Stimme mitten im Satz, »und Delta-Kinder tragen Khaki. Nein, nein, ich will nicht mit Delta-Kindern spielen. Und Epsilons sind noch schlimmer. Die sind so dumm, dass sie nicht einmal lesen und schreiben können. Außerdem tragen sie Schwarz, und das ist eine so scheußliche Farbe. Ich bin ja so froh, dass ich Beta bin.«
Es gab eine Pause, dann hob die Stimme erneut an.
»Alpha-Kinder tragen Grau. Sie arbeiten viel härter als wir, weil sie so furchtbar schlau sind. Ich bin wirklich heilfroh, dass ich Beta bin, denn ich muss nicht so hart arbeiten. Und immerhin sind wir viel besser als Gammas und Deltas. Gammas sind dumm. Sie tragen alle grün, und Delta-Kinder tragen Khaki. Nein, nein, ich will nicht mit Delta-Kindern spielen. Und Epsilons sind noch schlimmer. Die sind so dumm …«
Der Direktor schnippte den Schalter wieder in die Ausgangsstellung. Die Stimme verstummte. Nur ein gespenstisches Echo murmelte unter achtzig Kopfkissen weiter.
»Das kriegen sie noch vierzig, fünfzig Mal zu hören, ehe sie aufwachen; dasselbe am Donnerstag und noch einmal am Samstag. Einhundertundzwanzig Mal dreimal die Woche dreißig Monate lang. Danach geht es mit anspruchsvollerem Lernstoff weiter.«
Rosen und Elektroschocks, die Khakifarbe der Deltas und die Duftnote Stinkasant – feste Verbindungen, noch ehe ein Kind sprechen kann. Doch vorsprachliche Konditionierung ist primitiv und undifferenziert, sie kann keine feinen Unterschiede lehren, taugt nicht zur Internalisierung komplexer Verhaltensmuster. Dazu bedarf es der Worte, allerdings Worte ohne Sinn und Verstand. Kurzum, Hypnopädie.
»Die stärkste moralisierende und sozialisierende Kraft aller Zeiten.«
Die Studenten notierten es sich in ihren kleinen Notizbüchern. Aus berufenem Munde.
Erneut drückte der Direktor den Schalter.
»… so furchtbar schlau sind«, sprach die sanfte, einschmeichelnde, unermüdliche Stimme. »Ich bin wirklich heilfroh, dass ich Beta bin, denn …«
Weniger wie stete Wassertropfen – obwohl Tropfen, das lässt sich nicht leugnen, auf Dauer härtesten Granit aushöhlen –, eher wie flüssiges Siegelwachs, dessen Tropfen mit dem, worauf sie fallen, verkleben, verwachsen, verkrusten, bis der Fels ein einziger roter Klumpen ist.
»Bis schließlich der Kindergeist mit den Einflüsterungen identisch ist, die Summe der Einflüsterungen mit dem Kindergeist. Und nicht nur dem Kindergeist. Sondern auch dem des Erwachsenen – ein Leben lang. Der Geist, der urteilt und will und entscheidet – gemacht aus diesen Einflüsterungen. Und alle diese Einflüsterungen sind unsere Einflüsterungen!«
Der Direktor war vor Begeisterung sehr laut geworden. »Einflüsterungen des Staats.«18 Er hieb mit der Faust auf den nächstbesten Tisch. »Das heißt …«
Ein Geräusch ließ ihn herumfahren.
»O Ford!!«, sagte er in ganz anderem Ton. »Jetzt habe ich die Kinder geweckt.«
Draußen im Garten war Spielstunde. In der warmen Junisonne liefen sechs-, siebenhundert nackte kleine Jungen und Mädchen kreischend über den Rasen, spielten Ball oder hockten still zu zweit, zu dritt in den blühenden Sträuchern. Die Rosen blühten, zwei Nachtigallen monologisierten im Gehölz, in den Linden traf ein Kuckuck letzte Töne. Die Luft war trunken vom Sirren der Bienen und Helikopter.
Der Direktor und seine Studenten verweilten etwas, um eine Partie Zentrifugen-Ballyhoo19 zu verfolgen. Zwanzig Kinder hatten sich im Kreis um einen Chromstahlturm aufgebaut. Ein auf die trichterförmige Plattform an der Spitze des Turms hochgeworfener Ball rollte nach innen, landete auf einer Zentrifugenscheibe, wurde zu einer der vielen Öffnungen des zylindrischen Gehäuses herausgeschleudert und musste gefangen werden.
»Eigenartig«, sinnierte der Direktor, als sie sich abwandten, »wenn man bedenkt, dass noch zu Zeiten Unseres Ford die meisten Spiele ohne viel mehr Gerät als einem Ball, ein paar Schlägern und gelegentlich etwas Netz gespielt wurden. Stellen Sie sich die Kurzsichtigkeit vor, Menschen ausgeklügelte Spiele spielen zu lassen, die in keiner Weise den Konsum steigern. Irrwitz. Heute lassen die Controller kein neues Spiel zu, das nicht erwiesenermaßen mindestens so viel an Ausrüstung verlangt wie das raffinierteste der bereits existierenden.« Er unterbrach sich.
»Was für ein reizendes Bild«, sagte er und wies mit der Hand.
In einer kleinen Rasenbucht zwischen hohen Besenheidesträuchern waren zwei Kinder, ein Junge von etwa sieben Jahren und ein kleines, höchstens ein Jahr älteres Mädchen mit großem Ernst und der gesammelten Konzentration von Forschern an der Schwelle zu einer Entdeckung in ihr Spiel vertieft. Ein rudimentäres Sexspiel.
»Reizend, reizend!«, wiederholte der DCK gerührt.
»Reizend«, stimmten ihm die Studenten höflich zu. Aber sie lächelten eher herablassend. Sie hatten solch kindische Vergnügungen selbst zu kurz erst hinter sich, um sie jetzt schon ohne leise Verachtung mit ansehen zu können. Reizend? Na ja, ein paar Kinder, die herummachten, mehr nicht. Eben Kinder.
»Ich sage immer …«, bemerkte der Direktor im selben nostalgischen Ton, als er von lautem Geplärre unterbrochen wurde.
Aus einigen angrenzenden Sträuchern zerrte eine Pflegerin einen kleinen, greinenden Jungen an der Hand hervor. Hinterdrein trottete ein besorgt blickendes Mädchen.
»Was gibt es?«, fragte der Direktor.
»Nichts weiter«, antwortete die Pflegerin mit einem Achselzucken. »Der Kleine hier scheint sich nur unwillig auf die üblichen erotischen Spiele einzulassen. Ich habe das nun schon ein-, zweimal bei ihm beobachtet. Und heute wieder. Als er angefangen hat zu schreien …«
»Ehrlich«, versicherte das besorgte kleine Mädchen, »ich wollte ihm nicht weh tun. Ehrlich.«
»Natürlich nicht, meine Liebe«, beschwichtigte die Pflegerin. »Ich werde ihn mal zum Stellvertretenden Chefpsychologen bringen. Er soll prüfen, ob da irgendetwas anormal läuft.«
»Sehr richtig«, sagte der Direktor. »Bringen Sie ihn zur Prüfung. Augenblick, Kleine«, ergänzte er hastig, als die Pflegerin sich mit ihrem noch immer greinenden Schützling auf den Weg machte. »Wie heißt du?«
»Polly Trotzki20.«
»Ein sehr guter Name«, sagte der Direktor. »Und nun ab mit dir, suche dir einen anderen kleinen Jungen zum Spielen.«
Das Kind lief in die Büsche zurück und war ihren Blicken entschwunden.
»Bezauberndes Geschöpf!«, fand der Direktor, der ihr noch eine Weile nachsah. Dann sagte er an seine Studenten gewandt: »Was ich Ihnen jetzt erzählen werde, dürfte für Sie kaum glaubhaft klingen. Aber wenn man mit der Geschichte wenig vertraut ist, klingt das meiste an der Vergangenheit kaum glaubhaft.«
Er entdeckte ihnen die erstaunliche Wahrheit. Lange Epochen vor Ford und selbst etliche Generationen danach noch waren erotische Spiele bei Kindern als abnorm betrachtet worden (schallendes Gelächter) oder nicht nur abnorm, sondern sogar unmoralisch (nein!), so dass man sie rigoros unterdrückt hatte.
Auf den Gesichtern seiner Zuhörer machten sich Staunen und Ungläubigkeit breit. Kleinen Kinder den Spaß verbieten? Sie trauten ihren Ohren nicht.
»Selbst Jugendliche«, sagte der DCK, »selbst Jugendliche in Ihrem Alter …«
»Nicht möglich!«
»Abgesehen von etwas heimlicher autoerotischer Befriedigung und Homosexualität – absolut nichts.«
»Nichts?«
»Meist bis über die zwanzig hinaus.«
»Zwanzig?«, erhob sich ein ungläubiger Stimmenchor.
»Zwanzig«, bekräftigte der Direktor. »Sagte ich doch, dass Sie mir nicht glauben würden.«
»Und was hieß das?«, wollten sie wissen. »Was hatte das für Folgen?«
»Es hatte furchtbare Folgen«, mischte sich eine tiefe, wohltönende Stimme überraschend in das Gespräch ein.
Sie wandten sich um. Am Rande ihres Grüppchens stand ein Fremder – ein schwarzhaariger Mann von mittlerem Wuchs mit Adlernase, vollen roten Lippen und sehr dunklen, durchdringenden Augen. »Furchtbar«, wiederholte er.
Der DCK hatte sich soeben auf eine der überall in den Gartenanlagen günstig platzierten gummierten Stahlbänke niedergelassen, doch beim Anblick des Fremden sprang er auf und stürzte mit ausgestreckten Händen und breitem, zähnebleckendem Grinsen überschwänglich auf ihn zu.
»Controller! Welch unerwartete Freude! Sie da, wo bleiben Ihre Manieren! Sie stehen vor dem Controller, Seiner Fordschaft Mustapha Mond.«21
In den viertausend Räumen des Centers schlugen die viertausend elektrischen Uhren simultan vier. Körperlose Stimmen ertönten aus Posaunenmündern:
»Ende der Haupttagesschicht. Übernahme durch zweite Tagesschicht. Ende der Haupttagesschicht …«
Im Fahrstuhl hinauf zur Umkleidestation kehrten Henry Foster und der Stellvertretende Prädestinationsdirektor ihrem Kollegen Bernard Marx22 vom Referat für Psychologische Fragen ziemlich demonstrativ den Rücken zu, wandten sich von seinem unappetitlichen Ruf ab.
Im Embryonenmagazin vibrierte die rote Luft noch immer von dem leisen Sirren und Rattern der Maschinen. Schichten mochten kommen und gehen, ein lupusfarbenes Gesicht dem anderen weichen: Ewig majestätisch krochen die Förderbänder mit ihrer Fracht künftiger Männer und Frauen weiter.
Lenina Crowne marschierte flott zur Tür.
Seine Fordschaft Mustapha Mond! Den salutierenden Studenten fielen fast die Augen aus dem Kopf. Mustapha Mond! Der Weltbereichscontroller Westeuropa! Einer der Zehn Weltcontroller. Einer der Zehn … setzte sich gerade zum DCK auf die Bank, er würde bleiben, ja, bleiben und tatsächlich mit ihnen sprechen … aus berufenem Munde. Aus dem Munde Fords selbst.
Zwei shrimpbraune Kinder tauchten aus den benachbarten Büschen auf, machten Stielaugen und kehrten dann zu ihren Vergnügungen im Blattwerk zurück.
»Sie erinnern sich gewiss«, sagte der Controller mit seiner starken, tiefen Stimme. »Sie erinnern sich doch gewiss an den wunderbar hellsichtigen Spruch Unseres Ford: Geschichte ist Humbug. Geschichte«, wiederholte er, »ist Humbug.«23
Er machte eine wegwerfende Geste, und es war, als hätte er mit einem unsichtbaren Wedel Staub gewischt, und der Staub, das war Harappa, war Ur in Chaldäa, Spinnweben, nichts weiter, auch Theben und Babylon und Knossos und Mykene. Wisch und weg – wo blieb da Odysseus, wo Hiob, wo Jupiter, Gautama oder Jesus? Wisch! und diese Stäubchen antiken Drecks namens Athen und Rom, Jerusalem und Reich der Mitte, alles weg. Wisch! und anstelle von Italien war nichts. Wisch! die Kathedralen, wisch! wisch! König Lear und die Gedanken Pascals. Wisch! Passion, wisch! Requiem, wisch! Symphonie, wisch! …
»Gehen Sie heute Abend ins Fühlorama24, Henry?«, fragte der stellvertretende Prädestinator. »Der neue Fühlfilm im Alhambra soll erstklassig sein. Es gibt da offenbar eine Liebesszene auf einem Bärenfell; ganz phantastisch, wie man hört. Jedes einzelne Bärenhaar wiedergegeben. Erstaunliche taktile Effekte.«
»Deshalb lernen Sie keine Geschichte«, sagte der Controller. »Doch jetzt ist es an der Zeit …«
Der DCK schielte nervös zu ihm hin. Es kursierten seltsame Gerüchte über einen geheimen Tresor voller alter, verbotener Bücher im Arbeitszimmer des Controllers. Bibeln, Dichtung – weiß Ford was.
Mustapha Mond entging der ängstliche Blick nicht, und die Winkel seines vollen Munds zuckten spöttisch.
»Keine Sorge, Direktor«, sagte er mit leicht ironischem Unterton, »ich werde sie schon nicht verderben.«
Der DCK wollte im Erdboden versinken.
Alle, die sich verachtet fühlen, tun gut daran, verächtlich zu tun. Bernard Marx’ Lächeln war verächtlich. Also ehrlich: jedes einzelne Bärenhaar!
»Den muss ich unbedingt sehen«, sagte Henry Foster.
Mustapha Mond beugte sich vor und hob den Finger. »Stellen Sie sich vor«, sagte er, und beim Klang seiner Stimme lief ein Schauer übers Zwerchfell. »Versuchen Sie sich nur einmal vorzustellen, was es hieß, eine lebendgebärende Mutter zu haben.«
Schon wieder dieser Schweinkram. Doch hätte diesmal im Traum niemand zu grinsen gewagt.
»Versuchen Sie sich vorzustellen, was ›bei der Familie wohnen‹ hieß.«
Sie versuchten es, aber offenbar vollkommen vergeblich.
»Und wissen Sie, was ›daheim‹ hieß?«
Allgemeines Kopfschütteln.
Aus ihrem schummrig roten Untergeschoss sauste Lenina Crowne siebzehn Stockwerke höher, wandte sich, als sie aus dem Fahrstuhl trat, nach rechts, ging einen langen Korridor hinab, öffnete die Tür mit der Aufschrift FRAUENUMKLEIDESTATION und stürzte sich in das fröhliche Getümmel von Armen, Busen und Unterwäsche. Katarakte heißen Wassers ergossen sich in oder gurgelten aus Hunderten von Wannen. Brummend und brausend walkten und saugten achtzig Vibrovakuum-Massagegeräte am festen, sonnengebräunten Fleisch von acht weiblichen Prachtexemplaren. Alle unterhielten sich lauthals. Aus der Synthimusikanlage flötete ein Superkornettsolo.
»Tag, Fanny«, sagte Lenina zu der jungen Frau, deren Spind und Haken neben ihren waren.
Fanny arbeitete auf der Füllstation und hieß mit Nachnamen ebenfalls Crowne.25 Da aber auf die zweitausend Millionen Erdbewohner nur zehntausend Nachnamen kamen, war das kein besonders frappierender Zufall.
Lenina zog an ihren Reißverschlüssen – abwärts an der Jacke, beidhändig abwärts an den zweien der Hosen und abwärts auch an der Unterkleidung. In Schuhen und Strümpfen spazierte sie zur Bäderzeile.
Daheim. Daheim hieß: ein paar kleine Zimmer, zum Ersticken überbelegt mit einem Mann, einer immer wieder graviden Frau, einer Brut Jungen und Mädchen aller Altersstufen. Keine Luft, kein Platz; ein untersterilisiertes Gefängnis; Düsternis, Krankheit und Gestank.
(Der Controller beschrieb das alles so lebhaft, dass ein besonders sensibler Student bei der Darstellung kreidebleich wurde und sich fast übergab.)