Schottenschuss - Gordon Tyrie - E-Book

Schottenschuss E-Book

Gordon Tyrie

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Beschreibung

Herrlich atmosphärisch und voller schwarzem Humor: Der Auftragskiller und das Hochlandrind sind zurück! »Schottenschuss« ist der vierte Schottland-Krimi von Gordon Tyrie um den einäugigen Ex-Scharfschützen Hynch und das eigenwillige Hochlandrind Thin Lizzy. Auch auf der idyllischen Hebriden-Insel Mull kommt Ex-Auftragskiller Hynch nicht zur wohlverdienten Ruhe: Ein eigentlich harmloses Date mit der Graphologin Frances verwickelt ihn prompt in einen mysteriösen Fall. Anscheinend hat sich ein Immobilienhai im Meer das Leben genommen. Das soll ein Abschiedsbrief belegen, der jedoch zahlreiche Fragen aufwirft. Zusammen mit Frances und Hochlandrind Thin Lizzy kommt Hynch einem großen Ding auf die Spur. Dabei haben auch die drei schlechtesten Polizisten Schottlands ihre Finger im Spiel. Als Thin Lizzy den Fall im Alleingang lösen will und in der Wildnis verschwindet, ist guter Rat teuer... Gordon Tyrie ist das Pseudonym von Glauser-Preisträger Thomas Kastura, der mit seinen skurrilen, schwarzhumorigen Hebriden-Krimis die perfekte Urlaubslektüre für alle Schottland-Fans liefert Die humorvolle Krimi-Reihe "Hynch ermittelt" spielt auf verschiedenen Hebriden-Inseln und ist in folgender Reihenfolge erschienen: - Band 1: Todesströmung (Jura) - Band 2: Schottensterben (Gigha) - Band 3: Schottenkomplott (Colonsay) - Band 4: Schottenschuss (Mull) 

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Seitenzahl: 437

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Gordon Tyrie

Schottenschuss

Ein Hebriden-Krimi

Knaur eBooks

Über dieses Buch

Auch auf der idyllischen Hebrideninsel Mull kommt Ex-Auftragskiller Hynch nicht zur wohlverdienten Ruhe: Ein eigentlich harmloses Date mit der Grafologin Frances verwickelt ihn prompt in einen mysteriösen Fall. Anscheinend hat sich ein Immobilienhai im Meer das Leben genommen. Das soll ein Abschiedsbrief belegen, der jedoch zahlreiche Fragen aufwirft. Zusammen mit Frances und Hochlandrind Thin Lizzy kommt Hynch einem großen Ding auf die Spur. Dabei haben auch die drei schlechtesten Polizisten Schottlands ihre Finger im Spiel. Als Thin Lizzy den Fall im Alleingang lösen will und in der Wildnis verschwindet, ist guter Rat teuer …

 

 

Weitere Informationen finden Sie unter: www.droemer-knaur.de

Inhaltsübersicht

Karte

Die Hauptpersonen

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

16. Kapitel

17. Kapitel

18. Kapitel

19. Kapitel

20. Kapitel

21. Kapitel

22. Kapitel

23. Kapitel

24. Kapitel

25. Kapitel

26. Kapitel

27. Kapitel

28. Kapitel

29. Kapitel

30. Kapitel

31. Kapitel

32. Kapitel

33. Kapitel

34. Kapitel

35. Kapitel

36. Kapitel

37. Kapitel

38. Kapitel

39. Kapitel

40. Kapitel

41. Kapitel

42. Kapitel

43. Kapitel

44. Kapitel

45. Kapitel

46. Kapitel

47. Kapitel

48. Kapitel

49. Kapitel

50. Kapitel

51. Kapitel

52. Kapitel

53. Kapitel

54. Kapitel

55. Kapitel

56. Kapitel

57. Kapitel

58. Kapitel

59. Kapitel

60. Kapitel

61. Kapitel

62. Kapitel

63. Kapitel

Danksagung

Leseprobe »Schottenkomplott«

Die Hauptpersonen

Hynch / Howard

Profikiller im Ruhestand, interessiert sich für Steine, Vögel und Morde

Frances

Grafologin aus Glasgow, interessiert sich für Inseln, Hynch und Selbstmorde

Thin Lizzy

zottelig, mag (fast) niemanden

Twistie

zottelig, mag (fast) jeden

DI Pam MacKinnon

DS Morgan Mickle

DC Jock Osgood

notorisch erfolgloses Sonderermittlerteam mit dem Spitznamen »Bampots«

Boswell & Johnson

zwei ungleiche Kater, wie sie in den Büchern stehen

Callie

dubiose Auftraggeberin

Keith

dubioses Verkaufstalent

Crissa

Skipperin der Aquarius und Hynchs beste Freundin

Elsie

Skipperin der Hammer of Love und Hynchs Tochter

1

Hoch stand die Sonne über dem mächtigen Ben More, sattgrün leuchtete das Gras, Feldlerchen sangen ihr »prrli, prrli«. Winzige Stechfliegen, besser bekannt als Midges, bissen in Arme und Beine leichtfertiger Wanderer. Ein Kuckucksweibchen klaute das Ei eines Teichrohrsängers, um es durch sein eigenes zu ersetzen. Und eine Wespenspinne vertilgte aufreizend langsam ihren Partner. Mittag auf den Hebriden.

Temperaturen um die 24 Grad gaukelten neu ankommenden Touristen vor, schottische Sommertage bestünden nur aus einer einzigen Jahreszeit. Doch nach Yillen, einem aprilhaften Regenschauer am Morgen, hatte einige Stunden lang Mochie geherrscht, diesige, feuchtwarme Klammheit, gefolgt von einem Hoolie, einer steifen, die Wolken wegpustenden Brise. Seither tat das Wetter so, als sei Sonnenschein Ende August der Normalzustand. Binnen Kurzem konnte indes Snell einsetzen, ein herbstlicher Kälteeinbruch, der einem die oberen Hautschichten abschmirgelte und mit Bullet Stanes, Hagelkörnern, perforierte, das Ganze garniert mit Spitters, ein paar Schneeflocken hier und da, um den jahreszeitlichen Reigen zu komplettieren. »Four seasons in a day«, sagten die Leute dazu, obwohl man nirgendwo auf der Welt mehr Ausdrücke für Niederschlag kannte als in Schottland.

Wenn also tatsächlich einmal die Sonne schien, galt es dies auszunutzen, fand Hynch. Mit seinem einzigen Fortbewegungsmittel, einem Wrack von Fahrrad, machte er sich auf den Weg zur Käserei. Die Sgriob-ruadh Farm lag eine knappe Meile westlich von Tobermory, der Hauptstadt der Isle of Mull. Er trat kräftig in die Pedale. Diese Insel bestand nur aus Bergen, Hügeln und Buckeln, gefühlt fuhr er immer eine Steigung hoch.

Er musste sich noch daran gewöhnen, ohne Schusswaffe loszuziehen. Der .38er Revolver befand sich wohlverwahrt in seiner Hütte.

Als er an einem Wiesenhang vorbeikam, winkte er seiner stark behaarten Lebensgefährtin zu. Sie erhielt gerade ihr Briefing für den Rest des Arbeitstages. Lizzys Anblick heiterte ihn auf. Das war auch dringend nötig. Hynch hatte wieder ein Date.

2

Clifford verwuschelte den Pony des Hochlandrinds. Es trug den irreführenden Namen Thin Lizzy. Denn dünn war diese Kuh definitiv nicht. »Worauf wartest du noch?«, fragte er. »Am besten, du fängst gleich an.«

Lizzy hob ihren Zottelschädel und schnaubte verdrießlich. Sie hörte wohl nicht recht! Der Ranger von der Future Forest Company verlangte schier Unmögliches. Bis zum Abend sollte sie diesen verstrauchten Hang bis hoch zum Hügelkamm abweiden. Wie stellte er sich das vor? War sie ein verdammter Mähdrescher? Ausgerechnet heute, wo sie früher Feierabend machen wollte.

»Komm schon, das schaffst du spielend!«, schmeichelte ihr Clifford. »Oder hast du später noch was vor?«

Zur Bestätigung muhte sie ihm direkt ins Gesicht.

Täglich konnte sie bis zu 200 Liter Speichel bilden. Eine Ladung davon verteilte sich sprühnebelartig auf Clifford. »Klar hab ich noch was vor!«, hieß das. »Mehr Respekt für mein Privatleben!«

Mit dem Ärmel wischte er sich ab. »Du hast ’ne ziemlich feuchte Aussprache. Wir sehen uns.« Mit seinem Smartphone überprüfte er, ob ihr GPS-Halsband noch funktionierte. Dann stieg er auf sein Quad und knatterte davon.

Laut Jobbeschreibung war Lizzy zuständig für »vegetationsformendes Grasen«, und zwar zu geregelten Arbeitszeiten. Die sahen vor, am Freitag frühzeitig in ein casual weekend zu gehen. Um Punkt 15 Uhr würde sie den Hammer fallen lassen und zur nahe gelegenen Sgriob-ruadh Farm trotten. Dort hatte sie einen dringenden Termin.

Doch Lizzy hielt sich für eine gewissenhafte Kuh. Sie tendierte zu over delivery, zu übermäßiger Pflichterfüllung. Was sie im Rahmen dieses Renaturierungsprojektes auch anpackte, tat sie mit vollem Einsatz. Durch ihre Futterwahl förderte sie die Artenvielfalt. Sie fraß alles, was die Weideflächen zu überwuchern drohte und von ordinärem Fleckvieh verschmäht wurde, Ginster, Disteln und Heidekraut zum Beispiel. Kletten, deren Samen sich in Lizzys Fell verhakten und auf diese Weise verbreiteten, ließ sie hingegen stehen, ebenso langstielige Gräser. »Selektiver Verzehr«, so der Fachbegriff, führte zu einem Mosaik aus hohen Weideresten und niedrigen Gras- und Krautfluren, mithin zu unterschiedlichsten Lebensräumen für Pflanzen und Tiere. Lizzys Einfluss auf die Diversität der Umwelt konnte als durchweg positiv bezeichnet werden. Nach ihrem Selbstverständnis war sie so etwas wie eine Bio-Gärtnerin.

Wenn sie ihr Pensum schaffen wollte, blieb ihr also nichts anderes übrig, als den Turbo einzulegen. Wie ein lebender Häcksler zerraspelte sie alles, was ihr in die Quere kam. Einmal in Fahrt geraten, gab es kein Halten mehr. Lizzy fräste sich unbarmherzig durch die Botanik.

Allerlei Erholungsbedürftige verirrten sich auf die Weide in der Annahme, hier ein lauschiges Plätzchen gefunden zu haben. Doch der Anblick von Lizzys gefährlich langen Hörnern und die Tatsache, dass sie nur noch ein Auge besaß, schlugen eine picknickende Rentnerin und ein knutschendes Pärchen in die Flucht. Dann näherte sich eine Horde junger Männer.

Lizzy hatte nichts gegen junge Männer, wenn sie nicht gerade mit Bierdosen und nackten Oberkörpern herumliefen und sich über ein schwer arbeitendes Hochlandrind lustig machten. »Guck mal, ein lebender Fußabstreifer!«, meinte der mit dem stärksten Sonnenbrand, aufgrund des Tonfalls ganz klar ein Nicht-Schotte und offenbar lebensmüde. Wie ein Torero wedelte er mit seinem T-Shirt herum. Die anderen feuerten ihn an.

»Ihr habt es so gewollt …«, frohlockte Lizzy. Auf dem abschüssigen Gelände hatte sie die höhere Position inne, seit jeher ein Vorteil bei der taktischen Kriegsführung – wie schon in der Schlacht von Stirling Bridge von 1297, bei der die Engländer eine schwere Niederlage kassiert hatten. Also scheuchte Lizzy die unerfahrenen Fußtruppen aus dem südlichen Teil Britanniens den Hang hinunter. Dabei purzelten die Kerle akrobatisch übereinander, ein bisschen Spaß musste sein.

Am Ende standen auf der Verlustliste: schmerzhaft verdrehte Knöchel, Rippenprellungen und Quetschungen im Genitalbereich. Englands Stolz trollte sich, und Lizzy graste im Bewusstsein eines großen Sieges weiter. Erneut hatte sie unter Beweis gestellt, ein furchterregendes Wildtier zu sein, im Gegensatz zu ihren verweichlichten domestizierten Artgenossen.

Um 15 Uhr war die Fläche weitgehend kahl rasiert. Clifford kam wieder auf seinem Quad vorbei und lobte sie überschwänglich. »Hey, das ist neuer Rekord. Du bist eben ein Naturtalent.« Mahnend hob er den Zeigefinger. »Hoffentlich hast du dich auch gut benommen. Nicht, dass mir wieder Klagen kommen!«

Lizzy schaute ihn so treuherzig an, dass er keinen Verdacht schöpfte.

»Na, dann … Ich wünsch dir ein schönes Wochenende!«

Sie ließ einen monströsen Fladen fallen, um ihren Gefühlen bildhaft Ausdruck zu verleihen. Außerdem war so ein Kuhfladen Nahrungs- und Fortpflanzungsraum für mehr als viertausend Insekten, die wiederum allerlei Vögeln als Futter dienten. Dann checkte sie aus. Durstig wie ein Fisch spazierte sie zur Sgriob-ruadh Farm.

Die Hitze hatte sie unter ihrem Zottelfell völlig ausgedörrt, mit dem Speichelfluss haperte es zunehmend. Als sie auf dem Bauernhof, der zugleich eine Käserei war, eintraf, soff sie die Viehtränke halb leer. Der Job war zwar genau auf sie zugeschnitten, aber höllisch anstrengend und auf die Dauer ein wenig einförmig. Fressen, fressen und noch mal fressen. Keine echte Herausforderung für eine Kuh ihres intellektuellen Formats. Hatte sie dafür studiert?1

Sie rülpste, was sich anhörte wie der Kampfruf eines Orkhäuptlings. Dann begab sie sich zur Glass Barn, dem Besuchercafé, einer Art historischem Gewächshaus. Vor dem Gatter nahm sie Aufstellung. Genau zum richtigen Zeitpunkt. Ihr Timing war wieder einmal perfekt, dachte sie zufrieden.

Ein paar Meter entfernt an einem Tisch im Garten des Cafés saß Hynch, mit dem sie derzeit zusammenlebte – und zwar in Gesellschaft einer fremden Frau. Anscheinend hatten sich die beiden gerade erst auf ihren Plätzen niedergelassen. Sie studierten die Speisekarte.

Aus mehreren Gründen war Lizzy alles andere als eifersüchtig. Zum einen führten Hynch und sie eine moderne, offene Beziehung. Eigentlich war es gar keine Beziehung im üblichen Sinn, eher ein Therapeuten-Patienten-Verhältnis, wobei Lizzy die Funktion der Therapeutin ausübte. Zum anderen stellte sich Hynch bei jedem Date so ungeschickt an, dass Lizzy die fremde Frau schon jetzt bedauerte. Entweder er schwieg wie ein begriffsstutziger Mönch oder, was allerdings selten passierte, er geriet ins Plappern. Dann schüttete er einer einfühlsamen Highland Cow wie Lizzy schon mal sein Herz aus, wobei er dazu neigte, allerlei verfängliche Details seiner kriminellen Lebensgeschichte preiszugeben. Auf diese Weise hatten sie bei einer Tiertherapie einst nähere Bekanntschaft geschlossen, und deswegen war sie hier: um ihren kontaktgestörten Patienten zu überwachen und gegebenenfalls einzugreifen, wenn er allzu mitteilsam zu werden drohte.

Hynch bemerkte, dass Lizzy sich angepirscht hatte. »Ist schon in Ordnung, Frances, die Kuh gehört zu mir«, beruhigte er die Frau an seinem Tisch. Die anderen Gäste zückten bereits ihre Handys und schossen Fotos von dem Ungetüm. Lizzy machte ein Duckface. Sie liebte es, fotografiert zu werden.

Hynch litt unter dem gleichen Handicap wie Lizzy, kaschierte es aber mit einer Augenklappe. In der Vergangenheit hatten sie beide ein paar äußerst unfreundliche Leute umgebracht, Lizzy aus Notwehr, Hynch für Geld und aus einer Reihe anderer, zumeist nachvollziehbarer Gründe: Er war ein Profikiller im Ruhestand. Ansonsten besaßen sie wenig Gemeinsamkeiten. Aber Gegensätze zogen sich ja bekanntlich an.

3

Seit Hynch zusammen mit Lizzy auf der Isle of Mull lebte, beschäftigte er sich mit der Herstellung von Eiscreme, mit Vogelbeobachtung, seinem langjährigen Hobby, und neuerdings immer intensiver mit Steinen. Dank seiner wechselvollen, teils vulkanischen Vorgeschichte galt Mull nämlich als Mekka der Geologie. Deswegen kam ihm der Gedanke, dass die Frau, die er in die Glass Barn eingeladen hatte, einer Gesteinsformation glich.

»Endlich treffen wir uns in real life«, sagte Frances. »Hat ja ganz schön gedauert.« Sie strich ihr geblümtes Kleid glatt – nicht forsch und hektisch wie ein Kontrollfreak, sondern eher beiläufig und versonnen, als würde sie bei dieser Geste an einen Menschen denken, der ihr einmal viel bedeutet hatte, die Großmutter vielleicht, eine ganz spezielle Tante oder ein verflossener Liebhaber. Das Kleid war moosgrün, sein Muster bestand aus weißen Glockenblumen. Es umhüllte einen Körper, an dem Erosion, Verwitterung und Sedimentation jahrzehntelang herumgemeißelt und allerlei Vorsprünge und Ausbuchtungen, aber auch Dellen und Verwerfungen hinterlassen hatten. Sehr individuell und durchaus attraktiv, wie Hynch fand, zumal Frances ihr leicht ausgeschnittenes Glockenblumenkleid mit einer Gelassenheit und Nichtbeachtung trug, als sei sie tatsächlich eine Art Stein, ein Monolith, über den die Natur ein Blütenmeer ausgegossen hatte. Was sie in Hynchs Auge zu einem geblümten Stein machte.

Er hob entschuldigend die Hände. »Tut mir leid, dass es auf Colonsay2 nicht geklappt hat. Wie du siehst, hab ich kurz entschlossen die Insel gewechselt.«

»Machst du so etwas öfter?«

»Gelegentlich. Scheint sich zu einem Spleen von mir zu entwickeln.«

»Auf welchen Inseln warst du denn schon?«

»Och, hier und da«, wich Hynch aus. »Je kleiner, desto besser. Mull finde ich ein bisschen zu busy, zumindest Tobermory. Die Stadt hat immerhin fast tausend Einwohner, da ist andauernd was los.«

»Vorhin kam mir der Ort wie ausgestorben vor.«

»Das täuscht. Die saßen vermutlich alle beim Lunch.«

»Du magst es ruhiger.«

»Genau.«

»Ich lebe schon viel zu lange in Glasgow.« Frances strich sich eine grau melierte Haarsträhne aus dem Gesicht. »Der Beruf hält mich dort fest, mein Beratungsbüro. Und die Aufträge, die ich hin und wieder von der Polizei bekomme. Die sind unglaublich interessant.«

»Du arbeitest für die Polizei?«, wunderte sich Hynch. »Hast du mir noch gar nicht erzählt.«

»Manche Leute reagieren dann komisch.«

»Ach wirklich?«

»Ich bin ja in Belfast aufgewachsen, zur Zeit der Troubles. Da galt es als suspekt, mit den Bullen zu paktieren.«

»Kann ich mir vorstellen.«

»Aber es ist nichts weiter dabei, alles rein geschäftlich. Ich bin Grafologin, wie du weißt. Und manchmal ist meine Expertise gefragt. Zum Beispiel für Gutachten.«

»Was gibt’s denn da zu begutachten?«

»Drohbriefe, Erpresserbriefe, vermeintliche Abschiedsbriefe oder Testamente … all so was. Und gefälschte Dokumente aller Art, Führerscheine, Pässe, Urkunden.«

»Wow.«

»Ist das ein Problem für dich?«

»Natürlich nicht.« Hynch wandte sich seinem Teebrot zu, einem Früchtekuchen mit Sultaninen und Mandeln. Das gehaltvolle Stück, das er von der Theke geholt hatte, konnte eine vielköpfige schottische Familie vermutlich tagelang ernähren. Er brach ein großes Stück davon ab und warf es Lizzy zu. Es verschwand kommentarlos in ihrem Maul.

Dass Frances Verbindungen zu den Bullen besaß, war durchaus ein Problem. Seit Jahren versuchte Hynch, unerkannt seinen Ruhestand zu genießen, bevorzugt auf kleinen Hebrideninseln, weil es dort häufig keine Polizei gab –, sofern ihm keine angespülten Leichen oder Todeskommandos abgehalfterter Gangsterbosse dazwischenkamen. Deshalb beschränkte er seine sozialen Kontakte auf ein Minimum.

Frances stellte eine Ausnahme dar. Das hing damit zusammen, dass er vor einigen Monaten einen großen Bock in seiner an Böcken ansonsten relativ armen Laufbahn geschossen und eine Kontaktanzeige in der Oban Times aufgegeben hatte. Viel Gutes war dabei nicht herausgekommen, im Gegenteil. Hynch war für bestimmte Leute, die ihn seit Jahren für tot gehalten hatten, wieder sichtbar geworden. Aus diesem Grund hatte er Colonsay den Rücken kehren müssen, um sich auf der weitaus größeren Isle of Mull anzusiedeln. Amouröse Folgen hatte das unvorsichtige Inserat jedoch nicht gehabt. Zwei Treffen mit Frauen, die sich an dem »59-jährigen Robinson mit Hang zur Poesie« interessiert gezeigt hatten, waren kläglich gescheitert, und ein ursprünglich geplantes Date mit Frances war schlichtweg geplatzt. Dieses Date wollte Hynch jetzt nachholen, nur aus Höflichkeit und Pflichtbewusstsein. Im Grunde hatte er die Schnapsidee, auf seine alten Tage noch eine Partnerin zu finden, längst abgehakt.

»Kürzlich ist mir im Job was Schräges passiert«, fuhr Frances fort. »Da kam diese Frau in mein Büro, Callie. Ich dachte, sie will etwas über die Gestaltung ihres Lebenslaufs wissen und wie man das handschriftlich am besten macht. In solchen Fällen berate ich die Leute, das ist so meine Haupttätigkeit. Die Schrift sagt ja unglaublich viel über die Persönlichkeit aus. In den großen Firmen werden angehende Führungskräfte auf Herz und Nieren geprüft, Handschriftanalysen sind da gang und gäbe.«

»Was wollte Callie denn von dir?«, hakte Hynch nach.

»Sorry, bin abgeschweift.«

»Du hast einen erstaunlichen Beruf. Was wäre denn, wenn wir nicht ausschließlich online Kontakt gehabt hätten? Wenn ich dir einen richtigen Brief geschrieben hätte?«

Frances lächelte. »Dann wüsste ich alles von dir.«

»Alles?« Hynch zuckte unwillkürlich zusammen.

»Bis in die Haarspitzen. Ich meine, was sehe ich jetzt? Einen Mann Ende 50, schlank wie ein Aal, hochgewachsen, vormals blond. Gut in Form. Selbstsicher, abwartend – und zugleich voller Angst, bei diesem Treffen in irgendein Fettnäpfchen zu treten, sei es aus Verlegenheit oder übertriebenem Perfektionismus. Du hast nur ein Auge. Ein sehr skeptisches Auge. Es ist unaufhörlich in Bewegung, scannt mich immerzu, ob es mir vertrauen darf.«

»Ich bin beeindruckt.«

»Wie gesagt: Deine Handschrift würde noch viel mehr verraten.«

»Ein paar Geheimnisse möchte ich schon für mich behalten.«

»Was sieht denn dein Auge?«, fragte Frances. »Wie würdest du mich beschreiben?«

Hynch überlegte kurz. »Du bist ungefähr in meinem Alter …«, fing er an.

»Mist! Ich dachte, ich sehe mindestens zehn Jahre jünger aus.«

»Du wirkst wie ein Stein.«

»Unnachgiebig? Unnahbar? Ich kann mich irren, aber bei einem Date sagt man dem anderen erst mal was Positives. Und dann kommen nach und nach die Kritikpunkte.«

»Das war doch ein Kompliment.«

»Heißt das, du magst Steine?«

»Ich finde sie faszinierend. Die meisten Steine hier auf den Inseln sind wahnsinnig alt.«

»Und was für eine Sorte Stein soll ich sein?«

»Das ist mir noch nicht klar. Ich glaube nicht, dass du leicht zu bearbeiten bist wie zum Beispiel Sandstein, den nimmt man gern für Fenstereinfassungen.«

»Leicht zu bearbeiten? Ich?« Frances schmunzelte. »Nein, eher nicht.«

»Granit scheint mir auch nicht das Richtige zu sein – zu hart. Basalt ist ja vulkanischen Ursprungs – zu dramatisch. Ich glaube, du bist ein Gneis.«

»Davon hab ich mal in der Schule gehört – vor einer halben Ewigkeit.« Sie senkte den Blick. »Gneis. Klingt nicht gerade aufregend.«

»Ein Gestein, das entstand, als es noch kein tierisches Leben gab, bis zu drei Milliarden Jahre alt, ohne Einschlüsse von Fossilien. Ich finde dich erfrischend unlebendig.«

»Das hat mir noch niemand gesagt.« Ihre Stimme troff vor Ironie. »Ich fühle mich geschmeichelt.« Sie schlug die Beine übereinander. Zu dem geblümten Kleid trug sie weiße Sneakers, Stadtschuhe. Bequem und zweckmäßig, durchaus elegant, solange sie damit nicht in einen Kuhfladen oder Schafsköttel trat, was auf der Sgriob-ruadh Farm jederzeit möglich war.

»Gneise sind widerstandsfähig«, fuhr er fort. »Sie weisen eine hohe Dichte auf. Dadurch sind sie sehr belastbar, außerdem säurebeständig und frostunempfindlich. So kommst du mir vor.«

»Und ich komm mir vor wie in einem Baumarkt. Als würde jemand Steine für eine Gartenmauer aussuchen.«

»Auch dafür ist Gneis bestens geeignet.«

»Jedenfalls ist der Vergleich originell.«

»Danke.«

»Eine originelle Ausflucht. Vermutlich findest du mich etwas spröde, möchtest es aber nicht so direkt sagen. Diese Reaktion bin ich gewohnt, so wirke ich auf die meisten Menschen.« Sie lächelte gequält und trank einen Schluck Tee. Dann widmete sie sich ihrem Lemon Drizzle.

Falls Frances darauf wartete, dass Hynch widersprach und entgegnete: »Du bist doch nicht spröde!«, wurde sie enttäuscht. Für derlei Winke mit dem Zaunpfahl war er unempfänglich. Und falls »spröde« wirklich ihrer Selbsteinschätzung entsprach, sah er keinerlei Anlass, sie zu korrigieren. Menschen, die sich für spröde hielten, waren es häufig auch.

»Wolltest du mir nicht von dieser Callie erzählen?«, fragte er, um das Thema zu wechseln.

Frances hielt inne. »Stimmt.«

»Warum kam sie denn in dein Büro?«

»Sie bat mich um meinen Rat. Es geht um einen Selbstmord. Einen angeblichen Selbstmord, um genau zu sein.«

Hynch spitzte den Mund zu einem stummen »Oh«.

»Die Polizei hat den Fall bereits zu den Akten gelegt. Aber Callie glaubt nicht an Suizid – und ich auch nicht, nachdem sie mir ein äußerst aufschlussreiches Beweisstück gezeigt hat. Ich rechne mit Schlimmerem.«

»Du meinst doch nicht etwa …?«

»Einen Pseudozid, der einen Homizid verschleiern soll, genau.«

»Mord?«

»So ungefähr.«

4

Das Gespräch hatte nur knapp zehn Minuten gedauert, und schon berührte es einen Bereich, den Hynch unbedingt zu vermeiden gedachte und der gewiss nicht zu dem bei einem First Date üblichen Small Talk gehörte: Verbrechen. Ein Zufall? Er hatte nicht den Eindruck, dass Frances nur irgendetwas daherredete, um das Eis zu brechen. Da musste mehr dahinterstecken, und deswegen schrillten bei ihm ein paar Alarmglocken. Auch Lizzy spitzte die Ohren, was man daran sah, dass sie die beiden Fellbüschel, unter denen ihre Ohren verborgen waren, aufstellte. Diese Kuh war komplett zugewachsen. Und ihr Atem roch nach Verwesung. Wahrscheinlich hatte sie beim vegetationsformenden Grasen ein paar Feldmäuse erwischt.

»Hab ich dich jetzt schockiert?«, fragte Frances. »Tut mir leid, dich so zu überrumpeln. Es liegt daran, dass …« Sie hielt inne. »Callie wirkt so verzweifelt, so ohnmächtig … Die Sache fasst mich echt an.« Sie schob den Teller mit dem Kuchen weg. Offenbar war ihr der Appetit vergangen. »Ich meine, Callies Partner nimmt eine Auszeit von allem, mietet sich für einen Monat auf der Isle of Coll ein – die liegt hier ganz in der Nähe. Und dann bringt er sich urplötzlich um. Geht mit den Taschen voller Steine ins Wasser. Das beschäftigt mich, es will mir nicht aus dem Kopf.«

»Bist du eine Art Hobbyermittlerin?«

»Nein, gar nicht. Obwohl … gewissermaßen schon.«

»Was denn nun?«

»Bei Droh- oder Erpresserbriefen erstelle ich für die Polizei ein Täterprofil. Wenn man so will, bin ich dadurch an Ermittlungen beteiligt.«

»Also kein reines Freizeitvergnügen«, stellte Hynch fest. »Eher ein Zusatzverdienst.«

»Obwohl es richtig spannend sein kann.«

»Die Leute kommen aber auch mit privaten Aufträgen zu dir.«

»Nein, das ist das erste Mal!«, widersprach sie. »Jemand von den Bullen hat Callie meine Adresse gegeben – um sie loszuwerden, nehme ich an. Sie will einfach nicht an einen Suizid glauben.«

»Weil ihr Partner …«

»Sein Name ist Keith Cavers. Vor seinem Tod beziehungsweise vor seinem Verschwinden scheint er völlig stabil gewesen zu sein. Er hat mit Callie regelmäßig Textnachrichten ausgetauscht. Oder er rief sie an. Auf Coll hat er Wandertouren unternommen, ist mit dem Rad quer über die Insel gefahren. Er fühlte sich pudelwohl. So jemand nimmt sich doch nicht einfach das Leben und ertränkt sich im Meer!«

»Weißt du das von Callie? Dass er stabil wirkte?«

»Auch von der Polizei, die haben das natürlich überprüft – anhand seiner letzten Postings.«

»Aber Selbstmörder tun manchmal so, als sei alles in Butter«, wandte Hynch ein. »Bis es zu spät ist.«

»Ich glaube nicht, dass Keith sich dermaßen verstellt hat, zumindest nicht aufgrund dessen, was er Callie geschrieben hat.«

»Das muss nicht viel heißen.« Im So-tun-als-wäre-er-ein-anderer hatte Hynch Erfahrung. »Wahrscheinlich führen viel mehr Leute ein Doppelleben, als man so annimmt. Wurde eine Leiche gefunden?«

»Eben nicht! Auch deswegen wurde die Ermittlung eingestellt. Es gibt aber eine Zeugin, die hat gesehen, wie Keith unterging und im Meer versank, relativ weit draußen.«

»Ein Badeunfall?«

»Ist definitiv auszuschließen. Keith hat nämlich einen Abschiedsbrief hinterlassen.«

Hynch erstarrte. Die Analogien wurden immer auffälliger. Ein Mann, der aus heiterem Himmel von einer Hebrideninsel verschwand – das entsprach exakt seiner Vorgehensweise in den vergangenen Jahren. Und zuletzt auf Colonsay hatte er zwar keinen Abschiedsbrief, aber ein handschriftliches Testament verfasst, das fiel in die gleiche Kategorie. »Verstehe, deswegen kommst du ins Spiel«, sagte er schließlich. »Deine Schriftanalyse ist gefragt.«

»Möchtest du ihn sehen?«

»Wen?«

»Den Abschiedsbrief von Keith. Ich hab eine Fotokopie dabei.« Frances griff in die Umhängetasche und zog eine Dokumentenhülle heraus. Hynch machte keinerlei Anstalten, das Ding anzufassen. Deshalb legte sie es auf den Tisch neben seinen Teller.

»Mit dem Datenschutz nimmst du es aber nicht so genau.«

»Es bleibt doch unter uns. Mich würde deine Meinung dazu interessieren.«

»Aber ich bin nur ein Laie«, sagte er widerstrebend.

»Deshalb möchte ich ja wissen, was du davon hältst«, beharrte sie. »Du hast einen unvoreingenommenen Blick. Ich dagegen sehe alles nur durch die Brille der Spezialistin.«

»Der Brief ist bestimmt vertraulich …«

»Komm schon, tu mir den Gefallen.«

Mit gemischten Gefühlen nahm er das Blatt in Augenschein. Fingerabdrücke wollte er auf der Folie ganz gewiss nicht hinterlassen. Was von den Bullen stammte, kehrte vielleicht wieder zu den Bullen zurück, man konnte nie wissen. Und falls diese Unterhaltung dazu diente, irgendwelche Spuren von ihm zu gewinnen, und er sie auch noch lieferte, würde der Fahndungscomputer der Police Scotland sofort überschnappen und einen Großeinsatz in Tobermory auslösen.

Hynch hatte so viel auf dem Kerbholz, dass es für eine ganze Netflix-Serie reichte, in mehreren Staffeln. Doch bei seinen Aufträgen hatte es nie die Falschen erwischt, darauf legte er Wert. Er hatte sorgfältig abgewogen, ein Vorrecht, das ihm gewährt worden war. Selbstjustiz sagten manche dazu, Gerechtigkeit andere. So hatte es einen Miethai getroffen, der Studentinnen erst mit falschen Versprechungen und einem Drogenkick missbrauchte und dann rausekelte. Oder einen neuen Zuhälter im Revier, der meinte, seinen Pferdchen mit einem Schlagring Gehorsam einzuprügeln. Solche Typen. Da hatte sein alter Boss keinen Spaß verstanden. Und Hynch erst recht nicht.

»Was hat Keith denn für einen Beruf?«, fragte er, während er den Anfang des Abschiedsbriefs zu entziffern versuchte.

»Immobilienmakler. Callie arbeitet ebenfalls in der Branche.« Frances nahm ihr Smartphone zur Hand, wischte ein paarmal über das Display und reichte es Hynch. »Hier ist ein Bild von ihm. Von seiner Website.«

Das Porträtfoto zeigte einen Mann Mitte vierzig. Schwarzes Jackett, hellblaues Businesshemd, keine Krawatte. Locker, aber nicht unseriös. Keith Cavers sah auffallend gut aus. Er hatte volles, dunkles Haar und ein offenes, von Bildbearbeitungsfiltern geglättetes Gesicht ohne den Hauch eines Schattens. Nichtssagend, fand Hynch, eine Projektionsfläche für all jene Menschen, die im Haifischbecken des Immobilienmarktes nach einer Vertrauensperson suchten. Ideal, um Grundstücke oder Häuser zu verticken.

Er betrachtete den Brief. Dann runzelte er die Stirn. »Wenn er seine Verträge handschriftlich aufgesetzt hat, kann er nicht viele Geschäfte abgeschlossen haben. Das ist ja eine Sauklaue.«

»Ich würde von einer leichten Dysgrafie sprechen. Einer Schreibschwäche.« Frances verschränkte die Arme und lehnte sich zurück. »Lass dich von meinen Kommentaren nicht ablenken. Ich bin auch schon still.«

Hynch seufzte. Dann begann er zu lesen.

»Ich hab alles versucht, Callie. Vielleicht war es nicht genug. Ich hab versucht, runterzukommen, alles auszublenden, wollte mich einnorden. Es funktioniert einfach nicht. Ich bin am Ende, zu nichts mehr nütze, es hat keinen Sinn mehr.«

Der Brief sah tatsächlich aus, als stamme er von einem Selbstmordkandidaten, dachte Hynch. Und einen Wettbewerb im Schönschreiben konnte Keith Cavers damit definitiv nicht gewinnen. Die Schrift war in alle möglichen Richtungen geneigt, die Zeilen kippten alle nach rechts unten. Anfangs bemühte sich der Verfasser, Druckbuchstaben zu verwenden, wahrscheinlich der Deutlichkeit halber. Dann wurde er immer schlampiger und fahriger. Einzelne Wörter oder ganze Sätze waren durchgestrichen.

»Das ist nicht nur ein Burn-out, es ist die pure Verzweiflung. Wenn ich morgens aufwache, möchte ich für immer unter der Decke liegen bleiben. Manchmal schaffe ich es bis ans Meer. Das ist der einzige Ort, wo es mich hinzieht. Wo es mich hineinzieht. Einen anderen Weg sehe ich nicht.«

Zum Ende hin dominierten krakelige, besser lesbare Großbuchstaben: »ICH BIN DIR DANKBAR FÜR ALLES, WAS DU FÜR UNS GETAN HAST. WAS WIR GEMEINSAM ERLEBT HABEN. ABER DEIN LEBEN WIRD OHNE MICH VIEL GLÜCKLICHER SEIN.«

Keiths letzte Worte gipfelten in einem Schlusssatz, der sofort ins Auge sprang. »Es ist besser auszubrennen, als zu verblassen.«

Hynch las den Satz leise vor. Ein Windstoß, der an der Glass Barn vorbeistrich, trug ihn davon. Am Himmel stand keine einzige Wolke. Das blühende Leben um sie herum summte und zwitscherte. Lizzy graste friedlich hinter dem Gatter und rupfte Holundertriebe aus.

»Ganz schön intensiv.« Er holte tief Atem.

Frances umfasste kurz seinen Unterarm. »Ich weiß, es ist nicht fair, dich mit so einem tragischen Fall zu konfrontieren, noch dazu bei unserem ersten Treffen.« Sie machte eine Pause und musterte ihn besorgt.

Bei der Berührung war Hynch aufgefallen, dass sie einen Freundschaftsring mit keltischem Muster trug. Er lächelte ein wenig, um ihr zu zeigen, dass er wieder gesprächsbereit war.

»Und? Was meinst du?«, fragte sie.

»Das sind so Gedanken, die einem in bestimmten Situationen kommen können. Dass man keinen Ausweg mehr sieht und alles hinschmeißt. Dass man quasi aus der Deckung geht, ohne Rücksicht auf Verluste …«

»Hattest du solche Gedanken auch schon einmal?«

Lizzy stieß mit den Hörnern vernehmlich gegen das Gatter. Die Latten erzitterten, der Riegel ächzte.

»Ich? Nein, warum denn auch?«, log Hynch. »Hab mir nur vorgestellt, wie es wäre, wenn …«

Frances drückte erneut seinen Arm. »Aber ist dir irgendetwas aufgefallen? Abgesehen von der unsauberen Schrift?«

Während er überlegte, hob Lizzy den Kopf und stierte ihn an. Hynch begriff, was sie ihm mitteilen wollte: Pass bloß auf, was du sagst!

»Für einen Immobilienmakler drückt Keith sich ziemlich poetisch aus. Na ja, nicht gerade poetisch … aber klar und kontrolliert. Vermutlich hat er lange über den Wortlaut nachgedacht. Er wollte sicher sein, dass Callie ihn versteht. Außerdem sind wichtige Informationen enthalten. Über das Motiv für seinen Selbstmord und über die Art und Weise, also ins Wasser zu gehen. Ohne ausdrücklich zu sagen: Ich bringe mich jetzt um.«

»Den Eindruck habe ich auch.«

»Etwas macht mich stutzig. Warum hat jemand, der sich so schonungslos analysiert und seine Lage so anschaulich beschreibt … Warum hat er eine Schrift wie Kraut und Rüben?«

»Weil er innerlich aufgewühlt ist?«, schlug sie vor. »Weil er selten mit der Hand schreibt?«

»Möglich. Dennoch besteht zwischen der Form des Briefes und seinem Inhalt eine gewisse … Diskrepanz. Und das Foto von Keith passt weder zu seiner Dysgrafie noch zu den Suizidgedanken.«

»Gut beobachtet.« Frances winkte ein Mädchen vom Service herbei und bestellte eine weitere Kanne Tee und eine Karaffe Leitungswasser.

»Wo wurde der Brief denn gefunden?«, fragte Hynch.

»In einem Häuschen, das er angemietet hatte. Auf dem Küchentisch. Mit einem Stein drauf.«

»Damit das Blatt nicht vom Tisch geweht wird und unter dem Herd verschwindet. Vorausschauend.«

»Ja, es passt alles perfekt zusammen.«

»Ein bisschen zu perfekt?«

Frances zwinkerte ihm zu. »Das hast du jetzt gesagt.«

»Hast du den Brief mit anderen Schriftproben von Cavers verglichen?«, wollte er wissen.

»Natürlich. Allerdings gibt es da nicht viel, Notizen, alte Einkaufszettel, Eintragungen und Unterschriften auf Formularen. Aber die Ähnlichkeit ist unübersehbar, bis in die Details hinein. Keith hat das geschrieben, mit Sicherheit, dafür lege ich meine Hand ins Feuer.«

Hynch verfügte über eine ganze Reihe gefälschter Pässe. »Ein Profi könnte seine Schrift täuschend echt nachahmen.«

»Stimmt.«

»Jemand könnte Cavers auch gezwungen haben, diesen Brief zu schreiben. Das würde die fahrige Schrift erklären.«

»Oder er hatte schon was intus«, sagte sie. »Auf dem Küchentisch in seinem Häuschen stand eine leere Flasche Gin. Um sich Mut anzutrinken für den letzten Gang …«

»Oder jemand hat ihn betrunken gemacht«, meinte Hynch.

»Oder Cavers hat nur so getan, als könnte er nicht sauber schreiben. Dann wäre es ein vorgetäuschter Suizid. Ein Pseudozid.« Frances nahm das Blatt in der Dokumentenhülle und deutete auf den letzten Satz. »Es ist besser auszubrennen, als zu verblassen«, las sie vor. »Kommt dir das bekannt vor?«

Hynch nickte. »Hab ich schon irgendwo gehört …«

Sie zog ein weiteres Blatt Papier aus ihrer Umhängetasche und legte es auf den Tisch. »Kurt Cobain, kennst du den?«

»Den Rockstar?« Er kramte in seinem Gedächtnis. Dann dämmerte es ihm. »Kennst du Neil Young?«

»Sollte ich wohl. Kennst du Highlander, den Film? Spielt teilweise in Schottland.«

»Sicher.«

»Die Szene mit dem brutalen Kurgan in der Kirche? Wo er aufsteht und mal so richtig Dampf ablässt? Und seine Lebensmaxime loswird?«

»Ganz große Klasse.«

»Inzwischen hab ich das sogar auf meinem Handy. Als Klingelton. Ich hoffe, du findest das nicht respektlos.« Frances tippte auf ihrem Smartphone herum und spielte eine Audiodatei ab. Eine tiefe, kehlige Stimme röhrte in voller Lautstärke: It’s better to burn out than to fade away.

In diesem Moment kam die Bedienung mit dem Tee. Ihr fiel fast das Tablett herunter. Hynch griff geistesgegenwärtig nach dem Griff der Kanne, konnte aber nicht verhindern, dass eine Untertasse für den Filtereinsatz, die Wasserkaraffe und zwei Gläser auf dem Kiesboden landeten. Die Karaffe und die Untertasse blieben unbeschadet, doch die Gläser zerbrachen.

»Entschuldigen Sie vielmals!«, beteuerte Frances. »Dass ich Ihnen einen solchen Schreck eingejagt habe … Wie dumm von mir!«

»Kein Problem«, sagte das Mädchen. »Die Kanne ist ja noch heil. Ich hole eine Kehrschaufel und mach das weg.«

»Scherben bringen Glück«, meinte Hynch und stellte die Kanne vorsichtig auf den Tisch.

»Sie haben gute Reflexe. Nicht einen Tropfen verschüttet!«

»Dafür braucht man eine ruhige Hand«, staunte Frances.

Lizzy machte ein Geräusch mit ihrem weichen Kuhmaul. Es erinnerte an einen Lippenfurz.

5

Rätselraten, Frage- und Antwortspielchen, Spekulationen. War Lizzy in einem Krimi gelandet? Ihr erster Besitzer, ein hohlköpfiger Bauer namens McPhee, hatte immer Fernsehserien geschaut, bei denen es um irgendwelche Mordfälle ging. Da wurde endlos viel gelabert, bis endlich was passierte. Wer tat sich so was freiwillig an? Der Highlander-Film war da schon eher ihr Fall. Bei den Kinoabenden in der Village Hall von Gigha3 hatte sie den Streifen durchs Fenster gesehen. Darin machten sich unsterbliche Menschen mit Schwertern einen Kopf kürzer, woraufhin sie nicht mehr ganz so unsterblich waren. Genau ihr Humor.

Lizzy mümmelte Löwenzahn, der regte den Appetit wieder an. Aus den Augenwinkeln beobachtete sie Frances und Hynch, die beiden kamen sich unmerklich näher. Sie selbst hatte es derzeit nicht so mit der Liebe. Ihre Grande Passion – den Begriff kannte sie von einem hoffnungslos romantischen Charolais-Rind – lag in der Vergangenheit. Sie hatte nur einmal Nachwuchs bekommen: einen kleinen prächtigen Stier, Bowie. Bauer McPhee, dieses hirntote Arschgesicht, hatte das Kalb aufs Festland verkauft. In ihren stillen Stunden grübelte Lizzy, was aus Bowie wohl geworden war. Ein Packen Jungbullensteaks? Oder ein Champion, der bei den Viehmessen reihenweise Preise abräumte?

Für sie war Bowie ein Euter voll Glück gewesen, das Beste, das sie je hervorgebracht hatte, ein kleiner Zottel, zum Abschlecken süß. Das war Jahre her. Danach hatte Lizzy gedacht, sie könne ihr Herz niemals wieder verlieren, und wurde zur Einzelgängerin. Sie sonderte sich von ihrer Herde ab und ging allein ihrer Wege.

Doch das Schicksal holte sie aus ihrer Soziopathinnenzone. Zuerst auf der Isle of Gigha, als sie mit Nicol, dem menschlichen Hobbit, eine mehr oder weniger platonische Beziehung ausprobierte. Es hielt nicht lang, doch Nicol brachte Lizzy Vertrauen und Fürsorge entgegen. Sie erkannte, dass man sich auch speziesübergreifend seine Zuneigung zeigen konnte, und fand Gefallen daran. Dabei war völlig unerheblich, ob man zwei, vier oder noch mehr Beine besaß.

Auf der Isle of Colonsay schloss sie dann Freundschaft mit Iago, einem galicischen Eselchen, Vollwaise, Außenseiter wie sie und mit einem schweren spanischen Akzent geschlagen. Irgendwie fühlte sie sich für ihn zuständig und nahm ihn unter ihre Fittiche. Gemeinsam gingen sie durch dick und dünn, beschützten einander, spendeten sich Trost und verbrachten jede freie Minute zusammen. Ohne Iago wäre Lizzy bestimmt melancholisch geworden. Denn unter ihrer rauen Schale verbarg sich ein wachsweicher Kern.

Während einer äußerst bewegten Nacht hatte sich Lizzy von Iago getrennt, um Hynch in einer Art Zweckgemeinschaft nach Mull zu begleiten – ohne seine Therapiekuh war der Mann völlig aufgeschmissen, sie hatte Prioritäten setzen müssen. Das Eselchen blieb auf Colonsay zurück, in der Obhut einer Lehrerin, bei der es bestens aufgehoben war. Hin und wieder skypte Lizzy mit Iago über Hynchs Notebook, dadurch blieben sie in Kontakt.

Das war’s auch schon mit ihren gesellschaftlichen Aktivitäten. Clifford, der Ranger, war nur ihr Chef, übers Berufliche ging das kaum hinaus. Kolleginnen, die ihr bei der Landschaftspflege halfen, gab es – noch – keine, das Ganze war ein Pilotprojekt. Auf neue Bekanntschaften war sie ohnehin nicht erpicht. Im Gegensatz zu Hynch. Er konnte es einfach nicht lassen, neue Menschen kennenzulernen, obwohl ihn das wiederholt in Schwierigkeiten gebracht hatte. Lizzy war es eine Warnung: Fing man einmal mit Dating an, war es anscheinend schwer, wieder damit aufzuhören.

In Bezug auf Frances war Hynch noch unschlüssig. Nennenswerte Pheromonausschüttungen nahm Lizzy nicht an ihm wahr, dafür besaß sie nämlich ein Näschen. Sie konnte körpereigene Duftstoffe, die bei der Partnerwahl eine entscheidende Rolle spielten, noch eine Meile gegen den Wind erschnuppern. Anders ausgedrückt: Sie war in der Lage, am Geruch von Menschen und Tieren zu erkennen, ob sie gerade spitz auf jemanden waren. Lizzy hatte um diese Fähigkeit nicht gebeten, aber sie war extrem hilfreich, um Situationen und Verhaltensweisen richtig einzuschätzen.

Hynchs Ausdünstungen bestanden momentan nur aus seiner üblichen Mixtur: Zellverfall eines in die Jahre gekommenen Mannes, überdeckt von billigem Duschgel. Demzufolge hatte er nur ein oberflächliches, bestenfalls intellektuelles Interesse an der Frau aus Glasgow. Er war also noch zurechnungsfähig.

Frances wiederum ging gleich aufs Ganze und versuchte, Hynch für diesen Selbstmord oder Mord zu begeistern. Und Hynch schien anzubeißen. Der älteste Trick der Welt: Versichere dem anderen, er sei gut in etwas, und schon frisst er dir aus der Hand.

Aber auch bei Frances registrierte Lizzy keine erhöhte Pheromonproduktion. Sie roch zwar deutlich angenehmer als Hynch, nach frischem Heu und einer Blumenwiese. Ein Hauch von Lauch und Zwiebeln deutete auf gewisse Sympathien für Hynch hin. Doch der süßlich-salzige Geruch der Paarungsbereitschaft – Meeresfrüchte – fehlte. Also schien sie ebenfalls eher kopfgesteuert unterwegs zu sein. Frances trieb etwas an, das nicht mit Hynch, sondern mit diesem merkwürdigen Fall zusammenhing, da war sich Lizzy sicher. Es war ein sehr starker Antrieb, das spürte sie, etwas, das Frances schon lange mit sich herumtrug, etwas Unaufgelöstes, das nach einem Abschluss verlangte, eine Art innere Dunkelheit, die das Licht scheute.

Lizzy wollte unbedingt mehr darüber erfahren. Und auch, ob zu den Zwiebeln nicht doch noch Meeresfrüchte hinzukamen. Neugier war ihr zweiter Vorname.

6

Das zweite Blatt Papier, das Frances mitgebracht hatte, war ein Ausdruck von Kurt Cobains Abschiedsbrief. Der Sänger der Band Nirvana habe seinem Leben mit 27 Jahren ein Ende gesetzt, erklärte sie. 1994 hatte auch er die Wendung benutzt: Es ist besser auszubrennen, als zu verblassen. Sogar Cobains Schrift ähnelte der von Keith, vor allem aber der Wortlaut. Formulierungen wie »Dein Leben wird ohne mich viel glücklicher sein« waren eins zu eins übernommen.

Hynch verglich die beiden Blätter. »Cobains Brief hat als Vorlage gedient, kein Zweifel.« Der Besserwisser in ihm fügte hinzu: »Aber Neil Young war der Erste, der diese Zeile unsterblich gemacht hat: Es ist besser auszubrennen, als zu verblassen. In seinem Song Hey Hey, My My, das kann ich beschwören.«

»Hab ich schon recherchiert, du hast recht. Neil Young ist der Urheber, wenn man so will, 1979 war das. Und in dem Film Highlander von 1986 hat der Schauspieler Clancy Brown als Kurgan die Line improvisiert. Queen, also Freddie Mercury, verwendete den Satz dann in dem Song Gimme the Prize, den Brian May extra für den Film geschrieben hat.«

»Du steckst ja schon über beide Ohren in diesem Fall.« Er grinste. »Oder in der Geschichte der Rockmusik.«

»Könnte daran liegen, dass ich diesen Satz auch einmal … benutzt habe«, sagte Frances, als müsste sie sich verteidigen. »Vor langer Zeit.«

»Ist ja kein schlechter Satz.«

»Es ist ein Satz, der ins Nirgendwo führt. Der dir die Illusion verleiht, dass Grenzen für dich keinerlei Geltung besitzen. Dass es nichts ausmacht, bis an den Rand und darüber hinauszugehen, an einen Punkt, von dem es keine Wiederkehr gibt. Aber in Wahrheit bringt dich dieser Satz dazu, tatsächlich auszubrennen.« Ihr Gesicht wurde ausdruckslos. »Das Verblassen kommt dann von selbst.«

Offenbar spielte sie auf eine einschneidende Erinnerung an, mutmaßte Hynch. »Willst du darüber reden?«

»Nein!«, wehrte sie ab und blickte zur Seite. »Ist nicht so wichtig.«

Ganz im Gegenteil, das war bestimmt superwichtig, dachte er. Vielleicht hatte Frances sich deswegen in diese undurchsichtige Angelegenheit verbissen. Weil dieses Zitat etwas in ihr getriggert hatte. Doch er wollte nicht in sie dringen. Stattdessen schenkte er Tee nach und wies dabei auf Keiths Abschiedsbrief. »Der ist mit ziemlicher Sicherheit gefakt. Aber von wem? Von Cavers selbst? Warum sollte er so etwas tun? Warum sollte er seinen Selbstmord vortäuschen und Callie so schrecklich hintergehen?«

»Um mit einer anderen Frau zusammenzuleben?«, überlegte Frances.

»Kann er doch einfacher haben, das rechtfertigt nicht solch drastische Mittel. Die eigene Existenz auslöschen und damit alle Brücken hinter sich abbrechen … sich unsichtbar machen und komplett vom Radar verschwinden … Um diesen Schritt zu gehen, braucht es einen triftigen Grund.« Hynch war durchaus bewusst, dass er diesen Schritt selbst wiederholt gegangen war.

»Und wenn eine weitere Partei beteiligt ist? Als Immobilienmakler verschafft man sich ja auch Feinde. Leute, die sich über den Tisch gezogen fühlen. Die ihr Leben vernichtet sehen, wenn sie wegen Wuchermieten ausziehen müssen und auf der Straße sitzen?«

»Kommt ja andauernd vor, das wäre nichts Neues.«

»Vielleicht war Keith eine miese Ratte, ein Abzocker, und jemand wollte sich an ihm rächen?«, schlug Frances vor.

»Was hat diese Zeugin noch mal ausgesagt? Die gesehen hat, wie er in den Wellen unterging?«

Frances schaute auf ihrem Handy nach. »Moment …«

Hynch überlegte. »Könnte ja sein, dass jemand ihn unter Wasser gezogen und den Abschiedsbrief dann täuschend echt gefälscht hat.«

Sie schüttelte den Kopf. »Hier hab ich’s. Flora Sisk, wohnhaft: kaputter Wohnwagen, Isle of Coll, Torastan Bay. Die Frau hat den Selbstmord gemeldet. Sagt, dass Keith von allein abgesoffen ist.«

»Und?«

»Das ist alles.«

»Gibt es ein Protokoll der Zeugenbefragung?«

»Das war das Protokoll.«

»Ziemlich dünn. Wer hat die Aussage denn aufgenommen?«, fragte Hynch. Mit polizeilichen Abläufen kannte er sich berufsbedingt bestens aus. Er war zwar nie festgenommen worden, doch den Satz »Ich will mit meinem Anwalt sprechen« konnte er auf Englisch, Scots und Gälisch herunterleiern.

»Für die Aussage von Flora Sisk zeichnet verantwortlich: Police Constable Brendan McWoods. Scarinish, Isle of Tiree.«

»Police Constable? Das ist der unterste Dienstrang für so einen Posten«, wunderte sich Hynch.

»Genau.«

»Die Isle of Tiree liegt doch westlich von Coll …«

»Auf Coll gibt’s keine Polizei. Die Insel hat gerade mal 164 Einwohner.«

»Okay, deswegen haben sie jemand von Tiree geschickt. Aber warum nur einen einfachen PC?«

»Weil auf Tiree nur ein einziger Polizist stationiert ist«, klärte Frances ihn auf. »Wegen der niedrigen Kriminalitätsrate.«

»Ein Bein haben sich die Bullen bei der Ermittlung ja nicht gerade ausgerissen.«

»Sehe ich auch so.«

»Wann ist das Ganze überhaupt passiert?«

»Vor einer Woche ist Keith angeblich ins Wasser gegangen. Tags darauf wurde Flora Sisk befragt. Callie kam vorgestern zu mir.« Im Ton einer Detektivin bemerkte sie: »Die Spur ist noch warm.«

»Du müsstest unbedingt mit der Zeugin reden. Da würde ich zuerst ansetzen, quasi am Tatort.«

»An der Torastan Bay. Das hab ich vor. Ich will dieser Geschichte auf den Grund gehen. Auch um Callie Gewissheit zu verschaffen, was mit ihrem Partner passiert ist. So viele Ungereimtheiten … Die darf man doch nicht auf sich beruhen lassen!«

»Und die Polizei sieht keinen weiteren Handlungsbedarf?«, fragte Hynch. »Du hast denen doch bestimmt deine Bedenken vorgetragen von wegen Kurt Cobain.«

Sie blickte finster. »Das war eine neue Erfahrung für mich.«

»Warum das denn?«

»Als Schriftexpertin respektieren sie mich gerade so. Aber ich glaube, die halten mich für eine bessere Sekretärin. Für jemanden, der ihnen nur zuarbeitet und bei den operativen Entscheidungen gefälligst die Klappe zu halten hat.«

»Und die Entscheidung war: Akte schließen.«

»Ohne mich! Ich finde heraus, was an diesem Selbstmord faul ist!«

»Gut gebrüllt, Löwin!«, schmeichelte ihr Hynch. »Zeig den Bullen, dass du dir nicht alles gefallen lässt.« Damit sah er das Gesprächsthema als beendet an. Er selbst fand diesen Selbstmord zwar ebenso merkwürdig, doch letztlich war es ein PAL: ein Problem anderer Leute. In wenigen Minuten würde das Treffen – Date konnte man es kaum nennen – mit der Grafologin vorbei sein. Er hatte seine Schuldigkeit getan. Sie würden beide ihrer Wege gehen, auch wenn Frances ihm sympathisch war. Ende und aus.

Er trank von seinem Tee und schaute, was Lizzy so trieb. Sie hatte ihr zotteliges Kinn auf dem Gatter abgelegt. Ihr Blick schien zu sagen: »Komm du mir mal heim!«

Frances fuhr wieder über ihr Glockenblumenkleid, über ihre darunter liegenden Vorsprünge und Ausbuchtungen, Dellen und Verwerfungen. Schien ein Tick von ihr zu sein. Allem Anschein nach musste sie sich zu einer Frage durchringen, die ihr nach einem Moment des Zögerns dann doch über die Lippen ging: »Kommst du mit nach Coll?«

»Ich?« In einem Anfall von Sarkasmus sah sich Hynch um. »Sprichst du mit mir?«

»Begleitest du mich?«

»Dich begleiten? Nach Coll? Wie stellst du dir das vor?« Er deutete auf die Glass Barn. »Von der Farm hier kommt die Milch, die ich unten in Tobermory verarbeite. Richtig gute Milch, hoher Fettgehalt, frischer geht’s nicht. Daraus wird traumhafte Eiscreme. Ich mag meinen Job.«

»Hilfst du mir?«

»Im Prinzip gern. Aber ich kann hier nicht so einfach weg.«

»Nimm doch Urlaub«, versuchte sie es. »Nur für ein paar Tage.«

»Wir haben Hochsaison, die Leute rennen uns die Bude ein. Morgen früh muss ich wieder ran, immer vormittags.«

»Frag doch mal nach. Sag, es ist ein Notfall. Wenn du wegen Krankheit ausfallen würdest, müssten sie ja auch Ersatz für dich finden.«

Da lag sie gar nicht so falsch. Das Paar, das die pinkfarbene Eisdiele in Tobermory betrieb, hatte Hynch ohnehin nur als Aushilfe eingestellt. Die beiden konnten ihn locker entbehren, zumal er fürs Wochenende auf Vorrat produziert hatte und sich aus dem Verkauf komplett heraushielt.

»Und was mach ich so lange mit Lizzy?«, fragte er. »Die wird hier genauso gebraucht wie ich.«

»Lizzy hat einen Job?«

»Natürlich, der ist noch wichtiger als meiner, in den kniet sie sich voll rein.« Er erzählte die Story vom vegetationsformenden Grasen für die Future Forest Company. Clifford, ein Ranger und Lizzys Vorgesetzter, sei der reinste Sklaventreiber.

Frances hörte aufmerksam zu. Sie warf ein, dass auch berufstätige Kühe ein Recht auf Erholung besäßen. Dann erhob sie sich und ging zu dem Gatter.

»Vorsicht mit den Hörnern!«, warnte Hynch – unnötigerweise, denn Lizzy ließ sich nur allzu gern hinter den Ohren kraulen, eine Stelle, an die sie nur schlecht rankam. Sehr schnell wurde deutlich, dass sie sich mit der Frau aus Glasgow blendend verstand. Was sich unter anderem darin äußerte, dass Lizzy anfing, das Glockenblumenkleid aufzufressen. Da Frances aber noch in dem Kleid steckte, war das nicht ganz unproblematisch.

»Hältst du mich für eine Wiese?« Sie lachte, zerrte den geblümten Stoff aus Lizzys Maul und trat einen Schritt zurück. »Na, was meinst du? Kommst du eine Weile alleine klar?«

»Die ist total unselbstständig«, schwindelte Hynch, obwohl er wusste, dass seine Lieblingskuh niemanden für rein gar nichts brauchte. Ihr Futter besorgte sie sich selbst, einen gemütlichen Stall oder Unterstand verachtete sie. Lizzy war ein Survivalist, autarker als ein Atombunker – was seiner Argumentation allerdings wenig dienlich war. »Wenn sich keiner um sie kümmert, stellt sie nur Unfug an. Ich kann mir schon denken, wie das läuft. Kaum bin ich außer Sichtweite, machte sie ihren Pferch platt. Und dann verwandelt sie meine Hütte in Kleinholz.«

Lizzy muhte protestierend.

»Tu nicht so unschuldig! Wir beide wissen, wozu du fähig bist! Als Sahnehäubchen kackst du mir noch auf die Terrasse, das ist deine Spezialität.«

Ein wenig Unterstützung von ihrer Seite wäre jetzt nicht verkehrt. Am Gatter rütteln oder einen King-Kong-Rülpser ausstoßen, um zu unterstreichen, dass sie von einem Augenblick auf den anderen einen Verwüstungsfeldzug starten konnte. Merkte sie denn nicht, wie er krampfhaft nach Ausreden suchte, um Frances abzuwimmeln? Sonst war sie doch schnell von Begriff und kriegte jeden Pups mit.

Doch Lizzy hatte ihren eigenen Kopf. Der schien Gefallen an der Vorstellung zu finden, dass Hynch zeitweise auf eine andere Insel verduftete. Und nicht nur daran, wie sich herausstellen sollte.

Zunächst senkte sie ihren Schädel. Sie blickte zu Boden, als nähme sie sich Hynchs Vorwürfe sehr zu Herzen.

»Sei nicht so streng mit ihr.« Frances streichelte den Rücken des Hochlandrinds. »Ich glaube, Lizzy ist sehr sensibel.«

»So sensibel wie ein Zaunpfahl.«

»Du bist gemein.«

»Die schmollt nur. Nachher zahlt sie es mir heim. Wie auch immer: Ich möchte sie nicht sich selbst überlassen, das geht garantiert schief.«

Frances probierte es ein letztes Mal. »Ich weiß, Howard, es ist viel verlangt, schließlich kannten wir uns bis vor Kurzem nur via Internet. Aber du bist der geborene Ermittler. Du stellst die richtigen Fragen, ziehst logische Schlüsse, spielst mögliche Szenarien durch, auch unwahrscheinliche. Polizeiliche Abläufe sind dir vertraut, wahrscheinlich, weil du früher Insolvenzberater warst. Deine Unterstützung auf Coll wäre unbezahlbar.«

Er nickte zustimmend. »Insolvenzberater«, so hatte man Hynch in seiner aktiven Zeit scherzhaft genannt. Weil er nicht wenige Schweinehunde in die ewige Insolvenz geschickt hatte. Gelegentlich hatte er diese Berufsbezeichnung benutzt, um seine dunkle Vergangenheit zu verschleiern. Und Howard war zeitweise sein Deckname gewesen, den er auf Colonsay und für seine Kontakte durch das Zeitungsinserat angenommen hatte. Inzwischen redete ihn nur noch Frances so an. »Du gibst nicht auf, wie?«, fragte er.

»Ich bin ein Gneis, schon vergessen? Beständig, sehr belastbar.«

Tut mir furchtbar leid, aber lass mich aus dieser Sache raus, ich habe meine Verpflichtungen. Diese Worte lagen ihm bereits auf der Zunge. Frances würde sie akzeptieren müssen. Damit wäre die Bekanntschaft mit dem geblümten Stein beendet, bevor eine Freundschaft oder, wenn er nicht aufpasste, noch mehr daraus wurde.

Anfangs hielt er es für das Lungenrasseln bei einer schweren Bronchitis. Kam das aus Frances’ Richtung? Sie schien kerngesund zu sein.

Dann begriff er. Lizzy schniefte. Geräuschvoll sog sie ihren Speichel ein. Es klang erbarmungswürdig. Langsam hob sie den Kopf.

»Was ist denn los?« Frances strich Lizzys Pony beiseite. »Das glaub ich jetzt nicht!«, brach es aus ihr heraus. »Siehst du das? Sie weint!«

Es stimmte. Das Sensibelchen löste sich in Tränen auf. Mit ihrem verbliebenen Auge heulte sie Rotz und Wasser.

Kühe konnten durchaus weinen, etwa wenn sie von ihrem Kalb getrennt wurden, das war Hynch klar. Aber Lizzy brachte es auf Kommando fertig. An ihr war eine Schauspielerin verloren gegangen.

»Was hat das zu bedeuten?«, fragte Frances.

Er überlegte. »Vermutlich hat sie Angst, dass ich mit dir weggehe. Das ist der Trennungsschmerz.«

»Och, wie süß!«

Süß? Wahrscheinlicher war, dass Lizzy vom vegetationsformenden Grasen das Kuhmaul voll hatte und auf mehr Abwechslung in ihrem Leben spekulierte. Ihm schwante Fürchterliches.

»Wenn ihr beide so unzertrennlich seid, nehmen wir Lizzy eben mit!«, rief Frances und freute sich über ihren spontanen Einfall. »Morgen früh fahren wir los, um neun Uhr. Leider gibt es keine direkte Fährverbindung von Tobermory nach Coll. Deshalb habe ich einen Fischer gebeten, mich überzusetzen. Sein Boot ist groß genug für uns alle. Es heißt Aquarius.«

»Ist nicht dein Ernst.« Unzertrennlich – von wegen! In was hatte er sich da nur hineingeplappert? Hynch war wieder einmal zum Opfer seiner Lügen geworden, und Frances hatte ihn ausgekontert. Ziemlich clever, das musste er zugeben.

»Bestimmt findest du eine Lösung, damit ihr beide ein paar Tage Ferien bekommt.«

»Die Überfahrt wird kein Zuckerschlecken mit einem Hochlandrind an Bord«, brummte er. »Bei so einem Viehtransport sind schon Boote gekentert. Wenn Lizzy verrücktspielt …«

Seine letzte Verteidigungslinie. Doch auch das war nicht wahr, denn wenn nötig, kauerte sich Lizzy lammfromm auf den Decksboden, er hatte es erlebt, auch wenn sie nicht gerade ein Fan von Schiffspassagen war.

»Das kriegen wir schon hin«, sagte Frances. »Dann können wir drei Tag und Nacht zusammen sein und aufeinander achtgeben.«

»Ein Spaß für die ganze Familie.«

»Ist das ein Ja?« Ihre Augen strahlten.

»Wär möglich.«

Nachdenklich fügte sie hinzu: »Niemand ist eine Insel.«

Lizzy kuschelte sich an Frances und spießte dabei das Glockenblumenkleid auf. Sie hatten so etwas wie einen Deal. Von ihr aus durfte das Abenteuer beginnen.

7

Der Rest des Tages verstrich in fieberhaften Vorbereitungen. Frances stattete sich mit einer Flasche Whisky der örtlichen Destille aus. Vor Ort überredete sie Hynch zu einem Tasting. Glücklicherweise bestritt er es erst nach seinen Telefonaten mit dem Eiscreme-Paar – »Hau rein, Mann, kein Ding!« – und mit Clifford von der Future Forest Company – »Lizzy darf ruhig mal ausspannen, sie ist unsere wertvollste Mitarbeiterin.« Alles war geregelt, es hatte nur ein paar Minuten gedauert.

Frances rief ihrerseits den Fischer ihres Vertrauens an und bereitete ihn auf den Transport einer Hochlandkuh vor. Anscheinend war er not amused. »Stellen Sie sich nicht so an!«, entgegnete sie. »Lizzy ist pflegeleicht. Außerdem haben auch Tiere ein Recht auf Reisefreiheit.« Doch er weigerte sich standhaft. Dann verlangte er mehr Geld. Frances willigte unter Vorbehalt ein und setzte hinzu, dass sie das noch abklären müsse. Rasch sprach sie Callie eine Nachricht auf die Mailbox und bat sie, die Verhandlungen mit dem Fischer zu übernehmen, in solchen Dingen habe sie mehr Erfahrung. Außerdem habe Callie den Kontakt zu dem Fischer ja überhaupt erst hergestellt.

Dann fing das Tasting im Visitor Centre der Brennerei an. Hynch nippte nacheinander an mehreren Whiskys und fragte sich, worauf er sich da bloß eingelassen hatte. Zumal sich in seinem Magen nur das Teebrot von der Glass Barn befand, das er zum Teil an Lizzy verfüttert hatte.

Wenn ihn nicht alles täuschte, wurde er jetzt zu einem Ermittler. Zu einem Helfershelfer der Polizei. Er wechselte die Seiten. Wie tief konnte man sinken?