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Anfängern wie Fortgeschrittenen offenbart David Lanoue aus dem reichen Schatz seiner Erfahrung die wesentlichen Merkmale und Herausforderungen in der Kunst des Haikuschreibens. Als gedankliche Vorlage dienen über zehntausend von ihm übersetzte Haiku des japanische Haiku-Meisters Kobayashi Issa (1763-1828). Ein solcher Haiku-Ratgeber macht glücklich, weil er so fundamental und doch einfach Wege zu einem gelingenden eigenen Schreiben weist. Anhand von Issas Haiku und vieler Beispiele moderner Haiku-Autorinnen und Autoren, entwickelt Lanoue eine überzeugende Grundlage für das moderne Haiku-Verständnis im 21. Jahrhundert.
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Seitenzahl: 114
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Vorwort: Wie dieses Buch zustande kam und wie es genutzt werden soll
Einleitung: Warum Issa?
Lektion 1
Mitgefühl als ein Weg der Wahrnehmung, des Bewusstseins und der Kunst
Lektion 2
Kindliche Vorstellung: Das Vergnügen am Verlernen und seine Notwendigkeit
Lektion 3
Humoristische Sicht und universaler Witz
Lektion 4
Kühne Subjektivität: Auf das ICH kommt es an
Lektion 5
Stellen Sie sich vor, tiefer zu gehen
Lektion 6
Antworten Sie Issa auf seine Weise
Schlussbemerkung: Im Interesse des Haiku
Anmerkungen
Quellennachweise
Über den Autor
Ich hatte das Vergnügen, folgende zehn Workshops zu „Schreiben wie Issa“ zu leiten:
Haiku Society of America (HSA) conference, Seattle, Washington, June 22, 2013
Haiku Holiday retreat, Chapel Hill, North Carolina, April 26, 2014
HSA conference, New York City, September 27, 2014
Arkansas Haiku Society meeting, Hot Springs, Arkansas, November 1, 2014
Reno Buddhist Church, Reno, Nevada, November 15, 2014
HSA conference, Washington D.C., December 6, 2014
HSA and the Haiku Poets of Northern California joint meeting, Santa Rosa, California, July 19, 2015
Yukei Tekei Association conference, Asilomar, California, November 13, 2015
Southern California Haiku Study Group, Pasadena, August 20, 2016
HSA conference, St. Simons Island, Georgia, April 22, 2017
Jeder Workshop für sich war einzigartig, leicht und locker wie Schneeflocken – teils, weil unterschiedliche Teilnehmer verschiedene Lebenserfahrungen und Einblicke einbrachten, teils, weil ich mich in jedem Workshop auf verschiedene, nach dem Zufallsprinzip ausgewählte Beispiele von Issa stützte, um Diskussionen und Entdeckungen anzuregen.
Die Dichter, die an den zehn Workshops teilnahmen, trugen mit zu deren Erfolg bei. Als ich die Idee hatte, ein Buch zu veröffentlichen, das genauso nützlich sein würde wie die Workshops, war mir klar, dass ich in so einen Band nicht nur Issas und meine Stimme einbeziehen dürfte, sondern auch die anderer Dichter berücksichtigen müsste. So wandte ich mich mit einem Aufruf, Beiträge dafür einzureichen, sowohl an die Werkstattteilnehmer als auch an Haiku-Dichter weltweit, die in ihrer Kunst zumindest teilweise dem Beispiel des einzigartigen Dichters des frühen modernen Japan folgen, der den Dichternamen Issa, „Tasse Tee“, trug.
Indem ich ihre Haiku neben die von Tasse Tee gestellt habe, hoffe ich, dass dieses Buch genauso lebhaft und kreativ wird wie die bisherigen Workshops und die, die ich (sollte mir die Ehre zuteilwerden) noch veranstalten werde.
Wenn Sie bereit sind, diese Lektionen durchzugehen, lade ich Sie ein und ermutige Sie, so aktiv zu sein, als ob Sie selbst an einem Workshop teilnähmen. Halten sie Ihr Lieblingsschreibgerät parat, ob Stift oder Tastatur, und seien Sie bereit, Ihre Ideen und Erkenntnisse und – mit etwas Glück – Ihre von Issa inspirierten Haiku aufzuschreiben oder einzutippen.
Ich könnte diese Einführung genauso gut „Warum nicht Bashō“ überschreiben. Schließlich wird Bashō allgemein als wegweisender Meister des Haiku anerkannt, jener poetischen Form, die man in einem Atemzug lesen kann und die sowohl in seiner Zeit als auch in der Issas als Haikai bezeichnet wurde. Issa selbst erkannte die führende Stellung des „alten Mannes“ Bashō in der Welt des Haikai an und folgte bewusst dessen Strohsandalen-Fußstapfen. Der japanische Kritiker Nakamura Rikurō hob 1921 in einer Studie hervor, dass die ehrenvolle Bezeichnung „Haiku-Meister“ natürlich und verständlicherweise auf Bashō und auch Buson zutrifft, aber nicht ganz richtig zu sein scheint, um Issa zu beschreiben.
Man kann sich leicht vorstellen, dass Bashō und Buson einen hohen Stellenwert fernab vom einfachen Volk haben, aber Issa scheint einer von uns zu sein: neben uns stehend, Schulter an Schulter. Bashō und Buson wecken Ehrfurcht, Issa Liebe.
Issa wurde 1763 geboren und wuchs im kalten, nebligen Hochland der Shiano Provinz – heute Präfektur Nagano – auf. Seine Mutter starb, als er noch ein Kleinkind war, und er litt in seiner späten Kindheit unter der Herrschaft der zweiten, hartherzigen Frau seines Vaters.
Das Thema des Leidens zieht sich durch Issas ganzes Leben: Vernachlässigung, Armut, Exil, Ausgrenzung, der frühe Tod seiner ersten vier Kinder und der Tod seiner ersten Frau Kiku („Chrysanthemum“) – persönliche Tragödien, die ihn bekannt gemacht haben und die für immer mit seinem Namen verbunden sind. Dennoch ist Issas Poesie nicht auf Schwarzmalerei ausgerichtet, sondern seine Haiku preisen typischerweise das Leben auf einem lebendigen Planeten mit Wertschätzung, Mitgefühl und einer gehörigen Portion Humor. Vielleicht ist dies der Grund, warum ich und viele meiner Mitdichter sich eher von Issa als von Bashō zutiefst inspiriert fühlen. So menschlich, so einfühlsam, so verständnisvoll – auch heutzutage, zweihundert Jahre später – können junge Poeten noch viel von Issa lernen.
Zu schreiben wie Issa heißt, liebevoll über alle seine Mitgeschöpfe zu schreiben, sowohl über Menschen als auch über Tiere.
Das heißt, mit einer Haltung kindlicher Wahrnehmung zu schreiben, Herz und Verstand weit für das Universum und seine unendlichen Überraschungen offen zu halten.
Das bedeutet, mit einer Bereitschaft zum Lachen über die dem Leben innewohnenden Absurditäten zu schreiben.
Das heißt, mit kühner Subjektivität zu schreiben, allen Lehrern und Gelehrten zu widerstehen, die von notwendiger „Objektivität“ im Haiku faseln.
Und schreiben wie Issa heißt, mit einer Art unbändiger Fantasie zu schreiben, die beeindruckend erfrischende Juxtapositionen und Offenbarungen entdeckt.
Das soll nicht heißen, dass die „Meister“ Bashō und Buson in ihrer Arbeit nicht die gleichen Qualitäten aufweisen. Allerdings schreibt Issa konsequent mit so viel Mitgefühl, Einsicht, Humor, Ehrlichkeit und Fantasie, dass meiner Meinung nach niemand anderes besser geeignet ist, anhand seines Beispiels einen Weg des Haiku zu lehren, der auch in unserem 21. Jahrhundert so attraktiv und vielversprechend ist wie einst im achtzehnten und frühen neunzehnten Jahrhundert.
Daran glaube ich. Und vielleicht werden auch Sie es nach dieser Lektüre so sehen.
Lassen Sie es uns herausfinden.
Kobaysashi Issa, zumindest der Issa, wie er sich selbst in seiner Poesie darstellt, hat ein großes Herz. Er lädt einen verwaisten Sperling ein, mit ihm zu spielen, er ermutigt einen mageren Frosch, bei einem Kampf im Teich stark zu bleiben; er fragt sich laut, ob sich seine Flöhe in der langen Nacht auch einsam fühlten.1 Issas Sorge um kleine, schwache, einsame und unterdrückte Lebewesen begann mit dem wahren und aufrichtigen Bemühen, sich die Welt aus deren Blickwinkel vorzustellen. Dann bekräftigte er seine Beziehung zu seinen Mitgeschöpfen, indem er eine gemeinsame Wirklichkeit anerkannte, in der er nicht von einer höheren Ebene auf sie herabschaut, sondern sich auf gleichem Niveau befindet und mit ihnen fühlt. Aus dieser Vorstellungskraft heraus, gepaart mit der Wahrnehmung von gemeinsamen Verbindungen und Beziehungen, entstanden viele Haiku.
Morgenkälte –
auch die Augen der Kröte
weit geöffnet2
Das lahme Huhn
schleppend, schleppend …
ein langer Tag3
Bevor ich diese interessanten Verse kommentiere, noch eine Einschränkung: Alle Kommentare in diesem Buch darüber, was ein Haiku bedeuten könnte, stammen ganz allein von mir und sind deshalb sicherlich unvollständig. Die wundervolle Weite des Haiku ergibt sich aus dem Unausgesprochenen und lässt viel Raum für die Sichtweise jedes Lesers, die Lücken sinnvoll zu füllen. Betrachten Sie alles, was ich über Haiku sage, einfach als die Auffassung eines einzelnen Lesers. Schauen Sie sich jeden Vers persönlich an, um sich Ihre eignen Bilder, Gefühle und Ideen herbeizuzaubern.
Im Fall unserer ersten Beispiele führten mich meine Vorstellung und meine Überlegungen zu der Überzeugung, dass Issa eng in diese Szenen eingebunden ist. Obwohl er nichts direkt über sich selbst sagt, scheint seine Anwesenheit impliziert zu sein. Im ersten Haiku gibt das Wort „auch“ (auf Japanisch mo) einen Hinweis darauf, dass jemand anderes den Kälteschock mit weit geöffneten Augen erlebt … In einem Ausdruck von Verwunderung? Ärger? Oder könnte es vielleicht ein wortloser Protest gegen eine Welt sein, die plötzlich kalt geworden ist: Eine Winterwelt, in der das Leben symbolisch (und für manche Kreaturen buchstäblich) in den Tod übergeht? Der implizierte Teilhaber in der Szene muss Issa sein, glaube ich. Er ist Gleichrangiger und Mitreisender der Kröte; er versteht die Ratlosigkeit der Kröte und zeigt, indem er sie bemitleidet und sich mit ihr verbindet, seine eigene.
Auch beim Porträt des lahmen Huhns scheint Issa nach meinem Verständnis dieses Haiku selber anwesend zu sein. Dass das Huhn schon lange Zeit hinkt, bedeutet, dass der Beobachter es schon lange bemerkt hat, eine Tatsache, die an sich schon eine tiefe Sympathie des Beobachters nahelegen könnte. Man kann sich zwischen den Zeilen Issas eigene Gefühle von Stillstand, Langeweile und Empathie für das behinderte Mitgeschöpf vorstellen. Das zeugt nicht von kitschiger Sentimentalität oder kindlicher Personifikation, sondern ist einfach ein Beleg für das Sich-Hineinversetzen in die Erfahrungen eines anderen Lebewesens. Auch für ein Huhn ist der Tag lang, genau wie das Leiden. Man kann sich vorstellen, dass Issa, der sich dieses Leidens bewusst ist, selbst auch leidet.
Issas erste Haiku-Lektion, die Lektion vom Mitgefühl, ist eigentlich eine Lehre der Wahrnehmung: die Erkenntnis, dass andere Lebewesen – sogar die nichtmenschlichen – dasselbe Universum erleben und auf irgendeiner Ebene diese Erfahrungen fühlen. Die Verbindung zum Buddhismus ist offensichtlich. Issa glaubte (und schrieb oft), dass Tiere seine Verwandten und Freunde aus früheren Leben waren. Es ist ganz natürlich für einen Buddhisten, die Persönlichkeit von Tieren in Ehren zu halten, denn diese könnten, so wie Menschen, eines Tages auch zum Buddha werden. Doch man muss kein Buddhist oder Hindu sein oder an eine Wiedergeburt glauben, um aus den Tiergedichten Issas wertvolle Lehren für Gefühl und Wahrnehmung zu ziehen. Wahrnehmung und Gefühl sind auch in diesem nächsten Beispiel vorrangig:
Das Winterquartier
der Grille –
meine Decke4
Issa begrüßt die Grille, die in einer kalten Winternacht seine Bettstatt besuchte, eher als Mitbewohner denn als Schädling. Wieder ist es eine Frage der Wahrnehmung. Issa erkennt das Leben und die Empfindung seines kleinen Besuchers an: Die Nacht ist genauso kalt für eine Grille wie für einen Menschen. Die Welt ist für Issa ein gemeinschaftlich geteilter Platz, an dem ein Mensch und eine Grille in einer kalten Winternacht die angenehme Wärme eines Bettes genießen. In der Winterszenerie von Issas Haiku ist üblicherweise eine Ahnung des herannahenden Todes versteckt, die dazu dient, den unschätzbaren Wert des gegenwärtigen Augenblicks zu unterstreichen. Außerhalb der Mauern von Issas Hütte ist das Universum kalt, riesig, schwarz und unpersönlich. Warum nicht diese Wärme, diesen kostbaren Augenblick der Existenz auch mit einer Grille teilen?
Issas Mitgefühl ist, wie wir in diesem Haiku sehen, getragen von einer authentischen Wahrnehmung der Wirklichkeit, nicht von einer unrealistischen Scheinwelt von „personifizierten“ Kröten, Hühnern, Grillen … oder Fliegen.
erschlage die Fliege nicht!
sie reibt sich die Hände
sie reibt sich die Füße5
Ein erster Reflex mag sein, einfach zuzuschlagen, Issa indes hockt sich hin, um die Fliege von Nahem zu betrachten, eine Ansicht, die er großzügig mit seinen Lesern teilt. Die Fliege hat winzige „Hände“ und „Füße“, die sie aneinander reibt, als ob sie jemanden anfleht, vielleicht, als ob sie betet. Während die Vorstellung einer betenden Fliege sich zuerst einmal anhört wie der Inbegriff von Personifikation, kann Issas dringliche Bitte (gerichtet an jemanden oder an sich selbst?), das Leben dieser Fliege zu verschonen, zu einem zweiten und tieferen Blick verleiten. Issa lebte nicht nur nach buddhistischen Prinzipien, er verbeugte sich auch und faltete die Hände im Gebet vor den heimischen Göttern Shintos, den kami-sama, so wie die meisten Japaner. Eine Schlüsselidee in Shinto ist das allen natürlichen Dingen, den Tieren, Pflanzen, Bergen, Flüssen … innewohnende Göttliche. Nach dieser antiken animistischen Sichtweise trägt sogar eine Fliege einen Teil Gottes in sich. Obwohl das Haiku oberflächlich betrachtet humorvoll ist (wir wissen natürlich, dass eine Fliege nicht im menschlichen Sinne „beten“ kann), könnte Issas tiefere Botschaft lauten, dass die Existenz gerade dieser Fliege Gott oder Götter (je nach dem, was man glaubt) ehrt, und somit das grundlose Töten sündhaft wäre. Es wäre zwar nur eine kleine Sünde, aber dennoch eine Sünde. Die Sünde, den Wert eines Lebens, und sei es noch so klein, nicht zu achten.
Issa war, wie wir aus seinen Schriften wissen, kein Vegetarier. Dennoch vermitteln seine Schilderungen der Tötung von Tieren in Haiku so etwas wie tiefe Besorgnis.
Winterruhe
ein Huhn kochen
Buddha preisen6
Abendmond
Teichschnecken singen
im Kessel7
Die Kälte einer Winternacht deutet auf die Kälte einer Welt hin, in der Lebewesen, in denen ein Funken Göttlichkeit ist, sich entweder aussuchen können oder gezwungen sind, andere Mitgeschöpfe zu töten und zu verschlingen. Die Winterszene suggeriert auch die Kälte der Herzen derer, die vergessen (oder nie gewusst?) haben, wie wertvoll alles Leben ist. Solche Menschen können ein Huhn kochen, als ob es ein beliebiger Gegenstand wäre, und damit zeigen, dass sie weder Reue noch Dankbarkeit für das Opfer eines Lebewesens empfinden. Auch wenn der Koch ein kurzes Gebet an Buddha ausstößt, scheint dieser Versuch der Selbstentlastung recht schwach zu sein.
Im zweiten Beispiel „singen“ die Schnecken, die gegessen werden sollen, was einige Leser als Geräusch interpretieren, das aufsteigt, wenn der Dampf beim Kochprozess aus den Schalen entweicht. Doch ein optimistischer japanischer Freund von mir glaubt, dass die Schnecken fröhlich Wasser spucken, wenn der Kessel noch nicht erhitzt wurde. Ich schließe mich der ersten, dunkleren Lesart des Haiku an, da Issa es mit dem Wort „Hölle“ eingeleitet hat. Ob er der Koch ist, einer der Gäste, der sich die Schnecken schmecken lässt, oder ein Zuschauer, Issas Gedicht zeigt so, wie er es geschrieben hat, seine Wertschätzung für ihre Zwangslage: Sie sind gefangen in der Hölle, brennen in Todesangst. Ihr „Singen“ wäre zutreffender als „Weinen“ übersetzt worden.
Beachten Sie, dass Issa alle unsere vorigen Beispiele mit Gefühlen befrachtet hat, ohne auf emotionale Wörter angewiesen zu sein. Er lässt seine Bilder für sich selbst sprechen, und sie sprechen Bände. Das ist ein wichtiges Merkmal großer Haiku.