Buddha lacht - David G. Lanoue - E-Book

Buddha lacht E-Book

David G. Lanoue

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Beschreibung

Mit dem vorliegenden Werk (Originaltitel: Laughing Buddha, Winchester VA, 2004), setzt Lanoue seinen ersten Haiku Roman fort. Er ist 2010 im Hamburger Haiku Verlag erschienen: David G. Lanoue, Voller Mond, Hamburg 2010, und seit Frühjahr 2019 als Neuauflage durch den Herausgeber Stefan Wolfschütz wieder im Buchhandel verfügbar.

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David G. Lanoue lebt und lehrt in New Orleans als Professor für Englisch an der Xavier University of Louisiana. Bekannt geworden ist Lanoue durch seine Issa-Studien.

Auf seiner Webseite (http://haikuguy.com) hat er im Oktober 2010 die 10.000ste Übersetzung eines Issa-Gedichtes eingestellt.

Mit dem vorliegenden Werk (Originaltitel: Laughing Buddha, Winchester VA, 2004), setzt Lanoue seinen ersten Haiku Roman fort. Er ist 2010 im Hamburger Haiku Verlag erschienen: David G. Lanoue, Voller Mond, Hamburg 2010.

für Charles, Randy, Patrice und Michele ... jetzt weiß es jeder

Inhaltsverzeichnis

Teil 1

1. Die Mondfinsternis

2. Hasenzahns Schweigen

3. Japan

4. Komplikationen

5. Hasuko

6. Kojiki

7. Den Meister treffen

8. Falsche Fährte

Zweiter Teil

9. Hasenzahn

10. Der Schatz

11. Muda

12. Worte

13. Erwartung

14. Aus Kuros Tagebuch

15. Yoshiwara

16. Das Bad

Dritter Teil

17. Der Held Kuro

18. Fleming

19. Die Schreibgruppe holt auf

20. Die Tränen einer Dame

21. Wortlos

22. Ein verrückter Vorschlag

23. Lady Plum spricht zu Hasenzahn,

24. Sushi mit einer Gabel

25. Die Grotte

26. Und dann …

Teil 1

1. Die Mondfinsternis

Im alten Japan bestimmte jedes Jahr, dem Kalender nach am fünfzehnten Tag des achten Monats, der Erntemond – das ist der strahlende Vollmond der Tagundnachtgleiche im Herbst – die heiligen Riten der Bauern.

In dieser verheißungsvollen Nacht brachten sie dem Mond, den sie als kami-sama, einen Gott, ansahen, Reiskuchen, Süßkartoffeln und Ziergräser als Opfergaben dar. Besonders Dichter kamen in dieser Nacht gern zusammen, um Sake zu trinken und einen Atemzug lange Haiku-Gedichte in ihre Tagebücher zu kritzeln.

All dies erfuhr ich beim Lesen von Hasenzahns Tagebuch, eine der bedeutendsten Haiku-Aufzeichnungen überhaupt. In diesem Buch erzählt Hasenzahn, wie er mit anderen bedeutenden Literaten in einer unvergesslichen Nacht in den Bergen der Shinano-Provinz zusammenkam, um den Erntemond zu beobachten. Doch kurz nach Mondaufgang verdunkelte sich zum Entsetzen aller der Himmel und es folgte eine totale Mondfinsternis.

Stell dir meine Überraschung vor, als in der darauffolgenden Nacht bei uns der Wetterfritze auf Kanal sechs im Anschluss an die Vorhersage eines ganz normalen schwülen, heißen Septembertages in New Orleans erwähnte, dass in vierundzwanzig Stunden eine Mondfinsternis stattfinden würde, und dann mit seltsam unbewegten Augen, die speziell mich durch meinen zwanzig Zoll großen Bildschirm zu durchbohren schienen, hinzufügte: »Die morgige Mondfinsternis ist ein besonders seltenes Ereignis, denn es handelt sich um einen Erntemond.«

Wie erstarrt saß ich da.

Noch bevor es mit Werbung weiterging, hatte ich schon meinen Entschluss gefasst. Morgen Abend, wenn das Wetter es zuließ, würde ich mit eigenen Augen genau das sehen, was Hasenzahn und seine Kumpane vor so langer Zeit erlebt hatten. Auch ich würde meinen vertrauten Haiku-Block und einen Stift mitbringen. Und selbst wenn wir durch den breiten Strom von Raum und Zeit getrennt wären, könnte ich dennoch dabei sein. Seite an Seite mit Hasenzahn und seinen Freunden würde ich die gleiche Erfahrung machen, sie mit ihnen teilen und meine eigenen dreizeiligen Haiku schreiben.

Ein Schauer der Vorfreude lief mir über den Rücken und kribbelte auf meiner Kopfhaut. Ich konnte es kaum erwarten.

* * *

Am nächsten Abend wählte ich meinen Aussichtspunkt für die Mondfinsternis, ein Straßencafé neben dem Fähranleger in der Canal Street. Begierig darauf, meine poetischen Muskeln spielen zu lassen, setzte ich mich an einen Tisch mit Blick auf den Fluss und öffnete mein kleines Notizbuch. Ich griff nach dem Stift, bereit zu schreiben. Ich bestellte ein Bier, schaute und wartete.

Ein Blitz erleuchtete eine Wolke. Erfreulicherweise blieb sie tief und weit entfernt hängen. Ich hob mein Glas. Dankbar trank ich auf diese Wolke.

Kampai, Prost! Ich schluckte. Dem ersten Toast folgten weitere. Ich trank auf den Mond, den dunkel schimmernden Fluss, den einsamen Schleppkahn, der ein Hausboot flussaufwärts schob auf die lichtgesprenkelte Twin-Span-Brücke zu.

Und dann, genau zur richtigen Zeit, verschwand ein Stück des Mondes. Ich hob den Stift …

* * *

Zurück im alten Japan sprudelten die Jungs nur so Haiku hervor. Ihre Kreativität wurde von der Mondfinsternis angefeuert. Tasse Tee, Hasenzahns Lehrmeister, beugte sich über sein Reispapiertagebuch und schrieb mit tanzenden, feuchten Kringeln:

Menschenwelt! Sogar der Mond muss leiden

Kuro, der düstere Dichter in Schwarz, schrieb ein passendes dunkles Haiku:

Der Mond und ich

versinken

in Finsternis

Hasenzahn schlug in der Zwischenzeit einen helleren Ton an. Er schrieb auf die blasse Seite seines berühmt gewordenen Tagebuchs:

Sie kühlt

ihr sonnenverbranntes Gesicht …

Mond

Auch Shiro, Dichter in Weiß, saß auf der Veranda der Poeten. Aber er sah sein Gedicht nur im Geiste. Wie immer ließ er geschmackvoll sein Papier leer.

* * *

Genau wie ich. Doch, im Gegensatz zu Shiro, war mein weißes Papier leider nicht so gemeint. Ich saß da und kaute auf meinem Stift, wartete auf die Inspiration. Sie kam nicht.

Aber warum nicht? Seit zwei Jahren, seitdem ich vom Haiku-Virus angesteckt worden war und begonnen hatte, Tag und Nacht Haiku zu schreiben, hatte ich so mühelos und leidenschaftlich Seite um Seite meines Notizblocks gefüllt mit spontanen, einen Atemzug langen Einfällen.

Niemals hatte ich darum gekämpft, ein Haiku zu schreiben, so wie jetzt. Sie flogen mir zu, flossen aus meiner Feder wie der Segen eines Buddhas aus dem Jenseits – einem verspielten, witzigen Buddha, der es liebte, mich mit unvorhersehbaren Wendungen in den kleinen Gedichten zu überraschen.

Jetzt, begierig zu schreiben, glitten meine Augen über die letzten Einträge in meinem Notizbuch, und ich fragte mich, was schiefgelaufen war. Gestern noch, als ich durch den Audubon Park streifte, waren die Gedichte in meinen Kopf gewesen und wie von selbst auf das Papier gesprungen.

Keine Richtung ist falsch

die Arme

der Eiche

Alte Steinbrücke

ob ich sie überquere

oder nicht

Hufeisenspuren

im Schlamm

letzte Ameise des Tages

Seufzend fragte ich mich, was geschehen war. Hasenzahn, Tasse Tee, Kuro, Shiro … sie füllten die Nachtluft so schnell mit Haiku, wie sie schreiben konnten, oder in Shiros Fall, wie er sich etwas vorstellen konnte. Aber obwohl ich das Gleiche sah wie sie, war ich vollkommen leer.

Warum?

Ich kippte mein Bier hinunter, knallte das Trinkgeld auf den Tisch, kettete mein Fahrrad los, schwang mich auf den Sattel und radelte heim. Meine Stimmung war genauso düster wie die Stadt.

2. Hasenzahns Schweigen

Von dem Morgen an, als er im nebligen Kashiwabara Tasse Tees Schüler wurde, bis zu der Nacht, sechs Jahrzehnte später, als Buddha aufhörte ihn zu träumen, hielt Hasenzahn seine Dichtung in einem dicken Tagebuch aus Reispapier fest. Doch es gibt eine verdächtige Lücke in dieser beinahe lebenslangen Chronik. Für viereinhalb Monate schrieb er nichts, absolut nichts, in sein wunderbares Buch. Nach seinem Haiku aus der Nacht der Mondfinsternis – über den Mond, der das sonnenverbrannte Gesicht einer Frau kühlt – folgt eine leere Seite. Und dann, auf der nächsten Seite, in einem Eintrag genau 130 Tage später, resümiert er:

Neujahrstag. Fujijama. Klar und kalt.

Ein perfekter Morgen für Haiku – wieder lebendig! Kuro, Shiro und Kojiki sind heute Morgen nach Edo aufgebrochen. Aber ich habe mich entschieden, noch ein wenig am eisigen Fuß des heiligen Berges zu verweilen.

Dorfkinder rennen und lachen und lassen jetzt sogar ihre Neujahrsdrachen fliegen.

Gefährlich leben

der Drachen überquert

den Fluss

Und von dem Tag an bis an sein Lebensende ergänzte Hasenzahn sein Tagebuch täglich ohne Unterbrechung, was die große Lücke von 130 Tagen umso auffälliger erscheinen ließ.

Warum hatte er Haiku für so eine lange Zeit aufgegeben? Litt er vielleicht an einer Schreibblockade? Oder hatte er beschlossen, es für eine Saison mit der stillen Dichtung des ewig schweigenden Shiro aufzunehmen? Und als er endlich an jenem Neujahrsmorgen zum Haiku-Schreiben zurückkehrte, was meinte er mit dem kryptischen Ausruf: »Wieder lebendig!«?

Als ich Hasenzahns Tagebuch zum ersten Mal las, war ich verblüfft über diese viereinhalbmonatige Pause. Dass sie einen Tag nach der Mondfinsternis begann, kam mir besonders seltsam vor. Er musste doch inspiriert gewesen sein, als er am nächsten Morgen in bester Gesellschaft von Kuro, Shiro und Tasse Tee erwachte.

Genauso seltsam war, dass er nach 130 Tagen seinen Bambuspinsel wieder aufnahm und eine poetische Lawine auslöste, die unaufhaltsam rollte, Tag für Tag, Seite um Seite, bis zu seinem Tod vierzig Jahre später. Ich fragte mich, was ihn inspiriert hatte, seine Haiku-Karriere wieder aufzunehmen mit diesem energischen, nicht zu bremsenden Schwung? Angesichts meines eigenen Unvermögens, nur ein einziges Haiku zu schreiben in der Nacht der Mondfinsternis, hatte diese Frage für mich eine besondere, persönliche Bedeutung.

Begierig nach einer Antwort beschloss ich, einen lokalen Experten zum Thema aufzusuchen: Professor Nakamura, den renommierten Vorsitzenden der Abteilung für asiatische Literatur der Upton-Universität. Sein Buch der Haiku-Kritik – mehr als 700 Seiten in winziger akademischer Schrift – überzeugte mich: Wenn irgendjemand etwas über das Warum und Weshalb von Hasenzahns literarischem Schweigen wusste, dann Nakamura.

»Professor«, sagte ich, als ich mit einer Verbeugung, wie ich es in meinem Sommer in Japan gelernt hatte, sein Büro betrat, »es ist wirklich nett von Ihnen, mich zu empfangen!«

Ohne Verbeugung schüttelte er meine Hand ganz im westlichen Stil. Er wirkte jünger, als ich erwartet hatte. Ein paar graue Strähnen hellten sein schwarzes, kurz geschnittenes Haar auf, doch sein Gesicht strotzte nur so vor Energie.

»Nehmen Sie doch Platz.«

Ich setzte mich. Er kam mit schweren Schritten um seinen Schreibtisch herum und ließ sich in einen großen, schwarzen Lederstuhl fallen. Auf dem Tisch zwischen uns glänzte ein schwarzer Computer neben einer Glasvase mit einer einzelnen Lilie. Eine riesige Landkarte der japanischen Inseln – limettengrün mit Tausenden handgeschriebenen Kritzeleien in Rot – hing an der Wand hinter dem weltberühmten Gelehrten.

Nach etwas Small Talk über die Finanzkrise in Asien kamen wir zur Sache.

»Ich interessiere mich für den Dichter Hasenzahn, Herr Professor. Sie haben viel über ihn geschrieben.«

»Ah ja, Hasenzahn.«

»Er ist auch einer meiner Favoriten. Ich denke, ein genialer Geist.«

»Der frühe Hasenzahn vielleicht.«

Ich zuckte mit den Achseln, denn ich kannte ja seine Theorie, nach der Haiku als Kunstform seinen Höhepunkt zur Jugendzeit Hasenzahns gehabt hatte, und es danach ständig bergab ging. Doch ich war nicht gekommen, um zu streiten, und so protestierte ich nicht.

»Ich interessiere mich für eine bestimmte Ungereimtheit in Hasenzahns Tagebuch«, fuhr ich fort.

Er runzelte die Stirn, sagte aber nichts.

Ich räusperte mich: »Sie wissen, ich schreibe ein Buch…«

»Also darum geht‘s!«, rief er aus. »Und da trauen Sie sich, einfach hierher zu kommen.«

Ich war sprachlos über diesen Ausbruch und den Anblick der zornesroten Wangen des Professors.

»Wenn Sie mir vielleicht erklären könnten …«, stotterte ich.

Er hob den Zeigefinger an die Lippen: »Ich glaube, Sie sollten gehen.«

»Aber ...«

»Jetzt!«, zischte er. »Einen guten Tag noch!«

Ich stand auf, er blieb sitzen. Kein Händeschütteln diesmal. Seine Augen starrten mich kalt und wütend an.

»Guten Tag«, murmelte ich, ging und fragte mich, was um alles in der Welt gerade passiert war.

* * *

Nach diesem seltsamen Erlebnis in Professor Nakamuras Büro wusste ich nicht, was ich tun sollte. Wie konnte ich ohne fachmännische Hilfe das Rätsel um Hasenzahns dichterisches Schweigen lösen?

Ich grübelte über dieses Problem den ganzen nächsten Nachmittag, während ich in einer Kneipe in der Nachbarschaft große, eisgekühlte Humpen Happy-Hour-Bier trank.

Warum hatte Hasenzahn das Schreiben für so lange Zeit aufgegeben? Das passte nicht zu dem Dorfdichter, Tasse Tees begabtestem Schüler, der später, wenn auch kein Vermögen, so doch Ruhm in der Haiku-Welt erworben hatte. Ich fragte mich: Wer auf der Welt könnte Antwort auf diese brennende Frage geben? Schließlich konnte ich schlecht Hasenzahn selbst fragen.

Doch warum eigentlich nicht?

Ich lachte leise. Was für ein berauschender Gedanke, der mir aber in dem Moment absolut sinnvoll erschien. Um herauszufinden, was nach der Mondfinsternis aus dem jungen Hasenzahn geworden war – warum er Haiku aufgegeben hatte und, was mich noch mehr interessierte, was ihn motiviert hatte, nach viereinhalb Monaten wieder anzufangen – musste ich direkt zur Quelle gehen. Ich besaß keine Zeitmaschine, zumindest keine im Stil von H.G. Wells, doch ich hatte etwas, das dem Zweck ebenso gut diente: meinen blauen Bic-Kugelschreiber. Durch die unbeschreibliche Kraft dieses heiligen Objektes konnte ich leicht und schnell in Hasenzahns Welt reisen, ins alte Japan, Zeit und Raum durchqueren und mich selbst, meinen Körper und Geist in jenes besagte Buch hineinschreiben! Und dann, nur noch eine Frage von Seiten, würde ich direkt neben Hasenzahn stehen und nach Herzenslust Fragen stellen und seine Antworten wortgetreu aufzeichnen.

Was für ein Plan!

Aber bevor ich aufbrach, brauchte ich eine Verkleidung, die es mir erlauben würde, mich unter die Menschen der damaligen Zeit zu mischen, ohne aufzufallen. Ich grübelte und trank.

Anderthalb Bier später hatte ich die Lösung: Ich würde mich als buddhistischer Wanderpriester verkleiden, ein heimatloser, heiliger Mann. Ich würde mich kahl scheren müssen – nicht sehr viel Arbeit – und in eine sackartige, safranfarbene Robe hüllen. Hervorragend! Aber da gab es noch ein Problem: Ich konnte mir nicht vorstellen, in den steifen Strohpantoffeln jener Zeit durch Japan zu schlurfen. So entschied ich mich aus Gründen der Bequemlichkeit, meine abgetragenen blau-weißen Reeboks anzubehalten. Mein Priestergewand müsste nur weit genug auf den Boden reichen, um die anachronistischen Treter zu verbergen.

Nachdem ich Kostüm und Identität gefunden hatte, war ich bereit. Mein Herz schlug schneller: Ich würde die Giganten des Haiku in eigener Gestalt treffen: Tasse Tee, Kuro, Shiro, Hasenzahn! Ich fühlte mich wie ein Agent, unterwegs in geheimnisvoller Mission in ein exotisches Land voller Sex, Gewalt und Haiku: das alte Japan der Samurai, Geishas und verrückten mondsüchtigen Dichter.

3. Japan

Ich erschien im Schilf hinter dem Haus von Inacho, dem Sakebrauer, wo laut Hasenzahns Tagebuch genau vor einer Nacht die Feier zur Mondfinsternis stattgefunden hatte. Meine Reeboks sanken tief in den Schlamm ein. Der Sonnenaufgang im alten Japan war kühl und neblig. Im Dunst hörte ich einen Schwarm Wildgänse rufen und auffliegen.

»Saraba,saraba!«, sagte ich zu den Gänsen »Auf Wiedersehen!« und schwelgte im Bewusstsein meiner plötzlichen, akzentfreien Beherrschung des alten Dialekts.

Und dann, solchermaßen inspiriert, plapperte ich mein erstes japanisches Haiku in den Nebel:

aki kaze ya

ukiyo no kari wa

ukare keri

Das bedeutet auf Englisch ungefähr:

Herbstwind

die Gänse der schwebenden Welt

entschweben

Meine neu gewonnene Sicherheit in der japanischen Sprache war schon berauschend, aber was mich noch viel mehr erregte, war die Leichtigkeit, mit der das Haiku aus meinem Geist durch den Mund in die neblige Morgenwelt geflogen war. Die mentale Blockade, die mich davon abgehalten hatte, auch nur ein einziges Haiku zur Mondfinsternis zu schreiben, schien komplett verschwunden zu sein. Meine Reise ins alte Japan begann großartig!

Durch den Schlamm watend, erreichte ich Inachos Haus, das mit einer weiten überdachten Veranda ausgestattet war. Dort sah ich die Überreste der Party von letzter Nacht: Tatamimatten, Aschenbecher, Sakebecher – letztere meistens leer, aber einige noch gefüllt mit einer klaren Flüssigkeit. Ich nahm einen Becher und schnupperte daran: Es roch wie eine Mischung aus Wodka und Benzin.

Vorsichtig stellte ich den Becher wieder auf der taubenetzten Veranda ab.

»Guten Morgen!« Eine raue Stimme erschreckte mich. Ich drehte mich um und sah einen kleinen untersetzten Mann, dessen leuchtend rote Yukata bis zur Brust geöffnet war.

»Guten Morgen«, sagte ich und verbeugte mich.

Der Mann verbeugte sich ebenfalls, wobei eine kahle Stelle auf seinem Kopf sichtbar wurde.

»Es tut mir leid, dass ich so früh störe, aber ich suche einen alten Freund, einen Dichter namens Hasenzahn.«

»Ah, da seid Ihr leider zu spät, Priester. Ich bin übrigens Inacho. Und wer seid Ihr?«

Ich wusste nicht, was ich antworten sollte. In meiner Eile, ins alte Japan aufzubrechen, hatte ich es versäumt, mir einen Namen für mein priesterliches Ich auszudenken.

»Ich? Äh, ich heiße …« Meine Augen wanderten verzweifelt umher auf der Suche nach Inspiration, doch alles, was ich sah, war das Schilf und der Nebel, und als ich nach unten schaute … Schlamm. Doro auf Japanisch.

»Dorobo«, murmelte ich.