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NEUAUFLAGE der 2011 im Hamburger Haiku-Verlag erschienenen Originalauflage. David G. Lanoue ist in der Haiku-Welt bekannt durch seine Übersetzungen des japanischen Haiku-Dichters Kobayashi Issa (1763-1828). DIes ist sein erster Haiku-Roman. Eine Geschichte über die Suche nach dem großen Haiku und der großen Liebe. Das amerikanische Original ist im Jahr 2000 entstanden.
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Seitenzahl: 153
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David G. Lanoue lebt und lehrt in New Orleans als Professor für Englisch an der Xavier University of Louisiana. Bekannt geworden ist Lanoue durch seine Issa-Studien.
Auf seiner Webseite (http://haikuguy.com) hat er im Oktober 2010 die 10.000ste Übersetzung eines Issa-Gedichtes eingestellt.
Mit dem vorliegenden Werk (Originaltitel: Haiku Guy, Winchester VA, 2000), begründete Lanoue 2000 das Genre des Haiku-Romans.
Der einzige jemals wirklich existierende Dichter in diesem Buch ist »Tasse Tee« (Kobayashi Issa, 1763 - 1828). Seine Haikus wurden entnommen aus dem Buch Issa zenshu (Nagano: Shinano Mainichi Shimbunsha, 1979).
für »Chaz«, »Paul«, »Melanie« und »Micky« ... ihr wisst wer ihr seid!
Teil Eins
Es war einmal ...
Hasenzahn
Anhalten, Hinschauen, Hinhören
Lord Kaga
Schreiben
Lord Kaga (Fortsetzung)
Der alte Furz
Die Schreibgruppe
Feuerwerk
Nicht zurückschauen
Puppentheater
Das Haiku-Tagebuch
Weiß, Schwarz, Grün
Natur ist kein Hauptwort
An den Mond
Kuros dichterischer Rat an Hasenzahn
Zurück zu dir
Midos dichterischer Rat an Hasenzahn
Kleine Dinge wie Mäuse
Das Jahr vergessen
Teil Zwei
Hasenzahn wacht auf
Einfach vertrauen
Das Unvermeidliche
Nach Süden
Jahreszeiten im Lebensjahr
Nagasaki
Der Barbar
Die Schreibgruppe denkt über Selbstmord nach
Aus Hasenzahns Tagebuch später im Jahr
Hasenzahn besucht New Orleans als Tourist verkleidet
Mehr aus Hasenzahns Tagebuch
Shiros Rat an Hasenzahn
Zenkôji
Hasenzahn kommt nach Hause
Die Renga-Party
Ich in Japan
Hasenzahn fasst wieder Fuß
Die Puffin-Übersetzung
Symbole fallen lassen
Aus meinem Japan-Tagebuch
Teil Drei
Kaga, der Einsiedler
Lady Plums schwebende Welt
Die Tätowierung
Neues Blut
Stelldichein meiner Gastschreiber
Das Sex-Kapitel
Mrs. Moray
... im alten Japan, fernab in den Bergen an einem See, der das halbe Jahr über zugefroren war, wo Schneemassen sich wie Zylinder auf den Köpfen müder Kühe türmten, wo grauer Schlamm tiefe Gräben füllte auf der sich schlängelnden Landstraße des Shogun zu wichtigeren Orten. Hier, in einem Land des Schnees, wo der Schnee erst schmolz unter dem Wispergesang der fetten Mittsommermücken, in einer armen Provinz, einem unterdrückten Land, wo Bauern versuchten, die Reissteuer zu vergessen, wenn sie den Sake weiterreichten, Lieder sangen und abwechselnd im heißen Bottich badeten, dessen dampfendes Wasser düsterer und brauner wurde mit jedem der knochigen, nackten Badenden. Es war hier, in einem Dorf, das niemals auf einer Landkarte des Westens auftauchte, in einem kleinen strohgedeckten Bauernhaus auf einem Hügel voller schneebestäubter Kiefern. Hier goss der Sternenfluss des Himmels, die Milchstraße, kaltes Licht auf eine alte, rissige, rußschwarze Tür.
Ein Mann ging auf seinen Wanderstab gestützt, glänzend kahl mit einem Kugelbauch, seine Stiefel rutschten auf dem Eis. Nach vierzig Jahren der Wanderschaft durch das Land, bei der er viele Provinzen durchkreuzt hatte, war ein zielloser Herumtreiber, ein vom Wind verwehter Geist, wieder zu Hause.
Er nannte sich selber Tasse Tee, das war sein Schriftstellername, der Name, den er mit einem Bambuspinsel in klecksiger Kalligrafie auf das Reispapier dicker Tagebücher schrieb, die gefüllt waren mit tausenden einzeiligen Gedichten in einem Atemzug – denn Tasse Tee war ein Haiku-Dichter.
Vielleicht fragst du dich: Was ist ein Haiku? Nun, diese Lücke lässt sich nicht so schnell füllen. Dafür müssen wir Tasse Tee aus der Nähe beobachten: wie er seine Teichschneckensuppe schlürft, wie er im Zickzack aus der Hintertür pinkelt und so Rätsel in das tauende Eis schreibt, wie er seine Nudeln isst im Licht einer einzelnen Lampe in tiefster Abgeschiedenheit des Winters.
Wir werden zuschauen. Wir werden zuhören. Vielleicht werden wir lernen.
»Entschuldigung, sind Sie wirklich Dichter?«
Tasse Tee schaute herunter von seinem Thron hoch oben in der Schwarzkiefer. Jemand starrte ihn durch die nassen Zweige hindurch an, mehr Junge als Mann. Mehr-Jungeals-Mann trug die typisch farblose Kleidung der Provinz und war auffallend höflich. Unsicher, ob er sich verbeugen oder zu dem Mann aufschauen sollte, der über ihm in den Ästen schaukelte, wechselte Mehr-Junge-als-Mann zwischen ehrerbietigen Verbeugungen zur Erde und forschenden Blicken zum Himmel, wo Tasse Tee sich faul ausgestreckt hatte.
»Ja, Junge. Ich bin Tasse Tee.«
»Schön, Sie kennenzulernen!« Er verbeugte sich noch einmal zur Schlammpfütze, beugte dann seinen Hals zurück und zeigte mit einem breiten Grinsen vorstehende Zähne.
»Ich bin Deba, der Dorfdichter«, sprudelte er heraus, »schön, Sie zu treffen, Meister Tasse Tee!«
»Dorfdichter, so so? Und mit einem schönen Namen. Hast du dir den selbst gegeben?«
Deba bedeutet auf Japanisch »Hervorstehende Zähne.« Man könnte auch sagen »Hasenzahn«.
Hasenzahn starrte auf seine schlammigen Schuhe, sodass Tasse Tee seine Antwort nicht hören konnte. Doch der konnte sich die Geschichte schon denken. Dieser kluge Bauernjunge, Sohn von Leuten, deren Universum bis zum Gartenzaun reichte, war sein ganzes bisheriges Leben lang gehänselt worden, weil er sanft war, weil er vorstehende Zähne hatte und weil er ein Dichter war oder es zumindest glaubte. Das alles geschah dank des unerklärlichen Karmas, das vom nebligen Beginn der Zeit reichte bis zu diesem Augenblick, da er, noch nicht ganz ein Mann, unter einer regennassen Schwarzkiefer stand vor Tasse Tees Haus.
Der ältere Dichter kletterte hinab zur festen Erde und lud den Jüngeren in sein Haus. Seinem Namen getreu servierte er Tee. Sie knieten sich einander gegenüber hin und tranken.
»Was für ein Dichter bist du, Hasenzahn?«
»Ein Haiku-Dichter, Meister. Aber...«, er starrte in seinen Tee, als ob er sich schämte. »Meine Familie braucht mich auf dem Feld. Sonst würde ich tun, was Ihr getan habt, dieses Nest verlassen und nach Edo gehen!«
Tasse Tee schlürfte sein grünes Gebräu, sein Geist wanderte über die verblichenen Bilder seiner Ankunft in Edo vor vier Jahrzehnten. Er hatte sich schnell einer Horde zerlumpter Straßenkinder angeschlossen. Sie überlebten durch Betteln und Stehlen. Die meisten von ihnen waren zu Hause ungewollt und in Edo angekommen schnell ernüchtert. Die Hauptstadt des Shogun war nicht die Stadt aus Gold, die sie sich erträumt hatten, sondern eine übelriechende, mit Krankheiten verseuchte, von Ratten bevölkerte Ansammlung aus Tavernen und Bordellen, wo betrunkene Samurai Geishas zum Kreischen brachten und ihr gesetzliches Recht in Anspruch nahmen, jeden Bauernjungen zu verletzen oder sogar zu töten, wenn ihnen sein Gesicht nicht gefiel.
»Ah, ja ... Edo.« Tasse Tee brach das lange Schweigen seines Tagtraums. »Du musst nicht dorthin gehen, um Haiku zu schreiben.«
»Ja, Meister Tasse Tee, aber Sie haben das getan!«
Tasse Tee wechselte das Thema. »Lass mich ein Gedicht hören, dein bestes Gedicht.«
Hasenzahns Gesicht hellte sich auf, mit weiten, strahlenden Augen und den beim Lächeln nach vorn geschobenen Zähnen. Sein Gesicht war ein offenes Buch, in dem man in jedem Moment leicht lesen konnte, was er fühlte.
»Mit Vergnügen, Meister! Ich schrieb dieses Haiku in einer Vollmondnacht im Reisfeld meines Vaters. Eine Katze starrte mich aus einem Graben heraus an. Zuerst wusste ich nicht, dass sie tot war. Ihre Augen reflektierten das Mondlicht. Dann sah ich ihren steifen Körper, halb unter dem schwarzen Wasser. Hier ist es:
in den Augen der toten Katze Erntemonde
Tasse Tee schloss seine Augen, so fest er konnte. Er kämpfte innerlich mit sich selbst. So intensiv, dass sein Gesicht karmesinrot wurde wie eine Pflaumenblüte, während Hasenzahn vor Schreck die Luft anhielt. War sein Gedicht so schlecht, dass der sensible Meister davon einen Anfall erlitten hatte? Tasse Tees Gesicht war zu einer roten Grimasse verzerrt, es erinnerte an die Wächtermonster, die die Pforten von Tempeln flankierten. Endlich, gefasst, aber noch immer rot, öffnete der Meister seine Augen. Er füllte die Tassen wieder mit heißem grünen Tee, aber sagte nichts. Hasenzahns Haiku hing in der Luft wie eine verzweifelte Frage.
Dann brach Tasse Tee das Schweigen mit einem einfachen Satz, der das offene Gesicht des jungen Dichters mit seinen leuchtenden Augen und dem lächelnden Überbiss wieder glänzen ließ.
»Hasenzahn, du wirst mein Schüler sein.«
Ich lernte die wichtigsten Regeln für das Überqueren einer Straße in der Grundschule. Von der zweiten Klasse an ging ich zu einer katholischen Schule in meiner Heimatstadt Omaha in Nebraska. Damals trugen die Nonnen noch mittelalterliche Gewänder in Schwarz mit flatternden Umhängen. Jeden Tag oder jeden zweiten scheuchten sie uns in zweireihigen Herden über die Straße zur Messe oder zur Beichte oder einfach ohne Grund, weil sie täglich sichtbare Frömmigkeit forderten.
Wir hielten immer an der Kurve an, und jedes Mal bevor wir die Straße zur Kirche oder zurück zur Schule überquerten, hörten wir eine lebensrettende Litanei in Schwester Agonistes Kasernenhofstimme: »Anhalten, hinschauen, hinhören Kinder!«
Dies war, wie sich herausstellte, meine erste Lektion in der Kunst des Haiku.
* * *
Hasenzahn begriff diese Lektion noch nicht ganz, als er im hohen Gras beim Getreideschuppen kauerte und eine Schnecke beobachtete. Er erwartete, dass Tasse Tee jeden Moment hochschauen und die kriechende Kreatur in ein brillantes Gedicht transformieren würde, vielleicht auch, dass sie weitergingen oder wenigstens frühstückten. Doch nichts von alledem geschah. Sie schauten und schauten und schauten zu.
Hasenzahn war gelangweilt und verwirrt. Und die garstige kleine Schnecke, wie um sie zu ärgern, machte viele Pausen, um Luft zu holen oder streckte alle vier Antennenaugen aus, um den Wind zu prüfen, oder vielleicht war sie schlafsüchtig und nickte immer wieder auf ihrem schleimigen Weg kurz ein. Als sie endlich mit einem Wackeltanz in einen Spalt unter dem Getreideschuppen kroch, jubelte Hasenzahn.
Tasse Tee sagte nichts. Kein brillantes Gedicht, keine Lektion, die die Kunst des Haiku auslegte. Ihre lange Morgenübung der Schneckenbeobachtung blieb für Hasenzahn ein Rätsel.
Anhalten, hinschauen, hinhören.
Die ganze Woche lang hatten Tasse Tee und Hasenzahn alle Arten langsamer Dinge beobachtet. Einmal verbrachten sie einen ganzen Nachmittag damit, dem Gras beim Wachsen zuzuhören. Endlich, als die Dämmerung kam, glaubte Hasenzahn wirklich zu hören, wie sich die Halme mit einem leisen Quietschen nach oben bewegten. Am Tag zuvor waren sie bei Sonnenaufgang in einer überschwemmten Wiese voll Pestwurz gewatet, wo sie sich dann hinsetzten, um zuzusehen, wie die Tautropfen, einige von ihnen groß genug, um Teetassen zu füllen, langsam, ganz langsam verdunsteten. Tasse Tee war entzückt; Hasenzahn bekam Ausschlag auf dem Po. Und am Tag davor, als sie einen Frosch im Hain hinter dem Rettichfeld fanden, hatte Tasse Tee sich für einen Glotzwettbewerb auf den Bauch gelegt. Der Augenkampf, so schien es Hasenzahn, hatte ewig gedauert. Weder der Frosch noch der Dichter blinzelten. Es blieb ehrenhaft unentschieden.
Hasenzahn verstand die Bedeutsamkeit von Anhalten, Hinschauen und Hinhören noch nicht. Die guten Nonnen von St. Bernhard hätten es ihm bis zum Alter von zehn Jahren antrainiert, wäre er an einem anderen Ort, in einer anderen Zeit geboren. Da er jedoch der Sohn bettelarmer Bauern in einer bettelarmen Provinz hoch oben in den schneebedeckten Bergen des alten Japan war, hatte ihn nichts darauf vorbereitet, einen Sinn in den seltsamen Übungen seines Meisters zu finden.
Jeden Abend, wenn Hasenzahn heimkam, fragte ihn sein Vater, wie die Lektionen vorangingen. Sein Vater akzeptierte, dass Hasenzahn die Kunst des Haiku von Tasse Tee lernte, und er war grummelnd einverstanden, solange alle Arbeit daheim getan wurde. Bevor Hasenzahn sich dann auf die dunklen Felder begab, um aufzuholen, was er in der Zeit seines Unterrichts in Dichtkunst an Arbeit auf dem Feld versäumt hatte, erfand er fantastische Geschichten für seinen Vater. Es wäre ihm zu peinlich gewesen, zuzugeben, dass er den Vormittag damit verbracht hatte, einer Schnecke zuzuschauen oder den Nachmittag mit einem Frosch.
»Heute hat Meister Tasse Tee mich gelehrt, die Sprache des Kuckucks zu deuten«, sagte er. Oder »Heute Morgen zeigte mir der Meister, wie ich Gedichte schreiben kann, die so leicht sind, dass man sie mit Kieselsteinen beschweren muss, damit sie nicht davonfliegen!«
Wie sich herausstellte, waren die wunderbaren Geschichten für seinen Vater reinste Verschwendung. Der hätte nicht skeptischer geschnaubt, hätte er die Wahrheit erfahren, wie sein Sohn einen weiteren Werktag vergeudet hatte.
Lord Kaga war verliebt.
Früh am Morgen war er allein ganz oben auf die Burg von Matsumoto gestiegen, mit bloßen Füßen, die sich schnell und gleichmäßig über die ausgetretenen hölzernen Treppenstufen bewegten. Jetzt kniete er an einem der engen Fenster, von denen einst Bogenschützen auf Armeen dort unten gezielt hatten, um Männer und Pferde mit grausamer Präzision aufzuspießen. Doch Lord Kaga dachte nicht an heroische Kriege an diesem Morgen. Er schaute in den Sonnenaufgang über zerfurchten blauen Bergen im Osten, erblickte eine Hirschkuh mit ihrem Kalb in lila Schatten hingekleckst. Sein Seufzer war ein Liebesseufzer.
Er breitete Reispapier auf dem Boden aus, mischte duftende schwarze Tinte mit einer frischen Träne und tunkte die Rosshaarspitze seines Bambuspinsels in diese melancholische Mischung. Er begann zu schreiben.
* * *
Von ihrem Platz hoch auf dem Hügel hinter dem »Schrotthaus«, wie Tasse Tee seine Wohnstatt gern nannte, beobachteten Meister und Schüler die Ankunft von Lord Kaga. Prunkvoll zog er in das Dorf dort unten ein. Für Hasenzahn war dieses Ereignis nur eine weitere dieser öden Lektionen im Anhalten, Hinschauen und Hinhören. Zwei ganze Stunden dauerte es, bis Lord Kagas langes Gefolge im Ort vollständig angekommen war. Samurai auf Pferderücken, ein Heer von Dienern, die Truhen, Möbel, Vogelkäfige, Körbe, eingetopfte Bäume und eine verzierte Sänfte trugen, in der Lord Kagas Geisha reiste. Sie kamen und kamen, ein großartiger Einzug in einen so kleinen Ort. Die strohbedeckten Straßen waren gesäumt von regungslosen, unterwürfigen Dorfbewohnern. Sie wagten nicht, zu dem fürchterlichen daimyo aufzublicken, der auf der Veranda des Dorfvorstehers Platz genommen hatte und die Ankunft seines beweglichen Haushalts überwachte.
Gerade als Hasenzahns Geduld zu Ende zu gehen drohte, kam der Schluss des Zuges um die Biegung der nebligen Hügel. Tasse Tee seufzte und sagte:
»Sogar den Nebel ziehen sie hinter sich her! Lord Kagas Männer.«
Kinder sangen mit schrillen Stimmen ihr Willkommenslied, während Lord Kaga ins Leere starrte. Zitternd verbeugte sich der Dorfvorsteher zu Füßen des daimyo. Als die Kinder aufhörten zu singen, erwartete jeder im Dorf, dessen Einwohnerzahl sich an diesem Nachmittag vervierfacht hatte, atemlos Lord Kagas Worte.
Der Furcht einflößende Herrscher der Provinz ließ sich schließlich herab, den Dorfvorsteher anzusprechen, der sich abermals verneigte wie eine Schabe, die darum bat, zerquetscht zu werden. Doch seine Worte waren für alle, die sie hören konnten, schockierend und rätselhaft.
»Bring mich zu dem Dichter Tasse Tee!«
Jetzt bist du bereit, dein erstes Haiku zu schreiben. Leider kann dir niemand sagen, worüber du schreiben sollst oder wann genau du anfangen sollst. Jedoch versuche nicht, den entscheidenden Augenblick herbeizuzwingen, denn dann zerstörst du ihn. Du musst einfach anhalten, hinschauen, hinhören und, wenn du fühlst, dass es Zeit ist: schreiben.
Nimm zum Beispiel Tasse Tees Haiku über Lord Kagas großen Einzug in das Dorf, den langen Zug von Bediensteten, die allerlei Kram und Vögel und Menschlichkeit mit sich schleppen – und sogar, wie es scheint, den Nebel hinter sich herziehen in den Ort:
Sogar den Nebel ziehen sie hinter sich her! Lord Kagas Männer.
Hasenzahn war erstaunt, wie schnell die Worte aus dem Mund des Meisters herausströmten, und das nach einer Woche des Schweigens, in der sie Schnecken beobachtet und Frösche angestarrt hatten und zugeschaut, wie Gallonen von Tautropfen ins Nichts verdampften. Es brauchte wohl viel Schweigen, damit die passenden Worte aufsteigen konnten.
Dieses Phänomen des langen Schweigens, das durch einen Ausbruch unerwarteter Worte beendet wird, kenne ich gut. Bevor ich diesen Text anfing, hatte ich jahrelang geschwiegen, was das Schreiben von Büchern betraf. Mein letztes Werk Garn der Höhlenmann hatte ich im Gymnasium geschrieben. Dabei handelte es sich um eine Sammlung der Abenteuer von Garn, einem außergewöhnlichen Höhlenmann. Jedes Kapitel beschrieb detailliert eine spannende Episode in Garns prähistorischem Überlebenskampf: »Garn kämpft mit dem Tyrannosaurus«, »Garn kämpft mit der Riesentarantel« und so weiter. Nach der Hälfte des Buchs findet Garn die Liebe seines Lebens: seine zukünftige Höhlenfrau, Lula. Er rettet sie vor allen Arten verrückter Dinosaurier und sie ziehen in die kühle Dunkelheit einer großen Höhle voller tropfender Stalaktiten. Meine eigene beginnende Pubertät mit diesen vielen warmen Hormonen, die durch meine Adern rauschten, hatte gewiss Einfluss auf den Inhalt des Werkes. Wenn Garn, mein Held, seine Lula, wie jeden Tag, vor Pythons und Pterodactylons errettet hatte, umarmte sich das wieder vereinte Paar am Ende stets dramatisch. Und die beiden verschwanden in der Höhle.
Das Erwachsenwerden beendete meine Karriere als Romanschreiber. In diesen schmerzhaften, gequälten Jahren widmete ich mich, wie Lord Kaga, als er auf dem höchsten Ausguck der Burg Matsumoto schluchzte, ausschließlich tränenfeuchten Liebesgedichten. Aber jetzt fließen die Worte auf die Seite, fast zu schnell für meinen kratzigen blauen Füller, um sie einzufangen. Es schreibt sich von selbst, als sei ich ein Stenograf in Trance, der das Schnellfeuerdiktat eines unsichtbaren Buddhas aufzeichnet.
Wie mühelos, leicht und schwebend ist mein Schreiben geworden! Jedoch angesteckt durch die Fantasie von Hasenzahn, habe ich Angst bekommen, dass all die Tinte auf diesem wachsenden Papierberg, der sich über dem Tisch erhebt, in die Luft aufsteigen und in meiner Küche wie verrückte blaue Spaghetti umherfliegen könnte, so lange, bis ein starker Luftzug die ganze wirbelnde Masse aus dem offenen Fenster saugt und sie dann als blaues Gequatsche im blauen Himmel verschwindet.
Es könnte geschehen.
Der Dorfvorsteher führte Lord Kaga über den schlammigen, steilen Pfad nach oben. Er fragte sich, ob er immer noch zu Hause auf seinem Futon lag, ob er heute Morgen noch gar nicht aufgewacht war, ob diese bizarre Szene, in der er sich wiederfand, vielleicht nur Teil eines Traums war. Er hatte einen Test, den er gerne im Traum gebrauchte, um festzustellen, ob er träumte: Brustschwimmen in der Luft. Jedoch für den Fall, dass dies hier kein Traum war, beherrschte er sich nun und wandte den Test lieber nicht an. Das stellte sich als vernünftige Entscheidung heraus, denn Lord Kaga war tatsächlich unerwartet an diesem Nachmittag ins Dorf gekommen. Sein erster und einziger Befehl war seltsam gewesen aber hatte wirklich gelautet: »Bring mich zu dem Dichter Tasse Tee!«
Und so unterdrückte der Dorfvorsteher seinen Wunsch, in den Wolken zu schwimmen, stattdessen klopfte er an die rußgeschwärzte Tür auf der linken Seite des Hauses. Daraufhin öffnete sich die andere, frisch gestrichene Vordertür auf der rechten Seite. Sie schwang auf und das säuerliche, runzlige Gesicht von Satsu, Tasse Tees alter Stiefmutter, tauchte auf. Sie erbleichte beim Anblick des mächtigen Kaga.