Schule des Südens - Onur Erdur - E-Book

Schule des Südens E-Book

Onur Erdur

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Beschreibung

In seiner Ideengeschichte in acht Porträts erschließt Onur Erdur eine neue Geografie des französischen Denkens, das die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts prägte: Die Theorien von Intellektuellen wie Michel Foucault, Jean-François Lyotard und Hélène Cixous wurden maßgeblich in Nordafrika oder in der Auseinandersetzung mit den französischen Kolonien geformt. Erdurs Spurensuche führt ihn nach Algier, wo der junge Soldat Pierre Bourdieu mitten im Algerienkrieg seinen Wehrdienst ableistet; ins Küstendörfchen Sidi Bou Saïd nördlich von Tunis, wo Michel Foucault zwischen Sonnenbaden, Strandspaziergängen und ritualisierter Körperkultur zu einer Haltung des philosophischen Hedonismus gelangt; oder nach Casablanca, wo sich Roland Barthes in einer Art Erleuchtung zu einem Romancier fantasiert – und zu Jacques Derrida, Hélène Cixous oder Jacques Rancière, die ihre algerische Herkunft philosophisch reflektieren. Onur Erdurs kenntnisreiche Perspektive taucht die französisch geprägte Postmoderne ins Licht der Sonne Nordafrikas. Ein halbes Jahrhundert nach der Veröffentlichung der Hauptwerke des Poststrukturalismus blickt Schule des Südens unter das Pflaster der französischen Akademie – darunter glänzt der Strand von Tunis.

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Onur Erdur

SCHULE DES SÜDENS

Die kolonialen Wurzeln der französischen Theorie

»Sich selbst fremd werden, seiner Sprache und seiner Nation: ist das nicht das Eigentümliche des Philosophen und der Philosophie, ihr ›Stil‹, das, was man philosophisches Kauderwelsch nennt?«

Gilles Deleuze, Félix Guattari, Was ist Philosophie?

»Von den Dingen anders berichten heißt, andere Dinge zu berichten.«

Pierre Bourdieu, Algerische Skizzen

Inhalt

Einleitung: Im Süden der Theorie

1. Ein algerischer Bildungsroman

Pierre Bourdieu

2. Hoffnungslose Widersprüchlichkeit

Jean-François Lyotard

3. Marokkanische Erleuchtung

Roland Barthes

4. Genießen und schweigen

Michel Foucault

5. Unbehagen an der Identität

Jacques Derrida

6. Höllisches Paradies

Hélène Cixous

7. Lektionen in Antirassismus

Étienne Balibar

8. Desidentifiziert Euch!

Jacques Rancière

9. Wer hat Angst vor der Theorie?

Schluss: Die Fremden

Dank

Anhang

Anmerkungen

Literatur- und Filmverzeichnis

Abbildungsnachweis

Einleitung: Im Süden der Theorie

Algier, 1955: Er hätte seinen Militärdienst einfach irgendwo in der französischen Provinz absitzen können. Stattdessen begibt sich der junge Philosoph Pierre Bourdieu auf ein Schiff, das ihn nach Algerien bringt. Was er in dem Kriegsland sieht, erschüttert ihn: eine von den Franzosen in Lager gesperrte, entwurzelte algerische Gesellschaft. Seine eigene Situation und Präsenz vor Ort empfindet er als ein moralisches Problem, als »Ursünde des Intellektuellen aus dem Lande der Kolonialherren«.1 Er beschließt, nach dem Wehrdienst im Land zu bleiben, will inmitten des Algerienkriegs etwas Nützliches tun und beginnt mit soziologischen Forschungen, um Zeugnis von der ihn umgebenden Ungerechtigkeit abzulegen. Die algerischen Erfahrungen werden Bourdieus gesamtes wissenschaftliches Werk prägen. In Algerien keimt seine berühmte Theorie des Habitus auf.

Paris, 1957: Im Gegensatz zu den meisten Linksintellektuellen seiner Generation, die den algerischen Unabhängigkeitskampf unterstützen, entzieht sich der in Algerien geborene Albert Camus mittlerweile der deutlichen Parteinahme. Sein vermittelndes Eintreten für ein friedliches Zusammenleben von Franzosen und Algeriern wurde zuvor als liberal verunglimpft. Eingespannt zwischen dem Kolonialismus der Rechten, dem Antikolonialismus der Linken und dem Terror des FLN, entscheidet er sich bewusst fürs Schweigen. In Schweden, zwei Tage nach der Verleihung des Literaturnobelpreises, wird Camus bei einem Treffen mit Studierenden wegen dieses Schweigens zur Rede gestellt. Im Eifer des Gefechts antwortet er: »Ich habe den Terror immer verurteilt. Ich muß auch einen Terrorismus verurteilen, der, beispielsweise in den Straßen Algiers, blind wütet und eines Tages auch meine Mutter oder meine Familie treffen kann. Ich glaube an die Gerechtigkeit, aber bevor ich die Gerechtigkeit verteidige, werde ich meine Mutter verteidigen.«2 Man wird Camus, dem Moralisten, diese Sätze lange nicht verzeihen.

Tunis, 1968: Seit zwei Jahren lebt Michel Foucault nun schon in dem malerischen Küstendörfchen Sidi Bou Saïd. Es ist ein magischer Ort für ihn. Auf einem seiner Strandspaziergänge kommt ihm die lang ersehnte Definition des Diskursbegriffs, später auch die Idee von »den anderen Räumen«. Tunesien scheint generell eine inspirierende Kulisse zu sein: Bei einem seiner früheren Aufenthalte kam Foucault am Strand von Djerba (im Club Méditerranée) auf den berühmten Satz aus Die Ordnung der Dinge, »daß der Mensch verschwindet wie am Meeresufer ein Gesicht im Sand«.3 Foucault lehrt Philosophie an der Universität von Tunis, ist aber vor allem mit sich selbst beschäftigt. Er nimmt sich vor, jeden Tag etwas sportlicher und sonnengebräunter zu werden. Gegenüber der Presse de Tunisie sagt er: »Ich bin wegen des mythischen Bildes gekommen, das alle Europäer sich gerade von Tunesien machen: Sonne, Meer, die große Trockenheit Afrikas.«4 Zu den neokolonialen Lebensbedingungen in dem seit rund zehn Jahren unabhängigen Land und überhaupt zur blutigen französischen Kolonialherrschaft in Nordafrika wird sich Foucault zeit seines Lebens nicht ein einziges Mal äußern.

Die drei Szenen könnten unterschiedlicher nicht sein. Sie handeln von drei Intellektuellen, die an drei verschiedenen Orten und in drei unterschiedlichen Lebenslagen je eigene Erfahrungen sammelten und Entscheidungen trafen. Bei all den Unterschieden sind den Szenen aber bestimmte Dinge gemeinsam, denen im Folgenden mein Interesse gilt. Im Mittelpunkt steht die persönliche Konfrontation französischer Intellektueller mit kolonialen Räumen und Situationen. Was für Bourdieu, Camus und Foucault gilt, gilt auch für viele weitere führende französische Philosophen und Intellektuelle der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts: Sie weisen alle einen »kolonialen Hintergrund« auf. Viele unter ihnen stammen direkt aus französischen Kolonien: So sind neben Camus beispielsweise Louis Althusser, Hélène Cixous, Jacques Derrida und Jacques Rancière in Algerien geboren, während Marguerite Duras in Französisch-Indochina zur Welt kam und Alain Badiou in Marokko. Andere wiederum hielten sich im Laufe ihres Lebens längere Zeit und aus unterschiedlichsten Gründen in den Kolonien oder deren Nachfolgestaaten auf – darunter etwa Roland Barthes in Marokko, Bruno Latour in der Elfenbeinküste sowie Étienne Balibar, Simone de Beauvoir oder Jean-François Lyotard in Algerien. Man könnte dieser Liste mühelos weitere prominente Namen und Orte hinzufügen. Der Grundtenor bliebe derselbe: Der Kolonialismus war für sie alle eine unbestreitbare biographische Realität. Die Frage ist nur, warum dieses doch sehr erstaunliche koloniale Setting des französischen Denkens so lange unbeachtet blieb.

Dieses Buch ist eine Erkundungsreise in den Süden der französischen Theorie. Fast alle Protagonisten verbanden mit ihren Aufenthalten in den Kolonien und Postkolonien befreiende wie auch traumatische Schlüsselereignisse, die ihre persönlichen Lebenswege, ihre politischen Einstellungen und ihre theoretischen Werke maßgeblich bestimmten. Um das Ausmaß dieser Prägungen zu ermessen, gilt es, ihnen zu den konkreten Schauplätzen der Geschichte zu folgen – in die koloniale Zeit, in den Algerienkrieg, in die ehemaligen Protektorate Marokko und Tunesien, ins unabhängige Algerien, aber auch immer wieder zurück nach Paris, in die Metropole des Empires und der Intellektuellen.5 Es bedarf einer Spurensuche: Wie kamen die Intellektuellen in diese kolonialen Situationen? Was trieb sie an? Wie verhielten sie sich dort? Und vor allem: Wie schlugen sich die räumlichen Erfahrungen des Kolonialen in ihren wissenschaftlichen Werken und theoretischen Konzeptionen nieder? Mich interessiert die Frage nach dem Konnex von Erfahrung und Theorie: Wie lässt sich das menschlich Erfahrene so nah an das Geistig-Theoretische heranrücken, dass man das eine in das andere hinübergleiten sieht? Wie entsteht Theorie? Wie keine andere Strömung des 20. Jahrhunderts bildete gerade die französische Theorie einen Denkstil aus, der gegen die Identität und für die Differenz, gegen das Zentrum und für die Peripherie, gegen das Hegemoniale und fürs Minoritäre eintrat. Dieses Buch verfolgt, wie dieser Denkstil nicht etwa in Pariser Bibliotheken, sondern am Strand von Tunis und in den Straßen Algiers entstanden ist.

Darüber hinaus geht es mir um die in den drei Szenen aufblitzenden Fragen der Moral und der Gerechtigkeit, um die Verantwortung von Intellektuellen in Zeiten des Kolonialismus. Wir haben es mit klassischen Versuchsanordnungen intellektueller Selbstprofilierung und moralischer Prüfung zu tun. Spätestens seit Émile Zola sind Intellektuelle stets Exponenten von Moral, auch in ruhigen Zeiten. Was geschieht aber mit ihren öffentlichen Überzeugungen, wenn sie mit der kolonialen Wirklichkeit konfrontiert werden? Ganz gleich, ob die Intellektuellen die Begegnungen suchten oder nicht, ob sie sich in den Kolonien oder in der Metropole aufhielten, ob sie sofort oder erst dreißig Jahre später Stellung bezogen, ob sie der Generation »Sartre« oder der Generation »Foucault« angehörten – sie alle waren auf die eine oder andere Art mit der moralischen Frage konfrontiert, wie sie sich zum politischen und kulturellen Unrecht des Kolonialismus verhalten sollten, wo sie doch zugleich Repräsentanten des französischen Staats, des Militärs, des Bildungssystems oder der europäischen Kolonialbevölkerung waren. Dieses Motiv des kolonialen Dilemmas zieht sich wie ein roter Faden durch die Auseinandersetzungen der Intellektuellen. Manche schritten zur Tat, manche rangen mit sich, andere schwiegen lieber, aber sie alle versuchten, eine Haltung zu finden. Wenn man so will, dann sind ihre je spezifischen Umgangsweisen mit der kolonialen Frage nichts anderes als Variationen auf dieses eine Leitmotiv von Schuld und Sühne. Wie sie im Einzelnen damit umgingen und was daraus folgte – auch darum geht es in diesem Buch. Man könnte von einer Tugendlehre des Geistes im Angesicht des kolonialen Unrechts sprechen.

Um die Grundannahmen und Thesen dieses Buches klar zu benennen: Ich bin der Überzeugung, dass die Entstehung von Theorien (und generell das Abenteuer des Denkens) untrennbar verbunden ist mit der erlebten Erfahrung ihrer Urheberinnen und Urheber. Damit will ich nicht sagen, dass Theorie und Denken auf biographische Lebensgeschichten reduzierbar seien oder dass Denkerinnen und Denker mechanisch durch soziale und politische Umstände determiniert wären. Aber klar ist auch: Theorie entsteht nicht in einem abstrakten und luftleeren Raum, sondern immer in lokalen, historischen und individuell erfassten sozialen Kontexten. Als Zeugen und Akteure ihrer Zeit erfassen und gestalten Intellektuelle die sie umgebende Welt, aber genauso stark sind sie in die Geschichte ihrer Gesellschaften involviert und werden dabei von dieser durchdrungen. Das Besondere an ihnen (das, was sie in meinen Augen zu interessanten Objekten macht) hat weniger mit der vermeintlichen Einzigartigkeit ihrer Lebensgeschichten und Erfahrungen zu tun, sondern mehr mit der Art und Weise, wie sie diese erlebten Erfahrungen aufgreifen, wie sie ihre Vergangenheit und ihre soziale Umwelt interpretieren und wie sie diese Interpretationen schließlich in ihre theoretischen und politischen Projekte einbauen.6

Für die französischen Intellektuellen der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts bestand ein nicht unbeträchtlicher Teil ihrer historischen Lebensrealität in der Erfahrung der Dekolonisierung. Allgemein versteht man unter Dekolonisierung die globalen Entkopplungen und formalen Unabhängigkeiten europäischer Kolonien seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Für Frankreich war die Dekolonisierung gar der längste Konflikt im 20. Jahrhundert: ein zäher und blutiger historischer Prozess, in dessen Verlauf das Land einen Großteil seiner Kolonien (vier Fünftel der Territorien) verlor, sich in zermürbende und letztlich erfolglose Kriege (Indochina, Algerien) verwickelte und in eine tiefe Staatskrise geriet, die 1958 das Ende der Vierten Republik besiegelte und noch bis zur algerischen Unabhängigkeit im Jahr 1962 bürgerkriegsähnliche Zustände mit sich brachte.7 Mit dem Niedergang des Kolonialreichs zerbrach auch das jahrhundertealte universalistische Kulturmodell von der »Zivilisierungsmission«: die im französischen Republikanismus seit der Französischen Revolution sehr mächtige politische Idee, dass Frankreich beauftragt sei, die unterworfenen indigenen Bevölkerungen zu erziehen und zu zivilisieren, indem es westliche Institutionen, Werte und Kultur in die weite Welt exportiert und so den Fortschritt der Menschheit voranbringt – eine Ideologie, die bis 1962 auch von weiten Teilen der politischen und intellektuellen Linken mitgeprägt und unterstützt worden ist.8

Die Anfänge der französischen Theorie fallen genau in diese Epoche der Dekolonisierung. Ihre Blüte erfährt sie unmittelbar in der Zeit nach dem Ende des Algerienkriegs. In der Philosophie – etwa bei Foucault, Derrida, Deleuze und Lyotard – war dies ein Moment, bei dem die Gewissheiten einer traditionellen (manche würden sagen: westlichen) Vernunft ins Wanken gerieten und ihre inneren Widersprüche (manche würden sagen: Differenzen) offen zu Tage traten. Sie hinterfragten traditionelle Vorstellungen von Identität, Macht, Wissen und Sprache ebenso, wie sie die kulturellen Hegemonieansprüche der Grande Nation zurückwiesen. Der Gestus dieses kritischen Denkens war stets antihegemonial, sei es in Gestalt eines Poststrukturalismus, der alteingesessene Selbstverständlichkeiten wie die Idee der stabilen Sinnhaftigkeit der Welt attackierte und dafür die Vielschichtigkeit, Kontingenz und Subversion von Sinn betonte, sei es in Gestalt einer Postmoderne, die den Niedergang der großen Erzählungen, der politischen Fortschrittsideologien und der allgemein verbindlichen Werte diagnostizierte und die Moderne verabschieden wollte.

Ich behaupte, dass einige dieser theoretischen Innovationen mit dem Versuch zusammenhingen, den Zusammenbruch einer bestimmten politischen und kulturellen Ordnung in der französischen Gesellschaft zu reflektieren und zu begreifen. Um diesen Zusammenhang zu beleuchten und historisch zu überprüfen, ist es notwendig, einen Blick zurück zu den Anfängen der französischen Theorie zu werfen – dorthin, wo sich in den 1950er- und 1960er-Jahren, also mitten im Algerienkrieg und in der Phase der Dekolonisierung, biographische Schicksale, politisches Bewusstsein und theoretische Fragestellungen wechselseitig formierten. In diesem kollektiven Erfahrungsraum bildete sich eine koloniale Formatierung des Denkens heraus, die theorie- und generationenübergreifend wirksam war. Sie prägte Poststrukturalisten und Postmodernisten ebenso wie Dekonstruktivisten und Marxisten bis tief in die Begriffs- und Theoriebildung. In seiner schlichtesten Fassung lautet mein Argument, dass zentrale Schlagwörter und Werke der französischen Theorie ohne die kolonialen Grenz- und Differenzerfahrungen ihrer Protagonisten nicht zu verstehen sind.

Die Kapitel dieses Buches wollen diese These jeweils untermauern: Die kolonialen Wurzeln der französischen Theorie werden entlang von Einzelessays erschlossen, in denen jeweils eine Person, ein Ort und ein theoretisches Kristallisationsmoment der kolonialen Situation im Mittelpunkt stehen. Dabei habe ich diejenigen Akteure ausgewählt und in der Darstellung hervorgehoben, die paradigmatisch für eine bestimmte intellektuelle Haltung stehen und dabei ein spezifisches Themenfeld emblematisch abdecken. Der geographische Schwerpunkt liegt aufgrund der historischen Umstände und der biographischen Bezüge (mit einigen Ausnahmen) auf Algerien. Die Kapitel bieten nicht nur Porträts von Intellektuellen in kolonialen Kontexten, sondern durch die Kontextualisierung auch Einblicke in die Geschichte der französischen Kolonialherrschaft. Dass die Kapitel für sich stehen und unabhängig voneinander gelesen werden können, hat ihren Hauptgrund in der Überzeugung, dass die Unterschiede zwischen den kolonialen und postkolonialen Settings, zwischen den einzelnen Theorien, zwischen den Orten sowie zwischen den Zeiten viel zu groß sind, um in einer homogenisierenden Erzählung aufgehen zu können. Ich denke, es macht einen Unterschied, wenn die einen mit einer kolonialen, die anderen mit einer gerade so eben postkolonialen Situation konfrontiert sind – oder wenn das algerische Setting für die jüdisch-deutsche Emigrantentochter Hélène Cixous ein völlig anderes ist als für, sagen wir, Jacques Rancière, der als Kind von Algerienfranzosen (pieds-noirs) zwar in Algier geboren wird, aber in Paris aufwächst. Die Lebensläufe und Theorien der Protagonisten besitzen ihre eigene Gestalt und ihren eigenen Schwung – dies gilt es zu würdigen.

Gleichwohl gibt es in diesem weiten Feld der intellektuellen Lebenswege auch Gemeinsamkeiten und Ähnlichkeiten, die ich nicht verschweigen will, weil sie eine lockere Orientierung beim Lesen bieten können. Die Kapitel lassen sich in vier Paare mit besonderen Merkmalen und Schwerpunkten gliedern: In den beiden ersten Kapiteln stehen mit Pierre Bourdieu (1930–2002) und Jean-François Lyotard (1924–1998) zwei Figuren im Vordergrund, die sich beide bereits in den 1950er-Jahren in Algerien aufhielten. Sie machten dort zu einem frühen Zeitpunkt ihres Lebens Erfahrungen, die ihre spätere Karriere, ihre politischen Einstellungen und ihre Theorien unmittelbar bestimmten. In Kapitel drei und vier folgen wir Roland Barthes (1915–1980) und Michel Foucault (1926–1984) nach Marokko beziehungsweise Tunesien. Die ehemaligen französischen Protektorate boten für die beiden engen Freunde einen Schauplatz für hedonistische Lebensentwürfe, erotische Abenteuer und neue kreative Ideen. Die Kapitel fünf und sechs widmen sich Jacques Derrida (1930–2004) und Hélène Cixous (1937–), den in Algerien geborenen Stars der Dekonstruktion mit jüdischen Wurzeln. Beide verbanden mit ihrem Aufwachsen im kolonialen Algerien zwiespältige bis traumatische Erfahrungen, die sich in ihre Identität, aber auch in ihre Art des Philosophierens und Schreibens einbrannten. Die Kapitel sieben und acht widmen sich mit Étienne Balibar (1942–) und Jacques Rancière (1940–) zwei jüngeren Vertretern der französischen Theorie. Beide fanden als Pariser Studenten im Protest gegen den Algerienkrieg ihr politisches Erwachen (Balibar brach danach ins unabhängige Algerien auf). Ihre jeweiligen politischen Philosophien nahmen zwar erst deutlich später Gestalt an, speisten sich aber beide aus den Vorkommnissen im und nach dem Algerienkrieg.

Diese acht Hauptprotagonisten – sieben Männer und eine Frau – zählen zu den führenden Köpfen der französischen Theorie. Auch wenn sie teilweise sehr unterschiedliche und konfligierende Denkansätze (Strukturalismus, Poststrukturalismus, Dekonstruktion, Postmoderne) verfolgten und in unterschiedlichen Disziplinen (Soziologie, Philosophie, Geschichte, Literaturwissenschaft) tätig waren, so teilten sie alle eine Grundausbildung in Philosophie und einen leidenschaftlichen Hang zum theoretischen Denken. Ihre Unnachgiebigkeit in theoretischen Fragen und ihre Zugehörigkeit zur Generation der French Theory machen sie zu bevorzugten Objekten der Untersuchung. Durch den Fokus auf diese Theorie-Generation ergibt sich in anderer Hinsicht aber auch eine Eingrenzung: Andere Denkerinnen und Denker wie Jean-Paul Sartre, Simone de Beauvoir, Albert Camus, Frantz Fanon, Germaine Tillion oder Raymond Aron kommen zwar auch zu Wort oder tauchen ab und zu auf, aber ihnen ist kein eigenes Kapitel gewidmet.

Die Blütezeit der französischen Theorie scheint heute vorbei zu sein. Nachdem sie in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts in Gestalt von Strukturalismus, Poststrukturalismus, Dekonstruktion und Postmoderne Weltgeltung beanspruchen durfte, fällt sie heute immer mehr in Ungnade. Eine Hauptkritik, vornehmlich aus postkolonialer Richtung, lautet, dass sie das ursprünglich von ihr selbst aufgeworfene Problem des Eurozentrismus nie wirklich überwunden habe und dass dabei Fragen des Kolonialismus kaum bis gar keine Rolle gespielt hätten. Die französischen Philosophen hätten zwar theoretisch von Identität, Differenz und Alterität gesprochen, aber das reale Unrecht schlichtweg übersehen oder die antirassistischen Bewegungen bequem ignoriert.9 In dieser Kritik ist ein Stück weit der Vorwurf von den weißen, ignoranten Kolonialfranzosen enthalten. Das mag teilweise zutreffen, teilweise aber auch überhaupt nicht. Ich teile viele dieser Positionen nicht, weil sie zu simplifizierend sind und einer historischen Prüfung nicht standhalten, werde sie aber an ausgewählten Stellen – dort, wo die Kritik aufkommt und auf die jeweilige Person gerichtet ist – diskutieren.

Eine ganz andere Form der Kritik erlebt die französische Theorie hingegen in den Feuilletons und den politischen Debatten der Gegenwart. Dort wird seit geraumer Zeit von rechts wie von links der Vorwurf erhoben, dass sie ideologisch verantwortlich sei für gegenwärtige Phänomene wie »Cancel Culture«, »Wokeness« oder »Identitätspolitik«. Die Hauptvertreter der French Theory wie Derrida oder Foucault seien am Dogmatismus der Identitätspolitik schuld, weil sie Ideen und Konzepte lanciert hätten, die im weiteren Verlauf von »woken« Aktivistinnen und Aktivisten aus dem Umfeld von Postkolonialismus, Gender Studies, Queer Theory und kritischer Rassismusforschung für die Durchsetzung von Sprech- und Denkverboten benutzt würden.10 Diese Kritik ist in meinen Augen abwegig und verzerrend, aber politisch sehr wirkmächtig. Ihr widmet sich ein gesondertes Kapitel am Ende des Buches.

Noch eine letzte Bemerkung zur Aktualität: In den Kapiteln dieses Buches werden in einem allgemeinen Maßstab Themen verhandelt, die uns auch heute (wieder) beschäftigen: Fragen der nationalen, kulturellen und sprachlichen Identität (und ihrer Aneignung) ebenso wie Fragen des Kolonialismus, des Rassismus, des Exotismus und des Sexismus. Insofern bieten sie in positiver wie in kritischer Hinsicht ein historisches Anschauungsmaterial, aber auch ein Orientierungswissen für heutige Problemkonstellationen, so etwa, wenn man sich bewusst macht, dass einige der Strukturen und Ereignisse, die während der Kolonialzeit oder im Algerienkrieg auftraten, längst nicht abgegolten sind, sondern jahrzehntelang in einer Art kolonialer Amnesie verdrängt wurden und weiterhin große Bereiche der französischen Gesellschaft und Politik prägen – vom Kolonialrevisionismus der extremen Rechten über die Ignoranz gegenüber den Missständen in den Banlieues bis hin zur Polizeigewalt gegenüber den Nachfahren von Einwanderern aus den Kolonien.11

Doch Aktualität wird nicht bloß durch das Aufdecken von Genealogien und Latenzen gewonnen. Gerade die oben erwähnte Tugendlehre des Geistes hält für den Dialog mit der Gegenwart die wohl entscheidendere Frage bereit: Was lässt sich im Guten wie im Schlechten aus den kolonialen Erfahrungen der französischen Intellektuellen lernen? Sie reisten und schrieben sehr viel, untersuchten unablässig ihre eigene Rolle als Intellektuelle in der kolonialen Gesellschaft, dachten über die korrumpierende Wirkung des Kolonialismus nach, über den Zerfall der Werte, den Verlust politischer Legimitation und die Grenzen des Eurozentrismus. Auch wenn manche dies stärker als andere taten, so ist in der Dynamik ihrer Auseinandersetzungen mit dem Kolonialen bei allen ein moralischer Anspruch wahrnehmbar: nicht blind zu sein gegenüber bestehendem Unrecht, gegenüber dem Leid und den Opfern, die der Kolonialismus gekostet hat, und zugleich einen nüchternen Kurs zu finden, auf dem diese historische Erfahrung in theoretische und politische Bahnen gelenkt wird. Ich denke nicht, dass sie dadurch gleich automatisch Vorbilder für die Gegenwart darstellen und einen moralischen Kompass bieten können – dafür sind manche ihrer Reaktionen, blinden Flecke, Verstrickungen und Männerphantasien zu problematisch, und ich werde auf den nächsten Seiten (dort, wo es mir notwendig erscheint) auch nicht mit Kritik sparen. Nichtsdestotrotz vertrete ich den Standpunkt, dass die französischen Intellektuellen in ihren Auseinandersetzungen mit dem Kolonialismus zu theoretischen Erkenntnissen und politischen Positionen kamen, die es wert sind, dokumentiert und erzählt zu werden. Sie vermitteln uns heute ein Verständnis dessen, was es heißt, in Zeiten des kolonialen Unrechts zu philosophieren.

PIERRE BOURⴷIEU

1.

Ein algerischer Bildungsroman Pierre Bourdieu

Es gibt im Leben junger Menschen jene besonderen, nicht enden wollenden Sommer, die einen für ein ganzes Leben prägen und begleiten. Einen dieser Sommer, den des Jahres 1958, hält die französische Schriftstellerin und Nobelpreisträgerin Annie Ernaux in ihrem Buch Erinnerung eines Mädchens fest: »Es war ein Sommer ohne meteorologische Besonderheiten, der Sommer von Charles de Gaulles Rückkehr, des neuen Francs und der neuen Republik, Pelé wurde Weltmeister, Charly Gaul gewann die Tour de France und Dalida sang Mon histoire, c’est l’histoire d’un amour.«1 Ernaux erzählt von ihrem Aufenthalt in einer Ferienkolonie und von dem Mädchen, das sie damals gewesen ist. Von ihrer ersten sexuellen Begegnung, von Freiheit und Lust, von Ohnmacht und Scham, und im gleichen Atemzug von ihrer Wahrnehmung des politischen Geschehens. In ihre Erinnerungen an das Jahr 1958 flicht sie auch den Algerienkrieg ein: »Im Sommer wurden auch Tausende von Rekruten nach Algerien geschickt, um die staatliche Ordnung wiederherzustellen, oft waren sie zum ersten Mal von zu Hause weg. Sie schrieben Dutzende Briefe, in denen sie von der Hitze erzählten, dem Djebel, den Douars und dem Analphabetismus der Araber, die nach hundert Jahren Besatzung immer noch kein Französisch sprachen. Sie schickten Fotos von sich in kurzen Hosen, lachend, mit Freunden, in einer trockenen, felsigen Landschaft. Sie sahen aus wie Pfadfinder auf Expedition, man hätte meinen können, sie wären im Urlaub.«2

Für viele französische Soldaten mochte sich der Aufenthalt in Algerien tatsächlich wie ein exotischer Urlaub in kurzen Hosen angefühlt haben. So bezeichnete etwa der ehemalige französische Staatspräsident Jacques Chirac seine Jahre als Unterleutnant in Algerien als »die aufregendste Zeit in meinem Leben«.3 Aufregend war diese Zeit bestimmt, aber Chirac umschiffte mit dieser Aussage aus dem Jahr 1978 im großen Stil die Umstände seines Aufenthalts. In Algerien fand von 1954 bis 1962 nämlich einer der blutigsten Dekolonisationskriege des 20. Jahrhunderts statt. Schätzungen zufolge starben dabei mehr als eine Million Menschen. Für Frankreich war das nordafrikanische Land mehr als eine Kolonie. Algerien war mit seinen rund eine Million europäischen Siedlern die Fortsetzung der Republik auf der anderen Seite des Mittelmeers. »L’Algérie, c’est la France«, lautete das Motto des damaligen Innenministers François Mitterrand. Die algerische Unabhängigkeitsbewegung, angeführt vom Front de libération nationale (FLN), sollte daher mit allen Mitteln unterdrückt werden: Zwangsumsiedlungen, Folterungen, Vergewaltigungen und Massenexekutionen waren an der Tagesordnung. Von den Terroranschlägen des FLN und den Gewaltexzessen der französischen Armee bekam man in Frankreich indessen nur wenig mit. Das lag auch an der euphemistischen Sprachregelung des Staates, den Einsatz der Armee als »Maßnahme zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung« zu bezeichnen. So blieb der bewaffnete Konflikt auch viele Jahre nach seinem Ende als ein »Krieg ohne Namen« in Erinnerung. Dabei leisteten zwischen 1954 und 1962 insgesamt mehr als zwei Millionen junge Franzosen ihren Wehrdienst in Algerien. Eine halbe Million Soldaten wurde mobilisiert, Zehntausende von ihnen starben im Kampf.4

Auch der junge Pierre Bourdieu gehörte zu den Wehrdienstleistenden mit Algerienerfahrung. Als er 1955 einberufen wurde, war er 25 Jahre alt und hatte sein Philosophiestudium gerade erst beendet. Der Einsatz in Algerien hinterließ bei ihm tiefe Spuren. Was Bourdieu in dem Kriegsland sah, erschütterte ihn so sehr, dass er nach seinem Militärdienst beschloss, im Land zu bleiben. Er wollte verstehen, was hier vor sich ging; herausfinden, welche Auswirkungen Kolonialismus und Krieg auf die algerische Gesellschaft hatten; erproben, was es hieß, sich politisch zu engagieren und sich nützlich zu machen. Sicherlich suchte Bourdieu hier auch Wege, sich auf die eine oder andere Weise zu entfalten. Am Ende des insgesamt fünfjährigen Aufenthalts war aus dem Philosophen ein Soziologe geworden, der Ideen und Material für ein ganzes Forscherleben im Gepäck hatte – und ein politischer Intellektueller, der es sich fortan zur Aufgabe machte, das erworbene soziologische Wissen über die Gesellschaft, in der er lebte, wieder zurück in die Gesellschaft zu tragen.

Als Bourdieu, inzwischen einer der weltweit bedeutendsten Soziologen, in einem der letzten Interviews vor seinem Tod 2002 gefragt wurde, welche Rolle der Algerienaufenthalt in seinem persönlichen und intellektuellen Lebensweg gespielt habe, antwortete er, dass Algerien es ihm ermöglicht habe, »mich selbst zu akzeptieren«.5 Das waren selbst für Bourdieu erstaunliche Worte. Bis dahin hatte er zwar nie einen Hehl aus seiner Zeit in Algerien gemacht und seine Affinität zum Land keineswegs verschwiegen, aber auch nie so klar das konkrete persönliche Ausmaß seiner algerischen Prägung offengelegt – das tat er erst in den letzten zwei Jahren seines Lebens, allen voran in dem posthum erschienenen Buch Ein soziologischer Selbstversuch.6 Was hatte es mit diesen Worten genau auf sich? Liegt hier womöglich ein Schlüssel zum Verständnis von Leben und Werk des Soziologen verborgen, ein Schlüssel, der letztlich auch erklären würde, wie die persönlichen Erfahrungen der Algerienkriegszeit mit der Entwicklung seiner Theorien zusammenhingen?

Der Soldat in der Bibliothek

Bourdieu hätte eigentlich einen großen Bogen um den Krieg machen können. Gelegenheiten dazu hatte es für ihn genug gegeben. Als frischer Absolvent der renommierten Pariser Elitehochschule École normale supérieure (ENS) hatte er das Privileg, die Reserveoffiziersschule zu besuchen. Der damals obligatorische und ganze zwei Jahre dauernde Wehrdienst wäre so vergleichsweise ruhig vonstattengegangen: Ein Einsatz in Algerien war für die ENS-Absolventen mit Aussicht auf klassische Hochschulkarrieren nämlich nicht zwingend. Bourdieu hätte sogar die Möglichkeit gehabt, in aller Ruhe seine bei dem Philosophen Georges Canguilhem begonnene Doktorarbeit über die »Zeitstrukturen der affektiven Erfahrung« fortzusetzen. Er lehnte den Besuch der Offiziersschule aber ab, weil er »den Gedanken nicht ertragen konnte, anders zu sein als die einfachen Soldaten«.7 Zusammen mit den anderen Offiziersanwärtern das privilegierte Leben des Akademikers auszukosten, während die einfachen Soldaten, oftmals Bauern- und Arbeitersöhne ohne höheren Bildungsabschluss, nach Algerien geschickt wurden – das passte dem selbst aus bescheidenen Verhältnissen stammenden Bourdieu nicht ins Konzept. Die ausgeprägte Sensibilität für die feinen sozialen Unterschiede – ein Kennzeichen seines späteren wissenschaftlichen Werks – war ihm von Beginn an eigen. Man kann den Jungen aus dem pyrenäischen Bauerndorf holen, aber nicht das pyrenäische Bauerndorf aus dem Jungen.

Es war aber natürlich nicht allein das »heimliche Schuldgefühl, den Müßiggang junger Bürgersöhne geteilt zu haben«, das Bourdieu nach Algerien trieb, sondern vor allem seine ablehnende Haltung gegenüber dem Kolonialkrieg.8 Anfangs, während der dreimonatigen Grundausbildung in Chartres, rief diese Ablehnung zwar den Unmut seiner Vorgesetzten hervor. Die disziplinarischen Maßnahmen blieben jedoch relativ harmlos: So musste Bourdieu jeden Morgen beim Aufruf seines Namens aus der Reihe treten, um vor versammelter Truppe den Express ausgehändigt zu bekommen, eine Zeitschrift, die damals für eine progressive Algerienpolitik stand und die Bourdieu etwas unbedarft abonniert hatte. Ernsthafte Konsequenzen erwuchsen ihm erst bei der nächsten Station, dem psychologischen Dienst des Heeres in Versailles. Dort kam es zu heftigen Auseinandersetzungen mit den hochrangigen Offizieren, die ihn allesamt zu einem französischen Algerien bekehren wollten. Doch Bourdieu war beratungsresistent. Mehr noch: Er bezweifelte die Legitimität der französischen Präsenz in Algerien, soweit dies einem Wehrdienstleistenden innerhalb des Militärs überhaupt möglich war. Es genügte aber, um zu einem Einsatz in Algerien verdonnert zu werden – eine bittere Ironie, wenn man bedenkt, dass hier ein Kriegsgegner in einen »Krieg ohne Namen« geschickt wurde.

Wusste Bourdieu, was ihm alles bevorstand, als er im Oktober 1955 das Militärschiff nach Algerien bestieg? Spätestens auf der Überfahrt musste ihm klar geworden sein, mit welcher Weltsicht er in Algerien konfrontiert werden würde und dass er mit seiner Haltung zumindest unter den Soldaten nicht viel erreichen würde. Er versuchte zwar noch, politisch Einfluss auf sie zu nehmen, indem er ihnen den Aufstand gegen die absurde »Befriedung« predigte und so die Augen öffnen wollte. Doch das ganze Reden war vergeblich. Die Kameraden waren alles andere als aufgeschlossen gegenüber seinen politischen Ansichten. Außerdem war ihnen suspekt, dass dieser Philosoph im Gegensatz zu anderen Akademikern an Bord keine Offiziersuniform trug. Lieber ließen sich die Rekruten von den älteren Kameraden Geschichten aus dem letzten (verlorenen) Krieg in Indochina erzählen und erklären, welche militärischen Fehler dieses Mal auf keinen Fall passieren dürften. Zur Einstimmung auf den Einsatz gehörte es auch, die gängigen, für den Feind bestimmten Schimpfwörter auszutauschen. Noch bevor sie auch nur einen Fuß auf algerischen Boden setzten, hatten die Rekruten bereits das ganze Alltagsvokabular des Rassismus übernommen.9

Bourdieus erster Einsatzort lag im hundertfünfzig Kilometer westlich von Algier gelegenen Chéliff-Tal, wo er beim Bodenpersonal einer Luftwaffeneinheit eingesetzt wurde. Sein Regiment musste hauptsächlich Flugstützpunkte und andere strategische Einrichtungen wie Sprengstofflager bewachen. Die niederen Aufgaben seines Dienstgrads und die nächtelangen Wachgänge waren so mühsam, dass Bourdieu sein selbst gewähltes Schicksal nur schwer ertragen konnte und um Versetzung bat. Nach sechs Monaten wurde er im Frühjahr 1956 in das Generalgouvernement nach Algier versetzt – dank des Wohlwollens von Colonel Docourneau, einem Oberst, der aus Bourdieus Heimatregion Béarn stammte. Bourdieus Eltern hatten ihn über Mitglieder seiner im Nachbardorf wohnenden Familie kontaktiert. Docourneau leitete im Generalgouvernement den Nachrichten- und Dokumentationsdienst, und Bourdieu durfte dort fortan die Pflichten einer Schreibkraft erfüllen: Briefe tippen und Berichte verfassen.

Dem Dienst an der Waffe zu entkommen, indem man sich in Algerien um zivile Jobs als Koch, Chauffeur, Lehrer oder Schreibkraft bemühte – das war unter den wehrdienstleistenden Intellektuellen in Bourdieus Generation ein häufig gewählter Ausweg. Jacques Derrida etwa konnte die Einberufung in sein Geburtsland zwar nicht verhindern, wählte aber mit der Anstellung als Lehrer in einer Provinzschule das kleinere Übel.10 Doch das Glück, nicht direkt an bewaffneten Kriegshandlungen beteiligt zu sein oder Verantwortung für Gewaltakte übernehmen zu müssen, ersparte diesen Intellektuellen weder das schlechte Gewissen noch die Schuldfrage. Obwohl sie größtenteils gegen den Krieg waren, dienten sie doch als Militärangehörige dem Kolonialregime. Bourdieu empfand diese Lage, in der die eigenen politischen Überzeugungen mit denen der Staats- und Armeedisziplin in Konflikt gerieten, als ein moralisches Dilemma, ja sogar als »die Ursünde des Intellektuellen aus dem Lande der Kolonialherren«.11

Solche Empfindungen kamen nicht von ungefähr, befand Bourdieu sich doch nach seiner Versetzung plötzlich im Zentrum der kolonialen Staatsmacht. Das Generalgouvernement war ein hochpolitischer Ort, eine Mischung aus ziviler Kolonialverwaltung und militärischem Hauptquartier. Der Gouverneur von Algier war oberster Repräsentant Frankreichs in Algerien, wurde per Erlass aus Paris ernannt und verfügte über ausgedehnte Vollmachten, vor allem, nachdem die Regierung unter der Führung des sozialistischen Premiers Guy Mollet im Dezember 1955 das Zusammentreten des algerischen Parlaments unterband. Mit der Ausrufung des Kriegsrechts bestimmte dann das französische Militär das Geschehen im Generalgouvernement, unter Billigung der damaligen Gouverneure Robert Lacoste und Jacques Soustelle. Letzterer war ein besonders interessanter Fall: Ursprünglich ein hochangesehener und für seine moderate Haltung bekannter Ethnologe, wurde Soustelle als Gouverneur im Laufe des Kriegs zu einem beinharten Kriegstreiber und offenen Sympathisanten der algerienfranzösischen Faschisten. Das Generalgouvernement war unter Soustelle aber auch ein Zentrum des geistigen Lebens in Algerien. Hier gingen Spitzenbeamte, Wissenschaftler und Intellektuelle ein und aus. Zudem verfügte es über eine der bestausgestatteten Bibliotheken des Landes, was viel über den Stellenwert von Wissen und Bildung für die Kolonialpolitik verrät.

Hier, in der Bibliothek des Generalgouvernements, fand Bourdieu seinen persönlichen Ausweg aus der verzwickten Lage, zumindest eine Möglichkeit, wie er sich trotz seiner Verstrickung in die »koloniale Situation« »nützlich machen« konnte.12 Die Arbeit im Nachrichten- und Dokumentationsdienst nahm ihn nicht sehr in Anspruch, sodass er die meiste Zeit seines restlichen Militärdienstes (von Frühjahr 1956 bis Herbst 1957) in der Bibliothek verbrachte. Er wollte die algerische Gesellschaft verstehen und las dafür vor allem ethnologische Literatur. Was er vorfand, war jedoch getränkt von kolonialen und rassistischen Klischees. Den Werken fehlte jede Grundlage für ein wirkliches Verständnis der Gesellschaft und ihrer Funktionsweisen. Diese Lücke wollte der ehrgeizige sechsundzwanzigjährige Philosoph ohne soziologische Ausbildung nun in einem staatsbürgerlichen »Akt der politischen Erziehung« schließen.13 Er hatte dabei vor allem die vielen Franzosen im Mutterland im Sinn, die – egal, ob sie links oder rechts, gegen oder für den Krieg waren – Algerien nur schlecht kannten, aber trotzdem nicht mit raschen Urteilen zögerten. Da auch vielen Algeriern, die durch das französische Schulsystem gegangen waren, eine profunde Kenntnis der gesellschaftlichen Strukturen ihres Landes fehlte, brauchte es in Bourdieus Augen ein kleines landeskundliches Buch, das die Geschichte und Gesellschaft Algeriens und vor allem die dort lebenden Menschen vorstellen sollte.

Sociologie de l’Algérie erschien im Jahr 1958, kurz nach dem Ende von Bourdieus Militärdienst – als Soldat war an eine Publikation nicht zu denken.14 Das Buch, Bourdieus erste Monographie, wurde von den Pariser Presses universitaires de France in die renommierte und eigentlich für bereits etablierte Wissenschaftler reservierte Enzyklopädie-Reihe Que sais-je? aufgenommen, die sich an ein größeres Publikum richtete. Entsprechend seiner Hauptmotivation, den Franzosen das Land und die Leute näherzubringen, ist das Buch wie ein Kaleidoskop der Gesellschaft aufgebaut: Von den sechs Kapiteln sind die ersten drei den traditionalen Gesellschaften (Kabylen, Chaouia, Mozabiten) gewidmet, eines befasst sich mit der arabisch sprechenden Bevölkerung, ein weiteres diskutiert die kulturellen und ökonomischen Gemeinsamkeiten dieser vier Gruppen, während das letzte Kapitel die französisch-europäische Kolonialgesellschaft behandelt.

Das Buch war eine Provokation. Allein die Komposition der einzelnen Bevölkerungsgruppen zu einer Soziologie Algeriens stellte einen Tabubruch dar. Wer bis dahin soziologisch von einer algerischen Gesellschaft sprach, meinte damit eigentlich immer die französischeuropäische Siedlerbevölkerung. Die traditionalen Gesellschaften und die arabische Bevölkerung wurden als »unterentwickelte« beziehungsweise »fremde« Gruppen systematisch vom modernen soziologischen Gesellschaftsverständnis ausgeschlossen. Sie waren, wenn überhaupt, im Sinne einer disziplinären Arbeitsteilung Gegenstand von ethnologischen bzw. orientalistischen Studien. Indem Bourdieu seine Landeskunde nonchalant eine Soziologie Algeriens nannte und sämtliche Bevölkerungsgruppen miteinschloss, setzte er damit als Geste bereits die Daseinsberechtigung einer algerischen Gesellschaft voraus, in der Kolonisatoren und Kolonisierte unter einem Oberbegriff zusammenkamen und auch zusammen untersucht werden konnten. In dieses kleine, staatsbürgerlich-aufklärerische Buch, das sich in der Hochphase des Krieges jeglicher direkter politischer Urteile enthielt, konnte Bourdieu so einige brisante soziologische Diagnosen der französischen Kolonialherrschaft in Algerien einschmuggeln, die er in späteren Werken erst ausbuchstabierte: dass die ursprüngliche Lebensweise der Kabylen zerstört werde; dass die kapitalistische Kolonialwirtschaft die Ökonomie der autochthonen Bevölkerung aushöhle; dass die Kolonialgesellschaft wie ein auf Herkunft basierendes Kastensystem funktioniere und die kolonisierten Subjekte erst zu Fremden mache, die sich dann weiter entfremdeten; dass der Krieg eine eigenständige und wertvolle Zivilisation zerstöre.15

Den Tabubruch mit all den kleinen Spitzen gegen die Funktionsweise des Kolonialismus bekam Bourdieu auch direkt zu spüren. Vor allem die in Algerien ansässige Clique der Kolonialethnologen sah im Erscheinen des Buches einen Affront. In einem Brief an den Historiker André Nouschi, einen der wenigen mit ihm befreundeten französischen Wissenschaftler in Algerien, schrieb Bourdieu kurz nach der Veröffentlichung, dass er sich »noch nie so isoliert gefühlt habe wie derzeit« und dass »das Büchlein« – sein »Opus minimum«, wie er zu sagen pflegte – durchaus etwas damit zu tun habe. Man schaue ihn in Algier mit einer Mischung aus Mitleid und Aggressivität an, wobei Letztere überwiege. Bourdieu hatte die Kolonialclique gegen sich aufgebracht. Sie betrachtete den jungen ENS-Philosophen und Kriegsgegner abschätzig »als einen Knirps aus dem Mutterland, der meine, er hätte was zu Algerien zu sagen«. Bourdieu selbst hatte sich wohl auch mehr Erfolg in wissenschaftlichen Fachkreisen erhofft, gab aber im Brief enttäuscht zu, dass er mit seinem Büchlein die schlechte Strategie eines Outsiders gewählt habe, »so weit, daß ich hin und wieder denke, dass alles, was ich geschrieben habe, vollkommen wertlos ist und ich in der Zeit lieber hätte schlafen sollen«. Dass das Buch auch wissenschaftliche Schwächen aufwies, sah Bourdieu selbst. Es war fast ausschließlich auf Grundlage von Bibliothekslektüre entstanden und blieb nicht konsequent im angedachten soziologischen Beschreibungsmodus.16 »Trotz aller Schnitzer« habe er, so Bourdieus Selbstvergewisserung gegenüber Nouschi, »das Gefühl, etwas Nützliches geleistet zu haben«.17

Überspannte Libido

Für Bourdieu gab es aber noch genug Nützliches zu tun. Was zunächst als kleine publizistische Episode gedacht war, gewann plötzlich einen ganz neuen Schwung. Anstatt, wie ursprünglich geplant, nach Beendigung des Militärdienstes Algerien rasch wieder gen Frankreich zu verlassen und dort die liegengebliebene philosophische Doktorarbeit mitsamt der in Aussicht gestellten Hochschulkarriere wiederaufzunehmen, hatte Bourdieu noch vor der Veröffentlichung von Sociologie de l’Algérie beschlossen, im Land zu bleiben und seine ethnologischen und soziologischen Studien fortzusetzen. Im Herbst 1957 hatte er eine Stelle als Assistent für Philosophie und Soziologie an der Universität von Algier angenommen. Er war nun nicht mehr ein unfreiwilliger Wehrdienstleistender in Algerien, sondern ein aus freien Stücken dort lebender und forschender Universitätsdozent.

Die Universität Algier war zur damaligen Zeit mit einigen wenigen Ausnahmen ein Sammelbecken für reaktionäre und faschistische Bewegungen, von den Studierenden bis hin zu den Professoren.18 Im Gegensatz zu den Universitäten im Mutterland war sie eher ein Abbild des lokalen kolonialen Systems, mit eigenen Hierarchien und Berufungspraktiken. Die Universität war regelrecht in der Hand weniger Familiendynastien, die untereinander die Macht aufteilten. Diese professorale Kolonialclique bestand auch noch passenderweise aus Arabisten und Orientalisten. Als Experten für die Region betrieben sie die regionalspezifischen Disziplinen (Ethnologie, Sprachen, Kulturen) als reine Kolonialwissenschaft und argumentierten dabei unverhohlen rassistisch. Daher überrascht es kaum, dass der Gegenwind, von dem Bourdieu in den Briefen an André Nouschi anlässlich der Veröffentlichung seines Bändchens berichtete, vor allem aus der Universität Algier kam. Viele der hier tätigen Wissenschaftler waren patriotische Algerienfranzosen, die abweichende Meinungen nicht duldeten. Nicht wenige von ihnen wurden im Laufe des Krieges sogar zu Unterstützern der Organisation de l’armée secrète (OAS), einer paramilitärischen Untergrundbewegung, die sich ab 1958 mit Terrorakten gegen de Gaulles Algerienpolitik auflehnte und für den Erhalt des kolonialen Status quo kämpfte.

Bourdieu hatte sich mit seiner neuen Universitätsstelle jedenfalls keinen ruhigen Arbeitsplatz ausgesucht. An der Universität herrschte ein aufgeheiztes Klima der Einschüchterung und Gewalt, vor allem von Seiten der rechten Studenten. Fast alle in Frankreich zur nationalistischen Rechten gehörenden Politiker, Organisationen und Gruppen hatten während des Krieges ihr Lager in Algier aufgeschlagen und dabei enge Verbindungen ins studentische Milieu geknüpft – darunter auch der spätere Gründer des Front National Jean-Marie Le Pen.19 Wer an der Universität anders dachte und dies offen zeigte, geriet schnell ins Visier der Rechtsextremen. So wurde der Historiker André Mandouze aus »Sicherheitsgründen« von der Universität entlassen, nachdem ihn rechtsextreme Studenten wegen seines Eintretens für die algerische Unabhängigkeit lynchen wollten.20 Die höchsten Wellen schlug der Fall des Mathematikers Maurice Audin: Der kommunistische Aktivist und FLN-Unterstützer wurde 1957 während der »Schlacht von Algier« von Fallschirmjägern verhaftet und zu Tode gefoltert.21 Auf Bourdieu wurde an der Universität auf andere Art Druck ausgeübt: Ihm wurde oft nahegelegt, andere Themen zu behandeln oder einfach den Mund zu halten. Auch Bourdieu wusste, dass er den Autoritäten und Rechten ein Dorn im Auge war. Kurz nach dem Militärputsch im Mai 1958 informierte ihn einer seiner Studenten, dass er auf der »roten Liste« der Putschisten stand, auf der Liste der unerwünschten Personen, die »neutralisiert« werden sollten.22

Nicht weniger riskant waren die ausgedehnten Reisen, die Bourdieu während der Universitätsferien in entlegene und teilweise auch umkämpfte Gebiete Algeriens unternahm. Diese Erkundungen bildeten den hauptsächlichen Grund seines verlängerten Aufenthalts. Bourdieu hoffte, seine bisherige Arbeit mit mehr empirischen Daten aus erster Hand untermauern, also im besten Sinne mehr Feldforschung betreiben zu können. Dazu passte es gut, dass er mittlerweile auch für die algerische Außenstelle des französischen Statistikamts INSÉE tätig war. Der Leiter dieser teilweise unabhängigen Forschungseinheit, der Soziologe Alain Darbel, segnete Bourdieus Recherchen offiziell ab. Die in Auftrag gegebenen Untersuchungen waren in erster Linie statistische Erhebungen und Analysen der algerischmuslimischen Landbevölkerung. Zusammen mit einem Team von Mitarbeitern des INSÉE fuhr Bourdieu durch die algerische Provinz, um Fragebögen und Kartenmaterial zu erstellen, Stichproben zu erheben, Geburtenzahlen zu kontrollieren, Schulen und Sozialeinrichtungen auszuwerten oder Konsumstudien anzufertigen. Die neuen Einblicke waren bestürzend: Rund ein Viertel der muslimischen Landbevölkerung war im Zuge der französischen Umsiedlungsprogramme gewaltsam in neu geschaffene Dörfer und Siedlungen gebracht worden. Bourdieu entdeckte eine in Lager gesperrte, entwurzelte und verarmte algerische Gesellschaft.

Soweit die Arbeit für die Statistikbehörde es erlaubte, widmete sich Bourdieu, da er auf gewisse Weise schon vor Ort war, parallel seinen ethnographischen Interessen. Er führte Interviews mit kabylischen Bauern und Stammesführern, zeichnete heimlich Marktgespräche auf, notierte lokale Sprachmerkmale und Verhaltenscodes, dokumentierte Rituale und Verwandtschaftsverhältnisse, fertigte Skizzen von charakteristischen Häusern an und machte vor allem eine Menge Fotografien von Landschaften, Personen und Objekten – am Ende seines Aufenthalts waren es rund dreitausend Bilder, die er mit seiner in der DDR erworbenen Zeiss-Kamera geschossen hatte.23

Aïn Aghbel, Collo/Algerien, ca. 1960. Aufnahme von Pierre Bourdieu.

Aïn Aghbel, Collo/Algerien, ca. 1960. Aufnahme von Pierre Bourdieu. Das französische Militär pflegte die Dächer der Häuser anzuzünden, um die Bewohner zum Verlassen ihrer Häuser zu zwingen. Das Foto zeigt Bourdieus damaligen Assistenten Abdelmalek Sayad, wie er inmitten der Ruine Aufzeichnungen macht.

Pierre Bourdieu (links im Bild) während der Enquête in Aïn Aghbel, Collo/Algerien, 1960.

Bourdieu stürzte sich regelrecht in die Arbeit, wollte so viel wie möglich »im Feld« sein und wünschte sich, all die Geschehnisse, deren Zeuge er wurde, wie ein Schwamm aufzusaugen. Er tat dies mit einer leidenschaftlichen und rastlosen Hingabe, die mitunter ans Obsessive grenzte – die Arbeitstage während der Feldstudien begannen um sechs Uhr morgens und endeten in der Regel erst tief in der Nacht.24 Bourdieu umschrieb seine damalige Verfassung als eine »etwas überspannte libido sciendi«. Die Lust des Wissens speiste sich aus zwei Quellen: aus der »Leidenschaft für alles, was dieses Land und seine Menschen« anging, und aus »dem heimlichen und ständigen Gefühl der Schuld und der Auflehnung angesichts so vielen Leidens und so großer Ungerechtigkeit«.25 Leidenschaft, vielleicht sogar schon Identifikation mit Land und Leuten, gepaart mit Schuldgefühlen, Empörung und dem Bewusstsein, Rechenschaft ablegen zu müssen – das war die bemerkenswerte Gefühlsmischung, die dem Verlangen, mehr über Algerien in Erfahrung zu bringen, zugrunde lag.

Was für Motive es auch immer waren: Irgendeine moralische Reflexion setzte damals definitiv ein. Anders lässt es sich kaum erklären, wie Bourdieu 1959, also mitten in seinen algerischen Feldstudien, auf die Idee kam, einen existentialistisch angehauchten Text über Molière mit dem Titel »Tartuffe oder das Drama des Glaubens und der Unaufrichtigkeit« zu schreiben.26 Bourdieus allererster Artikel ohne expliziten Algerienbezug thematisiert entlang einer der bekanntesten Figuren der französischen Literatur menschliche Scheinheiligkeit und daraus resultierende Gewissensfragen. Es handelt sich um eine kleine, moralphilosophische Übung. Man kann den Text, mit Blick auf den Ort seiner Entstehung, aber auch als intime Auseinandersetzung mit den moralischen Kosten verstehen, die Kolonialismus und Krieg in einem verursachen.

Diese Identifikations-, Schuld- und Moralfragen waren sicherlich wichtige Begleitumstände und auch Antriebsmomente für Bourdieus wissenschaftlichen Eifer. Eine Überbetonung der affektiven Strukturen läuft jedoch leicht Gefahr, weitere und weniger pathetische Rahmenbedingungen der wissenschaftlichen Wissensproduktion zu verdecken. Es gab auch anders gelagerte Gründe, andere Möglichkeitsbedingungen, über die Bourdieu damals wie später vergleichsweise wenig Auskunft gab. Dass sich etwa aus dem persönlichen, lustvollen und etwas fieberhaften Erkenntnisdrang in so kurzer Zeit tatsächlich auch ein empirisches sozialwissenschaftliches Wissen herausbildete, war jedenfalls nur möglich auf der Grundlage von Faktoren, die weniger mit Bourdieu selbst und seinem Affekthaushalt zu tun hatten als vielmehr mit dem wissenschaftlichen Kontext und der kolonialen Situation vor Ort.

Bourdieu fand sich – wie viele andere Wissenschaftler vor und nach ihm – in einer langen Tradition der kolonialen Wissensproduktion wieder. Die Kolonien spielten schon früh eine wichtige Rolle in der Formierungsgeschichte von Disziplinen wie der Ethnologie oder der Soziologie, die in ihren Anfängen als sogenannte Kolonialwissenschaften ihre Forschung oft freiwillig in den Dienst der imperialen Kolonialverwaltungen stellten. Auch nachdem sich beide Disziplinen mit zunehmender wissenschaftlicher Autonomie von solchen staatlichen Inanspruchnahmen lösen konnten, blieben die Kolonialgebiete ein bevorzugtes Betätigungsfeld für die Sozialforschung. So arbeiteten zwischen 1945 und 1960 rund ein Drittel der französischen Soziologen in und zu den Kolonien. Vor allem Algerien bot wegen seiner Nähe und seines ambivalenten Status als Siedlerkolonie mit Zugehörigkeit zur Französischen Republik eine Art offenes gesellschaftliches Laboratorium für moderne Sozialforschung, sei es in ethnologischer Hinsicht oder im Sinne der staatlichen Entwicklungs- und Modernisierungsprojekte, die im Land von französischen Wissenschaftlern und Ingenieuren imaginiert und konzipiert wurden.27

Bourdieu konnte sich in Algerien auf eine Reihe von kolonialen Institutionen stützen: das Generalgouvernement, die Universität, das Statistikamt. Als Franzose mit allerlei sozialen Privilegien ausgestattet, fand er hier nahezu ideale Arbeitsbedingungen und Ressourcen vor, um sich im Schnelldurchlauf und relativ autonom in die beiden voraussetzungsreichen Disziplinen der Ethnologie und Soziologie einzuarbeiten – ein nicht zu unterschätzender Faktor, da er bloß in Philosophie ausgebildet war, also nicht nur akuten Nachholbedarf hatte, sondern diesen auch ohne viel Aufhebens und zusätzliches Studium in der Pariser Heimat decken konnte. Schließlich darf nicht vergessen werden, dass das wissenschaftliche Terrain, das sich für ihn als so üppig erwies und das seine intensiven Forschungsaktivitäten gewährleistete – gemeint sind die von ihm beobachteten und untersuchten Phänomene der Entwurzelung und Umsiedlung, aber auch die »fremde Kultur« der autochthonen Bevölkerung –, ausgerechnet mit den Mitteln imperialer Unterdrückung entstanden war. Auch wenn Bourdieu den Kolonialismus vehement zurückwies und dessen verheerende Folgen kritisierte, profitierte er doch wie viele Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler vor und nach ihm von der Existenz eines wissenschaftlichen Settings, das es ohne den Kolonialismus in dieser speziellen Form so nicht gegeben hätte. Die Verstrickung in koloniale Zusammenhänge war also keine rein politische oder moralische Angelegenheit, sondern auch eine epistemische. Seine Soziologie war und blieb in dieser Phase eine Wissenschaft unter kolonialen Vorzeichen.

Es war gleichzeitig auch eine Wissenschaft, die den schwierigen Bedingungen eines Befreiungskriegs entstammte. In Algerien herrschte wohlgemerkt nicht nur eine koloniale Situation vor, es herrschte auch ein Unabhängigkeitskrieg. Bourdieu ging durchaus ins Risiko und erregte mit seinen umtriebigen Forschungen zum einen die Aufmerksamkeit der Militär- und Sicherheitsbehörden, die ihm mit kleineren Verfolgungen, Befragungen und Spionageaktionen auflauerten. Zudem traf er bei seinen Ausflügen in verlassene und von der französischen Armee in Brand gesteckte Dörfer nicht selten auch auf schwer bewaffnete Algerier. So etwa in Tizi Ouzo, als er unter allen Umständen den Ritualen bei den kabylischen Bauern auf die Spur kommen wollte, während an den Straßen die Gerippe verkohlter Autos herumstanden, am Straßenrand algerische Soldaten saßen und im Hintergrund das Rattern von Maschinengewehren zu hören war.28 Wenn die Kampfhandlungen zwischen der französischen Armee und den Kämpfern der algerischen Unabhängigkeitsbewegung zu stark wurden, suchte Bourdieu mit seinem Team oft Unterschlupf bei den Weißen Vätern, einem seit 1850 in Algerien ansässigen apostolischen Missionarsorden, der während des Kriegs von den Algeriern wegen seiner sozialen Ader geschätzt und geduldet wurde.29 Es ist schwer zu sagen, von welchen Kriegsparteien das größte Risiko für ihn ausging. Am Ende war es aber der Terror der OAS, der den Ausschlag für seine Flucht aus Algerien gab. Nachdem sein Assistent Moulah Henine vor dessen Haus von der OAS erschossen wurde und er selbst von einem ranghohen französischen Offizier informiert wurde, dass auch er in Lebensgefahr sei, beschloss er, das Land zu verlassen und seine Rückkehr nach Frankreich vorzubereiten. Bourdieu verließ Algerien im Mai 1961 in einer Nacht-und-Nebel-Aktion. Eine Militärmaschine flog ihn sicher aus Algier raus.30

Rückkehr in den Béarn

Die Rückkehr nach Paris war unfreiwillig und abrupt, aber Bourdieu landete vergleichsweise weich auf französischem Boden. Er konnte auf einen persönlichen Kontakt zurückgreifen, der ihm in Paris die Türen öffnete: Raymond Aron, seines Zeichens Doyen der französischen Soziologie und einer der einflussreichsten politischen Intellektuellen des Landes. Die beiden hatten sich ausgerechnet in Algerien kennengelernt, als sich Aron in seiner Funktion als Generalinspekteur des nationalen Bildungswesens im Land aufhielt (er hatte die Aufgabe, bei den französischen Abiturprüfungen die Prüfungskommissionen zu leiten). In Frankreich verschaffte Aron Bourdieu eine Assistentenstelle, erst an der Sorbonne, dann in Lille. Er übernahm zudem die Betreuung seines neuen Dissertationsvorhabens im Fach Soziologie – eine in mehrerer Hinsicht folgenreiche Vereinbarung. Bourdieu schlug, die Philosophie hinter sich lassend, endgültig den Karriereweg des Soziologen ein, fand in Aron seinen entscheidenden Förderer und übernahm von diesem wenige Jahre später die Leitung des Centre de sociologie européenne.

Aron wiederum steuerte das Vorwort für die amerikanische Ausgabe von Bourdieus Sociologie de l’Algérie bei, das unter dem Titel The Algerians und mit der algerischen Nationalflagge auf dem Cover pünktlich zur Unabhängigkeit des Landes im Jahr 1962 erschien.31 Aron, der ewige Antipode Sartres, verkörperte eigentlich das konservative Establishment Frankreichs. Allzu viele Sympathien mit antikolonialen Befreiungsbewegungen dürfte er nicht gehabt haben. In der Algerienfrage befürwortete er allerdings spätestens seit 1957 die Loslösung der Kolonie, und zwar vor allem aus dezidiert ökonomischen Gründen, wie er in seinem Buch La tragédie algérienne bekundete.32 Auch im Vorwort zu Bourdieus Buch schrieb Aron, dass der Krieg eine zu große Hypothek für Frankreich geworden sei: »Fast acht Jahre lang lastete das Drama Algeriens auf den Franzosen. Wie eine Besessenheit, eine Schuld, aber auch wie eine Pflicht. Es hat den Sturz eines Regimes herbeigeführt und eine Nation entzweit. Es hat den inneren Frieden gefährdet und im Mutterland ein Klima der Leidenschaft und des Verbrechens verbreitet.« Man müsse endlich eingestehen, so Aron weiter, dass die algerische Angelegenheit nicht länger eine »einfache Episode in einer historisch unaufhaltsamen Bewegung namens ›Dekolonisierung‹« darstelle, sondern vielmehr zu einem »tragischen Moment in der Geschichte Frankreichs« geworden sei. Aron empfahl Bourdieus Buch »all jenen, denen das Schicksal Frankreichs und des Westens am Herzen liegt und denen Algerien daher nicht gleichgültig sein kann«.33

Bourdieu war 1960 in ein krisengeschütteltes Frankreich zurückgekehrt, das immer mehr in einen bürgerkriegsähnlichen Zustand abzurutschen drohte und dabei von der Algerienfrage wie paralysiert schien. Seine Algerienexpertise verhalf ihm zu einem Alleinstellungsmerkmal unter den Pariser Intellektuellen. Viele von ihnen mochten als Kriegsgegner das große Wort geschwungen oder sich mit dem FLN solidarisiert haben – aber wer konnte schon von sich behaupten, nicht nur in Algerien gedient zu haben, sondern dort auch wissenschaftlich und politisch aktiv gewesen zu sein? Bei heimlichen Pariser Meetings von algerischen und französischen Intellektuellen, die bereits über das zukünftige Algerien nach der Unabhängigkeit räsonierten, fand Bourdieu unmittelbar Gehör.34 Er verfügte in diesen Kreisen über ein beträchtliches »kulturelles Kapital«, um hier einen Ausdruck aus seiner eigenen soziologischen Theorie zu verwenden. Er wusste es aktiv einzusetzen: Die ersten Artikel zu Algerien konnte er in renommierten Zeitschriften wie Esprit und Les Temps modernes publizieren.35 Es folgten mit Travail et travailleurs en Algérie und Le Déracinement gleich zwei größere, zusammen mit seinen Mitarbeitern verfasste Monographien.36 Im Fokus dieser Texte standen hauptsächlich die Arbeits- und Lebensbedingungen der algerischen Bevölkerung im Lichte von Kolonialismus und Krieg.

Den aus einer relativ sicheren Entfernung heraus geführten Pariser Debatten über Algerien stand Bourdieu dabei mehr als skeptisch gegenüber. Der Grund hierfür: Viele Franzosen, aber auch viele der in Frankreich ansässigen Algerier kannten das Land auf der anderen Seite des Mittelmeers sehr schlecht, ihre politischen Urteile waren entsprechend wenig fundiert. Das galt in Bourdieus Augen selbst für die bekannten Wortführer der antikolonialen Linken wie Jean-Paul Sartre oder auch Frantz Fanon. Dass etwa Sartre in der algerischen Bauernschaft die einzig wahre revolutionäre Kraft des Landes erblickte, empfand Bourdieu, der durch seine Arbeit vor Ort einen Einblick in die tatsächlichen ökonomischen, sozialen und politischen Bedingungen der algerischen Bauern und Arbeiter gewonnen hatte, als »Realitätsverfälschung« – später nannte er Sartres Position sogar »komplett idiotisch«.37 Die algerischen Bauern hatten, so Bourdieus Einschätzung, gewiss einen wichtigen Anteil an dem Kampf gehabt, aber eben nicht nur als Akteure, sondern auch als erste Opfer von Kolonialismus und Krieg. Sie hatten aufgrund der früheren Enteignungen und Plünderungen und, in neuerer Zeit, aufgrund des Krieges und der Umsiedlungen so außergewöhnlich tiefgehende Veränderungen durchgemacht, dass sie zwar eine explosive Kraft bildeten, aber eben auch eine verzweifelte Masse, die für die widersprüchlichsten politischen Ziele zur Verfügung stehen konnte. Mit anderen Worten: Die algerischen Bauern waren – selbst in Gestalt eines in die Städte abgewanderten Proletariats – sehr weit entfernt von dem revolutionären Bild, das Intellektuelle und Aktivisten in Paris von ihnen zeichneten. Ihnen ein »revolutionäres Bewusstsein« zu unterstellen war in diesem spezifischen Kontext für Bourdieu geradezu verantwortungslos.

Diese Situationsanalyse bewog Bourdieu zu einer zurückhaltenden Einschätzung der damaligen algerischen Führung und ihrer revolutionären Ziele. Die im Exil agierende »Provisorische Regierung der Algerischen Republik« sah im Kampf für die algerische Unabhängigkeit eine linke Revolution am Werk – das unabhängige Algerien sollte entsprechend in ein sozialistisches Musterland verwandelt werden. Die Parolen von Sartre und Fanon waren da willkommen. Bourdieu behielt mit seiner Einschätzung am Ende recht. Die gewünschte Revolution der Bauern und Proletarier blieb in Algier unter dem autoritären FLN-Regime bekanntlich aus.38

Diese frühen Interventionen in politische Diskussionen sind kaum zu überschätzen. Sie prägten Bourdieus Verständnis von der Rolle der Wissenschaft und sein Selbstverständnis als politischer Intellektueller. Doch sie blieben in diesen hochproduktiven frühen 1960er-Jahren keineswegs das einzige Betätigungsfeld. In exakt dieselbe Phase fiel auch eine Episode, die Bourdieus Algerienaufenthalt und seinen intellektuellen Werdegang in einem etwas anderen Licht erscheinen lässt. Die in Algerien unternommenen Forschungen führten ihn nämlich in eine biographisch-wissenschaftliche Konstellation mit kuriosen Zügen hinein: Eine der ersten Anlaufstellen, die Bourdieu nach seiner erfolgreichen Wiedereingliederung in den französischen Wissenschaftsbetrieb ansteuerte, war ausgerechnet der Béarn, seine Heimatregion in den Pyrenäen. Dort, im Dorf seiner Eltern und seiner Kindheit, legte er längere Forschungsaufenthalte ein. Er wollte sich, nach den ersten autodidaktischen Schritten in Ethnologie, nun an einer Soziologie des ländlichen Raumes versuchen.

Im Mittelpunkt standen Feldforschungen zu bäuerlichen Produktionsweisen und Reproduktionsstrategien im vorindustriellen Frankreich. So ging es darum, zu verstehen, warum die ältesten Söhne aus Bauernfamilien unverheiratet blieben, obwohl die dörfliche Gesellschaft für ihr verbissenes Festhalten am Erstgeburtsrecht bekannt war. Doch das ganze Projekt war von Beginn an unmittelbar mit Bourdieus parallel laufenden Verarbeitungen seiner Forschungsergebnisse zu den kabylischen Bauern in Algerien verbunden. Es hatte einen zutiefst selbstreflexiven Charakter: Bourdieu hatte sich bereits in Algerien während seiner Interviews mit kabylischen Informanten oft seiner jugendlichen Alltagserfahrungen mit den Bauern aus dem Béarn bedient und immer wieder Bezüge zwischen den beiden unterschiedlichen, aber in Bourdieus Augen teilweise auch sehr ähnlichen Gruppen hergestellt. Im Béarn galt es nun für Bourdieu, die Forschung und ein Stück weit auch die Einübung in die Soziologie fortzusetzen, um im Sinne der Wissenschaftlichkeit eine subjektive Erfahrung zu objektivieren, die ihm in Algerien als bewusster oder eben unbewusster Bezugsrahmen gedient hatte. Bourdieu prüfte im Béarn also auch sein erworbenes Wissen über die kabylische Gesellschaft, und zwar in einer Umgebung, die ihm von Grund auf vertraut war.