Schüsse auf die Staatsanwältin - Kai Leuner - E-Book

Schüsse auf die Staatsanwältin E-Book

Kai Leuner

4,4

  • Herausgeber: Prolibris
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2012
Beschreibung

Die junge Dresdner Staatsanwältin Manja Koeberlin hat Anklage erhoben gegen einen skrupellosen Drahtzieher des organisierten Verbrechens und ist sich ihres Erfolges sicher. Ihr Kronzeuge, einst rechte Hand des 'Litauers', ist bereit, gegen ihn auszusagen. Doch Valkunas schwört ihr im Gerichtssaal unerbittliche Rache. Und nun gerät sie selbst ins Visier eines übermächtigen Feindes, der kaltblütig sein Ziel verfolgt: ihre Vernichtung. Der Debütroman von Kai Leuner, im bürgerlichen Leben Staatsanwalt in Dresden, beginnt als Wirtschaftskrimi, wandelt sich aber schnell zu einem packenden Thriller.

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Seitenzahl: 302

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Kai Leuner

Schüsse auf die Staatsanwältin

Kriminalroman

Prolibris Verlag

Alle Figuren dieses Romans sind vom Autor frei erfunden. Jegliche auch nur entfernte Ähnlichkeiten mit realen Personen, lebenden oder toten, wären reiner Zufall. Gleiches gilt für die beschriebenen Ereignisse. Der Autor hat sich zudem die Freiheit genommen, die Beschreibung einiger Schauplätze und Prozeduren den erzählerischen Erfordernissen der Geschichte unterzuordnen und gelegentlich von der Realität abzuweichen. Die Schönheit der Landeshauptstadt Dresden und ihrer berühmten Sehenswürdigkeiten ist dagegen kein Werk der Fiktion.

Für Evelyn

PROLOG

Sven Morlock war Anfang dreißig, hochgewachsen und hatte das oberflächlich gute Aussehen eines Seifenopernstars – sauber gestutztes, sandfarbenes Haar, ein angenehmes Gesicht, sonnengebräunter Teint.

Indes wirkte alles an ihm eine Spur zu protzig.

Das marineblaue Sakko mit den glänzenden Knöpfen. Die Rolex am linken Handgelenk und das Goldkettchen am rechten. Der gewaltige Siegelring. Sein Auftreten.

»Sie sind also die armselige Schnüfflerin, die man auf mich angesetzt hat«, sagte er, als er zum ersten Mal in Manja Koeberlins Büro stand.

Nun, es waren nicht exakt seine Worte, aber der spöttische Blick, mit dem er das Behördenzimmer musterte, den zerkratzten Resopalschreibtisch und den Kunstledersessel, den fleckigen Teppich und die beiden Besucherstühle aus Metall, dieser Blick meinte so ziemlich genau das.

Was Morlock wirklich sagte, war: »Da bin ich, Frau Staatsanwältin. Pünktlich auf die Minute.« Er grinste anzüglich. »Der Einladung einer so attraktiven Frau musste ich einfach folgen.«

»Nehmen Sie Platz!« Manja Koeberlin wies kühl auf einen der Stühle vor ihrem Schreibtisch. »Hätten Sie nicht lieber Ihren Anwalt mitbringen sollen, Herr Morlock?«, fragte sie, während sie eine Kassette in ihr Aufnahmegerät schob und es vor sich auf den Tisch stellte.

»Ich brauche keinen. Es gibt nichts, was ich mir vorwerfen müsste.« Sein breites Lächeln entblößte makellose Zähne. »Rein gar nichts.«

»Wirklich nicht?« Manja Koeberlin blätterte in einem Ordner, der vor ihr lag. »Ihre Immobiliengesellschaft ist den Bach runtergegangen. Anleger haben Geld verloren. Viel Geld.«

Er zuckte nur mit den Achseln. »Es war ein Geschäft unter Geschäftsleuten, das schiefging. Jeden Tag gehen Geschäfte schief, ohne dass eine Staatsanwältin kommt und von Betrug redet.«

»Sie haben bei dreiundvierzig Anlegern insgesamt drei Millionen Euro eingesammelt. Wo ist das Geld?«

»Frau Koeberlin, das hatten wir doch alles schon«, erwiderte Morlock mit übertrieben geduldiger Stimme. »Ich habe Ihnen sämtliche Unterlagen gegeben. Die Bilanzen, die Bücher. Kontoauszüge. Und die Notarverträge. Alles ist bis auf den letzten Heller belegt.«

»Sie wollen mir also sagen, dass Sie für dieses Geld die neun Flurstücke in Klotzsche gekauft haben.«

»Zu jedem Vertrag gibt es einen Überweisungsbeleg. Das Geld ist an die Henken Immobilien GmbH gegangen.«

»Die Firma Ihres Freundes Jörg Henken. Wie es scheint, hat er Sie mit diesen Grundstücken über den Tisch gezogen. Schöner Freund, oder?«

Morlock breitete resigniert die Hände aus. »Über die Toten nur Gutes!«

»Hatten Sie sich die Grundstücke vor dem Kauf angesehen?«

»Selbstverständlich. Was dachten Sie denn?«

»Und da ist Ihnen der faulige Geruch entgangen, der in der Luft hing? Diese seltsame giftgrüne Flüssigkeit, die jeden Ihrer Schritte sofort auffüllte?«

»Ja.« Er nickte bekümmert. »Leider.«

»Wie konnte denn das passieren?«

Er blies die Backen auf. »Vielleicht war ich im Winter dort. Der Boden war gefroren. Oder ich habe wirklich nicht darauf geachtet. Es gibt so viele Möglichkeiten.«

»Natürlich wussten Sie auch nicht, dass Ihr Freund Henken die Grundstücke erst wenige Monate vorher für ein Butterbrot erworben hatte? Dass es bereits damals ein geologisches Gutachten gab, das man in einem einzigen Wort zusammenfassen kann: Umweltkatastrophe!«

Morlock stieß ein kurzes, überlegenes Lachen aus. »Natürlich wusste ich das nicht. Sonst hätte ich mich auf das Geschäft ja wohl kaum eingelassen.«

»War Ihnen denn bekannt, dass Henken unheilbar an Leukämie erkrankt war?«

»Ja.« Er senkte leicht den Kopf. »Wir kannten uns seit unserer Kindheit. Er war mein ältester Freund.«

Manja stand auf und ging vor ihrem Schreibtisch auf und ab. »Sehen Sie, Herr Morlock, ich glaube, dass Sie und Henken gemeinsame Sache gemacht haben. Es war ein abgekartetes Spiel. Von Anfang an.«

»Wie bitte?« Mehr belustigt als beleidigt sah er sie an. »Das ist das Dümmste, was ich je gehört habe!«

»Henken wusste, dass er nicht mehr lange zu leben hatte. Es machte ihm also nichts aus, die Rolle des Sündenbocks zu übernehmen. Er kaufte die verseuchten Flurstücke. Sie entwarfen ein wohlklingendes Bauprojekt. Saxony Village. Geräumige Apartments in bester Lage. Für anspruchsvolle Kunden. Der Prospekt war wirklich erstklassig.«

»Wenn Sie das sagen.« Morlock grinste.

»Dann hielten Sie nach Opfern Ausschau. Zahnärzte, Steuerberater, Rechtsanwälte. Leute, die genügend Geld haben, um siebzig- oder achtzigtausend in Ihr Projekt zu investieren. Mit diesen Einlagen kauften Sie der Henken Immobilien GmbH die Grundstücke ab. Zu einem absurd hohen Preis. Sie überwiesen das Geld auf Henkens Konto, wo es kurze Zeit später in bar abgehoben wurde. Damit verliert sich die Spur. Ich nehme an, Henken behielt einen Teil, um seine letzten Tage so angenehm wie möglich zu verleben. Das größte Stück des Kuchens bekamen Sie.«

»Solche skurrilen Vorwürfe kann ich natürlich unmöglich bestätigen, Frau Koeberlin.« Morlocks Ton troff vor Herablassung. »Gibt es eigentlich den Hauch eines Beweises für Ihre Theorie? Haben Sie irgendetwas in Ihrer schönen Akte da, was diesen abenteuerlichen Verdacht stützt?«

»Ich glaube, dass Sie es waren, der die Idee hatte. Sie haben Henken überredet, Ihnen diesen letzten Freundschaftsdienst zu leisten.«

»Was Sie glauben und was Sie belegen können, sind zwei verschiedene Dinge.« Morlock schüttelte tadelnd den Kopf. »Ich muss sagen, Sie enttäuschen mich.«

»Oh, tatsächlich?«

»Ja. Sie sind nicht objektiv. Nicht unvoreingenommen. Stattdessen nehmen Sie eine Position ein, die Ihnen vielleicht emotionale Befriedigung verschafft, mit der Sie aber nie im Leben durchkommen. Bei keinem Gericht der Welt.« Lässig lehnte er sich nach vorn. »Wenn Sie Ihren Leidenschaften partout freien Lauf lassen wollen, können wir beide ja in ein Hotel gehen.«

Manja sah ihn mit einem mitleidigen Lächeln an. »Nicht in diesem Leben, Herr Morlock.«

Ihr Blick fiel auf die Uhr. Kurz nach halb sieben. Es war an der Zeit, die Sache zu Ende zu bringen.

»Kristin Bernard«, fragte sie unvermittelt. »Sagt Ihnen der Name etwas?«

»Kristin Bernard?« Morlock tat, als müsse er nachdenken, während seine glitzernden Augen Manja unverhohlen abtasteten. Sie trug ein dunkles Kostüm mit einem schlichten kurzen Rock, der viel von ihren braun gebrannten Beinen zeigte. Er schätzte sie auf Ende zwanzig, höchstens Anfang dreißig. Mit ihren langen glänzend schwarzen Haaren, den hohen Wangenknochen und den fein geschwungenen Lippen passte sie eher auf das Cover eines Hochglanzmagazins als in die trostlosen Räume der Dresdner Staatsanwaltschaft. Morlock spürte ein leichtes Kribbeln, als er ihre kunstvoll bemalten Fingernägel betrachtete.

»Also?« Ein leichtes Vibrieren ihrer Stimme verriet ihre Ungeduld.

»Kristin Bernard, richtig.« Widerwillig riss er sich los. »Sie war Jörgs Freundin.«

»Und jetzt ist sie Ihre, oder?«

Empört sah er sie an. »Wie kommen Sie auf so etwas?«

»Wo hält Frau Bernard sich derzeit auf?«

»Keine Ahnung. Wir stehen nicht in Kontakt.«

»Dann wissen Sie auch nicht, dass wir die Wohnung von Frau Bernard durchsucht haben?«

»Nein«, schnappte er. »Geht mich ja auch nichts an, oder?«

»Vielleicht doch. Sehen Sie, unter ihrem Schreibtisch haben wir dieses Stück Papier gefunden.« Sie nahm eine Klarsichtfolie aus dem Ordner und legte sie vor Morlock. Es war ein kleiner Schnipsel, der ein Logo zu zeigen schien. Ein A und ein H, die kunstvoll ineinander verschlungen waren, eingebettet in einen roten Kreis. »Können Sie damit etwas anfangen?«

Er zögerte für einen Moment, was ihr nicht entging. »Nein. Was ist das?« Seine übergroße Selbstsicherheit schien einen Dämpfer bekommen zu haben.

Manja überging die Frage. »Gestern war ich im Kleinwalsertal. Eine österreichische Exklave, nur von Deutschland aus zu erreichen. Mitten in den Alpen. Sehr schön um diese Jahreszeit. Schon mal dort gewesen?«

Morlocks Gesicht schien sich zu verhärten und zusammenzuziehen, jeder Muskel spannte sich an. Mühsam schüttelte er den Kopf.

»Aber Sie wissen doch bestimmt, dass das Kleinwalsertal unter Steuerflüchtlingen als Geheimtipp gilt, oder?«

Der erstarrte Ausdruck seines Gesichts verriet, dass er das sehr wohl wusste.

»Früher hatte das Kleinwalsertal mal einen steuerlichen Sonderstatus. Den hat es mit dem Beitritt Österreichs zur EU zwar verloren. Aber den Banken ist es nach wie vor erlaubt, für ihre Kunden anonyme Nummernkonten einzurichten. Ein perfektes Geldversteck.«

Auf Morlocks Stirn bildeten sich große Schweißtropfen.

»Nun, was glauben Sie, wer mir dort in die Arme lief? Kristin Bernard, genau. Wir trafen uns zufällig vor der Austria Hypo Bank. Sie ahnen es schon, das Logo der Bank besteht aus einem A und einem H in einem roten Kreis.« Manja tippte mit dem Fingernagel auf den Schnipsel vor sich.

»Jedenfalls«, fuhr sie scheinbar betrübt fort, »schien Frau Bernard zu glauben, dass Sie mir ihren Aufenthaltsort verraten haben. Ich weiß nicht, wie sie darauf kam. Vielleicht hat sie etwas, was ich gesagt habe, falsch verstanden. Es herrschte ja ein ziemliches Durcheinander, weil plötzlich auch die Polizei auftauchte. Geldwäsche wird in Österreich neuerdings ernst genommen.«

Morlock rang nach Atem. Er versuchte, etwas zu erwidern, doch er fand einfach keine Worte. Hilflos bewegte er die Lippen.

Die Staatsanwältin sah ihn mitleidlos an. »Sie hat mir alles erzählt, Herr Morlock. Alles.«

»Was ... was ...« Aus seinem Mund kam nur ein Krächzen.

»Sie hat mir erzählt, wie Sie vor zwei Jahren zufällig von den kontaminierten Grundstücken in Klotzsche erfahren und Ihren Freund Henken zu diesem perfiden Betrug überredet haben. Und dass sie das Geld in Ihrem Auftrag zur Austria Hypo bringen sollte.«

»Wo ... was ist ...?«

»Mit dem Geld? Frau Bernard hat es wieder abgehoben und mir ausgehändigt. Die gesamte Summe. Es ist vorbei, Herr Morlock.«

Er sah sich um, mit dem gehetzten Blick eines Dachses, der in der Falle sitzt. Sein Blick blieb an der Tür hängen.

Manja schüttelte nur den Kopf. »Vergessen Sie’s! Seit Sie dieses Büro betreten haben, stehen draußen zwei Polizisten.«

Wie auf ein geheimes Kommando öffnete sich in diesem Moment die Tür. Die beiden Männer traten ein, die Hände an ihren Waffen. Morlock sah erst zu ihnen, dann wieder zu der Staatsanwältin.

»Kristin Bernard hat mir erzählt, dass Sie ihr in ein paar Wochen nach Österreich folgen wollten«, sagte Manja. »Daraus wird leider nichts. Sie sind vorläufig festgenommen.«

1

Michail Lukin lief nackt durch die verdunkelte Wohnung, in der einen Hand ein Glas, in der anderen eine Flasche Champagner.

Er hatte eiskalt geduscht, schon zum dritten Mal heute, doch auch diesmal würde die Erfrischung nur von kurzer Dauer sein. Die Gluthitze des Tages hielt sich beharrlich in den Betonwänden des Plattenbaus. Schon spürte er, wie sich auf seinem Rücken erneut kleine Schweißperlen bildeten. Dabei war es erst Mitte Juni. Lukin setzte sich auf das schmale Bett und goss sich ein Glas Champagner ein. Dann griff er nach dem Stapel Tageszeitungen, die er sich heute Morgen im nahegelegenen Kess-Center besorgt hatte.

Der Beamte des Landeskriminalamtes, Metz, hatte ihm zwar verboten, die Wohnung allein zu verlassen, aber darauf gab er einen Dreck. Schließlich hauste er seit über fünf Monaten in diesem Ghetto, das den Namen Gorbitz trug, in einer unsanierten Einraumwohnung am Amalie-Dietrich-Platz, mit Linoleumfußboden und vergilbten Tapeten. Umgeben von Arbeitslosen, Spätaussiedlern und Sozialhilfeempfängern. Alle paar Tage brachte Metz ihm Lebensmittel, ein paar Bücher und, wenn er Glück hatte, eine Zeitung. Nachts durfte er in seiner Begleitung gelegentlich eine Runde um den Block drehen.

So etwas nannten diese Idioten allen Ernstes »Zeugenschutzprogramm«.

Sie hatten ihn im größten Neubaugebiet Dresdens versteckt, in einer gottverdammten Plattenbauwohnung! Ausgestattet mit einem Bett, einem Fernseher und einem vorsintflutlichen Kühlschrank, der nervtötend brummte. Dazu eine Dusche mit Plastikvorhang, ein Campinggaskocher und ein Kleiderschrank aus Sperrholz.

In dem Schrank hing der maßgeschneiderte Anzug, den er getragen hatte, als er Hals über Kopf vor den Killern des Litauers flüchten musste. Hier, in dieser Umgebung, war der Anzug völlig nutzlos. Wenn Lukin das Haus verließ, trug er meist eine bonbonfarbene Trainingsjacke und eine gesprenkelte Armeehose. Das war die Art von Kleidung, mit der man in Gorbitz nicht auffiel.

Neben ihm wohnte ein junges Pärchen, das sich offenbar in den Flitterwochen befand. Zumindest verbrachten die beiden die meiste Zeit im Schlafzimmer. Auch jetzt hörte er das Mädchen durch die Wand stöhnen, untermalt vom Keuchen ihres Partners und dem rhythmischen Quietschen des Bettes. Lukin sah auf seine Armbanduhr. Die beiden hatten vor einer ganzen Weile angefangen, lange ehe er im Bad verschwunden war. Ausdauer hatte der Junge, das musste man ihm lassen.

Von den anderen Bewohnern seines Einganges bekam Lukin tagsüber nicht viel mit; die meisten schienen Rentner zu sein, die nur schlafen und fernsehen wollten. Allerdings war der Parkplatz vor dem Haus immer bis spät in die Nacht von Jugendlichen belagert, aus deren Autos zähe Bässe wummerten.

Lukin hatte sich inzwischen angewöhnt, einen ausgedehnten Mittagsschlaf zu halten. Es gab für ihn sowieso nichts zu tun. Seine einzige Aufgabe bestand darin, am Leben zu bleiben, bis der Prozess begann.

Der Prozess gegen Petras Valkunas.

Genüsslich schloss Lukin die Augen, als er von dem Champagner kostete. Der Dom Pérignon war ein Überbleibsel aus dem Früher, einer Zeit, in der er einen Ferrari gefahren und in einem Penthouse über der Elbe gewohnt hatte. Die Zeit, als er Valkunas’ rechte Hand gewesen war.

Gestern hatte ihm der LKA-Beamte seine Zeugenladung in die Hand gedrückt, so beiläufig, als sei es nur eine Werbesendung. Für Lukin war es die Erlösung.

Morgen, endlich, sollte der Prozess beginnen. Seine Vernehmung war für übermorgen vorgesehen. Manja Koeberlin, die Staatsanwältin, hatte ihm versprochen, dass er unmittelbar nach seiner Aussage neue Papiere und ein Flugticket bekommen würde. Wenn alles gut ging, konnte er schon am Samstag in einer Maschine nach Moskau sitzen.

Lukin nahm einen weiteren Schluck Champagner und zog aus dem Zeitungsstapel die Sächsische Zeitung hervor. Ein großer Artikel auf Seite drei berichtete über das Verfahren gegen Valkunas. Der Litauer, wie er in der Unterwelt ehrfürchtig genannt wurde, galt als einer der Drahtzieher des organisierten Verbrechens in der sächsischen Landeshauptstadt. Zigarettenschmuggel und Drogenhandel. Autodiebstähle. Prostitution. Schleusungen. Petras Valkunas mischte einfach überall mit. Seine Herkunft und sein Aufstieg waren sagenumwoben, sein größtes Kapital die undurchschaubaren Kontakte.

Doch obwohl es als offenes Geheimnis galt, dass er an unzähligen schmutzigen Geschäften beteiligt war, hatten die Dresdner Staatsanwälte ihm nie etwas nachweisen können. Im Laufe der Jahre hatte es zahlreiche Ermittlungen gegeben, Observationen, Hausdurchsuchungen, Verhöre. Viel Staub war aufgewirbelt worden, aber für eine Anklage hatte es nie gereicht.

Bis der Litauer einen schwerwiegenden Fehler beging.

2

Die Büros der Dresdner Staatsanwaltschaft befanden sich in einem markanten Sandsteingebäude am Sachsenplatz. Der gegen Ende des neunzehnten Jahrhunderts im Stil eines Florentiner Palasts errichtete Vierflügelbau war vor einigen Jahren aufwendig renoviert worden und erstrahlte nun in prunkvollem Glanz. In den unteren Etagen lagen die Verhandlungssäle und Geschäftsstellen des Landgerichts, in den oberen Stockwerken saßen die Staatsanwälte. In den Büros selbst war von Prunk und Glanz allerdings nichts zu spüren. Die meisten Möbel sahen aus, als kämen sie vom Sperrmüll, und der orangefarbene Filzteppich schien aus einem Konkursverkauf zu stammen. Auf jedem freien Fleckchen stapelten sich große Pappkartons mit Akten.

Es war Mittwochabend, kurz vor sieben. In der Wirtschaftsabteilung der Staatsanwaltschaft deutete nichts auf einen bevorstehenden Feierabend hin. Durch die geschlossenen Bürotüren drangen hektische Laute der Geschäftigkeit, unablässiges Telefonläuten, das Summen der Laserdrucker und gedämpfte Stimmen, die erklärten, Frau X oder Herr Y würden gerade auf einer anderen Leitung telefonieren, sich aber gleich melden. Manja Koeberlin stand auf der marmorverzierten Empore und beobachtete, wie die beiden Polizisten den schimpfenden Morlock abführten.

»Das werden Sie bereuen, Frau Staatsanwältin«, zeterte Morlock auf dem Weg zur Treppe. »Ich werde auf Ihrem Grab einen Jig tanzen.«

»Na, einen neuen Freund gewonnen?« Neben Manja war Oberstaatsanwalt Frank Hirschmann aufgetaucht, der Leiter der Wirtschaftsabteilung. Manjas Chef. Sein Büro lag nur zwei Türen neben ihrem.

»Das war Sven Morlock.«

»Ein äußerst sympathischer Mann«, grinste Hirschmann.

»Oh ja. Und ein leidenschaftlicher Tänzer, wie man hört.«

Jetzt grinsten sie beide.

Hirschmann war Ende vierzig, hatte breite Schultern und die kräftigen Oberarme eines Boxers. Seine grauen Haare hatte er abrasiert, auf dem Kopf waren nur winzige Stoppeln zu sehen. Er trug einen frisch gebügelten Anzug und eine perfekt geknotete rot-blaue Hermès-Krawatte. »Bammel vor dem Prozess morgen?«, fragte er. Er lehnte sich mit den Armen auf die Marmorbalustrade und blickte nach unten. Zwei junge Rechtsanwälte mit großen Aktenkoffern verließen schwadronierend das Gebäude.

»Eigentlich nicht. Wenn Lukin das aussagt, was er uns gesagt hat, haben wir Valkunas. Dann fährt er für acht Jahre ein.«

»Der Mistkerl verdient mindestens achtzig Jahre«, brummte Hirschmann. »Vertrauen Sie Lukin?«

»Was bleibt mir anderes übrig?«, erwiderte Manja achselzuckend. »Ohne ihn gäbe es die Anklage nicht. Aber der entscheidende Punkt ist: Lukin kann es sich nicht leisten, jetzt noch einzuknicken. Wir sind vielleicht nicht seine besten Freunde, aber wir sind seine einzigen. Wenn es uns nicht gelingt, Valkunas von der Bildfläche verschwinden zu lassen, kann Lukin die Zeit, die ihm noch bleibt, mit einer Eieruhr abmessen.«

»Was will Winter von uns?«, fragte Hirschmann unvermittelt.

»Keine Ahnung.« Manja zuckte erneut mit den Achseln. »Ich treffe ihn in einer Stunde. Vielleicht einen Deal.«

»Einen Deal?« Hirschmann spie das Wort förmlich aus. »Was denn für einen Deal? Mit Valkunas machen wir keinen Deal. Wir müssten ja verrückt sein.«

»Ich habe keine Ahnung«, wiederholte Manja unwirsch. »Aber Winter ist nicht irgendein Anwalt. Valkunas hat mit seinem Verteidiger eine ziemlich gute Wahl getroffen. Wenn Winter so kurz vor dem Prozess um ein Gespräch bittet, sollten wir uns zumindest anhören, was er zu sagen hat.«

»Na schön.« Hirschmann nickte widerwillig. Mit der Handfläche rieb er sich den Mund. »Aber keine Zusagen ohne mein Okay, verstanden?«

»Zu Befehl, Sir!«, erwiderte Manja und salutierte spöttisch. Dann ging sie in ihr Büro zurück und packte ihre Tasche. Dominik Winter war in der Tat nicht irgendein Anwalt. Bevor sie ihm heute Abend gegenübertrat, wollte sie dringend noch unter die Dusche und sich umziehen.

3

Die langhaarige junge Frau, die gegen zwanzig Uhr das Radisson in der Dresdner Altstadt betrat, zog die Blicke der Männer auf sich. Sie trug einen taillierten, dunklen Blazer mit einer dazu passenden Hose und elegante Abendsandalen. Ihr gebräuntes Gesicht war makellos, wie von einem Bildhauer geschaffen, ihr aufreizender Gang der eines Models. Sie verströmte eine betörende Mischung aus Sinnlichkeit und unbeirrbarem Selbstbewusstsein. Es war schwer, sie nicht anzustarren.

Der picklige junge Mann am Empfang wusste, dass sie kein Gast war. Er hoffte, sie würde zur Rezeption kommen, sich vielleicht nach einer Zimmernummer erkundigen, aber er wurde enttäuscht.

Manja Koeberlin ging auf direktem Weg zum Fahrstuhl. Sie spürte, wie ihr mindestens ein Dutzend Augenpaare aus den hinteren Nischen der Lounge folgten. Ihr Ziel war eine kleinere Sui

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