Schwanenkuss - Lisa Grüner - E-Book

Schwanenkuss E-Book

Lisa Grüner

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Beschreibung

Carina träumt von der großen Idee, die sie zu Geld machen kann. Inspiriert vom romantischen Bild schnäbelnder Schwäne lässt sie sich die Wortmarke »Schwanenbussi« schützen. Ein Konditor und die Stadt Gmunden versuchen ihr die Marke abzujagen und ziehen sie in einen dunklen Strudel von Intrigen. Nach einem Treffen mit dem Konditor wacht sie mit einer Handverletzung und einer Erinnerungslücke auf. Ihr bester Freund ist spurlos verschwunden, der Konditor untergetaucht und die Polizei ist hinter ihr her …

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Lisa Grüner

Schwanenkuss

Kriminalroman

Zum Buch

Intrigenspiel am Traunsee Die junge Wiener Unternehmensberaterin Carina Senner träumt vom großen Geld. Als sie das Symbol des Schwanenkusses entdeckt, lässt sie sich die Wortmarke »Schwanenbussi« beim Patentamt schützen. Während der Entwicklung der Marke verfällt sie immer tiefer in einen dunklen Strudel von Albträumen und Streitereien. Als ein Gmundner Konditor widerrechtlich ihren Markennamen verwendet, wittert sie ihre Chance die Rechte teuer zu verkaufen. Carina fährt nach Gmunden um die Angelegenheit zu regeln. Doch als sie am nächsten Morgen mit einer Verletzung an ihrer Hand und einer Erinnerungslücke erwacht, wird sie verdächtigt drei Schwäne am Traunsee erschlagen zu haben. Ihr bester Freund ist spurlos verschwunden, der Konditor untergetaucht und die Gmundner Stadtverwaltung, die das »Schwanenbussi« an sich reißen will, beginnt die Wienerin mit allen Mitteln unter Druck zu setzen. Verzweifelt versucht Carina die letzte Nacht zu rekonstruieren. Als der Kampf um den Markennamen endgültig zu eskalieren droht, wird sie vor die schwerste Entscheidung ihres Lebens gestellt.

Lisa Grüner wuchs in Linz/Oberösterreich auf und studierte Publizistik, Wirtschaft und Philosophie in Wien, wo sie nach dem Abschluss viele Jahre als Journalistin ihr schreiberisches Können, Rechercheskills und ihren Riecher für gute Storys unter Beweis stellte. Mit dem Wechsel als Beraterin in Kommunikations- und PR-Agenturen, fing sie an, zeitgenössische Kurzgeschichten zu schreiben. Grüner schreckt nicht davor zurück, Geschichten die andere am liebsten unter den Teppich gekehrt sehen, schwungvoll unter diesem hervorzuholen. In ihrem Romandebüt »Schwanenkuss« verarbeitet Grüner Themen wie Romantik, die Suche nach dem großen Glück, aber auch Existenzangst und Selbstüberwindung, verwoben mit aktuellem Zeitgeschehen in Wien und Gmunden. http://www.aktmalerin.at

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Alle Rechte vorbehalten

1. Auflage 2019

Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt

Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von: © AK-Media / shutterstock.com

Druck: CPI books GmbH, Leck

Printed in Germany

ISBN 978-3-8392-5928-3

Haftungsausschluss

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

Kapitel 1

Schuld war meine Mutter. Sie hatte mich in einen Lodenmantel und eine Pudelmütze gesteckt, obwohl die Sonne schien. Dennoch zitterte ich am ganzen Körper. »Ist dir kalt?«, fragte sie und kramte nach Handschuhen. Mir war nicht kalt. Im Gegenteil, ich schwitzte. Ich war fünfeinhalb Jahre alt und beim Anblick der Schwäne in ein Dilemma verfallen. Schuld daran war ebenfalls meine Mutter. Sie hatte mir am Abend das Märchen der Schwanenprinzessin vorgelesen. Und da waren sie: Lauter verzauberte Prinzessinnen schnatterten leibhaftig vor mir und sahen mich mit unglaublich traurigen Augen an. Verzweifelt starrte ich auf den kleinen Brotsack in meiner noch kleineren Hand. Wie sollte ich die alle satt bekommen?

Um alle vermeintlich verwunschenen Prinzessinnen im weißen Federkleid vor dem ebenso vermeintlichen Hungertod zu retten, brauchte ich einen Plan.

Die Tür der Bäckerei war mit verschiedenen bunten Plakaten zugeklebt. Die Bäckerin wollte es jedem Plakatierer recht machen und klebte eine Ankündigung über die nächste, sodass von jeder zumindest ein Stück zu sehen war. Es war immer genug Zeit, einen Blick auf die Veranstaltungen zu werfen, während sich meine Mutter gegen die schwere Türe drückte, die sich nach der anfänglichen Schwerarbeit plötzlich einfach und einem vertrauten Klingeln öffnete. Der süßliche Duft von frischem Brot wehte uns entgegen. Je nach Jahreszeit mischten sich Duftnoten frischer Früchte oder saisonaler Mehlspeisen dazu. Ich betrat das Geschäft immer mit geschlossenen Augen und versuchte zu erraten, was die Bäckerin heute in ihrem wechselnden Sortiment hatte. Heute roch es nach Herausgebackenem. Gierig sog ich den Duft ein und öffnete die Augen. Meine Mutter packte bereits einen Laib Roggenbrot und einen Striezel in ihren Korb und zahlte.

»Sag, verkaufst du bis zum Abend alles?« Mit prüfendem Blick musterte ich die Verkaufsvitrine der Bäckerei und deren unerschöpfliche Fülle an feilgebotenen Backwaren und Mehlspeisen. Neugierig betrachtete die Verkäuferin das hübsche Mädchen, dessen Nasenspitze kaum bis zu den Faschingskrapfen hochreichte.

»Warum fragst du?«, wollte die rundliche Frau mit den hochgesteckten Haaren wissen und rückte ihre Brille zurecht. In ihrem weißen Kittel war sie für mich die Göttin in Weiß am Schalthebel der Macht über Leben und Tod.

»Ich brauche altes Brot, um die Schwäne zu füttern«, weihte ich sie in meinen Plan ein. Durch meine wilden Gesten schwangen meine langen, geflochtenen Zöpfe aufgeregt auf und ab. »Meine Mutter isst immer auch das Harte und lässt nichts alt werden. Daher habe ich zu wenig für die vielen Vögel.« Meine Mutter versank vor Scham neben mir im Erdboden. »Brot-alt-werden-Lassen ist Lebensmittelverschwendung«, hatte sie mir eingetrichtert. Vor der Verkäuferin war ihr das allerdings mehr als peinlich.

»Verstehe«, die Bäckerin überlegte kurz. »Weißt du was, ich lege dir während der Woche Altbackenes auf die Seite und du hilfst mir Samstagmittag nach Ladenschluss beim Aufräumen des Geschäfts. Was meinst du?« Ich war hellauf begeistert. Damit war der Handel beschlossen, und wir baten meine Mutter mit fragendem Blick um ihre Zustimmung. Da sie merkte, dass ein Nein nicht mehr zur Debatte stand, stimmte sie mit immer noch rotem Gesicht zu. Mit einem stolzen Grinsen verließ ich das Geschäft. Das säuerliche Gesicht meiner Mutter übersah ich. Als ihr beim Nachhauseweg klar wurde, dass sie ab jetzt samstags zwei freie Stunden hatte, in denen sie in Ruhe das Mittagessen zubereiten konnte, löste sich dieses in Wohlgefallen auf. Und so spazierten wir, jede mit einem kleinen Erfolg in der Tasche, triumphierend die Straße entlang.

Eine Woche war mir bis jetzt immer kurz vorgekommen. Nicht so diese. Sie zog sich ins Unendliche. Sehnlichst wünschte ich mir den Moment herbei, mich gegen die schwere Tür der Bäckerei zu stemmen und den Boden kehren zu dürfen. Freitagabend konnte ich vor Aufregung kaum schlafen, Samstag wachte ich früher auf als sonst. Das hatte den Nachteil, dass sich die Stunden noch einmal ewig lange bis zehn Minuten vor 12 Uhr zogen. Als mir der Wecker endlich den Startschuss gab, zur Bäckerei zu laufen, wäre ich fast über meine eigenen Beine gefallen und dann noch einmal beinahe über die Stufen. Wie durch ein Wunder erreichte ich unfallfrei den Ort der unendlichen Brotreserven. Dort angekommen wischte und putzte ich völlig aufgedreht, als hinge mein Leben davon ab.

»Du bist echt fleißig«, wunderte sich die Bäckerin über meinen Einsatz. Natürlich wusste sie nichts von den verwunschenen Prinzessinnen, die ich zu retten gedachte. Großzügig steckte sie Brot und Semmeln, das sie bereits in schnabelgerechte Happen geschnitten hatte, in einen Papiersack und überreichte ihn mir feierlich. Glückselig schleppte ich meine Beute nach Hause und stellte sie neben der Wohnungstür ab.

»Geh Hände waschen«, meinte meine Mutter und schielte auf meinen Sack.

»Du nimmst da nichts raus«, unterband ich den Anflug der mütterlichen Idee, einige meiner Brotbröckerl in der Mittagssuppe zu versenken. Zappelig setzte ich mich zum Mittagstisch und hoffte, mein Vater würde schneller aufessen.

»Mama, gehen wir dann?«, fragte ich ungeduldig. Ich konnte es kaum erwarten, meinen nunmehr prall gefüllten Brotsack an die Alte Donau zu tragen und nach hungrigen Schwänen Ausschau zu halten. Über Wochen hinweg war das Füttern der Schwäne meine Lieblingsbeschäftigung. Es schien, als würden die Schwäne schon auf das kleine Mädchen im Lodenmantel warten. Denn immer wenn ich mich dem Ufer der Alten Donau näherte, kamen sie laut schnatternd angeschwommen. Mein kindliches Herz hüpfte vor Freude. Schließlich fühlte ich mich verantwortlich, für die Prinzessinnen zu sorgen, bis sie erlöst wurden.

»Du bekommst etwas, und du und du«, versuchte ich die Brothappen möglichst gerecht auf die Schwäne zu verteilen, die sich gierig darauf stürzten. Dennoch bevorzugte ich die hübschen zierlichen Schwäne, denn die Großen hatten meiner Meinung nach ohnehin genug zu fressen.

»Und du nicht«, zischte ich streng einen besonders aggressiven Schwan an, der das meiste Futter für sich beanspruchte und auf die kleineren Schwäne hinpeckte. Ich nannte den bösen Schwan Heinz und warf das Futter möglichst so ins Wasser, dass er am wenigsten davon erwischte. Heinz gefiel das gar nicht. Ich hingegen fand es amüsant, ihn zu ärgern. Eines Samstags wurde er so wütend, dass er aus dem Wasser watschelte und auf mich und meinen Brotsack losging.

»Krr-krr-krr«, fauchte er böse und schnappte mit seinem gelben Schnabel nach mir.

»Verschwinde«, schrie ich ihn an und versuchte mit meinem Gummistiefel nach ihm zu treten. Heinz ließ sich davon nicht beeindrucken, biss in den braunen Papiersack und riss an. Mit aller Kraft hielt ich meinen Schatz fest und stemmte mich dagegen. Meine Mutter, die eben noch ein paar Fotos von der Schwanenidylle geschossen hatte, stieß einen gellenden Schrei aus, packte mich am Kragen und zog mich vom wütenden Schwan weg. Dabei platzte mein Brotsack auf. Sichtlich zufrieden fraß sich Heinz an den verstreuten Brotstücken satt und sah mich dabei hämisch an. Ohnmächtig musste ich mit ansehen, wie der Lohn meiner ganzen mühseligen Arbeit just in dem Magen verschwand, den ich am wenigsten füttern wollte. Damit war es mit meiner Schwanenliebe jäh vorbei.

Ich stornierte meinen Deal mit der Bäckerin und wollte auch nicht mehr zum Schwänefüttern an die Donau. Übrig blieb die Erinnerung an diesen Moment, den meine Mutter in ihrem Schreck mehrfach mit ihrer Kamera festgehalten hatte.

Trotz des Reinfalls mit den Schwänen zogen mich Märchen nach wie vor magisch an. »Geschichten sind etwas für Träumer«, erklärte mir meine Mutter, die wie meistens keine Lust hatte, mir etwas vorzulesen, »und selbst die wachen irgendwann in der Realität auf.« Dabei deutete sie missmutig auf die Nachrichten, die gerade im Hauptabendprogramm liefen. Möglicherweise lehnte meine Mutter jegliche Schwärmerei deswegen ab, weil sie bei der Suche nach ihrem Märchenprinzen kläglich versagt hatte.

»Deine Mutter hat als kleines Mädchen davon geträumt, einen Arzt oder Rechtsanwalt zu heiraten und in eine schöne Villa mit Garten in einen noblen Bezirk zu ziehen«, verriet mir meine Großmutter. Geworden war es dann ein Versicherungsangestellter, nicht aus einem allzu großen Anfall an Romantik, sondern weil er sie geschwängert hatte. Mit einem Braten in der Röhre war das Rennen um einen besseren Ehemann gelaufen und alle Träume von Arzt, Anwalt und Villa platzten ebenso jäh, wie sie ausgemalt worden waren.

Mit der Eheschließung war es amtlich, das erträumte weiße Ross war ein leicht rostiger schwarzer Mercedes und das Märchenschloss eine kleine Gemeindewohnung im dritten Bezirk ohne Lift. Das Leben ließ meiner Mutter ohnehin nicht viel Platz für Schwärmerei. Sie musste sich um den Haushalt kümmern, Hemden bügeln, meinem Vater ein warmes Abendessen hinstellen, mich großziehen und sich zusätzlich um die kränkelnden Schwiegereltern kümmern. Jedenfalls nahm sie ihre Mehrfachbelastung gerne als Grund, um sich als die ärmste Ehefrau Wiens zu fühlen.

»Als Anwaltsgattin müsste ich all das nicht machen«, bemitleidete sie sich selbst und war damit genauso realitätsfremd wie die Prinzessinnen meiner Märchen.

»Na gib schon her«, seufzte meine Mutter, als ich wieder einmal mit meinem Buch vor ihr stand. Mein Vater war ein paar Tage auf Weiterbildung in Kärnten und der Zeitpunkt daher günstig. Die Stimme meiner Mutter ließ mich mit Rapunzel, Dornröschen und Aschenputtel in eine zauberhafte Welt eintauchen, nur die Schwanenprinzessin wollte ich nicht mehr hören.

Mit einem Mal klappte meine Mutter das Buch zu und sah mich durchdringend an. Ich schreckte hoch. »Schatz, warte nie auf einen Prinzen, der dich rettet«, fing sie an. »Er kommt nicht. Und falls doch, dann passiert die Verwandlung rückwärts: vom Prinzen in den Frosch. Retten wird er dich definitiv nicht.« In diesem Moment fragte ich mich, wovor genau mich denn so ein Prinz retten sollte, schließlich wurden Mädchen heutzutage weder in Türme gesperrt, noch von bösen Drachen oder egozentrischen Hexen bedroht. Bevor ich meine Frage stellen konnte, fuhr meine Mutter mit ihren Ausführungen weiter fort.

»Für deine Träume bist nur du zuständig. Lern fleißig, such dir einen vernünftigen Job, verdien dein eigenes Geld und bleib unabhängig.«

Warum, so fragte ich mich, sollte das so viel besser sein als die Verhältnisse, in denen ich aufwuchs? Mein Vater ging arbeiten, meine Mutter war zu Hause und alles hatte seine Ordnung. Natürlich verstand ich die Hintergründe nicht und meine Mutter war auch nicht willens, sie mir zu erklären.

»Es ist wichtig, dass du deinen Traum findest, etwas, das für dich besonders ist. Und wenn du ihn gefunden hast, dann verfolge ihn, setz ihn um und verdiene damit viel Geld. Dann brauchst du nie wieder arbeiten.«

Diese Logik widersprach sich.

»Also ist arbeiten doch nicht so toll?«, fragte ich unschuldig. Irgendwie standen der gute Job und das Finden der tollen, mich reich machenden Idee, um eben nicht arbeiten zu müssen, in jähem Gegensatz zueinander. Doch meine Mutter blieb mir die Antwort schuldig.

Mir jedenfalls gefiel der Teil mit dem Traum. Und so sinnierte ich von der tollen Idee (dem Prinzen), die ich einmal haben würde und die mich dann retten könnte (vor dem guten Job) und mir mein Märchenschloss (Wohnung, Haus) und vielleicht sogar ein Pferd (Auto) ermöglichen würde. Dass Letzteres ein rotes Cabrio sein musste, wusste ich schon als Kind. In unserer Straße parkte des Öfteren eines, das mir so gut gefiel, dass ich immer sanft mit den Fingern über den Lack strich.

Gelegentlich träumte ich davon, Prinzessin zu sein. Leider entsprach ich nicht dem Idealbild der blondgelockten, wunderschönen Maid. Ich war eher der Ronja-Räubertochter-Typ. Dunkelhaarig und drahtig, aber nicht einmal ansatzweise so mutig wie sie. Meine Introvertiertheit machte mein Leben nicht gerade einfach, vor allem erschwerte es das Finden von Freunden. In der Schule fand ich mich daher schnell in der Rolle der zurückgezogenen Außenseiterin wieder. Eine Rolle, vor der ich mich in Träume geflüchtet hätte, wäre nicht plötzlich jemand aufgetaucht, mit dem das Leben auch in der Realität durchaus Spaß machte.

Am Spielplatz herrschten eiserne Gesetze, die nur zu Schulanfang neu ausgefochten wurden. Hatte man sich ein Recht erkämpft, wurde es ein Jahr lang nicht mehr in Frage gestellt. Stefan und ich besetzten zur gleichen Zeit die gleiche Bank. Er von links, ich von rechts. Es war die Einzige, die vor einem Holztisch stand, und daher war sie besonders begehrt. Wir kannten einander vom Sehen, da wir die Unterstufe der gleichen Schule besuchten, hatten aber nie miteinander geredet. Nun saßen wir auf der Bank und sahen uns feindselig in die Augen. Nach wenigen Sekunden war klar, dass keiner von uns weichen würde, und wir arrangierten uns mit der Lage.

Unsere Eltern wollten, dass wir etwas an der frischen Luft unternahmen, also nahmen wir die Bank konsequent jeden Nachmittag in Beschlag. Damit ersaßen wir unser Recht und niemand traute sich, es uns streitig zu machen. Es erwies sich als Vorteil, zu zweit auf ein Recht pochen zu können. Wer von uns beiden zuerst kam, hielt die Bank frei. Stefan saß immer auf der linken, ich auf der rechten Seite. Dazwischen war viel Abstand. Ich spielte mit meinem Gameboy und beanspruchte nicht viel Platz. Stefan lernte Mathe und achtete akribisch darauf, dass er mit seinen Büchern und Heften nicht mehr als die Hälfte des Tisches in Beschlag nahm. Mit seinen Jeans, zu denen er ein Hemd trug, war er für sein Alter viel zu konservativ gekleidet. Seine kurz geschorenen blonden Haare passten zum Image eines Strebers. Gelegentlich sah er von seinen Berechnungen auf, grinste mich mit seinen blitz-grünen Augen schüchtern an, sagte dann aber nichts. Damit gewann er sofort meine Sympathie. Ich mochte Ruhe, fand sie aber in Gesellschaft wesentlich angenehmer.

Nach ein paar Tagen gewann die Neugierde über die Schüchternheit und ich versuchte eine erste direkte Kontaktanbahnung, indem ich eine geöffnete Packung Mannerschnitten über den Tisch schob. Er lächelte, nahm ein Stück und schob die Schnitten wieder in meine Richtung. Es vergingen noch drei Tage, bis wir uns über die erste Konversation wagten.

»Was spielst du da?«, machte Stefan den Anfang. Nervös scharrte er mit seinen Schuhen im lockeren Kies.

»Tetris«, antwortete ich, und da ich keinen Kies unter den Füßen hatte, zappelte ich aufgeregt mit den Zehen. Dann starrte Stefan wieder auf sein Heft und ich auf meinen Gameboy.

»Was lernst du denn?«, versuchte ich das Gespräch fortzuführen.

»Mathe.« Stefan sah mich kurz an und deutete mit seinem Bleistift auf ein paar Gleichungen, die für mich wie Hieroglyphen aussahen, in die sich zufälligerweise ein paar Zahlen verirrt hatten.

»Hmm«, brummte ich. Die rund um uns spielenden Kinder kamen mir extrem laut vor. Ich überlegte, was ich als Nächstes sagen könnte, doch mir wollte nichts Vernünftiges einfallen.

»In Mathe bin ich nicht so gut«, outete ich mich und setzte damit ein Statement, was ich von dieser Wissenschaft hielt. Stefan missverstand mich.

»Du kannst ja mitlernen«, bot er eifrig an.

Dankend lehnte ich sein Angebot ab und wendete mich mit rollenden Augen wieder meinem Spiel zu. Dennoch freute ich mich, wenn wir uns sahen und gemeinsam die Parkbank belagerten. Ein Fleck auf die Matheschularbeit, gefolgt von einem vernichtenden Wutausbruch meiner Mutter, änderte schlagartig meine Meinung, was das gemeinsame Lernen anbelangte. Den Tag darauf tauschte ich den Gameboy gegen mein Matheheft und legte eine Packung Mannerschnitten auf den Tisch.

»Kannst du mir da helfen?«, fragte ich mit leicht verzweifelter Stimme. »Ich hab die Schularbeit verhauen.« Vorsichtig näherte sich Stefan an, und auch ich rutschte ein Stück weiter nach links. Schulter an Schulter saßen wir da und starrten auf mein Heft.

»Das Einzige im Leben, das gerecht ist, ist Mathe«, fing er an. »Es kommt für alle das gleiche Ergebnis heraus. Zumindest, wenn man richtig rechnet.« Ich musste lachen, und das Eis war gebrochen. Stefan konnte Mathe so erklären, dass es zu mir durchdrang. Weil ich vor ihm nicht als dumm dastehen wollte, gab ich mir Mühe, und zur großen Verblüffung aller schrieb ich auf die nächste Schularbeit eine Eins.

»Das geht nicht mit rechten Dingen zu«, unterstellte mir meine Lehrerin, dass ich geschummelt hatte. Doch ich blieb in Mathe konstant gut. Hauptsächlich wegen Stefans Hartnäckigkeit, mit mir zu lernen und weil er manchmal mit meinem Gameboy spielen wollte, während er mich mit Rechnungen beschäftigte.

Eines Tages erzählte ich Stefan von meiner Suche nach der großen Idee, die durch das Feuer der Inspiration bei mir für einen Geistesblitz sorgen sollte. Stefan nahm das zur Kenntnis, nicht ohne sich zu fragen, wo denn dieser herkommen sollte. Doch wie so oft, kommentierte er es nicht. Leider waren meine Startvoraussetzungen für eine große Erfinderin denkbar schlecht: Meine Eltern waren nicht besonders gebildet. Mir standen weder eine Garage noch ein Labor für die etwaige Umsetzung umwerfender Ideen zur Verfügung, und in meinem Umfeld waren keine experimentierfreudigen Menschen, an denen ich mir hätte ein Beispiel nehmen können. So traurig es war, ich war Kind einer gänzlich normalen, langweiligen Mittelschichtfamilie.

Dennoch, so schnappte ich irgendwo auf, waren es oft die Quereinsteiger, die die besten Ideen hatten. Vor allem in Feldern, von denen sie keine Ahnung hatten, landeten sie per Zufall einen Volltreffer. Irgendwann später fand ich heraus, dass ich mich im »oft« getäuscht hatte, es war eher in »seltenen Fällen« so. Die meisten Erfindungen wurden gar nicht erst umgesetzt, und mit ihnen Geld zu verdienen war noch mal schwieriger. Dennoch, meine Mutter hatte es irgendwie geschafft, mir nachhaltig im Unterbewusstsein zu verankern, dass es im Leben um das Finden des einen Traumes ging, der mich zum großen Reichtum führen sollte. Und ich beschloss nicht aufzugeben, bis ich mein Ziel erreicht hatte.

Eines Tages fiel mein Blick auf mein altes Märchenbuch im Schrank. Ich zog es heraus und blätterte darin.

»Vielleicht hat von diesem alten Wissen irgendetwas das Zeug zur großen Idee?«, dachte ich und versuchte dem Buch versteckte Weisheiten zu entziehen. Mein Blick fiel auf die Geschichte der Schwanenprinzessin. »Mit dem Gelübde der Liebe ist der Zauber zu brechen«, las ich halblaut. Damit ließen sich also Schwäne in Prinzessinnen zurückverwandeln. Ich lehnte mich an die Wand und dachte nach.

»Eigentlich«, schoss es mir durch den Kopf, »geht es immer um Liebe.« Ob sich mit dieser Erkenntnis Geld verdienen ließ?

»Die Liebe ist doch mit steter Qual verbunden«, sinnierte ich weiter. »Zumindest lernt man das so in der Schule.« Je mehr Leiden und Dramatik à la Romeo und Julia, desto wahrhaftiger das Gefühl. So hartnäckig sich dieses Bild über die wahre Liebe in der Literatur hielt, genauso gegensätzlich zeigte sie sich in der Realität. Denn dort schwelgte sie meist gänzlich unspektakulär im stillen Kämmerchen des Lebens vor sich hin. Nur, woher sollte man das als Laie wissen?

Dennoch hoffte ich, dass ich trotz meines mangelhaften Wissens über Liebe und Romantik über eine megageniale Produktidee stolpern würde, die genau damit zu tun hatte. Nun, nach genau dieser Idee suchte ich seit meiner Kindheit.

Die Erfahrung der letzten Jahre zeigte jedoch: Zwischen Theorie und Praxis lagen nicht nur Welten, sondern unüberwindbare Galaxien, mit tiefen Schluchten und fehlendem Vorkommen von Sauerstoff und Wasser. Während meine ersten Ideen nicht einmal die Startrampe verließen, zerschellten die nächsten an silbrig schimmernden Meteoriten, kollidierten mit Weltallschrott, verirrten sich in fremden Galaxien, erstickten oder verhungerten.

Saß ich dann trotzdem wieder mal dem Glauben auf, das Ei des Columbus entdeckt zu haben, kam irgendein Erwachsener und trampelte so lange drauf herum, bis sich die geniale Idee als Niete entpuppte. Und so landete eine vermeintlich grandiose Idee nach der anderen im großen Topf des Misserfolgs. Kurzum, der Traum von der schnellen Marie platzte wie die großen Seifenblasen arbeitsloser Straßenkünstler, die glaubten, mit ihrem reisetauglichen Seifeneimer finanziell über die Runden zu kommen.

Mangels einer Idee, die das Geld beim Fenster hereinschneien ließ, musste ich mir Gedanken über meine Zukunft machen. Ich war 15 und hatte meine neun Jahre Schulpflicht fast fertig abgesessen.

»Entweder du heiratest oder machst eine Lehre«, meinte mein Vater. Meine Mutter verzog beim Wort heiraten säuerlich das Gesicht und schüttelte vehement den Kopf.

»Heiraten kann sie später auch noch«, zischte sie. »Zuerst lernt sie etwas.« Damit schied das Konzept Ehe erstmal aus den Überlegungen aus.

Bei der Diskussion über mein Leben kam heraus, dass meine Eltern eine gänzlich andere Ansicht von guter Ausbildung und tollem Job hatten als ich. Mein Vater hatte den Lehrberuf des Versicherungskaufmannes abgeschlossen, meine Mutter eine Handelsschule. Unter einem guten Job, da waren sie sich einig, stellten sich beide eine Karriere bei der Versicherung vor.

»Ich bringe dich in meinem Unternehmen unter«, brummte mein Vater nicht ohne Stolz, schließlich ging er seit knapp 30 Jahren jeden Morgen in das gleiche Büro. »Irgendwann übernimmst du dann meinen Kundenstock und führst ein gutes Leben.« Mir graute allein bei dem Gedanken.

Bisher hatte mich niemand gefragt, wie ich mir mein Leben vorstellte. Es wurde Zeit, etwas zu sagen. Also stand ich auf und räusperte mich.

»Ich mache die Oberstufe weiter und dann die Matura«, postulierte ich. Mit diesem einen Satz warf ich das ausgeklügelte Konzept meiner Eltern, wie mein Leben auszusehen hatte, über den Haufen.

»Du willst was?«, meine Eltern trauten ihren Ohren nicht. Niemand in unserer Familie war auch nur in die Nähe einer Matura gekommen. Fassungslos starrten sich meine Eltern an und dann mich. Hätten sie nicht bereits auf der Couch gesessen, so hätte es sie spätestens jetzt auf den Hintern gesetzt.

»Mein Zeugnis ist gut und meine Lehrer befürworten es«, beharrte ich stur auf dem Floh, den mir Stefan ins Ohr gesetzt hatte. Meine Eltern waren so baff, dass sie sich nicht gegen mein Vorhaben stellten, und am nächsten Tag wusste bereits die ganze Nachbarschaft, dass die Senner-Tochter Matura machte. Zu diesem Zeitpunkt konnte niemand ahnen, dass ich schlussendlich sogar an einer Universität landen würde. Weder ich, noch meine Eltern und noch viel weniger die Nachbarn.

Mit einem Maturazeugnis in der Tasche sollte mir die Welt offen stehen. Hypothetisch zumindest. Paradoxerweise tat mir die Welt diesen Gefallen nicht, und ich fand mich planlos vor die Wahl gestellt, etwas mit meinem Leben anfangen zu müssen. Für Stefan war nichts logischer, als studieren zu gehen. Für mich war nur eines klar: Dass mein Vater mich bei seiner Versicherung unterbringen würde, sollte ich nicht bald eine Entscheidung treffen. Das genügte als Antrieb, mich mit unterschiedlichen Studienrichtungen auseinanderzusetzen, denn etwas Besseres als das Gleiche zu machen wie Stefan wollte mir in diesem Augenblick nicht einfallen.

»Wie wäre es mit Physik, Chemie oder Informatik?«, zog mich mein Freund auf.

»Noch mehr Mathe? Damit hast du mich acht Jahre lange gequält«, zischte ich. »Sicher nicht.«

»Medizin?« Stefan lachte. Er wusste, wie sehr mir vor Blut und Exkrementen ekelte. Während er sich vor Lachen bog, sah ich ihn strafend an.

»Dann bleiben noch Kommunikationswissenschaften, Rechtswissenschaften und Wirtschaft«, zählte Stefan auf. »Oder Versicherung.«

»Wir streichen das Erste und das Letzte«, seufzte ich. »Also, was nehmen wir? Wähle!« So versuchte ich mich weiter vor der Entscheidung zu drücken und doch eine herbeizuführen.

Schlussendlich warfen wir eine Münze. Kopf war Wirtschaft, Zahl war Recht. Ich glaube, Stefan wollte lieber Wirtschaft studieren, denn im Regelfall warf er öfter Kopf. Vielleicht wollte er sich auch nur vor der Argumentation drücken, warum er Wirtschaft besser fand als Rechtswissenschaften. Oder er wusste es selbst nicht so genau. Also entschied die Münze. Und die war eindeutig für Wirtschaft. Beim Einschreiben auf der Uni hielten wir uns nicht lange mit der Auswahl irgendwelcher Spezialstudien wie internationale Betriebswirtschaft, Handelswissenschaften, Finanzwirtschaft, Sozioökonomie oder Wirtschaftspädagogik auf. Wir nahmen, was alle machten: Betriebswirtschaft.

Kapitel 2

Am Betriebswirtschaftsstudium faszinierte mich genau gar nichts. Als ich in den langweiligsten Vorlesungen des gesamten Universums saß, wurde mir bewusst, dass nicht jede schnelle Entscheidung auch eine gute war. So gesehen hätte ich auch gleich Chemie oder Physik studieren können.

»Diese Vorlesungen sind zum Einschlafen oder Davonlaufen«, seufzte ich und spürte, wie mir die Augen zufielen.

»Du tust weder das eine noch das andere«, zischte Stefan und verhinderte konsequent, dass ich weder dem einen noch dem anderen Impuls nachgab.

»Nach der Vorlesung treffen wir uns im Studierraum im dritten Stock.« Stefan war auch dahinter, dass wir nach den Seminaren unsere Aufgaben erledigten. Zu zweit war das Arbeiten leichter erträglich. Danach war ich meist so erledigt, dass ich nach Hause fuhr und ins Bett fiel. Dabei wäre ich viel lieber ausgegangen und hätte Spaß gehabt. Einmal jedoch kam mir diesbezüglich der Zufall zu Hilfe.

Die Universität sperrte pünktlich um 22 Uhr. Sicherheitshalber verließen alle Studenten das Gebäude ein paar Minuten vorher, denn es kursierten Gerüchte, dass der Hausmeister schon öfter Zuspätkommende eingeschlossen hatte. Kurz vor zehn packten wir unsere Sachen und fanden uns plötzlich im Trubel des jährlichen Universitätsfestes wieder. Die Universität war großräumig abgesperrt, mehrere Bars waren aufgebaut und ein DJ beschallte die Aula. Die Ankündigungen des Events waren spurlos an uns vorübergegangen. Es wäre dumm gewesen, nicht zu bleiben. »Hey, wir haben uns das Geld für den Eintritt gespart«, grinste ich von einem Ohr zum anderen. Stefan starrte fassungslos auf die wilde Partymeute. »Feste sind dazu da, um sie zu feiern, wie sie fallen«, erstickte ich Stefans mögliche Versuche, die Party sofort zu verlassen, im Keim. Ich wusste, dass er sagen würde, dass wir morgen früh zwei wichtige Präsentationen hatten. Aber sie waren fertig und warum nicht ein bisschen bleiben?

Stefan suchte nach seinem Spindschlüssel in den Tiefen seiner Aktentasche, konnte ihn aber nicht finden.

»Gib her«, grinste ich ihn an. »Ich sperre dein Zeug in meinen Spind.« Schnell schloss ich seine Lernunterlagen ein und zog ihn an die Bar. Ein paar Bier später tanzten wir wie wild. Also ich tanzte. Stefan stand ungläubig an der Bar. So unbändig hatte er mich noch nie gesehen. Und tanzend noch viel weniger.

»Wir sollten uns etwas zu essen holen«, erinnerte mich Stefan daran, dass wir seit Mittag nichts gegessen hatten. Damit versuchte er zu retten, was ohnehin nicht mehr zu retten war. Die Rhythmen wurden immer heißer, der Alkohol fuhr ein und ich fühlte mich großartig.

»Es ist Happy Hour«, sagte der DJ durch. »Schlagt zu, günstiger werden die Drinks heute nicht mehr.« Übermütig bestellte ich einen Meter Cola Rum. Stefan war nicht mehr zu sehen.

»Vielleicht hat er sich etwas zu essen geholt«, dachte ich und schaute auf die hübschen, auf einer Holzplatte in einer Reihe drapierten Drinks. »Trink ich sie halt alleine.« Da stand ein junger dunkelhäutiger Austauschstudent neben mir und grinste mich an. »Ich bin Carlos«, stellte sich der gut aussehende Machotyp vor. »Hast du Lust zu tanzen?«

Ich hatte und kippte die letzten vier Drinks hinunter. Dann schwang ich meine Hüften. Nicht sonderlich im Takt, nicht sonderlich damenhaft, vermutlich auch nicht besonders sexy. Es war heiß, wir schwitzten, die Cola Rum stiegen mir in den Kopf. Ich war nicht mehr zu bremsen. Nichts konnte mich mehr erschüttern. Auch nicht die Tatsache, dass ich am nächsten Tag um 8 Uhr früh auf der Uni sein sollte.

Es gab kein penetranteres Geräusch als den Klingelton meines Handys. Genervt tastete ich nach meiner Handtasche und kramte das Telefon heraus, um es abzustellen. Versehentlich hob ich dabei das Telefonat ab.

»Wo bist du?«, Stefans Stimme hatte einen scharfen Unterton.

»Ich weiß nicht«, stammelte ich verwirrt von der Uhrzeit. Mein Kopf dröhnte und ich bekam kaum die Augen auf. Neben mir lag ein Typ. Genauer gesagt lag ich neben einem Kerl, in einem fremden Bett, in einer mir unbekannten Wohnung. Ich hielt mit meinem Finger das Mikrofon meines Smartphones zu und gab dem Mann neben mir einen Tritt.

»Wer bist du?«

»Carlos.« Der Typ drehte sich um, zog die Bettdecke zu sich und schlief weiter. Ich trat ihn noch mal.

»Wo bin ich?«

»Bei mir«, stöhnte Carlos schlaftrunken. »Lass mich schlafen.«

»Großer Gott«, entfuhr es mir. Verzweifelt drückte ich auf die GPS-Taste und aktivierte Google Maps. Das rote Symbol markierte eine Straße. »Ich bin am anderen Ende der Stadt«, flüsterte ich schockiert. »Bei einem braun gebrannten Typen namens Carlos. In seinem Bett. Und das nackt.«

»Was ist denn überhaupt?«, stammelte ich ins Telefon und massierte mir die Schläfen, um die pochenden Kopfschmerzen zu lindern.

»Ich bin auf der Uni und stehe vor deinem Spind, in dem die Sachen für meinen heutigen Vortrag eingeschlossen sind. Und die für deinen Vortrag übrigens auch«, Stefans Stimme klang gereizt. Ungewöhnlich gereizt. Es dämmerte mir. Party, Spind, Stefan, Rum, Carlos.

»Mist«, presste ich kläglich hervor. »Den Schlüssel für meinen Spind, den habe ich.« Meine Gedanken erfassten die Situation in Zeitlupe. Stefan hatte seinen Vortrag um 8 Uhr. Es war zehn Minuten vor acht. Stefan war sauer, ich fühlte mich elend.

»Es tut mir leid«, stammelte ich.

»Wo auch immer du bist, beweg dich auf die Uni.« Das klang nicht nach dem Stefan, den ich kannte. Ich war letzte Nacht auch nicht die Carina, die ich kannte. Das schlechte Gewissen, das mich jetzt plagte, war schlimmer als der Kater, der meinen Kopf fast zum Zerspringen brachte. Carlos gab grunzende Laute von sich, bewegte sich aber nicht. Ich saß immer noch am Bett und versuchte mich in der Wohnung zu orientieren.

»Ich muss etwas trinken«, schniefte ich und stand vorsichtig auf. Die Küche schien hauptsächlich aus ungewaschenem Geschirr, Pizzaschachteln und leeren Bierflaschen zu bestehen. Ein sauberes Glas war nicht zu finden. Ich versuchte mit der Hand etwas Wasser zu erwischen und zu trinken. Dabei an keinen der schmutzigen Gegenstände anzukommen war ein Balanceakt, den ich mir selbst in diesem Zustand gar nicht zugetraut hätte.

Eine schlimme Ahnung mischte sich in das schlechte Gewissen und nervende Hämmern in meinem Kopf. Ich stupste den Typen im Bett an: »Haben wir einen Gummi benutzt?«, fragte ich mit einer Mischung aus Unsicherheit und Verzweiflung. Carlos’ Gegrunze gab keinen Aufschluss darüber, ob oder ob nicht. Nervös suchte ich den Boden nach einem benutzten Kondom oder einer entsprechenden Verpackung ab. Hatten wir Sex gehabt? Vermutlich ja. Genau konnte ich es nicht sagen, aber meinem entkleideten Zustand nach zu schließen, war die Wahrscheinlichkeit hoch. Irgendwo nach der Happy Hour und dem Meter Cola Rum hörte meine Erinnerung auf. Für das danach gab es nur noch ein paar kurze Blitzlichter, Vermutungen und einen grunzenden Carlos.

»Ich bin noch dran«, fauchte es aus dem Telefon, das ich noch in der Hand hielt. Stefan.

»Ja?«, schluchzte ich.

»In fünf Minuten fängt meine Vorlesung an, meine Skripten sind in deinem Spind. Du bist nicht da. Beweg deinen Hintern auf die Uni.« Stefans Schnappatmung verhieß nichts Gutes. Mir war speiübel und ich musste mich setzen. Schlimmer noch als mein Zustand, war, dass Stefan böse auf mich war. Es war ein scheußliches Gefühl, das sich irgendwie so anfühlte, als wäre ich in flagranti beim Fremdgehen erwischt worden.

Deprimiert suchte ich meine Klamotten zusammen, die in der ganzen Wohnung verstreut waren. Ich fand alles bis auf meine Unterhose. Dann zückte ich mein Handy und knipste ein Foto von Carlos. Wenn ich mich schon nicht an die Nacht mit meinem Latinolover erinnerte, dann wollte ich ihn zumindest wiedererkennen, wenn ich ihm auf der Uni über den Weg lief. Dann sah ich zu, dass ich aus der Wohnung kam.

Google Maps zeigte als schnellste Route 20 Minuten zur Uni an. Es war 8.10 Uhr. Ich stank wie ein Iltis nach Alkohol, Zigaretten und Carlos. Der Taxifahrer, den ich beschwor, am besten über alle roten Ampeln zu fahren, tat mir leid. Wegen meiner Laune, meinem Gestank und dem Stress, den ich ihm um diese Uhrzeit machte. Ich tat mir auch leid. Als der Taxler mit quietschenden Reifen vor der Uni hielt, riss ich die Taxitür auf und übergab mich. Dann fischte ich meine Geldbörse heraus, zahlte und wäre am liebsten auf Nimmerwiedersehen samt meinem Restalkohol durch den Gully im Abwasserkanal versunken.

Stefan stand gestresst vor meinem Spind und trommelte mit seinen Fingern darauf herum. Die Aula sah aus wie immer. Nichts deutete darauf hin, dass hier gestern wilde Partys gefeiert worden waren. Ein »Guten Morgen« in Stefans Richtung verendete auf halbem Weg. Hätte sein Blick töten können, wäre ich sofort dahingestreckt worden. Eine Strafe, die ich durchaus verdient hätte. Mit zittriger Hand versuchte ich den Spind aufzusperren. Stefan hatte keine Geduld mehr.

»Gib her«, zischte er, riss mir den Schlüssel aus der Hand und drängte mich zur Seite. Eilig packte er seine Unterlagen und drückte mir seinen Kaffee in die Hand. Ohne ein weiteres Wort zu verlieren hastete er in seinen Vorlesungsraum. Ich ließ mich kraftlos zu Boden sinken. Es war 8.40 Uhr. Vor exakt 40 Minuten hätte ich meine Abschlusspräsentation halten sollen. Jetzt war sie mir egal. Stefan war sauer auf mich, und das schmerzte mich sehr. Müde zog ich mich auf und nahm meine Unterlagen aus dem silbergrauen Verschlag, versperrte ihn und warf den leeren Plastikbecher auf dem Weg zu meinen Seminarraum in Richtung Abfalleimer. Ich traf nicht. Die stark gezuckerten Kaffeetropfen klatschten an die Wand und der Becher landete mit einer eleganten Drehung am Boden. Als ich die Türe zum Seminarraum öffnete, trafen mich gehässige Blicke. Der Professor hatte mich aufgerufen, die Präsentation zu halten, und ich hatte durch Abwesenheit geglänzt. Wie ein Häufchen Elend ließ ich mich auf einen leeren Sessel nieder und wünschte mir sofortige Unsichtbarkeit. Das Leben tat mir diesen Gefallen nicht. Warum war ich überhaupt noch gekommen?

»Frau Kollegin, Sie sind etwas zu früh dran für die nächste Stunde«, spottete der Professor, der mich durch die Tür kommen gesehen hatte. Mein »es tut mir leid« ging im Pausengeklingel unter. Krampfhaft versuchte ich die Tränen zurückzuhalten und stellte mich dem Professor in den Weg.

»Kann ich meine Präsentation in der nächsten Stunde nachholen?«

»Da Sie reichlich oft zu spät in meinem Seminar erscheinen, brauchen Sie sich gar nicht mehr blicken lassen. Sie erhalten eine negative Beurteilung für Ihre nicht erbrachten Leistungen.« Die aufsteigenden Tränen ließen sich nicht mehr unterdrücken. Ich rannte auf die Toilette, schloss mich ein und ließ ihnen freien Lauf.

Laut schluchzend saß ich am Boden des WCs, bis eine Studentin an die verriegelte Türe klopfte, um zu fragen, was denn los sei. Es war mir nicht möglich, das gesamte Desaster in Worte zu fassen. Eben hatte ich ein ganzes Semester wegen einer Nacht verloren, an die ich mich nicht einmal erinnern konnte. Zusätzlich hatte ich meinen besten Freund gekränkt, seine Präsentation vermasselt und war möglicherweise schwanger. Als mir Letzteres durch den Kopf schoss, packte ich meine Sachen und flüchtete aus der Uni. Ich brauchte die Pille danach.

Stefan ging mir die nächsten Tage aus dem Weg. Ich wusste nicht, ob es wegen der zunichtegemachten Präsentation war oder weil ich ihn an der Bar hatte sitzen lassen oder weil ich mit Carlos auf der Tanzfläche geknutscht hatte. Vielleicht war es auch von allem etwas.

»Es tut mir so leid«, entschuldigte ich mich ins Blaue hinein und bat um Abbuße für den verschlossenen Spind, den Alkoholexzess und Carlos. Doch Stefan reagierte weder auf meine WhatsApp-Nachrichten, noch auf die SMS und E-Mails. Das Warten auf eine Versöhnung erschien mir endlos. Nach drei Tagen sprach er wieder mit mir.

»Schlampe.« Egal, was er sagte, es klang wie Musik in meinen Ohren. Nichts war schlimmer, als von meinem besten Freund geschnitten zu werden.

»Es tut …«

»Hör auf dich zu entschuldigen.«

»Also gut. Was willst du hören?«, fragte ich zerknirscht.

»Triffst du diesen Carlos noch?«

»Nein«, stammelte ich überrascht. In diesem Moment legte sich ein dunkelbraun behaarter Arm um meine Taille. Mit einem überschwänglichen »Hey Babe« schnappte mich Carlos von hinten.

»Du?«, entfuhr es mir.

»Ich war ein paar Tage out of order«, grinste Carlos. »Zu viel Rum.«

Er lachte. Ich kicherte. Stefans Miene verfinsterte sich zusehends.

»Du bist doch nicht eifersüchtig, oder?« Carlos sah Stefan prüfend an.

»Nein«, log er. »Alles gut. Ich wusste nur nicht, dass Carina auf Latinolover abfährt.«

»Ich bin Carlos«, stellte sich meine Eroberung vor und streckte Stefan die Hand hin.

»Stefan.« Mit säuerlichem Gesichtsausdruck drückte Stefan die dargebotene Hand so fest er konnte. Carlos zeigte sich davon unbeeindruckt und wandte sich wieder mir zu.

»Ich entführe jetzt diese schöne Frau auf einen Kaffee.« Carlos nahm meine Hand und zog mich Richtung Kantine. Immerhin versuchte er nicht, mich mit einem Automatenkaffee abzufüllen. Dadurch gefiel er mir immer besser, und nach dem zweiten Kaffee wollte ich nur mehr seinem charmanten Lächeln erliegen.

Die darauffolgende Nacht unterschied sich von unserer ersten nur darin, dass ich mich an sie erinnern konnte. Wir tranken Rum, alberten herum und erzählten uns lustige Begebenheiten aus unserem Leben. Eigentlich erzählte Carlos und ich lachte. Mit jeder Minute fand ich ihn sympathischer. Vielleicht war ich auch ein bisschen verliebt. Carlos’ Chaos weckte in mir ein gewisses Vagabunden-Gefühl. Jeden Abend fuhren wir nach der Uni zu ihm, bestellten Pizza, tranken Bier oder Rum oder beides und sahen fern. Dazwischen ging er mir an die Wäsche. So ich noch welche anhatte.

»Das wichtigste Seminar meines Semesters habe ich verbockt«, gab ich mir selbst den Freibrief für ein liederliches Leben. Was hatte ich schon zu verlieren? Ich fühlte mich wie Salma Hayek in »Die Maske des Zorro«: Cool, schön, wild, verwegen. Versoffen, verlottert, versext traf es eher. Aber diese Realität wollte ich nicht wahrhaben. Drei Wochen lang verbrachte ich in tiefster Zweisamkeit mit Carlos. Zur Uni fuhren wir nur, wenn er einen wichtigen Kurs hatte. Dann kam ich mit und setzte mich widerwillig in meine Seminare. Alles, was ich die letzten Jahre mit Stefan wegen der dauernden Streberei entbehrt hatte, bot mir Carlos. Ich hatte mich meiner Verpflichtungen entledigt, fühlte mich frei und hatte einfach nur Spaß.

Carlos hatte einen wichtigen Termin mit seinem Professor und drängte mich, endlich aus der Dusche herauszukommen.

»Mach dich fertig, wir müssen gleich los«, trieb er mich an und hielt mir meine Handtasche und Jacke hin. Auf der Uni angekommen, drückte er mir einen Kuss auf den Mund und verschwand. Da ich nun mal schon da war, saß ich die Zeit in einem Seminar ab. Als ich ihn suchte, um wieder zu ihm zu fahren, sah ich Carlos von Weitem auf der Treppe vor der Uni sitzen. Mit einer Blondine, der er in tiefster Umarmung gerade die Zunge in den Hals steckte. Damit erübrigte sich die Frage, ob aus uns mehr werden würde. Das Salma Hayek-Feeling verpuffte ebenso schnell, wie es gekommen war. An unaufgeräumten Küchen, Pizzaschachteln und leeren Bierflaschen fand ich schlagartig nichts mehr abenteuerlich. Auch an Carlos nicht. Ich fühlte mich gekränkt, weil er nicht einmal mit mir Schluss gemacht hatte. Aber hatten wir überhaupt eine Beziehung gehabt? Ich sehnte mich nach einer Schulter zum Ausweinen. Ich wollte zu Stefan.

Mit bleiernen Armen stand ich vor Stefans Zimmertür. Nichts erschien mir schwerer als anzuklopfen. Doch das Anstarren der Tür half mir nicht, meinen Freund zurückzugewinnen. Natürlich hätte ich noch ein paar Stunden dort stehen können und wäre es vielleicht auch, wäre nicht Stefans Zimmernachbar nach Hause gekommen. Wollte ich nicht noch blöder dastehen, als ich es ohnehin schon tat, musste ich klopfen. Und zwar sofort.

»Aus welchem Loch bist du denn gekrochen?«, begrüßte mich Stefan mit einem süffisant-fiesen Unterton, als er die Türe öffnete. Er war immer noch sauer.

»Du bist gemein«, fauchte ich ob der kränkenden Begrüßung. Allerdings sah ich so verheult und verwuschelt aus, dass er mit seiner Ansage nicht ganz unrecht hatte. »Carlos ist ex. Alles tut mir leid und ich vermisse dich.« Große Tränen kullerten über meine Wangen und verwandelten den aufgebrachten Stefan in meinen lieben Stefan zurück.

»Na komm rein.« Stefans Stimme klang wieder nach ihm selbst. Überglücklich umarmte ich ihn.

»Ich wollte mir eben etwas zu essen bestellen. Hast du Hunger?«

»Alles außer Pizza«, grinste ich unter Tränen hervor. »Und Bier.«

Stefan bestellte Sushi und öffnete eine Flasche Wein.

»Also?«, fragte er und schenkte mir ein.

»Also was?« Ich ließ mich auf sein Bett fallen und starrte auf mein Glas.

»Wie hast du vor, dein Semester zu retten?«

»Da ist nichts mehr zu retten. Das ist verbockt. Mein Professor hat mich aus dem Seminar geworfen.«

»Du hast ja auch einen bleibenden Eindruck hinterlassen.« Stefan verkniff sich diesmal seinen Spott und alle weiteren Kommentare. »Jetzt, wo du wieder du selbst bist, solltest du auch so agieren.« Er hatte recht, was hatte ich noch zu verlieren? Also tüftelten wir an einer Inszenierung für den nächsten Tag. Es gab nur eine einzige Chance, noch eine Chance zu bekommen.

Punkt 9 Uhr stand ich in einem weißen Kleid im Büro des Professors. Mit theatralischen Worten entschuldigte ich mich für die vergeigte Präsentation, stammelte eine Geschichte von einem verführerischen Casanova, der Schuld an meinem Untergang hatte, und schwor, auf ewig die Rolle der Musterstudentin nicht mehr zu verlassen. Dank der Billigmascara, die wie Feuer in meinen Augen brannte, kullerten mir beim Über-das-Aug-wischen ein paar Tränen über die Wangen. Meinem Professor war die schluchzende Studentin mit der schwarz verronnenen Wimperntusche im Gesicht nicht ganz geheuer. Er wollte mich schnellstmöglich aus dem Zimmer haben.

Mit einem neuen Termin für meine Abschlusspräsentation schloss die Türe hinter mir.

»Stefan, es hat geklappt«, quietschte ich mit überdrehter Stimme ins Telefon. Stefan freute sich mit mir. Ich überarbeitete die ohnehin schon fertige Arbeit bis hin zur Überperfektion und feilte an meiner Präsentationsdramaturgie. Dann kam mein großer Auftritt, der mich vor dem Untergang retten sollte. Noch einmal war der Mascaratrick nicht anwendbar. Diesmal musste ich eine ausgezeichnete Leistung abliefern.

Präsentationen machten mich nicht sonderlich nervös. Diese eine jedoch trieb mich beinahe in den Wahnsinn. Von ihr hing nicht nur ab, ob ich dieses Semester bestand, sondern auch mein gesellschaftliches Überleben an der Uni. Eine zweite Blamage konnte ich mir keinesfalls leisten.

»Ich würde dir gerne etwas von deiner Anspannung abnehmen.« Stefan gab sich echt Mühe mich zu beruhigen. »Kein Kaffee mehr.« Er nahm mir den halb vollen Becher weg und schob mir ein Stück Bitterschokolade in den Mund. In diesem Moment schien nichts mehr zu helfen. Außer, die Sache schnellstmöglich hinter mich zu bringen.

»Ich gehe jetzt.«

»Es ist zu früh. Der Lehrsaal ist noch leer.«

Wie ein gereizter Tiger marschierte ich den Gang auf und ab.

»Das macht mich nervös.« Stefan griff nach meiner Hand. »Du kannst es. Du schaffst es. Du bist die Beste.« Diese amerikanischen Selbstwertaufbaumethoden riefen bei mir Aggressionen hervor.

»Hör auf damit«, zischte ich. »Du bist ein grauenhafter Animateur.«

»Deswegen werde ich auch Controller.«

Irgendwie mochte ich Stefans trockenen Humor. Ich nahm einen Schluck aus seinem Kaffeebecher und ging langsam Richtung Lehrsaal.

»Alles Gute«, rief er mir hinterher.

Ich war die Erste im Hörsaal. Damit hatte ich eine große Auswahl an Sitzmöglichkeiten. Nervös nahm ich in der letzten Reihe Platz. Langsam füllte sich der Saal mit lachenden plaudernden Studenten. Ich klammerte mich an meinen Unterlagen fest. Die Glocke läutete die Stunde ein und mein Professor betrat den Raum. Sein Blick fiel als Erstes auf mich.

»Da wäre sie ja schon mal«, murmelte er, bevor er die Klasse begrüßte. »Guten Morgen, werte Kolleginnen und Kollegen. Heute haben wir das Thema Product Placement. Eigentlich sollten Sie ja bereits einiges darüber wissen, denn Ihre Kollegin Carina Senner hätte schon vor vier Wochen über dieses Thema referieren sollen. Wie ich sehe, hat sie es heute in die Klasse geschafft. Carina, bitte!«

Die Luft war zum Schneiden. Alle Blicke wanderten zu mir in die letzte Reihe. Ich stand auf und ging langsam, Schritt für Schritt bedächtig nach vorne.

»Nur nicht stolpern«, sprach ich mir selbst Mut zu. Beim Rednerpult zog ich eine Dose »All I need« aus der Tasche und stellte sie mit einem lauten Knall auf das abgenutzte Holz. Üblicherweise standen hier Wassergläser, die dort ihre Ränder für die Ewigkeit hinterließen. Man hörte die Luft vibrieren. Einige Studenten verzogen das Gesicht. Dem Professor entwischte ein überraschend freundliches Lächeln. Ich griff nach der Dose und ließ den Verschluss knacken. In Zeitlupe nahm ich einen großen Schluck vom Grünteegetränk und stellte die Dose wieder auf das Rednerpult.

»Genau das ist Product Placement«, eröffnete ich meinen Vortrag. »Denn ihr habt jetzt alle diese Dose wahrgenommen. Dabei ist sie nur ein Requisit meines Vortrages.« Meine Anspannung verflog, das Publikum atmete durch, einige lachten und wetzten erwartungsvoll auf ihrem Stuhl hin und her. Der Professor machte einen zufriedenen Eindruck. Ich hatte das Publikum für mich gewonnen. Vielleicht sogar ein paar Neider. Ich war gut, ich war in Fahrt und legte mit meinem Vortrag die Latte für alle nachkommenden Präsentationen sehr hoch.

Tatsächlich stieg nach meinem Auftritt der »All I need«-Umsatz auf der Uni. Ich hatte die Kantine vorab um eine statistische Auswertung der durchschnittlich verkauften Dosen und eine Spezialauswertung für den heutigen Tag sowie die drei Folgetage gebeten. Diese legte ich meiner gebundenen Arbeit bei und überreichte sie, gemeinsam mit einem Sechser-Pack »All-I-need«-Dosen, eine Woche später dem Professor.

»Ich hätte nicht gedacht, dass Sie das hinbekommen.« In seiner sonst sarkastischen Stimme schwang ein Hauch von Bewunderung mit. Das Kompliment tat mir gut und ich verließ mit einem »sehr gut« das Büro. Von diesem Moment an hielten mich alle prädestiniert für den Job als Unternehmensberaterin, was vermutlich an meinem Improvisationstalent lag.

Da wir unsere Finanzen aufbessern mussten, überlegten wir, wie wir zu Geld kommen könnten. Stefan ging die Sache wie immer konkret an: Er hatte sich schon vor einem Monat für ein Praktikum beworben und eine Zusage erhalten. Der Abschluss war gefährlich nah und damit geriet ich unter Zugzwang. Last-Minute suchte ich auch nach einem Praktikum, musste aber feststellen, dass ich dafür viel zu spät dran war. Also klapperte ich alle größeren Gastgärten ab und bewarb mich als Kellnerin. Tatsächlich hatte ich nach einigen Gesprächen einen Sommerjob in der Tasche.

Jetzt hieß es nur mehr, alle restlichen Prüfungen aus dem Ärmel zu schütteln. Egal wie. Wie immer kam ich so gerade irgendwie durch, während Stefan mit Auszeichnung, oder summa cum laude, wie es universitär so schön hieß, abschloss. Jedenfalls hielten wir beide nach drei Jahren Universität ein Bachelorzeugnis in der Hand. Um es zu feiern, holten wir uns ein paar Bier, setzten uns an die Alte Donau und philosophierten über die Zukunft.

»Und dann werde ich Controllingleiter eines großen Unternehmens«, war sich Stefan sicher. Das klang logisch. Er hatte immer einen Plan. Deswegen verlief sein ganzes Leben auch unaufgeregt linear.

»Ich werde das ultimative Produkt entwickeln, vermarkten und so gewinnbringend verkaufen, dass ich mich in die Karibik absetzen kann und nie wieder arbeiten muss«, hielt ich unerschütterlich an meinem Kindheitstraum fest. Er war so schön konkret unkonkret und hielt mir richtungslos chaotisch alle möglichen Türen offen. Ich war eben ganz anders als Stefan.

»Ohne Master läuft da aber gar nichts«, grinste Stefan, der genau wusste, wie es weiterging: Eine Spezialisierung wählen und noch mindestens zwei Jahre weiterstudieren. Doch erst einmal wollte ich ausgiebig meinen Abschluss feiern. Seit Tagen freute ich mich auf die Semester-Ende-Party im Studentenheim.

Das Semester war gelaufen und alles war gut. Zumindest bis zu dem Moment, als der DJ für die Abschlussparty im Studentenheim überraschend und sehr kurzfristig absagte. Das wäre nicht weiter schlimm gewesen, wenn nicht zwei Tage vorher schon der Veranstalter wegen eines familiären Todesfalles ausgefallen wäre. Da er niemanden gefunden hatte, der die Organisation für ihn übernahm, drückte er den Job Stefan aufs Auge. Der sagte völlig überrumpelt zu und nahm seine Aufgabe zu 100 Prozent ernst. Innerhalb von ein paar Stunden einen DJ aufzutreiben, entpuppte sich als schwierig, und auch so manch anderes schien an diesem Tag wie verhext.

Es kam selten vor, dass Stefan in eine Situation geriet, die er nicht kontrollieren konnte. Soweit ich mich erinnern konnte, war in seinem Leben bisher alles linear verlaufen. Alles, wirklich alles passierte nach Plan. Nicht einmal das kleinste Detail wies darauf hin, dass in seinem Leben irgendetwas dem Zufall überlassen war. Er war ein Wunschkind, das in der Hochzeitsnacht gezeugt wurde. Zur großen Freude der Familie schlüpfte ein Sohn und Stammhalter. Bereits im Kindergarten war Stefan ein Musterkind, darauf folgte die Volksschule mit einem Alles-Einser-Abschluss, und natürlich stand am Zeugnis des Gymnasiums ein ausgezeichneter Erfolg. Dann die Aufnahme auf die Universität. Perfektes Aussehen, perfektes Benehmen, perfekt gepackte Aktentasche. Ich hingegen war ein Zufallstreffer, der Grund für eine schnelle Eheschließung. Kaiserschnittkind, Mädchen. Außenseiter im Kindergarten, Außenseiter in der Volksschule, Außenseiter im Gymnasium. Abschluss der Oberstufe dann immerhin mit einem guten Erfolg. Und auf der Universität hatten sie mich genommen, weil die Punkte meines Aufnahmetests gerade noch für den letzten freien Studienplatz reichten.

Stefan hatte immer alles im Griff. Und wenn er es nicht hatte, tat er zumindest so. Nur zweimal hatte ich Stefan verzweifelt erlebt. Als sein geliebtes Meerschweinchen starb, wusste er nicht, wie er damit umgehen sollte. Ich versuchte ihn zu trösten und zwang ihn zu weinen, weil ich irgendwo gelesen hatte, dass das wichtig sei. Da er es nicht konnte, half ich mit einer rohen Zwiebel nach, die ich ihm vor die Augen hielt. Ein anderes Mal, als sein Vater einen Herzinfarkt hatte und seine Mutter durch den Schock in eine Depression gefallen war, war er völlig überfordert. Sie kümmerte sich um gar nichts mehr und lag nur noch im Bett. Ich wusste auch nicht, was zu tun war, packte aber einfach mit an, wo ich die größte Notwendigkeit sah. Ich half im Haushalt, saugte die Wohnung, zeigte ihm, wie man den Geschirrspüler bediente, Wäsche wusch und kochte. Nach einer Woche konnte Stefan Grießbrei, Spiegeleier, Omelette, Fertigpizza und Käsetoast machen. Als Stefans Vater vom Spital zurückkam, war alles wieder wie zuvor und doch anders. Wir waren uns viel näher gekommen und wussten, wir konnten uns aufeinander verlassen.

»Ich brauche einen DJ.« Stefans Blick war verzweifelt. »Ich habe alle Nummern, die ich finden konnte, durchtelefoniert. Entweder sind sie nicht in Wien, bereits gebucht oder krank. Was mache ich jetzt?«

Ich war nie um eine Antwort verlegen, aber just in diesem Moment verwanden sich meine Gehirnwindungen zu einem gordischen Knoten.

»Es kann doch nicht so schwer sein, ein paar CDs abzuspielen, oder?«

»Keine Ahnung.« Stefan war kurz davor, die Nerven zu schmeißen.

Meine Gedanken kreisten, der gordische Knoten verknotete sich immer fester, und dann kam mir mit einem Schlag die rettende Idee.

»Wie wäre es mit einer DJane?«, fragte ich und setzte meinen verwegenen Blick auf.

»DJane? Und woher bekomme ich auf die Schnelle so eine Jane?«

»Hier. Vor dir.« Ich zeigte auf mich. Was sich reimt, ist gut. Das hatte uns Pumuckl in unserer Kindheit folgenweise eingebläut. Ich sah Stefan erwartungsvoll an.

»Du hast keine Ahnung von Musik.«

»Ich habe CDs, einen CD-Wechsler und zwei große Boxen.«

Mir war klar, dass mein technisches Equipment nichts über meine Qualifikation als Musikmacherin aussagte. Allerdings hatte Stefan keine Wahl. Besser irgendeinen CD-Wechsler mit optischem Aufputz als ein CD-Wechsler, der einsam und alleine vor sich hin trällerte.

»Das wäre toll.« Stefans Diplomatie war bewundernswert. Das Wasser musste ihm bis zum Hals stehen. Ich fand die Idee großartig und begann mit stolzgeschwellter Brust alle Plakate und Partyankündigungen zu überkleben. Statt dem erkrankten DJ Benjamin prangte jetzt DJ Carina auf den Ausdrucken, und ich rannte mit Flyern im Studentenheim von Zimmer zu Zimmer, um möglichst viele auf die Party einzuladen.

Meine Aktivität zeigte Wirkung. Die Party war knallvoll. Ich hatte mich voll aufgemotzt. Falsche Wimpern, Glitzerlidschatten, goldenes Paillettentop, Minirock. DJ Carina war bereit loszulegen. Stefan stand hinter der Bar und sah dankbar zu mir hinüber. Er bewunderte meine Fähigkeit, eine verpatzte Situation zu meinem Vorteil zu drehen. Ich war beeindruckt von seiner Ruhe.

»Willst du ein Bier?«

»Gib mir lieber was Ordentliches«, antwortete ich übermütig.

»Was denn?«

»Cola Rum.«

»Das ruft Erinnerungen wach, die ich nicht aufwärmen möchte.« Stefan verzog das Gesicht.

»Na gut. Bier«, gab ich mich geschlagen.

Drei Bier später fühlte sich DJ Carina, belagert von gut aussehenden Studenten, sehr wohl. Weitere drei Bier später tanzte DJ Carina zu ihrer eigenen Musik wie wild auf der Tanzfläche. Einer der Verehrer schleppte ein Cola Rum nach dem anderen her, die quasi von selbst verdunsteten. Es war eine mega-aufgeheizte Stimmung, als plötzlich die Musik ausfiel. Genauer gesagt, das Lied war aus und die CD am Ende. Es war keiner da, der den CD-Spieler weiter bediente.

»Wo ist Carina?« Stefan war so sehr beschäftigt gewesen, Getränke auszuschenken, dass er keinen Moment Zeit gehabt hatte, nach mir zu sehen.

»Die DJane?«, fragte einer der glühenden Fans.

»Ja, die.«

»Ich glaub am Klo.«

»Wie lange ist sie da bitte schon?«

»Keine Ahnung.«

»Kannst du Musik machen? Leg einfach irgendwas auf.«

Stefan wollte mich suchen gehen, doch er wurde an der Bar gebraucht.

»Kannst du nach Carina sehen?«, fragte Stefan den neuen DJ.

»Am Mädchenklo?« Martin lachte. »OK.«

Was nach meinem Verschwinden passiert war, ließ sich lediglich an den hinterlassenen Spuren ablesen. Erinnern konnte ich mich nicht mehr. Martin fand mich im Mädchenklo unter den Waschtischen sitzend.

»Hey, DJane, was ist los?«

»Mir ist schlecht. Ich glaube, ich bin besoffen.«

»Schaut fast danach aus. Los, komm, ich bring dich nach Hause.« Martin zog mich hoch und spritzte mir kaltes Wasser ins Gesicht.

»Zwanzigster Stock«, lallte ich und tastete mich an den Waschbecken entlang.

»Zwanzigster Stock?«, wiederholte Martin.

»Ja. Aber ich schaff das alleine.« Ich schwankte aus der Toilettenanlage.

»Ich komm lieber mit«, bot sich Martin als Retter an und nahm mich am Arm.

Im Lift lehnte ich mich an die Wand und schloss die Augen, als sich feuchte Lippen näherten. Angewidert stieß ich ihn weg.

»Na komm schon«, drängte er mich.

»Lass mich in Ruhe. Ich will nur schlafen gehen.«

Das Öffnen der Lifttüren befreite mich aus der unangenehmen Situation. Martin begleitete mich bis zu meinem Zimmer. Lieber wäre es mir gewesen, er wäre gleich wieder gefahren. Nach dem dritten Versuch schaffte ich es, die Tür aufzusperren. Martin unternahm noch einen Anlauf, mich abzuknutschen. Ich konterte mit einem kräftigen Schubser, machte einen Rückwärtsschritt in mein Zimmer und knallte die Tür zu, rammte den Schlüssel ins Schloss und drehte ihn um. Mitsamt meiner Klamotten fiel ich in ein dornröschenähnliches, wenngleich nicht prinzessinnenhaftes Koma.

Noch bevor ich aufwachte, spürte ich meinen dröhnenden Kopf. Ein wiederkehrendes, pochendes Geräusch störte mich. Stefan klopfte offensichtlich schon länger an meine Türe.

»Carina!«

»Ja«, brummte ich.

»Geht es dir gut?«

»Ja«, log ich. »Ich komm dann später.« Damit zog ich die Bettdecke über den Kopf. Ich wollte, dass er ging und vor allem, dass er aufhörte zu klopfen.

»Sicher?« Stefan ließ nicht locker.

»Sicher!«

Dabei war ich mir nicht einmal ansatzweise sicher, ob ich fähig war, aufzustehen. Der Erstversuch schlug fehl und ich beschloss, noch eine Stunde zu schlafen. Beim zweiten Versuch schaffte ich es in die Vertikale und tastete mich zum Waschbecken. Der Blick in den Spiegel zeigte mir unbarmherzig, wie sehr ich gestern übertrieben hatte. Leise jammernd versuchte ich die Zahnpasta von der Tube auf meine Zahnbürste zu bekommen, doch die Tube rutschte mir aus der Hand und fiel zu Boden. Ich sah ihr mitleidsvoll nach, konnte mich aber nicht bücken. Vorsichtig fuhr ich über meine Zähne, doch der schreckliche Geschmack ließ sich nicht so einfach wegbürsten. Hartnäckig klammerte er sich an jeder Pore meiner Zunge fest. Hatte ich geraucht? Ich konnte mich nicht einmal daran erinnern. Mit einem großen Schluck Wasser nahm ich zwei Schmerztabletten.

Über eine Stunde stand ich unter der Dusche und bläute mir mantramäßig ewige Besserung ein: »Nie, nie wieder.« Damit meinte ich nicht nur den Alkohol, sondern auch meine Funktion als DJ. Vermutlich würden sich meine Buchungsanfragen nach der gestrigen Aktion auch in Grenzen halten. Von der Dusche plumpste ich wieder direkt ins Bett. Als Stefan kam und anklopfte, hörte ich es nicht.

Die öffentliche Wirksamkeit meines Alkoholexzesses war enorm. Anscheinend hatte jeder den Absturz von DJ Carina mitbekommen. Das ganze Studentenheim zerriss sich das Maul und hatte einige Tage auf meine Kosten etwas zu lachen. Keine zehn Pferde hätten mich dazu gebracht, mein Zimmer zu verlassen. Geläutert saß ich wie Rapunzel im Turm und hoffte, dass sich schnell das Laub des Vergessens um meinen Auftritt ranken würde. Sollte sich nach den Ferien jemand an DJ Carina erinnern, was ich einerseits bezweifelte, andererseits aber nicht ausschließen konnte, so lagen zumindest drei rettende Monate vor mir, in denen mich keiner meiner Kommilitonen sehen würde.

Ewig konnte ich mich nicht in meinem Zimmer verstecken. Die Ferien begannen und damit Stefans Praktikum und mein Job als Kellnerin. Nach zwei Monaten hatte ich genug Geld verdient, um mir ein Interrailticket zu kaufen und vier Wochen zu reisen. Voller Vorfreude packte ich meinen Rucksack und verschwand aus Wien. Als ich zurückkam, war alles irgendwie neu, gleichzeitig aber auch beim Alten. DJ Carina war vergessen und Stefan schleppte mich auf die Universität, um zu inskribieren.

Beim Masterstudium trennten sich unsere Wege. Stefan bog nach links in die Controlling-Spezialisierung ab und stupste mich nach rechts in die Marketingkurse, für die er mich angemeldet hatte. Während der Ferien hatte ich mich um nichts gekümmert und den Begriff Marketing schnell am Smartphone gegoogelt, während ich mit Stefan in der Warteschlange der Inskriptionsstelle stand.

»To market«, las ich mir selbst halblaut vor, »bedeutet so viel wie auf den Markt bringen bzw. verkaufen.« Großartig. Hier lernte ich also das, was ich für die Vermarktung meiner tollen Idee brauchte, sollte ich sie endlich einmal haben. In den Kursen meines Marketing-Professors setzte ich mich also tagtäglich mit der Frage auseinander, mit welchen Produkten oder Dienstleistungen ich die Bedürfnisse zukünftiger Käufergruppen befriedigen und damit Geld verdienen könnte.

»Ziehen wir das Studium in den vier Semestern Mindeststudiendauer durch?«, schlug Stefan hochmotiviert vor. Die Frage war wohl eher an mich gerichtet, denn er würde es ohnehin tun.

»Inklusive Diplomarbeit?« Ich sah ihn mit großen Augen an.

»Natürlich«, lachte er und ich stimmte leichtfertig zu. Damit wir alles exakt einhielten, erstellte Stefan einen Zweijahresplan und teilte alle Prüfungen ein. Stefan wusste, was er wollte. Nun tat er auch so, als wüsste er besser als jeder andere und offensichtlich besser als ich selbst, was ich wollte. Nach ein paar Wochen beschlich mich ein komisches Gefühl, doch ich traute mich nicht, Stefans Plan zu hinterfragen. Ich hatte Ja gesagt und musste es nun ausbaden. Schließlich gab sich Stefan viel Mühe, und außerdem war es zu meinem Besten. Trotzdem wurden sowohl meine Zweifel als auch mein ungutes Gefühl immer stärker. Plangemäß legte ich eine Prüfung nach der anderen ab, erstellte eine Präsentation nach der anderen, übersetzte, schrieb und funktionierte.

Egal, wie viel ich lernte, ich kam nicht einmal annähernd an Stefans Notendurchschnitt heran. Ich war gut, er war besser. Es war masochistisch, sich mit ihm zu vergleichen.

»Ich nehme noch ein paar juristische Fächer dazu«, kippte Stefan immer mehr in sein Streberdasein. »Sonst wird mir langweilig.« Mir ging die Puste schon mit den Standardfächern aus. Je mehr Spaß er beim Lernen hatte, umso mehr verging mir die Lust. Mit Ach und Krach legte ich meine Prüfungen mit einer knappen Vier ab. Doch für Selbstmitleid blieb keine Zeit.