Schwarz Wald Nacht - Lisa Straubinger - E-Book

Schwarz Wald Nacht E-Book

Lisa Straubinger

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  • Herausgeber: Emons Verlag
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2022
Beschreibung

Eine eingeschworene Gemeinde, mysteriöse Todesfälle... und ein lange zurückliegendes Verbrechen. Sanne Stoll hat geschworen, nie mehr in ihr Heimatdorf im Südschwarzwald zurückzukehren. Neun Jahre später bricht sie diesen Schwur, um an der Beerdigung ihrer Großmutter teilzunehmen. Doch bereits die Fahrt dorthin verheißt nichts Gutes: Eine Frau läuft ihr vors Auto, kurz darauf wird deren Leiche im Wald gefunden und Sanne des Mordes verdächtigt. Um ihre Unschuld zu beweisen, muss sie selbst nachforschen und stößt dabei auf ein abgrundtiefes Familiengeheimnis.

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Seitenzahl: 366

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Lisa Straubinger wurde 1993 in Ostfildern geboren und hat schon früh ihre Begeisterung für das Erzählen von Geschichten entdeckt. Hätte sie sich nicht für eine Ausbildung zur Industriekauffrau entschieden, wäre sie sicherlich Fotografin, Weltenbummlerin oder Juwelendiebin geworden. Momentan arbeitet sie bei einem mittelständischen Unternehmen als Logistikerin. Ihre Leidenschaft gilt aber dem Verfassen von Geschichten. Sie hat über ein Dutzend Kurzgeschichten veröffentlicht und 2019 den Ralf-Bender-Krimipreis für den originellsten Mord gewonnen.

Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig.

© 2022 Emons Verlag GmbH

Alle Rechte vorbehalten

Umschlagmotiv: Joanna Czogala/Arcangel.com

Umschlaggestaltung: Nina Schäfer, nach einem Konzept von Leonardo Magrelli und Nina Schäfer

Umsetzung: Tobias Doetsch

Lektorat: Christiane Geldmacher, Textsyndikat.de, Bremberg

E-Book-Erstellung: CPI books GmbH, Leck

ISBN 978-3-96041-927-3

Originalausgabe

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Prolog

August 2010

Das Rauschen in ihren Ohren überschlug sich wie Sturmwellen. Sanne hielt den Atem an, als sie aus ihrem Zimmer schlich und stehen blieb. Dunkel und kalt drang das spärliche Mondlicht durch die vergilbten Vorhänge. Sanne lehnte sich an das Türblatt und zwang sich, nicht panisch zu werden. Sie hatte nur diese eine Chance.

Langsam schlich sie los. Die Geräusche aus dem Untergeschoss waren aufdringlich laut. Tellerklimpern, das einsame Gelächter des Vaters, im Hintergrund die »Tagesschau«. Matthias, ihr Bruder, war in ihren Plan eingeweiht und hatte ihr versprochen, die Familie aufzuhalten, sollten sie nach Sanne sehen wollen. Aber Matthias war nur ein Junge. Noch nie hatten sie ihn ernst genommen. Sanne ebenso wenig. Er würde niemanden aufhalten können.

Die Oma könnte ins Obergeschoss kommen, um ihr ein Schüsselchen vom Nachtisch zu bringen, denn Sanne war wieder einmal ohne Abendessen ins Bett geschickt worden. Die Mutter könnte ins Obergeschoss kommen, um nach ihr zu sehen. Sanne konnte ihre zuckrig süß verlogenen Worte auf ihrer Zunge schmecken, und ihr wurde schlecht. Hast du deine Lektion gelernt? Warum stellst du dich nur immer so an? Du darfst jetzt runterkommen. Wir sind doch eine Familie. Der Vater könnte ins Obergeschoss kommen, und sie verbot sich die Gedanken daran, was er mit ihr machen würde.

Sobald die Geräusche verstummten, war sie sicher. Wenn sich alle auf den »Tatort« konzentrieren würden, würden sie Sanne vergessen. Das Adrenalin legte sich wie Nebel über ihre Angst.

Während sie darauf wartete, dass es unten still wurde, starrte sie die sperrige Holzvertäfelung an. Sanne hatte Angst, dass sie etwas vergäße. Sie versuchte, sich abzulenken. Die Vertäfelung war aus einer stolzen Eiche gefertigt, die vor weniger als hundert Jahren vom Opa gefällt worden war. Sie hatte die Geschichte oft gehört und sich gefragt, wie viel von dem eindrucksvollen Baum übrig geblieben war, in dem Holz, zwischen Leim, Farbe und Politur, zwischen all den Dingen, die sich in den Zimmern abspielten. Die Geheimnisse, von denen alle wussten, über die aber niemand sprach. Das Schweigen, das sich dahinter versteckte. Wie viel Baum war da, nach all den Jahren? Wie viele Geschichten von längst vergangenen Zeiten? Sie atmete tief ein und bemerkte die Ruhe, die sich in ihr ausbreitete. Sie war kein Baum, hatte keine Wurzeln mehr. Sie musste nicht hierbleiben. Sie musste nie wieder zurückkehren. Der Onkel hatte es vorgemacht, und Sanne war bereit, ihm in die Ungewissheit zu folgen.

Sie lauschte in die Dunkelheit. Unten wurde es langsam stiller. Auf Zehenspitzen ging sie den Flur entlang. Jetzt musste sie sich beeilen.

Ein Geräusch. Jetzt war es vorbei. Sie machte sich auf das Schlimmste gefasst.

Aber es war nur Matthias, der mit Tränen in den Augen vor ihr stand.

»Ich … ich wollte noch Tschüss sagen«, stammelte er.

Sannes Herz wurde schwer. Sie hatte seine Hilfe nur annehmen müssen, weil es keine andere Möglichkeit gegeben hatte.

»Hast du ihnen was gesagt?« Sanne versuchte panisch, die Geräusche von unten zu deuten.

»Nein. Sie denken, ich gehe aufs Klo. Pass auf dich auf, ja?«

Er musste gehen, sonst würden sie Verdacht schöpfen, wollte sie sagen, blieb aber still. Sanne nickte. »Ich bin nicht für lange weg.«

»Wenn du weggehst, ist doch eh alles vorbei. Dann bist du frei«, sagte er und lächelte sie hoffnungsvoll an.

Als wäre von ihm auch nicht mehr viel übrig geblieben, wie von dem Baum.

»Ich hol dich, wenn ich kann.« Sie umarmte ihn fest und spürte, wie sich seine Finger in ihren Rücken krallten. Dass sie nie frei sein würde, nie, nie wieder, sagte sie nicht. Sie war die Ältere. Sie musste auf ihn aufpassen.

Matthias ging langsam die Treppe hinunter, und Sanne beobachtete ihn, bis er aus ihrem Sichtfeld verschwunden war.

Die Geheimnisse der letzten Wochen lagen schwer auf ihr. Sie hatte so vorsichtig sein müssen. Die paar Klamotten, die sie sich in der Stadt gekauft hatte, lagen im Wald unter dem Kletterbaum in einer Plastiktüte, abgedeckt mit Laub und Ästen. Die Zeugnisse hatte sie in der Schule kopieren und beglaubigen lassen. Das Geld, das sie sich dort zusammengeklaut hatte, war in einem Umschlag verstaut. Viel war es nicht. Sie brauchte nur noch ihren Ausweis und die Geburtsurkunde. Und die Bilder.

Jetzt stand sie da, mit ihrem alten Rucksack, der sich viel zu leicht für eine Flucht anfühlte, und dem pochenden Herzen in ihrer Brust. Sanne sagte sich in Gedanken: Ich brauche nicht mehr, ich brauche es nicht. Ich brauche nur Matthias, und den hole ich, wenn ich kann. Sobald ich kann. Sofort morgen, wenn ich bei der Polizei Anzeige erstattet habe, dann hole ich ihn, und alles wird gut. Sanne würde kämpfen, bis der Kampf gewonnen wäre. Matthias musste hier genauso raus wie sie.

Sie öffnete die Tür zu Opas altem Arbeitszimmer. Die Familie hatte sich stillschweigend darauf geeinigt, in dem Raum alles zu lassen, wie es war. Als Andenken. Aus Furcht. Für die Oma zur Trauer. Inzwischen war Opas Zimmer nur noch voll mit alten Erinnerungen und schlechter Luft. Und sie hatte es auf ihren Ausweis abgesehen, der im Sekretär versteckt war.

Matthias hatte ihn vor einigen Wochen in der obersten Schublade des Sekretärs gefunden. Zusammen mit den Bildern. Er hatte nach Geld gesucht, denn der Vater verlor gern mal was im Suff und konnte sich am nächsten Tag nicht daran erinnern. Nach dem Fund war ihr Bruder sofort zu ihr gekommen. Weinend und sich entschuldigend hatte er auf ihrem Bett gesessen und sie angefleht, der Mutter etwas zu sagen, die würde ihr sicher helfen, oder der Vertrauenslehrerin in der Schule. Warum hast du nie was gesagt? Warum lässt du das zu? Wie erträgst du das nur, Sanne?

Wie Messerstiche waren diese Fragen, denn sie konnte sie nur mit ihrer eigenen Schwäche beantworten. Sie hatte tief eingeatmet und an alles gedacht und an nichts und an die Vertäfelung im Flur, die einmal ein stolzer Baum gewesen war. Und wie viel von dem stolzen Baum übrig geblieben war und dass die Summe aller Dinge in ihr nicht ausreichte für Mut. Ihre Gedanken waren weitergewandert, zu der Bombe in der Schreibtischschublade. Eine Bombe konnte alles Mögliche sein, solange sie nur sprengte, solange sie nur tötete. Solange der Vater weggesperrt würde. Dafür brauchte man viel Mut, oder allen Mut, und Sanne hatte gerade so viel davon übrig, dass sie nicht durchdrehte. Endlich hatte sie einen Ausweg. Die Bilder, von denen sie wusste, dass sie existierten, aber nicht, wo, oder dass sie so leicht Zugang dazu haben konnte.

Jetzt, drei Wochen später, war es so weit. Sanne war auf dem Weg in die Freiheit. Sie verlagerte ihr Gewicht langsam so, dass sie kein Geräusch verursachte. Schnell zog sie die Schublade auf und steckte den Perso in ihre Jackentasche. Ihr fehlte die Zeit, nach der Geburtsurkunde zu suchen. Mit dem Umschlag brauchte sie noch einen Moment. Sie musste auf Nummer sicher gehen. Also zog sie ein Bild hervor, dann das nächste, und schnell hatte sie alle gesehen. Da war sie, die Dokumentation ihres Leidens, die ihr nun helfen würde, ihren Vater zu stoppen. Damit musste ihr der Polizist einfach glauben. Sie schob die Bilder wieder in den Umschlag zurück.

Von unten drang das laute Geräusch eines zerberstenden Glases hinauf.

Sie erschrak und ließ den Umschlag los. Er fiel unter den schweren staubigen Bücherschrank, den seit Jahren keiner mehr angefasst hatte.

Klack. Klack. Weg war er.

Der Vater stieg die Treppe mit mächtigen Schritten hinauf. Matthias hatte keine Chance gegen ihn. Sie konnte seine Stimme unten hören, aber die Schritte stoppten nicht.

»Papa, soll ich dir ein Bier aus dem Keller holen?«

Der Vater ging nicht darauf ein.

Sanne wusste: Gleich war er da. Sie kniete sich hin, um den Umschlag zu holen. Er war ihr einziger Beweis. Sie brauchte ihn. Dringend. Sie streckte die Finger lang. Der Dorfpolizist war ein Freund ihres Vaters und würde ihr ohne nicht glauben, niemals.

Ihr Herz, das schrie: Lauf! Lauf, so schnell du kannst! Du musst weg, Sanne, einfach nur weg!

Sie hielt sich mit der einen Hand am Regal fest, während sie mit den Fingerspitzen der anderen Hand versuchte, an das Papier zu kommen. Staubflusen legten sich auf ihre Finger. Sie konnte das Papier fühlen. Mit der Fingerspitze, ganz wenig nur. Sie konnte es nicht holen, nicht erreichen, nicht greifen. Tränen traten ihr in die Augen. Die Trommelschritte ihres Vaters klangen in ihr wider.

Wenn er sie jetzt fände.

Gleich wäre er da.

Sie wusste genau, was passieren würde, wenn er sie entdeckte. Das letzte Mal hatte sie teuer dafür bezahlt. Eine Woche lang hatte er sie in ihr Zimmer gesperrt. Kein Essen, kein Trinken. Jede Nacht ein Besuch. Sie spürte ihre Beine tagelang nicht. Das ist die Strafe dafür, dass du deinem Vater nicht gehorchst, du undankbares Stück, hatte er ihr immer und immer wieder zugeflüstert. Sanne konnte seinen heißen, von der Anstrengung ruckartigen Atem immer noch in ihrem Nacken spüren. Sie lebte nur noch, weil die Oma ihre Wunden versorgt und Matthias im Laden für sie Lebensmittel gestohlen und sie in ihr Zimmer geschmuggelt hatte. Er hatte ihr auch Wasser gebracht.

Matthias.

Sie wich zurück, die Tränen in den Augen. Die Bombe war ihr aus der Hand geglitten. Ihr Mut war ebenfalls unter das Regal gerutscht. Ohne die Bilder würde ihr niemand glauben. Vor allem nicht der Polizist. Wenn sie sie jetzt erwischten und herausfanden, dass Matthias ihr geholfen hatte, würde ihr kleiner Bruder leiden. Nein. Das durfte nicht passieren. Sie wischte sich die Tränen aus den Augen. Die Geräusche stoppten vor der Tür.

Als der Vater die Tür öffnete und einige Schritte in das Arbeitszimmer tat, sah er sie nicht. Die Holzdielen krachten bei jeder Bewegung. Sie hatte sich im Kleiderschrank zwischen alten Anzügen und Militärjacken versteckt und die Tür leise von innen zugezogen. Sie schloss die Augen und traute sich keinen Atemzug. Hoffentlich sah er nicht, dass der Staub hier aufgewirbelt worden war. Sie hörte, wie er das Licht anschaltete und weiter zur Vitrine ging. Der gute Whiskey also. Die Scharniere quietschten, dann das Klackern von Glas, das erneute Quietschen. Schwere Schritte, die leiser und leiser wurden. Die knirschende Treppe. Das Licht ließ er an, die Tür offen. Erst nach einigen langen Atemzügen trat Sanne aus dem Schrank. Es stank nach Bier und alter Kleidung. Wenn er den guten Whiskey holte, bedeutete das immer einen Besuch in der Nacht. Sie schloss die Augen. Wenigstens das nicht mehr. Nicht jetzt, nie wieder. Wenigstens das.

Sie öffnete das Fenster. Es lag zur Südseite des Hauses, anders als das Wohnzimmer, wo sich jetzt alle aufhielten. Der Vater, die Mutter, die Oma, der Bruder. Eine Bilderbuchfamilie waren sie noch nie gewesen, aber die einzige, die sie kannte.

In der Dunkelheit konnte sie den Boden nur erahnen. Sie zog den Reißverschluss ihrer Jacke und den Brustgurt ihres Rucksacks zu. Ein letztes Mal fühlte sie ihren Personalausweis und schloss auch diese Tasche. Sie hielt sich mit der linken Hand am Fensterrahmen fest, stieg auf den Sims und ging in die Knie. Jetzt würde es schnell gehen, und gleich danach wäre es vorbei.

Sanne sprang.

Sie landete mit den Knien im Kies, konnte sich mit den Handflächen abstützen. Sie presste sich fest in den Boden, sodass sie nicht zu schreien anfing. Die feinen Steinchen drückten sich in ihre Haut, eisig kalt. Ihre aufgeschürften Knie brannten wie Feuer. Sie drehte sich auf den Rücken, setzte sich auf, sah die Risse in ihrer Jeans und verfluchte sich selbst. Viel Zeit hatte sie nicht. Sie rappelte sich auf, humpelte in die undurchschaubare Dunkelheit hinter der Garage. Jetzt war sie erst einmal sicher.

Sie starrte auf das große, unheimliche Haus. Im ersten Stock ging ein Licht im Schlafzimmer der Eltern an und kurz danach wieder aus, und es war, als hätte ihr das Gebäude zugezwinkert. Ein letztes Mal, so hoffte sie, lief ihr ein kalter Schauer über den Rücken. Wann sie ihr Verschwinden wohl bemerken würden? Sie krallte ihre Fingernägel in die Tragegurte ihres Rucksacks. Sie war nicht frei. Ihre Familie war nicht frei. Sie musste Matthias retten, das war ihr einziger Gedanke. Sie stolperte in den Wald, in das Dunkle und Kalte. Sie fürchtete sich sehr. Aber sie brauchte keine Angst mehr zu haben.

1

November 2019

Er war schnell gerannt, bis er strauchelte, nicht mehr konnte. Seine Lungen brannten, seine Kehle brannte, sein Gesicht brannte. Seitenstechen. Die Schuhe waren zu schwer, zu klobig für schnelle Bewegungen. Hastig atmete er ein und aus, ein und wieder aus, bis ihm schwindelig wurde. Er wollte stehen bleiben, sich hinsetzen, ausruhen. Er war schon seit langer Zeit nicht mehr in Form, aber er rannte weiter. Die Luft war zu kalt, und einzig das Adrenalin, das durch seine Adern preschte, trieb ihn voran. Seine Hand verkrampfte sich, das Smartphone war zu groß, die Taschenlampe zu schwach. Umkehren war keine Option. Er musste sein Tempo verringern, sein Magen drehte sich. Er würde sich noch übergeben, wenn er so weitermachte. Aber es gab kein Zurück mehr. Er hatte keine Zeit mehr. Er würde alles verlieren. Alles, wofür er sein ganzes Leben gearbeitet hatte. All die Dinge, auf die er hatte verzichten müssen. Das konnte er nicht zulassen.

Sie hatte kein Recht darauf, da lag sie falsch. Oh nein. Aber er wusste, dass seine Rechnung nicht aufgegangen war, als sie ihm eine E-Mail mit ihren Flugdaten schickte. Er hasste Leute, die glaubten, dass es okay wäre, sich so zu verhalten. Sich einfach zu nehmen, was sie wollten. Er presste den Atem aus seinen Lungen und rannte weiter.

Bald stolperten seine Gedanken wie er – ein einsames Stakkato in seinem Kopf: zu kalt. Schnell, weiter. Tut weh. Alles. Schwindelig. Der Plan war fehlgeschlagen. Verdammt. Der Wald war zu dicht. Zu dunkel. Die Nacht zu fremd. Zu vertraut. Sein Gesicht brannte immer noch. Verdammte Scheiße. Er blieb stehen und schloss die Augen. Schüttelte seine verkrampfte Hand aus, steckte das Smartphone in seine Hosentasche. Konzentrierte sich auf seine Atmung, damit sie langsamer wurde. Schaltete das Licht aus, damit sich seine Augen an die Dunkelheit gewöhnten. Er fühlte sich wohl in der Dunkelheit. Das war sein Zuhause, dieser Ort hier, mit all seinen Facetten und Farbtönen. Das würde er für nichts in der Welt hergeben. Und schon gar nicht für diese eingebildete Schnepfe. Was glaubte sie, wer sie war?

Er hörte sie. Da war sie, direkt vor ihm.

Ein Geräusch aus der Ferne brachte ihn aus der Ruhe. Ein Auto, auf der Straße durch den Wald. Wieder fluchte er. Er hatte gehofft, sie früher einzuholen. Aber sie war klüger, als er erwartet hatte. Und schneller als er, fitter.

Er sah ihre Silhouette, wollte nach ihr greifen, aber es war zu spät. Sie war auf die spärlich beleuchtete Fahrbahn gestolpert. Er musste sich bremsen, um nicht auf die Straße zu fallen, und hielt den Atem an. Vielleicht würde sich sein Problem so lösen, dachte er. Wenn das Fahrzeug nur schnell genug wäre und der Fahrer nicht schnell genug reagieren könnte.

Doch das Fahrzeug kam unter großer Mühe zum Stillstand. Das dumpfe Licht des Autos hielt ihn davon ab, ihr nachzulaufen. Miststück, murmelte er, verdammtes Miststück. Die Frau war erneut hingefallen, hatte sich mit den Händen auf dem Boden abfangen können und war weitergerannt. Er atmete laut aus, wollte schreien. Sie gewann wertvolle Meter, während er stehen bleiben und abwarten musste. Er durfte nicht gesehen werden.

Er erkannte die Fahrerin. Schlagartig war er wach. Das Schwindelgefühl war weg, das Brennen seiner Lungen zu einem dumpfen Pochen geworden, und sein Kopf war wieder klar. Er trat einige Schritte zurück, den Kopf gesenkt, den Atem kontrolliert. Hoffentlich hatte sie ihn nicht gesehen.

Sanne.

Mit geschlossenen Augen versuchte er, mehr zu hören, aber das Rauschen in seinen Ohren war zu stark. Der Wind, sein Herzschlag, die Panik. Die Zeit, die ihn kribbelig machte. Er öffnete die Augen wieder. Wenn Sanne ihn sehen würde, wäre alles vorbei. Er hörte Sannes Stimme, die panisch in die Nacht rief.

»Hallo? HALLO?«

Aber die Nacht blieb still. Sie war nicht da. Sie musste weiter in den Wald gelaufen sein, weiter Richtung Dorf. Dort, wo er sich noch besser auskannte. Wo Menschen waren, die die Polizei rufen konnten. Er musste sich beeilen.

Als Sanne zurück in den Wagen gestiegen und weggefahren war, überquerte er mit großen Schritten die Straße und sammelte seine Kraft. Wieder zwischen den Bäumen war alles mausgrau. Sie war nicht mehr weit. Konnte sie nicht. Er drehte sich langsam um seine eigene Achse. Hörte ein Knacken. Oft schon war er auf der Jagd gewesen. Hatte sich stundenlang auf die Lauer gelegt. Er war ein Teil dieser Welt. Die Welt war ein Teil von ihm. Die Geräusche einer Winternacht waren ihm so bekannt wie sein eigenes Spiegelbild, und er wusste, dass dieses Knacken nicht in diesen Wald gehörte. Fremd war und zu einer Person gehörte, nicht zu den Bäumen oder den wilden Tieren, die sich in der Dunkelheit versteckten. Gleich hatte er sie.

Er atmete tief ein. Nicht stolpern. Nicht zögern. Nichts falsch machen. Er hatte nur diese eine Chance. Geräuschlos schlich er voran.

Sie hatte sich hinter einer umgefallenen Wurzel versteckt. Die Hände vors Gesicht geschlagen. Sie weinte, beinahe lautlos. Die neongrüne Jacke leuchtete in der grauen Nacht, ein Fremdkörper. Die Anspannung fiel von ihm ab. Endlich. Er griff in seine Jackentasche. Den Draht hatte er noch an dem Tag gekauft, als er von ihrer Anreise erfahren hatte. Er hatte bar bezahlt, beim Baumarkt zwei Städte weiter. Mit der Büchse hätte er nicht so viel Aufwand gehabt oder dem schweren Revolver. Er durfte sein Leben nicht verlieren. So einfach war das. Das war doch ein bescheidener Wunsch, einer, den jeder verstehen konnte. Er wickelte die Enden des Drahtes um seine Fäuste. Sie hatte hier nichts zu suchen.

Ihr Schrei wurde von der endlosen Dunkelheit verschluckt, als sie ihn sah. Er machte sich nicht die Mühe, sie zum Schweigen zu bringen, und drückte sie mit seinem ganzen Körpergewicht auf den nassen Waldboden. Er ignorierte ihre Versuche, ihn zu schlagen, zu treten. Er legte den Draht um ihren Hals und hielt die Luft an, solange es dauerte. Merkte, wie sie ruhiger wurde, nach Luft krächzte, wie er fester zog und zog. So einfach geht das, dachte er und zwang sich, weiterzuatmen. Sich nicht zu übergeben, obwohl der Drang groß war. Als es vorbei war, hielt er einen Moment inne, obwohl er wusste, dass es noch viel zu tun gab. Sie lag da, beinahe friedlich, tot. Er schauderte. Dann warf er ihren leblosen Körper über seine Schulter und trug sie davon.

2

Nie wieder hatte sie nach Hause zurückkehren wollen.

Trotzdem stieg sie in das Auto, schnallte sich an, verriegelte von innen die Türen und fuhr los. Der Weg war weit.

Kurz bevor sie ankam, drehten sich ihre Gedanken um das Telefonat mit ihrem Bruder. Sie hatte Matthias unter zwei Bedingungen zugesagt, für die Beerdigung der Oma zurückzukommen. Die erste war, dass sie nicht auf dem Hof übernachten müsse. Dass sie nicht einmal auf den Hof müsse, gar nicht, einfach nie wieder zurück. Die zweite, dass er sie nicht fragen würde, was sie in den letzten neun Jahren gemacht habe.

Es war ihr erstes Telefonat seit seinem sechzehnten Geburtstag gewesen, und er klang erschöpft und erwachsen. Jetzt war er vierundzwanzig und klang wie ein ganzer Mann. Sanne hatte ihn vermisst. Sie hätte gern länger mit ihm gesprochen, aber er hatte ohne große Widerrede zugestimmt und sie für die Zimmerreservierung nach ihrer Mailadresse gefragt. »Ich kann das Zimmer doch selbst reservieren«, hatte sie gesagt und gehofft, mehr von ihm zu erfahren. Aber er war darauf nicht eingegangen, bis sie ihm die Info gegeben hatte. Sie wusste nichts mehr von Matthias, und das machte es doppelt so schwer, den Blinker nach rechts zu setzen und von der Autobahn abzufahren. Sie hatte nicht vergessen, was sie ihm versprochen hatte. Ihr schlechtes Gewissen überwältigte sie. Dicker Nebel hatte sich über die Landstraße gelegt. So war heimkommen, der Schwarzwald begrüßte sie in seinem schaurigsten Gewand.

Obwohl sich viel verändert hatte und sie sich fremd fühlte, erinnerte sie sich doch an alles. Zweimal nach links, beim Stoppschild halten, rechts, und schon befand sie sich auf der Straße nach Kirchberg. Es war dunkel geworden, und ihre Augen strengten sich an, sich an die geänderte Wetterlage zu gewöhnen. Die Welt um sie herum war schwarz, vereinzelt sah sie in der Ferne ein Licht an den Hängen, das gegen die Dunkelheit dieser Berge nicht anzukommen schien. Der Schnee, der sich auf die Erde gelegt hatte, blendete im Scheinwerferlicht.

Sanne liebte Autofahren und hatte den schwarzen VW Polo, Baujahr 2003, behalten, obwohl sie in Hamburg eigentlich kein Auto brauchte. Sie hatte es von ihrem ersten gesparten und zusammengestohlenen Geld gekauft und hielt seitdem daran fest wie an einem Schatz. Dieses Auto war ihres, ihres ganz allein, und niemand konnte es ihr so leicht wegnehmen. Sie dachte an Steffen und daran, dass er das nicht verstanden hatte, weil er aus einer guten Familie kam, auf die man sich verlassen konnte, und weil er immer in großen Städten gelebt hatte. Er hatte keine Angst, vor gar nichts. Und ein Auto war nur eine unnötige finanzielle Belastung. Und diese ständige Parkplatzsuche! Sie sah Steffen kopfschüttelnd vor sich und musste grinsen. Diese Gedanken waren nicht willkommene Beifahrer, aber sie konnte nichts gegen sie machen, brauchte die Ablenkung, brauchte die Pause. Sie strich sich über die Augen und zwang sich, an schöne Dinge zu denken. Die salzige Luft am Meer, ein gutes Stück Kuchen, wenn man beim Einkaufen einen glatten Betrag hinbekam, nie wieder zurückschauen, Abschied.

Die Straße vor ihr gabelte sich, sie fuhr links, langsam, die Straße schien glatt. Sanne konnte sich nicht mehr daran erinnern, wann sie das letzte Mal solche Wetterverhältnisse erlebt hatte. Kein Auto hinter ihr, kein Auto vor ihr. Überall war Wald, nur Wald. Finstere Schatten am Waldrand. Sie konnte nur so weit sehen, wie ihre Scheinwerfer reichten. Es erinnerte sie ein wenig an die gruseligen Märchen aus dem großen violetten Märchenbuch, aus dem sie Matthias früher vorgelesen hatte, wenn er sich in der Nacht vor den lauten Geräuschen des alten Hauses gefürchtet und sich in ihr Zimmer geschlichen hatte.

Eine Frau.

Eine Frau rannte vor ihr Auto. Sie trat die Bremse voll durch, das Auto ächzte unter der ruckartigen Bewegung. Die Tasche im Kofferraum polterte. Sie machte sich auf einen Aufprall gefasst, doch dieser blieb aus. Sie schrie. Ihr geliebter Polo schlitterte auf der eisglatten Straße einige Meter weiter. Sanne wusste nicht, was passierte. Ihr Herzschlag saß ihr im Hals, sie riss die Augen auf. Der Gurt schnitt in ihren Oberkörper, in ihre Kehle. Sie bekam kaum Luft. Sie versuchte, die Situation zu erfassen, konnte aber nicht klar denken. Die Frau war stehen geblieben. Panik in ihrem Gesicht, gerötet von der Kälte. Weit aufgerissene Augen, ein schmaler Körper, eine grellgrüne Jacke wie eine Leuchtfackel in der dunklen Nacht. Alles war vergessen; die Angst, die Abscheu. Sanne wollte nur aus dem Auto und nach der Frau sehen. Das Fahrzeug kam endlich zum Halten. Sie holte tief Luft. Jetzt eine Zigarette, dachte sie. Sannes Finger schmerzten, weil sie das Lenkrad so fest umklammert hielt. Sie ließ den Motor laufen, legte wegen des Lichts den Leerlauf ein, öffnete den Gurt mit zitternden Fingern, versuchte auszusteigen. Die Tür war noch von innen verriegelt, und sie brauchte einen Moment, um die Tür zu öffnen. Das hatte sie sich vor langer Zeit angewöhnt, aber jetzt störte es. Sanne stolperte in die harsche Kälte und fragte sich, ob sie die Frau erwischt hatte. Gefühlt hatte sie nichts. Hatte sie sie touchiert? Und was machte die Frau nachts im Wald?

Sie fiel beinahe auf den glatten Asphalt. Alles war still. Niemand sonst war da. Die Straße war leer.

»Hallo?« Ihre Stimme hallte von den schneebedeckten Bäumen wider, von der Straße, vom Nichts, das sich in der Nacht versteckte. »HALLO?« Ihre Stimme wurde lauter und lauter, bestimmter. Wo war die Frau?

Sanne drehte sich zweimal um die eigene Achse. Sie beobachtete die Baumgrenze am Straßenrand. Der Schnee war an manchen Stellen geschmolzen, was es unmöglich machte, Fußstapfen zu erkennen. Das Gleiche fand sie auf der anderen Straßenseite, wo die Frau hergekommen war. Sie nahm ihr Handy und leuchtete damit in die Bäume. Die Geräusche um sie herum schienen sich zu verdoppeln, verdreifachen, größer zu werden. In ihren Ohren dröhnte es. Sie traute sich nicht, mehr als ein paar Schritte hineinzugehen. Es war zu dunkel, und sie bekam eine Gänsehaut. Sanne erinnerte sich noch genau an den Wald und die Dunkelheit. An die Angst. An das Gefühl, beobachtet zu werden. Sie drehte sich zu ihrem Auto um.

Die Frau war weg. Sanne hielt inne. Sie konnte doch nicht einfach so weg sein. Sie atmete wieder schneller, viel zu schnell. Bloß nicht hyperventilieren. Sie bemühte sich angestrengt, langsamer zu atmen. Die Frau war da gewesen, ganz sicher. Sie checkte ihr Handy auf Empfang. Es gab keinen, denn das war der tiefste Wald. Sanne musste etwas tun. Sie presste die Lippen aufeinander und fasste einen Plan.

3

Sanne zwang sich, weiter vorsichtig zu fahren. Es brachte nichts, wenn sie auf dem Weg nach Kirchberg einen Unfall baute, um die Frau zu retten. Eine Viertelstunde später parkte sie ihren Polo vor dem Gasthof »Krone«, in dem ihr Bruder das Zimmer reserviert hatte. Es war ein stolzes Fachwerkhaus, das in den letzten Jahren modernisiert worden war. Der Gasthof war weit über die Grenzen des Schwarzwalds bekannt. Er bot eine warme Küche sowie die Vermietung von Ferienzimmern und richtete auch das jährliche Sommerfest aus, das Besucher aus der ganzen Region anlockte. Im Fernsehen war sogar einmal ein Bericht über den gutherzigen Besitzer, Axel Triest, gekommen. Sanne hatte den Bericht in der Mediathek des Senders angeschaut und im Hintergrund nach ihren Verwandten gesucht.

Heute Abend war sie hier mit Matthias verabredet, um über die nächsten Tage zu sprechen. Verlorene Zeit aufholen nannte Sanne es in Gedanken. Sie kramte in ihrer Tasche nach ihren Handschuhen. Das Handy zeigte drei neue Nachrichten von Steffen, auf die sie später antworten würde. Oder gar nicht. Sie stieg aus und wählte Matthias’ Nummer. Bevor sie das Smartphone an ihr Ohr halten konnte, sah sie ihn.

Ein silberner Geländewagen fuhr auf den Parkplatz, Matthias am Lenkrad. Er stellte das Fahrzeug neben ihres und stieg mit einem breiten Grinsen auf dem Gesicht aus. »Tut mir leid, bin ich zu spät?«

Sanne schüttelte den Kopf. Im spärlichen Licht der Straßenbeleuchtung fand sie wenig Ähnlichkeiten zwischen ihrem kleinen Bruder und dem Mann, der da vor ihr stand. Aber das musste ihr Bruder sein, es war die Stimme vom Telefon. Matthias war groß geworden, erwachsen geworden. Er hatte die aschblonden Haare unter einer Truckermütze versteckt. Sein verschmitztes Grinsen war gleich geblieben. Breite Schultern, ein schwerer Körper. Ihr fiel auf, dass sein linker Eckzahn fehlte, und das störte sie, wie ein Bilderrahmen, der schief an der Wand hing.

Etwas war falsch, aber Sanne konnte es nicht benennen. Wahrscheinlich war es die Tatsache, dass sie sich seit fast einem Jahrzehnt nicht mehr gesehen hatten. In ihren Gedanken war er immer noch der kleine Junge, der weinte und den sie zum Trösten in den Arm nehmen musste.

»Komm her!« Sie umarmte ihn fest. Er roch nach schwerer Arbeit, Schweiß, Anstrengung.

»Ich komme direkt vom Hof und hab die Zeit vergessen, entschuldige bitte.« Er wirkte gestresst, aber deutete ihr den Weg zur Eingangstür an.

Sanne folgte ihm nicht. »Ich muss die Polizei rufen.«

Matthias blieb auf der Stelle stehen. »Warum?«

Sie sah, dass er seinen Rücken durchstreckte, und die Freude verschwand vollkommen aus seinem Gesicht.

Sie erzählte ihm von der Frau in der Nacht. Ihrem Beinaheunfall. Dass sie dort keinen Empfang gehabt hatte, aber jetzt schon, und anrufen musste, das war doch klar. »Sie könnte unterkühlt oder verletzt sein.«

Ihre Panik wollte nicht recht auf ihn übergehen. Er verschränkte die Arme vor der Brust und senkte seinen Blick. »Wieso mischst du dich in die Angelegenheiten anderer Leute ein?«

»Was, wenn sie einen Wanderunfall hatte und verwirrt ist? Oder sonst irgendwas, es gibt so viele Möglichkeiten!«

Matthias kaute auf seiner Lippe. »Lass uns reingehen«, sagte er leise.

»Ich muss erst anrufen.«

»Ist was mit deinem Auto?« Er drehte sich zu den parkenden Autos um. »Welches ist deins? Soll ich mir das mal anschauen?«

»Es ist nichts passiert, nein, aber …« Sie schnaubte. »Glaubst du mir etwa nicht?«

Er zog die Augenbraue nach oben. »Dein Ernst?«

Sie fröstelte und ballte ihre Hände zu Fäusten. »Die Frau war da.«

»Jochen ist heute mit seinem Stammtisch hier. Du erinnerst dich doch noch? Polizeihauptkommissar Trautwein? Erzähl ihm deine Geschichte und dann schau, was er dazu sagt.« Matthias wartete nicht auf eine Antwort und öffnete die schwere Holztür.

Sie überlegte, ob sie nicht einfach doch die 110 anrufen sollte, folgte ihm aber in den warmen Gastraum. Es roch nach gutem schwäbischen Essen, ein Geruch, den sie bei ihren Reisen durch Deutschland vermisst hatte. Früher waren sie oft im Gasthaus gewesen. Hatte sie einen alten dunklen Raum in Erinnerung, überraschten sie die hellen Holzmöbel und klare Strukturen. Das hier war neu. Sie fühlte sich sofort wohl. Das änderte sich schlagartig, als Matthias sie an einen Tisch mit älteren Männern führte, die sie missmutig anstarrten.

»Hallo, die Herren.« Matthias nickte ihnen zu und schaute Sanne erwartungsvoll an.

Sie kannte alle Anwesenden, und das Gefühl in ihrem Hals, nicht sprechen zu können, wurde stärker. Alle starrten sie an. Den Bürgermeister, den dickbäuchigen Metzger und den Großbauern aus dem Nachbarort ignorierte sie. Dem Besitzer des Gasthofs, Axel Triest, nickte sie zu. Sie wandte sich an Jochen Trautwein, den Dorfpolizisten, und ignorierte ihren Vater. Es kostete sie alle Kraft, die sie angespart und aufbewahrt hatte, sich nicht auf der Stelle umzudrehen und zu gehen.

Hatte Matthias gewusst, dass der Vater bei dem Stammtisch dabei sein würde? Hatte er sie trotzdem in diese Situation gebracht? Es konnte nicht anders sein.

Sanne fühlte, wie die Panikattacke zurückkehrte. Sie traute sich nicht, ihn anzuschauen, ihre Zunge fühlte sich schwer an. Wie gelähmt. Sanne starrte auf die hölzerne Tischplatte. Wie viel von dem Baum war übrig geblieben? Wie viel von ihr war noch da, wie sie jetzt dastand und zitterte und kaum mehr wusste, was gerade noch wichtig gewesen war. Sie wollte nicht sprechen, das hatte ihr früher schon nichts gebracht. Aber eins hatte sie in den letzten neun Jahren gelernt: Der Vater konnte ihr nichts mehr tun.

Bevor sie etwas sagen konnte, begann Matthias zu reden. Er schilderte den skeptisch dreinschauenden Männern, was sie ihm erzählt hatte, und schloss mit: »Und das ist Sannes Geschichte.«

Sie wich dem Blick ihres Vaters aus. Nicht ein einziges Mal schaute sie ihn an. Sie fühlte sich nicht stark genug. Stattdessen verschränkte sie die Arme vor der Brust und fokussierte den Polizisten, Jochen Trautwein. Matthias musste nicht für sie sprechen. Und das war keine Geschichte.

Der Vater begann zu sprechen. Sanne zwang sich, ihn anzuschauen. Ihre Kehle wurde trocken.

»Schön, dass du wieder da bist, Susanne. Dein Leben muss ja ein tolles Abenteuer sein, wenn du es neun Jahre lang nicht mehr nach Hause geschafft hast. Aber keine Sorge, außer deiner Mutter und deiner Oma, Gott hab sie selig, hat dich niemand wirklich vermisst.« Sein Blick wanderte von ihr zu ihrem Bruder, hing dort einen Moment länger als nötig fest, dann sprach er mit fester Stimme weiter. »Hast du Zeugen für das, was du gerade gesagt hast? Gibt es irgendjemanden, der das bestätigen kann? Ist nicht das erste Mal, dass du etwas behauptest, für das du keine Belege hast.« Seine Worte waren schneidend klar.

Sanne schüttelte den Kopf. Es fiel ihr schwer, klar und geradeaus zu denken. Ihr ekliger schwerer Vater, an den sie sich nach neun Jahren noch immer erinnern konnte. Sein Atem auf ihrer Haut. Damals. Der Blick auf ihrem Körper. Jetzt. Sie hätte nie kommen sollen, dachte sie wieder. Das war alles ein großer Fehler.

»Kann es nicht sein, dass du einfach nur müde und erschöpft warst und das Ganze so gar nicht stattgefunden hat?«

Sie presste die Lippen aufeinander. »Ich habe sie gesehen.«

Matthias legte ihr eine Hand auf die Schulter. »Wenn du willst, können wir nachher noch einmal schauen. Falls wir tatsächlich was finden, rufen wir Jochen an.«

Ihr Bruder sagte das nicht, um sie zu beruhigen, sondern um dem Vater zu signalisieren, dass er ihr ebenfalls nicht glaubte.

Als Sanne sich nicht rührte, fügte er hinzu: »Axel, welcher Tisch ist denn unserer? Der in der Ecke oder der am Fenster?«

Axel Triest stand auf und deutete ihnen an, sich an den Tisch im Nebenraum zu setzen. Es war wenig los, außer dem Stammtisch waren nur noch zwei andere besetzt. Er rief die Kellnerin aus der Küche und setzte sich wieder zum Stammtisch.

»Nicht so schnell«, sagte der Dorfpolizist, der die Situation unkommentiert beobachtet hatte. »Kommen Sie mit ins Nebenzimmer. Ich habe noch ein paar Fragen.« Er stand auf und nickte seinen Kumpanen zu.

Er ging mit Matthias und Sanne in das angrenzende Zimmer. Sie setzten sich an den ihnen zugewiesenen Tisch. Matthias lehnte sich auf seinem Stuhl zurück und griff nach seinem Smartphone. Sanne sah den Polizisten skeptisch an. Jochen Trautwein. Mitte fünfzig, Halbglatze, ein runder Bauch. Sie erinnerte sich an ihn. Er war ein gern gesehener Gast im Hause Stoll gewesen, hatte mit dem Vater gelacht und die Speisen der Mutter und Oma bewundert. Nach jedem Besuch hatte der Vater sie beiseitegenommen und sie gelobt, dass sie nichts verraten hatte. Einem Polizisten konnte man nicht vertrauen, selbst wenn es der beste Freund war. Sie hatte damals hauptsächlich Angst gehabt, das Gefühl der Abneigung gerade erst in diesem Moment. Sie hatte nichts von damals vergessen, gar nichts.

»Was führt dich her? Stört es dich, wenn ich dich duze? Schließlich kennen wir uns schon so lange«, fragte er und kramte in seiner Jacke nach etwas zum Schreiben. Sie reagierte erst, als er einen Stift und einen Notizzettel hatte. Er nahm sie nicht ernst. Das letzte Mal hatte er nicht mitgeschrieben und sie nur ungläubig angestarrt.

»Omas Beerdigung.«

Matthias sah nicht auf, sagte aber: »Ich habe sie angerufen. Oma hat darauf bestanden, dass wir Sanne informieren.«

Jochen nickte. »Plausibel. Und du bist mit dem Auto hergefahren?«

»Ja, und wie ich gesagt habe –«

»Ja. Die Frau in der Nacht. Die Straßen sind sehr schlecht beleuchtet, nicht wahr? Und wenn man lange unterwegs ist und emotional geladen, dann –«

»Dann was?«, fiel sie ihm ins Wort.

»Ich wollte es nicht so direkt vor deinem Vater sagen, aber ich muss ihm recht geben. Es ist gerade keine Touristenzeit. Zuerst zu warm, dann zu wenig Schnee. Es würde mich wundern, wenn da tatsächlich zu dieser Uhrzeit jemand im Wald unterwegs ist.« Der Polizist verzog die Lippen zu einem mitleidigen Lächeln.

Er nahm sie noch immer nicht ernst.

Sie blähte die Nasenflügel auf. »Sie war da!« Sie war zu laut und ignorierte, dass die Gespräche im Hauptraum aufgehört hatten. Sie war nicht gekommen, um hierzubleiben. Es konnte ihr egal sein, was die von ihr dachten. Es konnte ihr nicht egal sein, wenn diese Frau im Wald Hilfe brauchte.

»Was für Beweise hast du?«, fragte Jochen und faltete den unbenutzten Notizzettel wieder zusammen.

Sanne atmete laut auf. »Keine.«

Jochen hob entschuldigend die Schultern. »Es tut mir leid, aber es gibt nichts, was ich machen kann. Soll ich die ganze Kavallerie rufen, weil du irgendwas gesehen hast?«

Matthias fügte leise hinzu: »Niemand hier hat vergessen, was vor neun Jahren passiert ist.«

Sie schnappte zurück. »Sicher? Warum glaubst du mir dann nicht?«

»Es tut mir leid, Sanne. Ich würde wirklich gerne mehr machen, aber dafür brauche ich Anhaltspunkte, die es nicht gibt. Ich wünsche dir einen schönen und vor allem ruhigen Aufenthalt.« Jochen stand auf, ging aus dem Zimmer und ließ Sanne mit ihren Gedanken zurück.

Und Matthias, der nervös auf dem Tisch herumtrommelte. Er schob ihr die Speisekarte zu.

Diese Penner. Es hatte sich wirklich überhaupt nichts geändert.

»Hast du gewusst, dass er hier ist?«, fragte Sanne. Sie hatte weder ihre Jacke noch ihre Handschuhe ausgezogen und war sich nicht sicher, ob sie nicht sofort aus dem Raum stürmen sollte.

Matthias hatte es sich bereits auf seinem Platz gemütlich gemacht und angefangen, die Speisekarte zu studieren. Sanne war sich sicher, dass er alles darauf auswendig kannte, und fragte sich einmal mehr, wer ihr Bruder geworden war. Und ob sie ihn überhaupt kennenlernen wollte. Gerade als sie nicht mehr damit rechnete, sagte er beinahe beiläufig: »Ich hab mir schon denken können, dass Papa beim Stammtisch sein wird.«

Sanne überging seine Bemerkung. »Lass uns jetzt nach der Frau suchen. Es dauert ja nicht lange. Hast du großen Hunger?« Sie flüsterte, sprach schnell, hatte das unangenehme Gefühl, gleich bei etwas Verbotenem erwischt zu werden.

Matthias legte die Karte zur Seite.

Sanne fiel auf, dass man den Stammtisch von ihrem Platz nicht sehen konnte, und dafür war sie dankbar. Trotzdem musste sie hier raus. Wegfahren, weit weg, nie wieder zurückkommen. Die neun Jahre Abstand hatten gar nichts gebracht. Sie hatte gewusst, dass sie ihn bei der Beerdigung sehen würde, aber das war okay gewesen. Wegen Matthias. Der sie gerade ins Messer hatte laufen lassen. Und dann auch noch dieser Wicht von einem Polizisten.

»Was ist mit der Frau?«, fragte sie noch mal. »Wir müssen etwas machen.«

»Du hast Jochen gehört! Und wir gehen doch nachher auch.«

Sie betrachtete Matthias. Um seine Augen hatten sich die ersten Lachfältchen eingeschlichen. Sein Mund war schmal. Er wich ihrem Blick aus und fragte mit hochgezogenen Augenbrauen: »Ist mir eine Warze auf der Nase gewachsen?«

Sanne lehnte sich zurück. »Warum hast du das getan?«

»Ich weiß nicht, was du meinst. Wirst du auch etwas essen?« Er warf einen letzten Blick in die Karte und legte sie zur Seite. Er faltete die Hände ineinander und grinste sie an. Wie ein unanständiger Schuljunge, der genau wusste, was er ausgefressen hatte.

»Nein. Wir fahren sofort. Ich will nach der Frau sehen.« Sanne stand auf und wartete nicht, dass Matthias ihr folgte.

4

Es hatte angefangen zu schneien. Leicht und fein legten sich die Schneeflocken auf ihre Jacke. Die kalte Luft tat ihr gut, machte ihren Kopf wieder klar.

Sanne setzte sich auf den Beifahrersitz und schnallte sich an. Matthias folgte ihr kopfschüttelnd und startete den Wagen. Der große Geländewagen roch wie Matthias, nach Arbeit und Aufgaben, die zu erledigen waren. Der Kofferraum war voller Kartons und Planen, die unordentlich gestapelt und zusammengerollt waren. Sie wandte ihren Blick ab. Das hier war Matthias’ Wagen, und sie hatte kein Recht, so in seine Privatsphäre einzudringen.

Matthias sah ihren Blick. »Ich benutze das Auto für die Arbeit und muss oft schwere Sachen transportieren. Keine Sorge, ich habe das alles gut verzurrt.«

Sie schenkte dem keine Beachtung. »Warum hast du mich ins Messer laufen lassen?«, fragte sie noch einmal, als sie vom Parkplatz fuhren und an der Ampelanlage nach links abbogen.

Er antwortete nicht sofort. »Du bist nicht zurückgekommen.«

»Ich habe dir doch geschrieben.«

»Du wolltest mich zu dir holen, Sanne. Hast du aber nicht.« Matthias gab Gas, viel zu schnell, und sie klammerte sich am Sitz fest.

»Ich weiß. Es tut mir leid.«

Er zog die Schultern hoch und rutschte auf seinem Sitz umher. »Er ist nicht mehr so schlimm. Papa, meine ich. Er ist nicht mehr so schlimm wie früher.«

Sie antwortete nicht. Das alles wollte sie nicht hören. Sie wollte nicht darüber nachdenken, nicht abwägen, wer von beiden es schlimmer gehabt hatte, sie oder ihr Bruder, der stets lange Kleidung tragen musste, um die blauen Flecken zu verbergen. Die Lügen, die sie sich für seinen gebrochenen Arm ausdenken mussten. »Der Matthias ist die Treppe runtergefallen, so ein Schussel aber auch. Dem passieren immer so Sachen.« Sie konnte nicht sprechen, so schlecht wurde ihr.

Matthias nahm ihr Schweigen als eine Aufforderung. »Er hat aufgehört zu trinken, und seitdem ist er anders. Ich arbeite gerne mit ihm zusammen.«

»Du weißt, was er getan hat«, presste Sanne hervor und versuchte, die Tränen zurückzuhalten.

»Ich weiß, was du mir erzählt hast.«

»Und die Bilder? Die du gefunden hast? Und was ist mit deinen Narben?«

»Ein Bild zeigt nicht immer die Wahrheit. Ich meine, wenn die Bilder so schlimm waren, warum hat Jochen ihn nicht sofort eingesperrt? Und ich habe ziemlich viel Scheiße angestellt, hätten sie mir das einfach so durchgehen lassen sollen?«

Es dauerte einen Moment, da verstand sie. Matthias wusste nicht, dass sie die Bilder nicht hatte. Er musste denken, dass die Bilder nicht eindeutig genug waren, vielleicht sogar gefälscht. Dass die Polizei ihr nicht geglaubt hatte. Dass es keine ausreichenden Beweise gäbe oder diese keine wären. Dass sie ihn angelogen hatte, damit er sie nicht aufhielte. Damit er ihr helfe. Sie atmete tief ein. »Matthias, ich –«

»Sag mir bitte, wenn wir da sind, okay?«

Schweigend fuhren sie durch die schneebedeckte Nacht. Sanne zwang sich, an die Frau zu denken. Sie verstand nicht, wieso sie einfach weitergelaufen war. Sie erinnerte sich an die Panik in ihrem Gesicht und das atemlose Gefühl, sie vielleicht verletzt zu haben.

»Hier«, sagte sie.

Die Straße sah so aus wie zuvor. Sie stiegen aus, und Matthias holte seine Taschenlampe aus dem Kofferraum. Er deutete ihr an vorzugehen, und sie erklärte alles erneut. »Sie wird da reingelaufen sein, oder?«

Das Licht der Taschenlampe war stark. Der Wind füllte die Tannen mit Leben, mit rauschenden Stimmen, die sie nicht deuten konnte. Es faszinierte sie, wie sich der Wald in der Dunkelheit wandelte. Tagsüber ging sie gern zwischen Bäumen und abseits von vorgegebenen Wegen spazieren, nur nachts, da versteckte sich hinter jedem Schatten und jedem lauten Geräusch Gefahr. Dass sie mit Matthias hier war, machte es nicht besser. Sie war die Ältere, sie musste auf ihn aufpassen.

»Siehst du etwas?«, fragte Matthias.

Ohne eine Antwort zu geben, kniete Sanne sich in den Schnee. Da war etwas.

»Kannst du bitte hierhin leuchten?«, fragte sie Matthias, ohne den Blick von der Stelle zu nehmen. Sie hatte etwas entdeckt, wenn auch nur flüchtig, einen Farbklecks, der in der grauen Welt der Winternacht auffiel wie ein bunter Hund. Als der Lichtkegel den Gegenstand erfasste, erkannte sie es. Ein herzförmiger Schlüsselanhänger, der halb eingegraben im Schnee lag. Sie zog ihn vorsichtig hervor. Ein ganzes Schlüsselbund kam zum Vorschein. Ein separater Schlüssel mit dem Herzanhänger und drei andere Schlüssel ohne Anhänger.

»Ist hier normalerweise ein Weg?«, fragte sie Matthias.

»Nein. Um zum nächsten Weg zu gelangen, müssten wir einen halben Kilometer nach Süden laufen. Da ist der Wanderweg zum Trimm-dich-Pfad.«

»Dann gehört der vielleicht ihr?«, fragte sie.

Matthias zuckte mit den Schultern. »Den kann auch jemand bei einer Wanderung verloren haben.«

Sie leuchteten weiter, aber der Neuschnee machte es unmöglich, weitere Spuren zu erkennen. Sanne merkte, wie die Müdigkeit an ihr zog wie ein Kleinkind an seiner Mutter. Sie brauchte Schlaf.

»Wahrscheinlich. Ich nehme ihn mit, und dann schauen wir mal.« Sie steckte den Schlüssel in ihre Jackentasche.

»Gib ihn doch Jochen, der kann sich darum kümmern.«

»Wirklich? Weil er mir so viel Glauben geschenkt hat?« Sie würde so wenig Zeit wie möglich mit dem Polizisten verbringen, wenn es nach ihr ging.

»Weil er für Fundsachen der beste Ansprechpartner ist, deswegen.« Sie sah im schwachen Licht der Taschenlampe, wie er die Augen verdrehte.

»Welcher Polizist nimmt so etwas nicht ernst? Ich hätte den Notruf wählen sollen, verdammt noch mal«, fluchte Sanne vor sich hin.