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Sahra pflegt ihre kranke Mutter und trägt die Verantwortung für ihren kleinen Bruder. Die Existenz der Familie gerät in Gefahr, als Sahra wegen ihrer magischen Fähigkeiten ihren Job verliert. Schuld daran ist der Politiker und Geschäftsmann Karsten Bergmann, der die wenigen Hexen in der Stadt unterdrückt. Sahra beschließt, den Menschen ihre Magie zu offenbaren und für Gleichberechtigung zu kämpfen. Unterstützung erhält sie ausgerechnet von Bergmanns Sohn Stefan. Gemeinsam finden sie heraus, dass Sahras Vater und Stefans Mutter vor sieben Jahren das gleiche Ziel hatten. Doch diese sind bis heute spurlos verschwunden.
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Seitenzahl: 403
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Sahra pflegt ihre kranke Mutter und trägt die Verantwortung für ihren kleinen Bruder. Die Existenz der Familie gerät in Gefahr, als Sahra wegen ihrer magischen Fähigkeiten ihren Job verliert. Schuld daran ist der Politiker und Geschäftsmann Karsten Bergmann, der die wenigen Hexen in der Stadt unterdrückt. Sahra beschließt, den Menschen ihre Magie zu offenbaren und für Gleichberechtigung zu kämpfen. Unterstützung erhält sie ausgerechnet von Bergmanns Sohn Stefan. Gemeinsam finden sie heraus, dass Sahras Vater und Stefans Mutter vor sieben Jahren das gleiche Ziel hatten. Doch diese sind bis heute spurlos verschwunden.
Ann-Kathrin Speckmann wurde 1995 in Delmenhorst geboren. Sie ist in Brinkum, in der Nähe von Bremen, aufgewachsen und studiert jetzt in Göttingen Rechtswissenschaften. Solange sie denken kann, liebt sie es zu lesen und zu schreiben. Dabei interessiert sie sich besonders für verschiedene Kulturen, Religionen, Zeiten und Lebensweisen. Deshalb machte sie 2011/12 ein Austauschjahr in Thailand und 2017/18 ein FSJ in Indien.
Weitere Informationen:
www.ann-kathrin-speckmann.de
https://www.facebook.com/annkathrin.speckmann.autorin/
Für meine Familie
Schlecht bedient
Ein wunderbares Geschenk
Der richtige Wunsch
Ab wann ist es Verrat?
Die bessere Wahl
Das bedeutet Magie!
Der Hass hat einen Grund
Die verschlüsselte Akte
Schmerzhafte Vergangenheit
Ungerechtes Verhör
Nicht allein
Mord oder Gerechtigkeit
Schwarze Blitze
Weihnachten
Die Nadel im Heuhaufen
Vertraut mir!
Beste Freundinnen
Gefesselt in der Erinnerung
Das Spiel mit dem Feuer
Die Ruhe vor dem Sturm
Gemeinsam ist fast alles möglich
Eine schreckliche Tat
Geschmolzene Handschellen
Mit gewohnten Bewegungen band Sahra ihre Schürze um und steckte Block und Stift in die Tasche. So schnell wie möglich suchte sie alles zusammen, was sie brauchte. Der Chef hatte sie vor wenigen Minuten angerufen: Sie solle sich um Gäste kümmern, die bereits im Restaurant waren. Diese seien etwas ganz Besonderes. Trotz ihrer Eile blieb ihr Blick an einem Poster hängen. Seit Wochen sah sie das Bild im ganzen Ort: Menschen, die in Ballkleidern und Anzügen tanzten, während über ihnen ein Feuerwerk explodierte.
ORC Neujahrsball
Wann: 31. Dezember ab 17 Uhr
Wo: in der Sporthalle des Gymnasiums
Freier Eintritt für alle!
Sahra zwang sich, das Poster nicht einfach zu zerreißen. Insbesondere das Logo der ORC wollte sie beseitigen. Es leuchtete in bunten Farben mit dem Feuerwerk um die Wette. Das R mündete in einer Hand, die das C umfasste. Das stellte die angeblich vorurteilsfreie Hilfe der ORC allen Menschen gegenüber dar. Die reinste Lüge!
Wenn sie dieses falsche Spiel wenigstens ignorieren könnte, aber sie musste am Ball teilnehmen. Jedes Jahr aufs Neue wurden alle Dorfbewohner, welche die gleichen Fähigkeiten wie sie besaßen, dazu gezwungen hinzugehen und dann dazu verdammt am Rand zu warten. Sie durften nur unter sich bleiben. Die ORC demonstrierte ihnen dadurch ihre Macht. Als sie noch zur Schule ging, hatte Sahra es einmal gewagt zu schwänzen. Am nächsten Tag war sie stundenlang verhört worden und hatte am Ende einen Schulverweis kassiert. Und damit hatte sie noch Glück gehabt.
Mit zusammengepressten Lippen wandte sie sich vom Poster ab, um mit ihrer Arbeit zu beginnen. Jetzt achtete sie mehr auf ihre Umgebung als zuvor, denn sie wollte mit niemandem zusammenstoßen. Aber sie war auch nicht in der Stimmung irgendjemanden anzusehen, denn sonst würde eine ihrer Kolleginnen sie vielleicht fragen, ob mit ihr alles in Ordnung sei. Sie hatte keine Lust zu lügen, und die Wahrheit durfte sie niemandem erzählen.
Sie ärgerte sich in dieser dämlichen Sonderschicht über den Neujahresball, obwohl sie heute eigentlich mit ihrem Bruder Weihnachtssterne basteln wollte. Morgen war der erste Advent, aber in ihrem Haus sah das noch niemand an.
Der Chef hatte ihre Pläne durchkreuzt und sie früher zur Arbeit gerufen, weil ein Gast ausgerechnet von ihr bedient werden wollte.
„Hey, ich bin Sah…“ Als sie aufsah und erkannte, wer an ihrem Tisch saß, verschlug es ihr die Sprache. Karsten Bergmann! Der Mann, der die hiesige Zweigstelle der ORC leitete und alles tat, um sie und ihre Freunde zu kontrollieren. Bei ihm saßen seine zwei Söhne und eine Frau.
Einen Moment lang starrte sie die Gruppe nur an. Sie durfte jedoch keinen schwachen oder hilflosen Eindruck machen. Um sich selbst über die Situation hinwegzuhelfen, täuschte Sahra Husten vor.
„Entschuldigung. Ich bin Sahra, Ihre Bedienung für den heutigen Abend.“ Sie sollte Bergmann anlächeln, wie alle anderen Gäste auch, aber es gelang ihr nicht. Dieser Mann verdiente keine nette Geste. Den Blicken der Gäste ausweichend, zog sie ihren Block und Stift aus der Schürzentasche. „Wissen Sie schon, was Sie trinken möchten?“ Sie wollte nicht mit diesem Mann reden. Ihre Abneigung gegen Bergmann war kein Geheimnis. Jeder wusste davon, auch ihr Chef. Warum, zur Hölle, bin ich hier?
„Meine Söhne und ich nehmen jeder ein Glas Wein. Welchen können Sie uns empfehlen?“ Bergmann sah sie herausfordernd an. Das ist wie ein Test in der Schule, dachte Sahra. Abschätzig hob sie eine Augenbraue. Sie wusste nicht das Geringste über Wein. Und sie war sich sicher, dass Bergmann das wusste. In so einem kleinen Restaurant erwartete niemand eine Weinempfehlung.
„Soll es ein trockener Wein sein?“, plapperte Sahra ihrem Freund Marc nach, der die Frage vor ein paar Tagen einem anderen Gast gestellt hatte.
„Ja, bitte!“ Er bat nicht, er forderte! Sein Befehlston zwang sie tief durchzuatmen, denn nach außen hin musste sie Ruhe bewahren.
„Gut.“ Sie lächelte, als wäre es normal, nicht weiter auf die Weinbestellung einzugehen.
„Was möchten Sie trinken?“, fragte sie die Frau neben Bergmann.
„Ich nehme ein Glas Champagner.“ Sahra nickte. Wer trank denn bitte Champagner zum Abendessen?
„Für mich bitte kein Wein, sondern ein Bier. Ob trocken oder nass ist mir egal.“ Sahra musste lächeln. Das Grinsen in dem Lächeln von Bergmanns jüngeren Sohn weckte längst vergangene Gefühle. Sie vermisste ihn.
„Stefan!“, rief die Frau entsetzt. Nicht lachen!, dachte Sahra verzweifelt. Das gelang ihr jedoch nicht, also täuschte sie zum zweiten Mal einen Husten vor.
Die Entrüstung der Frau über den kleinen Witz war kaum zu glauben. War sie seine Stiefmutter? Bergmann und seine beiden Söhne, insbesondere sein Ältester, lächelten Sahra beinahe täglich von den Titelseiten der lokalen Zeitungen entgegen. Diese Frau war nur selten im Hintergrund dabei.
„Ihre Getränke kommen sofort. Ich gebe Ihnen schon mal unsere Speisekarten.“
Auf dem Weg zum Getränketresen rannte sie beinahe eine Kellnerin und zwei Kunden um.
Ein Mann saß am Rand und trank sein Bier. Sie beachtete ihn nicht weiter. Sie ballte ihre Hand zur Faust und schlug sie auf den Tresen. „Warum, zur Hölle, muss ausgerechnet ich den Bergmann-Tisch übernehmen? Und warum hast du mich nicht gewarnt?“
„Beruhig dich erst mal!“ Sie schnaubte, während sie den Zettel mit den Getränkebestellungen aufhängte.
„Der Chef hat das so angeordnet. Warum weiß ich nicht.“
„Und das konntest du mir nicht sagen?“ Er legte den Kopf schief, während er versuchte Sahras Schrift zu entziffern.
„Nein“, erwiderte er für ihren Geschmack etwas zu abwesend. „Sonst hättest du den Tisch nicht übernommen und wärst gefeuert worden. Du brauchst den Job!“ Ja, sie brauchte ihn wirklich. Aber deswegen warf sie noch lange nicht alle ihre Überzeugungen und ihren Stolz über Bord.
„Was soll das Erste heißen?“, fragte Marc, während er das Bier zapfte.
„Trockener Wein. Für zwei Personen.“
„Du sollst ordentlicher schreiben. Ständig bekommen deine Gäste etwas Falsches.“ Sahra ignorierte die Kritik.
„Was wollen die Bergmanns überhaupt hier. Die gehen doch sonst nur in Zehn-Sterne-Restaurants.“
„Es gibt kein Restaurant mit zehn Sternen.“ Er zog unschlüssig zwei Flaschen aus dem Weinkühlschrank.
„Dann eben in Fünf-Sterne-Restaurants!“ Marc schüttelte den Kopf in Richtung der einen Flasche und stellte sie zurück.
„Karsten Bergmann gehört das Restaurant. Er schaut hin und wieder vorbei, um die Qualität zu prüfen oder um Geschäftliches mit dem Chef abzuklären. Bisher habe ich immer dafür gesorgt, dass du es nicht mitbekommst.“
„Was?“, rief sie entsetzt. Die letzte Aussage überhörte sie einfach. „Das heißt, ich bediene den Mann, der mein ganzes Leben …“ Sahra biss sich beim Anblick des Gastes neben ihr auf die Zunge. Ihren Wutausbruch konnte er von ihr aus gerne hören, aber er durfte auf keinen Fall erfahren, warum sie sich so aufregte. Schon gar nicht, wenn Bergmann im Haus war. „Ich bediene den Mann, der alles verkörpert, was ich hasse. Und dann muss er nicht bezahlen, so dass ich nicht einmal Trinkgeld bekomme? Ich werde irgendeinen Tisch mit Natalie tauschen!“
„Nein, das werden Sie nicht tun, Sahra!“ Sie drehte sich zu der Stimme um. Sofort entdeckte sie den Chef. „Herr Bergmann hat speziell nach Ihnen verlangt. Sie wären mit Ihrer Unkenntnis über meine Speisen und Getränke, Ihren schlechten Manieren und Ihrem aufbrausenden Temperament ganz bestimmt nicht meine erste Wahl gewesen. Aber er will nun einmal Sie. Also reißen Sie sich zusammen. Tisch 5 bleibt heute Ihr Einziger!“
„Was? Mein Lohn reicht vorne und hinten nicht. Ich bin auf Trinkgeld angewiesen!“ Sie presste ihre Lippen aufeinander, sonst sagte sie noch etwas, dass sie später bereuen würde. Er wusste von ihrer kranken, alleinerziehenden Mutter und ihrem kleinen Bruder, um den sie sich kümmerte.
„Entweder Sie sorgen dafür, dass Herr Bergmann am Ende des Abends gut gelaunt und mit Ihrer Arbeit zufrieden ist, oder das wird Ihr letzter Arbeitstag!“ Ohne ein weiteres Wort rauschte er in die Küche, wo er den Koch darauf hinwies, dass Herr Bergmanns Speisen perfekt werden müssten.
Sprachlos starrte sie ihm hinterher, bis die Küchentür zufiel.
„Bier, Champagner und die Weingläser“, zählte Marc auf, während er alles auf das Tablett stellte. „Schenk zunächst nur wenig ein und lass …“ Sahra könnte einfach gehen. Ihre Schürze auf den Tresen knallen und es wäre vorbei. Aber sie brauchte den Jo.
„Hast du alles verstanden, Sahra?“, fragte Marc mit hochgezogenen Augenbrauen. Sie nickte, obwohl sie nichts mitbekommen hatte.
Als sie das Tablett in die eine und den Wein am Flaschenhals in die andere Hand nahm, hasste Sahra sich selbst beinahe genauso sehr wie den Chef. Für Geld handelte sie gegen ihre eigenen Überzeugungen. Und Marc war auch nicht besser. Er hatte sie weder vorgewarnt, noch unterstützt. Er sah weder Bergmanns Verbrechen noch die abwertende Haltung des Chefs ihr gegenüber. Seine Aufmerksamkeit galt nur ihren Fehlern. Sogar jetzt rief er ihr hinterher, dass sie ein Tuch um die Weinflasche binden müsse, aber das war ihr egal.
„Sie sehen nicht gut aus, Sahra. Ich hoffe, bei Ihnen ist alles in Ordnung?“ Sahra musterte Bergmanns Begleitung. Die Frau hatte blondierte Haare und eine spitze Nase. Ihr Make-up war viel zu bunt und dick aufgetragen. Mit ihrem grünen Kostüm erinnerte sie Sahra an einen zu groß geratenen Kanarienvogel.
Und ausgerechnet diese Frau verspottete sie. Sie wusste, wer Sahra war, und wie viel es sie kostete, Bergmann und seine Familie zu bedienen. Sie gehörte zu den Bergmanns. Sie musste es wissen! Und doch durfte Sahra keine bissige Antwort zurückgeben, wenn sie ihren Job behalten wollte.
„Mir geht es wunderbar, danke“, rang sie sich ab. Sie servierte den Champagner. Wortlos folgten die Weingläser. Sie schenkte sie halb voll. Dabei ignorierte sie die kritischen Blicke.
„Was ist das für ein Wein?“, fragte Bergmann. Anstatt ihm in die Augen zu sehen, starrte sie auf einen Punkt auf seiner Stirn, während er mit ihr sprach.
Sie warf einen Blick auf die Flasche, doch sie wusste nicht, wie man den Namen des Weins aussprach. Da sie keine Antwort wusste, hielt sie Bergmann die Flasche hin. Als Entschuldigung zwang sie sich ein Lächeln ab.
„Und das Bier“, präsentierte sie stattdessen das letzte Getränk, indem sie es länger als nötig hochhielt, damit alle es bewundern konnten: „Es ist frisch gezapft, zu einem Sechstel schaumig.“ Stefan lächelte, als sie seinen Witz aufgriff.
„Perfekt, so mag ich es am liebsten.“ Mit einem angedeuteten Lächeln nickte sie ihm zu. Sie floh beinahe schon, da erinnerte sie sich an die noch nicht aufgenommenen Bestellungen. Sie zwang sich selbst zum Stehenbleiben. Sie zog Block und Stift aus der Schürzentasche und fragte nach den Essenswünschen. Als alles auf ihrem Block stand, verschwand sie so schnell sie konnte.
„Du ziehst ein Gesicht, als solltest du gehängt werden.“ Marc warf ihr einen kritischen Blick zu. „So schlimm ist das nun wirklich nicht. Wir alle müssen dann und wann nett zu Leuten sein, die wir nicht mögen.“
„Nicht mögen?“, fragte sie entsetzt. „Bergmann hat …“ Beim Blick auf den immer noch am Tresen sitzenden Gast verstummte sie. Wenn sie sich nicht besser beherrschte, würde der Bergmann-Tisch zu ihrem kleinsten Problem werden.
Ohne ein weiteres Wort ging sie an Marc vorbei in die Küche. Sie hängte den Zettel an den Rand. Das bedeutete: oberste Priorität. Normalerweise hängte sie nie etwas dort auf. Einige andere Kellnerinnen taten es zwischendurch unerlaubterweise in der Hoffnung auf ein besseres Trinkgeld. Von solchen Tricksereien hielt sie nicht viel. Ihr Trinkgeld würde so oder so nie rekordverdächtig werden. Sie war einfach zu ungeduldig und zu schnell genervt von unhöflichen Gästen.
Wortlos wartete sie gegen die Wand gelehnt auf die Vorspeisen. Keiner sagte etwas zu ihr. Sahra kam mit all ihren Kollegen gut aus, aber jeder wusste, dass man sie besser in Ruhe ließ, wenn sie sauer war. Und es war ebenfalls bekannt, dass sie Bergmann nicht ausstehen konnte. Den Grund dafür wusste jedoch kaum einer. Marc dagegen war sich über einen kleinen Teil der Wahrheit im Klaren. Und genau das verletzte sie so sehr. Wie konnte er nur so einfach darüber hinwegsehen?
Zwei Minuten später standen Brot und Butter auf dem kleinen Tisch für die fertigen Gerichte. Sie brachte diesen ersten Teil der Vorspeise zu Tisch fünf, wünschte einen guten Appetit und verschwand wieder. Sie bot Bergmann keine Chance auf eine Unterhaltung mit ihr. Sahra hatte nicht die geringste Ahnung, was er von ihr wollte. Auf jeden Fall wollte sie nichts von ihm wissen. Es sei denn natürlich, er gäbe nach und sähe endlich ein, wie falsch sein Handeln war. Aber warum sollte er das tun, nachdem er es in den letzten zwölf Jahren nicht getan hatte?
Nach und nach brachte sie den Rest der Vorspeise und den Hauptgang zu den Gästen.
„Wie geht es Ihrer Familie?“, fragte Bergmann irgendwann.
Sahra musterte ihn lange, ohne etwas zu sagen. Wollte er sie demütigen? Oder erinnerte er sich wirklich nicht mehr an Ihre Eltern? Wahrscheinlich war ihre Familie für ihn nur eine von vielen, die er kontrollieren und bespitzeln musste.
„Gut“, sagte sie und ging. Sie fragte nicht einmal, wie es bisher geschmeckt hatte oder nach neuen Getränke-Bestellungen. Langsam wurde ihr klar, dass sie genauso gut bei ihrem Bruder hätte bleiben können. So würde sie ihren Job definitiv verlieren. Bei dem Gedanken bekam sie weiche Knie. Alles drehte sich. Sie biss die Zähne zusammen und stolperte zur Damentoilette.
Sie hasste Bergmann so sehr. Gegen ihn war sie machtlos. Er spielte mit ihrem Leben und mit dem ihrer Freunde. Und keiner unternahm etwas. Die Menschen ließen sich von der schönen Fassade blenden. Sie sahen nur Bergmanns Engagement in der verdammten „International Organization to rehabilitate criminals“, kurz ORC. Offiziell half er auf falsche Wege geratenen Menschen, indem er ihnen Jobs und Wohnungen besorgte und ihre Familien mit Geld unterstützte. Dass diese Organisation gleichzeitig andere Menschen verfolgte und ihnen das Leben zur Hölle machte, wurde darüber hinweg einfach ignoriert. Sie warf ihren Stift gegen die Wand. Er zerbrach knackend in zwei Teile.
Sie sah in den Spiegel. Tränen rannen über ihre Wangen. Ihre Augen blitzten grün, aber ihre Haut wurde rot. Dass sie nur heulen konnte, ließ sie noch lauter schluchzen. Sie hasste sich für ihre Hilflosigkeit und die Schwäche, die jetzt auch noch jeder sehen konnte.
Das Wasser war eiskalt. Vorsichtig wusch sie sich das Gesicht. Die Wimperntusche und das Make-up verschwanden. Sie dachte darüber nach, sich neu zu schminken, ließ es aber bleiben. Das Papierhandtuch fühlte sich rau auf ihrer gereizten Haut an. Als sie erneut in den Spiegel blickte, sah sie schlimmer aus als zuvor, aber immerhin hatte sie sich etwas beruhigt. Sie sah sich selbst in die Augen und zählte bis zehn.
Mit der neu gewonnen Kraft verließ sie das Badezimmer. Sie kam allerdings nicht weit, bevor sie stolperte und auf den Boden fiel.
„Verdammt!“, fluchte sie. Und dann gleich noch einmal, als sie sah, über wessen Füße sie gestolpert war. Sie kniete direkt vor Stefan, Bergmanns jüngstem Sohn.
„Tut mir leid“, murmelte sie. Er hielt ihr eine Hand hin. Aus Gewohnheit ergriff sie diese, um sich aufhelfen zu lassen. Im gleichen Moment hätte sie ihre am liebsten wieder weggezogen.
„Hast du dich verletzt?“
„Es geht schon.“ Er überragte sie um einen halben Kopf. Sie mochte es nicht, zu ihm aufschauen zu müssen.
„Hast du mich nicht gesehen oder war das ein Attentat?“ Ihr erster Gedanke war, einfach wegzugehen, aber in seiner Stimme klang nichts nach einem Vorwurf. Im Gegenteil: Sie wurde wieder von diesem Grinsen begleitet. Dieses Grinsen, das in ihr so viele schöne Erinnerungen wachrief. Das ließ ihre Wut nahezu verpuffen.
„Nein“, antwortete sie deshalb ehrlicher, als sie es eigentlich wollte. „Ich bin heute … etwas durch den Wind.“
„Du scheinst meinen alten Herrn nicht sonderlich zu mögen.“ Sahra musterte sein Gesicht. Wollte er tatsächlich so tun, als wüsste er nichts von den Machenschaften seines Vaters?
„Natürlich nicht“, antwortete sie und wandte sich ab.
„Hey, jetzt warte doch mal, Sahra. Du kannst mir so etwas doch nicht an den Kopf werfen, und dann einfach verschwinden.“ Sie blieb tatsächlich stehen. Langsam drehte sie sich um. Sie sah ihm in die Augen. Sie waren dunkelbraun und gaben ihr ein beruhigendes Gefühl, welches sie sogar fast von ihrer Antwort ablenkte.
„Ich mag weder deinen Vater noch die verdammte ORC. Ich kann niemanden in seinem Umfeld leiden – auch dich nicht. Ihr nehmt mir meine Freiheit. Ihr verwehrt mir und allen, die so sind wie ich, ein ganz normales Leben. Wegen euch haben wir außer uns keine Freunde. Wegen euch verliere ich sogar meinen Job.“ Sie musste sich zusammenreißen, denn noch einmal wollte sie heute nicht weinen, und schon gar nicht vor einem Bergmann.
Sie brach ab. Deutlicher durfte sie in der Öffentlichkeit nicht werden. Auch dafür trug Bergmann die Schuld.
„Ich hoffe, alle deine Fragen sind geklärt. Ich muss wieder in die Küche und eure Nachspeisen holen. Wahrscheinlich die Letzten, die ich hier servieren werde.“ Sie ließ ihm keine Zeit für eine weitere Antwort. Bis zu diesem Moment war sie vor einem Bergmann weder ausgerastet noch zusammengebrochen. Sie hatte Schreien, Tränen und rot werden vermeiden können. Das sollte sich nicht jetzt noch ändern.
Marc hatte am Tresen alle Hände voll zu tun. Dennoch blickte er auf, als sie näher kam. „Hey, Sahra, ist alles …“
„Nein!“, unterbrach sie ihn, weil sie immer noch sauer auf ihn war. Obwohl sie sich das Gesicht gewaschen hatte, konnte sie ihre geweinten Tränen nicht vor ihm verbergen. Er war ihr bester Freund, soweit sie überhaupt irgendwen als Freund bezeichnen konnte. Und doch wollte sie nicht einmal vor ihm verletzlich wirken.
In der Küche waren alle so schweigsam, wie schon den ganzen Tag über, wenn sie diese betrat. Auf dem Tisch standen drei Stück Torte. Das Eis für Bergmanns jüngeren Sohn stellte der Koch persönlich auf ihren Unterarm, obwohl sich normalerweise sein Azubi um die Nachspeisen kümmerte. Aber für die Bergmanns musste ja alles besonders sein, dachte sie. Dabei umklammerte sie den Teller in ihrer Hand etwas zu weit am Rand, so dass die Nachspeise beinahe heruntergefallen wäre.
Vorsichtig ging sie durch den vollen Raum. Sie wollte den Koch wirklich nicht um ein neues Stück Torte bitten müssen.
Sie stellte alles auf den Tisch. Einen Moment betrachtete sie Stefan. Mit seinem Eis fiel er erneut aus der Reihe. Früher hatte er auch immer zu jeder Tages- und Nachtzeit Eis essen wollen.
„Kann ich sonst noch etwas für Sie tun?“ Sie hörte ihre eigene abweisende Stimme. Es war vorbei. Bergmann würde sie bestimmt nicht loben, wenn der Chef nach ihr fragte.
„Nein, danke!“, sagte Bergmann.
„Dann verabschiede ich mich jetzt von Ihnen. Ich werde dem Chef Bescheid sagen, dass sie bald mit dem Essen fertig sind. Schönen Abend noch!“ Das Letzte kam nur der Gewohnheit wegen über ihre Lippen.
„Warten Sie, Sahra“, rief Stefan und zog damit vier überraschte Blicke auf sich.
„Das ist für Ihre Mühe.“ Er gab ihr einen zusammengerollten Zehn-Euro-Schein. Am liebsten hätte sie ihn aus Stolz nicht angenommen. Allerdings verlor sie gerade ihren Job und brauchte jeden Cent.
„Vielen Dank, Herr Bergmann“, sagte sie. Es gefiel ihr nicht Vater und Sohn gleich anzusprechen. Beim Anblick des Sohns fühlte sie Vertrautheit, beim Vater nur Abscheu. Schnell drehte sie sich um und gab Marc wortlos ihre Schürze und das Namensschild.
„Nun wirf doch nicht gleich die Flinte ins Korn. Immerhin könnte Bergmann doch auch netter über dich reden, als du jetzt glaubst.“ Sarah schwieg. Sie holte ihre Handtasche unter dem Tresen hervor, nahm ihre Jacke vom Haken und verließ das Restaurant. Beim Laufen kramte sie ihren Geldbeutel heraus, um das Trinkgeld einzustecken. Sie drehte den Schein auseinander. Dabei fiel etwas zu Boden.
Sahra hob die Zettel auf. Es war so dunkel, dass sie zur nächsten Straßenlaterne gehen musste, um zu erkennen, was sie in der Hand hielt. In dem Zehner war ein Zwanziger versteckt gewesen. Sie ballte die Faust, sodass der Schein zerknitterte. Die Almosen machten sie wütend auf sich selbst. Sie sollte allein und ohne Hilfe für ihre Familie sorgen können. Aber da sie es nun einmal dringend brauchte, steckte sie das Geld weg. Danach betrachtete sie das zweite Stück Papier. Es handelte sich um einen Notiz-Zettel aus einem der Restaurant-Blöcke.
Ehrlich gesagt habe ich kein Wort verstanden. Vielleicht erklärst Du es mir morgen Abend um 8 Uhr am Brunnen.
Stefan
Ungläubig starrte sie auf die Notiz. Stefan Bergmann wollte sich mit ihr reffen? Für unzählige Frauen wäre das der Lotto-Gewinn. Alle träumten davon, mit ihm auszugehen.
„Das ist kein Date. Er heckt irgendetwas aus!“, sagte sie zu sich selbst. Aber eigentlich wollte sie das nicht glauben. Das würde die Erinnerungen zerstören, die sie an ihn hatte.
Andererseits war er nicht mehr der Junge von damals. Aus ihm war ein herablassender Mann nach dem Vorbild seines Vaters geworden. Er machte sich über sie lustig, indem er sich dumm stellte. Und er erwartete, dass alle nach seiner Pfeife tanzten! Was dachte er sich dabei, sie irgendwohin zu bestellen? Was, zum Teufel, war sie denn in seinen Augen? Sein Dienstmädchen?
„Das ist nicht wahr!“, flüsterte ihre innere Stimme. Ihr Blick fiel erneut auf die Nachricht. Er wollte sie am Brunnen treffen. Das war ihr Ort. Den würde er nicht missbrauchen. Allerdings war all das schon lange her. Bei ihrem letzten Treffen war sie erst vierzehn Jahre alt gewesen. Sie hatte eine gefühlte Ewigkeit nicht mehr daran gedacht, aber jetzt kamen die Erinnerungen auf einen Schlag zurück. Sie sah sich und Stefan wieder als Kinder gemeinsam am Brunnen. Als der Ältere sollte er auf sie aufpassen, aber dazu hatten sie beide damals viel zu viel Unsinn im Kopf gehabt. Einmal hatte Stefan sogar versucht sie an einem Eimer in den Brunnen hinunterzulassen. Natürlich waren sie erwischt worden. Seitdem lag eine festgeschraubte Holzplatte auf der Öffnung.
„Hör auf, die Zeiten sind vorbei!“, wies Sahra sich laut zurecht. Mit ruppigen Bewegungen riss sie ihr Zopfgummi aus den Haaren. Es ziepte, als sie sich dabei einige Haare ausriss. Sie fluchte. Doch als sie ihre Haare wieder um das Gesicht spürte, beruhigte sie sich.
Schon nach wenigen Minuten kam sie zu Hause an. Deshalb brauchte sie diesen Job. Vom Restaurant aus konnte sie im Notfall schnell hier sein. Außerdem sparte sie sich das Bus-Geld.
Sahra öffnete das quietschende Gartentor. Sie setzte gerade zum Klingeln an, als Tim ihr die Tür öffnete. Er fiel ihr sofort in die Arme.
„Da bist du ja endlich!“ In Wahrheit war sie viel zu kurz auf der Arbeit gewesen. In Zukunft würde Tim nicht mehr auf sie warten müssen. Ihre Augen brannten. Schnell blinzelte sie die Tränen weg und lächelte weiter, damit ihr Bruder es nicht merkte. Er sah so unschuldig aus mit seinen sechs Jahren. Seine Augen waren genauso grün wie ihre. Auch sein Haar glich dem ihren, nur schnitt sie seines um einiges kürzer.
„Endlich? Ich war doch keine zwei Stunden weg.“ Das Lächeln strengte sie an und ihre Stimme klang brüchig, aber Tim bemerkte zum Glück nichts davon.
„Komm mit hoch, ich habe eine Überraschung für dich!“, rief er und flitzte die Treppe nach oben.
„Hallo, Mama!“, sagte sie leise, als sie an dem Schlafzimmer ihrer Mutter vorbeikam. Diese saß halb aufgerichtet im Bett, sagte nichts. Vielleicht schlief sie. Es war einer ihrer schlechteren Tage.
„Jetzt komm doch endlich, Sahra!“ Mit einem Seufzen wandte sie sich von ihrer Mutter ab und ging in ihr eigenes Zimmer. Mitten im Raum lag ein Kleid. Es sah aus, als gehöre es einer Prinzessin aus einer längst vergangenen Zeit. Sprachlos berührte Sahra den grünen Stoff, dessen Farbton ihren Augen glich.
„Genau so eines hast du dir gewünscht, oder?“ Tim sah sie mit leuchtenden Augen an. Dieses Kleid war wundervoll – genau das, was sie wollte. Doch sie schaffte es nicht, Tim das zu sagen.
„Wo hast du es her, Tim?“ Hätte ich mich doch nur zuerst bedankt, schoss es ihr im gleichen Moment durch den Kopf.
„Gefällt es dir nicht?“
„Es ist wunderbar, das schönste Kleid, das ich je gesehen habe. Aber wir können es uns nicht leisten.“
„Ich habe es nicht gekauft. Es war in einem von Mamas Büchern.“
„Um Himmels willen, Tim!“ Sahra bemerkte seinen erschreckten Gesichtsausdruck und erstarrte. Sie wollte ihm keine Angst machen. Er konnte nichts dafür. Wie sollte er mit seinen sechs Jahren die Gefahr verstehen?
„Tut mir leid. Das war wirklich lieb von dir“, sie lächelte ihm aufmunternd zu.
„Aber?“, fragte er traurig und sah aus, als würde er jeden Moment anfangen zu weinen.
„Kein aber“, flüsterte sie. Sanft nahm sie den Jungen in den Arm. Sie drückte ihn ganz fest. Am liebsten hätte sie ihn nie wieder losgelassen. Schließlich musste sie es trotzdem tun.
„Holst du mir bitte das Buch?“
„Also gibt es doch ein aber“, stellte er mit erstickter Stimme fest.
„Keines, das deine Schuld ist.“ Das schien ihn nicht zu trösten. Dennoch lief er los. Sahra setzte sich auf den Boden und wartete an ihr Bett gelehnt auf Tim. Er brachte ihr das Buch. Sie hatte es von ihren Urgroßeltern geerbt. Sahra strich ehrfürchtig über den ledernen Buchumschlag.
Von innen sah das Buch aus wie eine dicke, veraltete Modezeitschrift. Verschiedenste handgemalte Bilder von Kleidern und Schmuck befanden sich darin. Sahra bewunderte die mit Feder geschriebenen Buchstaben, welche neben jeder Illustration einen kurzen Text bildeten. Sie kannte dieses Buch nicht. Aufmerksam überflog sie die einzelnen Seiten. Sie wünschte sich, mehr Zeit mit den alten Büchern verbringen zu können.
Schließlich entdeckte sie eine Zeichnung von ihrem Kleid.
Mit der Hand berührte sie noch einmal den seidigen Stoff. Einige Sekunden lang sagte sie nichts, betrachtete nur dieses einzigartige Kleid.
„Warum willst du es zurückschicken?“
„Das will ich nicht, weil es ein wirklich schönes Geschenk von dir ist. Aber leider darf niemand von unseren Fähigkeiten erfahren. Die Leute würden misstrauisch werden, wenn sie ein solches Kleid bei mir sähen. Jeder weiß, dass ich mir das nicht leisten kann.“ Sie hasste es, ihm das erklären zu müssen. Ihrer Meinung nach sollte jeder wissen, welche Gabe sie besaßen. Ihr Bruder sollte sich nicht schon als Kind verstellen müssen. Er war nun einmal ein Hexer. So etwas suchte man sich nicht aus. Jede Hexe erbte die Magie von den Eltern. Tim und sie selbst trugen das Vermächtnis der ihren in sich. Es war ihrer beider Recht diese Fähigkeiten auch zu nutzen. Aber was sollte sie tun? Bergmann wäre mit Hilfe der ORC in der Lage im 21. Jahrhundert eine Hexenjagd zu starten.
„Probier es doch wenigstens an. Bitte!“ Auf einmal sah Tim wieder hoffnungsvoll aus. Er steckte sie damit an. Sie dachte noch einen Moment über die möglichen Gefahren nach. Aber wer sollte sie bei ihr zu Hause schon dabei beobachten, wie sie ein Kleid anprobierte? Und so zog sie sich das Kleid über den Rock. Schnell schlüpfte aus ihrer Bluse und in das Kleid. Die breiten Träger lagen perfekt auf ihren Schultern. Sie bückte sich runter zu Tim.
„Machst du es mir zu?“
„Natürlich!“, antwortete er begeistert und schloss das Dutzend kleiner Häkchen am Rücken.
„Danke!“ Sie stand auf und betrachtete sich im großen, leicht angelaufenen Spiegel.
„Du siehst wunderschön aus“, staunte Tim. Es passte wie angegossen. Der Saum des Kleides ging genau bis auf den Boden. Ihre hellen, nackten Arme hoben sich von dem gerafften, dunklen Stoff am Oberkörper ab. Und auch ihre wilden Locken passten perfekt dazu. Wenn sie die Wahl hätte, sie würde genau dieses Kleid nehmen. Aber das war nun einmal nicht ihre Entscheidung, also würde sie in einem ihrer einfachen Röcke auf den Ball gehen. Ein magisches Kleid durfte sie nun einmal nicht anziehen. So waren die Regeln. Die Regeln weniger Menschen, die für alle Hexen galten.
„Danke, Tim, das ist ein großartiges Geschenk.“ Sie zog das Kleid nicht aus, als sie mit ihm ins Badezimmer ging, um ihm dabei zu helfen sich für das Bett fertig zu machen. Und sie behielt es auch an, als sie ihn in sein Zimmer brachte, ihn zudeckte und sich neben sein Bett setzte. „Welche Geschichte möchtest du heute hören?“
„Gestern haben wir mit Peter Pan angefangen. Wendy, ihre Brüder, John und Michael, und Peter sind gerade in Nimmerland gelandet. Du hast versprochen mir von ihren Abenteuern zu erzählen.“ Er plapperte so schnell und aufgeregt, dass Sahra sich fragte, ob er heute Abend überhaupt schlafen würde.
„Das stimmt. Nachdem sie also in Nimmerland angekommen waren, stellte Peter seinen neuen Freunden als Erstes die verwunschenen Kinder vor. Es handelte sich um genau zwölf Jungen. Alle besaßen besondere Fähigkeiten. Einer von ihnen hieß genau wie du.“
„Wie ich? Tim?“ Sanft strich sie ihm die Haare zurück und glättete die aufgewirbelte Decke.
„Ja, er hieß Tim. Und er liebte es, Indianer zu spielen. Das gefiel auch John. Deshalb schmiedeten die Kinder einen Plan …“
Sie dachte sich eine spannende Geschichte in Peter Pans Reich aus. Erst als Tim schlief, hörte sie auf zu reden und knipste das kleine Licht neben dem Bett aus.
Nachdem sie in ihr Zimmer gegangen war, fand sie das noch immer aufgeschlagene Buch. Zögernd ging sie darauf zu. Mit der Hand verdeckte sie das Bild des Kleides. „Nimm zurück, was Dir gehört!“, murmelte sie. Eine Sekunde später saß sie wieder in ihrem schwarzen Rock auf dem Boden des Zimmers. Mit hängendem Kopf sah sie auf das Buch. Eigentlich wäre heute ein Tag der Freude gewesen. Tim hatte zum ersten Mal alleine etwas hergezaubert. Sie hatte ihn jedoch nicht einmal dafür gelobt, weil ihn seine Fähigkeiten in Gefahr brachten. Jemand könnte ihn beim nächsten Mal beobachten. Und gehörte dieser Jemand zur ORC, würde es Bergmann erfahren. Auf sich selbst konnte sie aufpassen. Aber Tim war einfach noch zu klein, um die Magie zu kontrollieren oder sich im Notfall gegen die Menschen zu wehren. Deshalb musste sie ihm klarmachen, dass er nicht zaubern durfte. Egal wie schwer es ihr fiel und wie sehr sie ihn damit verletzte.
Sahra griff nach ihrer Handtasche, um sie auszuräumen. Sie steckte ihr uraltes Handy an das Aufladekabel, schaltete es aber nicht an. Bergmanns Leute kontrollierten es. Deshalb nutzte sie es nur selten für unverfängliche Dinge. Bei den wenigen Gelegenheiten, in denen sie versuchte etwas gegen die Ungerechtigkeiten der ORC zu unternehmen, ließ sie es zu Hause.
Als Nächstes holte sie ihre Kette aus der Seitentasche. Während der Arbeit durfte Sahra diese nicht tragen. Sie band sich den Silberschmuck mit dem Kreuzanhänger um ihren Hals. Diese Kette bedeutete ihr mehr, als sie ausdrücken konnte. Ihr Vater hatte sie ihr wenige Tage vor seinem Verschwinden geschenkt. Keiner wusste, ob er in einen Unfall verwickelt gewesen, Opfer eines Verbrechens geworden war oder seine Familie verlassen hatte. Sahra vermutete, dass Bergmann auch in dieser Geschichte seine Finger im Spiel hatte. Aber dafür fehlten ihr die Beweise.
Zuletzt nahm sie ihren Geldbeutel raus. Sie öffnete ihn, um das verbleibende Geld für die nächsten Tage zu zählen. Dabei fand sie den Zettel von Stefan Bergmann wieder. Vielleicht sollte sie hingehen. Sie mochte seinen Vater nicht. Und deshalb war ihr Stefan unsympathisch. Er war herablassend und arrogant. Allerdings war er einmal ihr bester Freund gewesen. Und als er vorhin mit ihr gesprochen hatte, hatte sie ihn ganz kurz gemocht; ganz kurz nett gefunden. Sein Grinsen erinnerte sie an einen Jungen, den sie sogar bewundert und dem sie voll und ganz vertraut hatte. Aber diese Zeiten waren vorbei. Er hatte sie im Strich gelassen – ausgerechnet zu der Zeit, als sie ihren Vater verloren hatte. Warum sollte er sich jetzt für sie interessieren.
Als sie darüber nachdachte, kam ihr plötzlich ein anderer Gedanke: Vielleicht schickte ihn sein Vater. Oder er wollte sie selbst testen. Das wäre ihre Chance den verpatzten Abend wieder auszubügeln. Diese musste sie nutzen. Andernfalls riskierte sie, dass die ORC sie und ihre Familie noch genauer unter die Lupe nahm. Sie hatte durch ihre unüberlegte Art Tim und ihre Mutter in Gefahr gebracht. Außerdem brauchte sie einen Führsprecher, wenn sie einen neuen Job finden wollte.
„Gut, von mir aus, ich komme“, entschied sie. Gleichzeitig fragte sie sich, ob sie dadurch nicht alles noch schlimmer machen würde. Diplomatie lag ihr einfach nicht.
Am nächsten Morgen wachte sie um sechs Uhr auf. Eigentlich begann um sieben ihre Schicht im Restaurant, das an einigen Tagen in der Woche auch ein Frühstücksbuffet anbot. Aber als sie ihr Handy einschaltete, entdeckte sie eine neue SMS:
Sie sind gefeuert!
Das war zu erwarten gewesen. Also ging sie statt zur Arbeit zum Bäcker. Aus einem Teil des Trinkgelds kaufte sie Croissants für Tim und ihre Mutter. Normalerweise gab sie keinen Cent zu viel aus, da sonst am Ende des Monats nichts mehr übrig blieb. Es ist eben nicht leicht neben der Uni eine ganze Familie zu ernähren und das Haus zu halten. Aber an diesem Morgen wollte sie einfach nur ein Familienfrühstück mit glücklichen Gesichtern.
Und tatsächlich: Der Wunsch wurde ihr erfüllt. Ihre Mutter wusch sich bereits, als sie zurückkam. Sie schwieg zwar die meiste Zeit, aber trotzdem genoss Sahra es mit ihr den Tisch zu decken. Im Alltag etwas normale Zeit mit ihrer Familie war für Sahra Gold wert. Danach warteten Mutter und Tochter darauf, dass Tim runterkam. Sie wollten ihn nicht wecken. Das war auch nicht notwendig. Er schlief nie lange. Sein glückliches Gesicht, als er den Frühstückstisch sah, an dem seine Schwester und seine Mama saßen, wäre Sarah auch die gesamten 30 Euro wert gewesen.
Der Tag ging viel zu schnell um. Sahra hielt sich beschäftigt. Sie nutzte die dazugewonnene Zeit, um mit Tim zu spielen. Nach Mensch ärgere dich nicht!, UNO und Halma, holte sie zusammen mit ihrer Mutter die liegengebliebene Hausarbeit nach. Zuletzt versuchten sie Tim zuliebe, das Haus wenigstens ein bisschen weihnachtlich zu schmücken. Der Tag wäre perfekt gewesen, wenn sie nicht die ganze Zeit daran hätte denken müssen, dass sie keinen einzigen Cent verdiente.
Erst als es draußen zu dämmern begann, erinnerte sie sich wieder an Stefans Zettel. Sie las die wenigen Worte noch einmal und bemerkte, dass sie viel zu spät dran war. So bügelte sie den letzten Abend bestimmt nicht aus. Bei dem Gedanken daran wurde ihr schlecht.
Sie packte ihre Handtasche und lief ins Zentrum ihres kleinen Ortes. Etwas versteckt hinter einigen Häusern stand der Brunnen, an dem sich Stefan treffen wollte. Dorthin eilte Sahra. Ihre Beine konnten sich nicht entscheiden, ob sie rennen sollten, um Stefan ja nicht zu verpassen oder ob Trödeln die bessere Variante war, denn eigentlich wollte sie Stefan ja gar nicht wiedersehen.
Schließlich rannte sie die ganze Strecke, bis sie Stefan sah. Er saß lässig auf dem Rand des Brunnens und grinste sie an. Sie musste lachen, denn sie erinnerte sich daran, wie er gestern durch die Bierbestellung seinen Vater und dessen Begleitung geärgert hatte. Er ist noch genauso wie früher, schoss es ihr durch den Kopf. Er hatte alle möglichen dummen Streiche ausgeheckt und jedes Mal genau so gegrinst.
In der nächsten Sekunde wäre sie jedoch trotz dieser Erinnerungen am liebsten gleich wieder umgedreht. Was tat sie hier?
„Hey“, sagte er freundlich.
„Hallo.“
„Ich war mir nicht sicher, ob du kommen würdest“ Sahra biss sich auf die Unterlippe, bis es wehtat.
„Ich mir auch nicht“, gab sie schließlich zurück, weil ihr nichts Besseres einfiel. Sie blickte sich um. An diesem Sonntagabend befanden sich kaum Leute hier. Trotzdem wollte sie kein Risiko eingehen. Niemand sollte sie hier mit einem Bergmann sehen.
„Willst du ein Eis essen gehen?“, fragte er und betrachtete ebenso aufmerksam wie sie die Umgebung. Er wollte also auch nicht mit ihr gesehen werden.
„Nein!“, antwortete sie. „Aber eine heiße Schokolade oder so was“, fügte sie schnell hinzu, da sie ja ins Eiscafé gehen wollte. Wegen der Kälte und der späten Stunde saß dort niemand mehr. Wenn sie trotzdem jemand beobachtete, würden ihre Freunde ausflippen oder Bergmann sie bestrafen. Er nähme mit Sicherheit gleich an, dass sie beabsichtigte seinem Sohn etwas anzutun.
Stefan ging vor. Sahra holte schnell auf, um neben ihm zu laufen. Sie rannte ihm ganz bestimmt nicht wie ein Küken hinterher.
„Jeder mag Eis!“, behauptete Stefan.
„Ich nicht“, antwortete sie und versuchte in seinem Gesicht zu erkennen, was er dachte. Er zog seine Augenbrauen zusammen und musterte sie. Wunderte ihn das wirklich? Sahra mochte nichts Kaltes. Sie lebte von der Wärme. Daraus zog sie ihre Energie, in den seltenen magischen Momenten, die ihr noch blieben. Bergmann wusste das. Oder zu mindestens musste er es ahnen, weil er Sahra als Kind gekannt hatte. Trotzdem wirkte Stefans verwunderter Gesichtsausdruck echt.
„Du weißt wirklich nicht warum, oder?“
„Nein, woher auch? Aber jetzt, wo du es sagst, erinnere ich mich daran, dass du auch als Kind kein Eis mochtest.“ Sahra entspannte sich etwas. Vielleicht wusste er ja doch nicht alles. Sie war so in ihre Gedanken vertieft, dass sie Stefan den Tisch aussuchen ließ. Er stand weit hinten in einer Ecke. Spaziergänger vor den Fensterscheiben sahen die beiden nicht.
Sofort kam ein Kellner, der unglaublich erleichtert wirkte, doch noch Gäste bedienen zu dürfen.
„Hallo, die Karten“, sagte er knapp mit italienischem Akzent, bevor er wieder zum Tresen ging, wo er mit einem Lappen über die bereits saubere Oberfläche wischte.
„Und? Bekomme ich die Erklärungen?“, fragte Stefan, während er die Karte durchblätterte. Sahra sah noch einmal zu dem Kellner, doch dieser nahm keine Notiz von ihnen. Sie konnte sich nicht vorstellen, dass er zur ORC gehörte.
„Was weißt du über mich?“, Sie rechnete nicht mit einer wahrheitsgetreuen Antwort, aber sie wollte es zumindest versuchen.
Zielstrebig blätterte sie zur Seite mit den heißen Getränken.
„Dein Name ist Sahra. Du liebst es, auf Bäume zu klettern und bist unglaublich übermütig. Zumindest war das vor zehn Jahren so.“ Er sah sie mit seinem durchdringenden Blick an.
„Das ist lange her“, wich sie ihm aus. Sie wollte jetzt nicht in Erinnerungen schwelgen. Ihre Familie und sie selbst schwebten in zu großer Gefahr. Ständig bestand die Möglichkeit, dass einer versehentlich gegen die Regeln verstieß. Und dieses Treffen bedeutete ein noch größeres Risiko. Sie durfte sich nicht von Gefühlen ablenken lassen. Es ging um ihre Familie!
„Stimmt, aber damals verbrachten wir sehr viel Zeit zusammen. Du mochtest mich.“ Sofort schossen ihr Erinnerungen wie Blitzlichter durch den Kopf. Zusammen hatten sie ihren Eltern Streiche gespielt und waren auf die verrücktesten Ideen gekommen. Sie hatte ihn wirklich gern gehabt. Aber seit dem Verschwinden ihres Vaters hatte sie ihn nur noch von weitem und hin und wieder in den Nachrichten gesehen. Und sein Vater war der Geschäftsführer der hiesigen ORC geworden.
„Was weißt du sonst noch?“ Er lehnte sich zurück.
„Du warst gestern unsere Kellnerin. Allerdings hast du, wenn ich dich richtig verstanden habe, deinen Job verloren. Mein Vater steht auf der Top-Ten-Liste der Menschen, die du am liebsten erwürgen würdest. Und aus irgendeinem Grund glaubst du, ich könnte mir auf all das einen Reim machen.“
Er klappte mit einem leisen Knall die Karte zu. Sofort eilte der Kellner zu ihrem Tisch. „Ich nehme den Fruchtbecher“, erklärte Stefan. Sahra sah auf die Preise der Getränke.
„Eine kleine, heiße Schokolade, bitte!“
„Mit Sahne?“ Das Ja lag ihr schon auf der Zunge, aber Sahne kostete 40 Cent extra. „Nein, danke“, sagte sie nur halb verständlich, weil sie sich auf die Lippe biss. Stefan beobachtete sie aufmerksam. Weil sie nicht wollte, dass er sie für schwach hielt, ließ sie von ihrer Lippe ab.
„Kommt sofort!“, versprach der Kellner..
„Also, was sollte ich wissen?“, setzte Stefan das Gespräch fort, sobald der Kellner weg war. Sie vergewisserte sich noch einmal, dass er wirklich nicht in Hörweite war.
„Gegen wen kämpft dein Vater mit allen Mitteln?“, fragte sie auf die gleiche Weise, wie sie es bei ihrem Bruder tat, wenn er sich eine seiner Fragen selbst beantworten konnte. Stefan legte die Stirn kraus.
„Kriminalität. Er tut alles, um den Ort sicherer zu machen. Er hilft ehemaligen Straftätern, zurück in ein geregeltes Leben zu finden. Du weißt doch bestimmt, dass er einen großen Teil der ORC leitet, oder? Und obwohl unser Ort so klein ist, hat er eine sehr große Verantwortung, weil bei uns eines der größten Hochsicherheitsgefängnisse steht. Aber das ist es nicht, worauf du hinaus willst, oder?“
Sahra ging nicht auf seine Antwort ein, sondern fragte weiter: „Welche Gruppe hält er klein und würde er am liebsten ganz vernichten?“
„Da gibt es niemanden. Mein Vater hilft allen. Er verdient viel, aber er hilft damit Bedürftigen. Er unterstützt bestimmt auch dich, wenn du ihm dein Problem schilderst.“ Im Tonfall des letzten Satzes lag ein Hauch von Unsicherheit.
„Ich brauche seine Hilfe nicht“, zischte Sahra. Den Rest verschob sie auf später, denn in diesem Moment kam der Kellner mit den Bestellungen.
„Danke“, sagte Sahra knapp. Stefan nahm sein Eis entgegen, ohne den Blick von ihr zu nehmen.
„Ich will keine Hilfe. Alles, was ich will, ist Freiheit für mich, für meinen Bruder und für alle anderen, die so sind wie ich!“
„Du bist frei. Wir leben in Deutschland.“
Sie atmete hörbar ein.
„Nein, das bin ich nicht. Also denk nochmal scharf nach. Gibt es wirklich niemanden, vor dem dein Vater… Angst hat.“ Hass kam immer von Angst.
„Hexen“, sagte Stefan leichthin „aber …“ Er verstummte, als er ihr Gesicht sah.
„Herzlichen Glückwunsch, der Kandidat erhält 100 Punkte.“
„Aber Hexen… Mein Vater spinnt doch. Er ist in der Hinsicht etwas paranoid.“ Sahra lachte freudlos.
„Das denkst du doch nicht wirklich! Du musst doch wissen, dass die ORC nur ein Deckmantel ist, um Hexen systematisch zu verfolgen. Warum sonst hättest du mich vor sieben Jahren plötzlich im Stich lassen sollen. Du bist Bergmanns Sohn ...“ Sie brach ab, weil sie hörte, wie sich ihre Stimme überschlug. Stefan sah sie aus großen Augen an.
„Ich habe dich nie im Stich gelassen. Ich durfte dich nicht mehr treffen. Wir hatten damals beide plötzlich viel mehr Verantwortung. Und meintest du gerade ernsthaft, dass es Hexen gibt? Und dass du eine bist?“
„Ja ...“, antwortete sie leicht verwirrt. „Wie kann es sein, dass du davon nichts weißt? Dein Vater verbringt fast jede Minute seines Lebens damit, uns zu jagen.“
„Das kann nicht sein. Ich meine, Magie kann es doch nicht geben.“ Sie sahen sich in die Augen. Das Gespräch hatte sich in eine völlig andere Richtung entwickelt, als sie erwartet hatten. Sahra glaubte ihm. Aber hatte er nicht ein Anrecht darauf zu erfahren, was vor sich ging? Vielleicht wäre er auf ihrer Seite. Es war nur ein kleiner Funken, der in ihr zum Leben erwachte. Aber sie wollte ihn nutzen.
„Ich beweise dir, dass es Hexen gibt. Nur sag deinem Vater nicht, dass ich es getan habe.“ Das ist dumm! Und dennoch drängte alles in ihr danach, es ihm zu zeigen.
Sie wartete nicht ab, ob er ihr das Versprechen gab. Stattdessen rutschte sie näher an Stefan heran und drehte dem Kellner ihren Rücken zu. „Brenne!“, flüsterte sie. Ihre Hand ging sofort in Flammen auf. Das grelle blaue und orangefarbene Licht blendete sie. Die Hitze verbreitete sich angenehm in Sahras Körper. Erinnerungen an ihren Vater stiegen in ihr auf.
„Gib mir deine Hand, wenn du deinen Augen nicht traust!“, forderte sie ihn auf und lächelte ihn dabei zuckersüß an. Morgen würde sie das schlechte Gewisse quälen, weil sie die Sicherheit ihrer Familie riskierte, aber in diesem Moment fühlte sie sich einfach nur gut. Endlich benutzte sie ihre Magie mal wieder. Sie wollte Stefan unbedingt beweisen, dass sie kein hilfebedürftiges kleines Mädchen war. Er streckte tatsächlich die Hand aus.
„Au!“, zischte er zwischen zusammengebissenen Zähnen. Gleichzeitig zog er seine Hand weg. Für seinen Ärmel war es zu spät: Er fing Feuer.
„Oh verdammt!“ Stefan fuchtelte mit seinem Arm.
„Erlösche!“, sagte Sahra. Die Flammen verschwanden. Ihre Hand zeigte keinerlei Spuren. Stefans Ärmel hatte dagegen einen angekohlten Rand.
„Eindeutig echt“, sagte er. „Das erklärt so einige Situationen von damals. Konntest du deshalb auf so dünnen Ästen klettern, die unter mir immer zerbrachen?“
„Ja, ich habe ein wenig geschummelt“, gab sie kichernd zu.
„Du kannst also lachen.“ Seine Bemerkung ließ sie verstummen.
„Wie hast du das gemacht? Wie funktioniert… Magie?“, fragte Stefan fasziniert. Seine Überraschung klang so echt, dass Sahra einfach nicht glauben konnte, dass er schon vorher Bescheid wusste. Das hieß, dass sie gegen eine der obersten Regeln der ORC verstoßen hatte. Aber nun war es zu spät und es gab keinen Grund, ihm diese Details zu verschweigen.
„Ich setze einfach meine Energie anders um als Du. Ich …“, sie suchte nach den richtigen Worten, „… lenke sie bewusst um. Feuer oder andere Sachen, die mit Hitze zu tun haben, fallen mir leicht.“
„Aber das Feuer war doch echt, oder?“
Sie deutete als Antwort auf seinen Ärmel.
„Wie kann Feuer brennen, ohne dich zu verbrennen?“ Das wollte er wissen? Sie hätte mit Anschuldigungen gerechnet oder vielleicht mit Angst, aber sicher nicht mit Neugierde.
„Es gibt genügend kleine Partikel wie Dreck oder abgestorbene Hautzellen an meiner Hand, die verbrennen.“
„Das ist alles?“, fragte er.
„Naja, es ist schon ein wenig komplizierter, aber um ehrlich zu sein: Das ist ein Zauber, den mir mein Vater früh beigebracht hat. Ich kann ihn anwenden, kenne mich aber nicht besonders gut damit aus. Frage deinen Vater warum.“
„Und du verurteilst gleich eine ganze Familie, wenn einer Fehler macht?“ Er verschränkte die Arme.
„Nein“, rief sie entsetzt. „Aber Bergmann sorgt dafür, dass wir mit kaum jemanden sprechen können. Dafür dass ich dich eingeweiht habe, könnte ich ins Gefängnis kommen. Wir dürfen niemanden von unseren Fähigkeiten erzählen und sie auch nicht anwenden.“ Sie merkte, wie sie sich immer weiter in Rage redete, doch sie konnte nicht aufhören. „Unseren Kinder dürfen wir keinen Unterricht erteilen. Die ORC und Bergmann kontrollieren uns mit allen möglichen Leuten im ganzen Ort. Ich weiß, dass dein Bruder ihm dabei hilft und ich dachte einfach, dass du auch Bescheid wissen musst. Hast du denn überhaupt nicht mitbekommen, wie Bergmann und seine Sicarier …“ Sie stoppte mitten im Satz, als ihr klar wurde, was sie da gerade gesagt hatte.
„Was bedeutet Sicarier?“ Stefan sprach das Schimpfwort langsam nach. Sie atmete tief durch. Sie hätte sich nicht dazu hinreißen lassen dürfen, dieses Wort zu benutzen. Er sollte nicht denken, dass sie Menschen ohne Magie verurteilte. Trotzdem kam sie nicht umhin, ihm die Bedeutung zu nennen. Er brauchte ja nur bei sich zu Hause nachfragen, um die Wahrheit zu erfahren. Sie wollte ihn nicht anlügen und damit die Chance auf Vertrauen und Unterstützung verlieren.
„Tut mir leid, das ist mir rausgerutscht“, gab sie zu. „Sicarier ist ein …“ Sie zögerte. „Sagen wir, es ist ein nicht besonders nettes Wort, das Menschen ohne magische Fähigkeiten bezeichnet. Ich meinte es nicht so und benutze es sonst auch nicht.“ Sie schloss für einen Moment die Augen, bevor sie ihn wieder ansah. Müde strich sie sich mit den Händen über das Gesicht.
„Und es bedeutet?“, fragte er unnachgiebig. Sie zögerte zunächst, doch dann straffte sie die Schultern.
„Killer“, erklärte sie tonlos. „Wie gesagt, es ist mir rausgerutscht.“ Die meisten anderen Hexen, die sie kannte, benutzten das Wort ständig für ausnahmslos alle nichtmagischen Menschen.
„Killer also“, wiederholte Stefan. Sahra nickte.
„Ich glaube, es stammt aus der Zeit der Hexenverfolgung im Mittelalter. Vielleicht ist es sogar noch älter.“
„Da wurden echte Hexen getötet?“, fragte er überrascht, als veränderte dies sein Weltbild mehr als die Tatsache, dass Magie existierte.
„Damals wie heute.“
„Jetzt wirfst du wieder einfach so mit Anschuldigungen um dich“, kritisierte er.
„Einfach so?“, fragte sie. „Du willst es also genauer? Das kannst du haben: Die ORC verfolgt, kontrolliert und unterdrückt unter dem