Erhalten Sie Zugang zu diesem und mehr als 300000 Büchern ab EUR 5,99 monatlich.
Die fünfzehnjährige Anne verabscheut ihr Leben in South Carolina. Bis vor wenigen Jahren hatte sie noch ein ganz anderes: In England hielten sie alle für einen Jungen. Sie vermisst die Freiheiten aus jener Zeit. Um ihren Pflichten zu entgehen, wünscht sie sich nichts sehnlicher als eine Reise auf einem der vielen Schiffe, die täglich im Hafen Charleston anlegen. Als sie mit ihrem Jugendfreund Michel verheiratet werden soll, verliert sie das letzte bisschen Zuneigung und Vertrauen zu ihren Eltern. Zusammen mit dem jungen Matrosen James Bonny geht sie das Wagnis ein, und flieht in die aufregende Welt der Piraten. Ein spannendes Abenteuerbuch über die berühmte Piratin Anne Bonny.
Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:
Seitenzahl: 207
Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:
Impressum neobooks
Beginn eines Piratenlebens
Band 1 der Anne Bonny Reihe
Von Ann-Kathrin Speckmann
Buchbeschreibung:
Die fünfzehnjährige Anne verabscheut ihr Leben in South Carolina.
Bis vor wenigen Jahren hatte sie noch ein ganz anderes: In England hielten sie alle für einen Jungen. Sie vermisst die Freiheiten aus jener Zeit. Um ihren Pflichten zu entgehen, wünscht sie sich nichts sehnlicher als eine Reise auf einem der vielen Schiffe, die täglich im Hafen Charleston anlegen.
Als sie mit ihrem Jugendfreund Michel verheiratet werden soll, verliert sie das letzte bisschen Zuneigung und Vertrauen zu ihren Eltern.
Zusammen mit dem jungen Matrosen James Bonny geht sie das Wagnis ein, und flieht in die aufregende Welt der Piraten.
Ein spannendes Abenteuerbuch über die berühmte Piratin Anne Bonny.
Über den Autor:
Ann-Kathrin Speckmann wurde 1995 in Delmenhorst geboren. Sie ist in Brinkum, in der Nähe von Bremen, aufgewachsen und studiert jetzt in Göttingen Rechtswissenschaften. Solange sie denken kann, liebt sie es zu lesen und zu schreiben. Dabei interessiert sie sich besonders für verschiedene Kulturen, Religionen, Zeiten und Lebensweisen. Deshalb machte sie 2011/12 ein Austauschjahr in Thailand. Mit vierzehn schrieb sie ihren ersten Roman, der im Dezember 2013 im Merquana-Verlag erschien.
Neben dem Studium arbeitet sie als freie Texterin.
Impressum
1. neu überarbeitete Auflage, 2017
© Ann-Kathrin Speckmann – alle Rechte vorbehalten.
Hannoversche Str. 107,
37077 Göttingen
www.ann-kathrin-speckmann.de
Cover:
© Patrick Brockmann
Mai 2017
Korrektorat:
Lea Friedemann,
Corinna König,
Katja Bronner,
Jeanette Speckmann
Wenn Du einen Traum hast, der den Tiefen Deines Herzens entsprungen ist, existiert er um verwirklicht, nicht um verdrängt zu werden.
Prolog
Keiner von den Männern nahm sie ernst. Sie verspotteten sie und nutzten sie aus. Obwohl sie Tag für Tag härter schuftete als alle anderen zusammen, wurde sie von niemandem akzeptiert. Selbst jetzt ließen sie sie wieder die Drecksarbeit machen. Doch bald würden die Männer ihre wahre Stärke kennenlernen. Jedes arrogante Wort sollten sie bereuen - das schwor sie sich. In wenigen Sekunden würde ihre Zeit anbrechen. Endlich nahte die Stunde der Vergeltung. Keiner konnte sie an ihrer Rache hindern. Sie war weder die kräftigste noch die erfahrenste Person an Bord, aber dafür war sie aufmerksam und klug. Das zählte viel mehr. Die restliche Besatzung saß faul auf dem Deck herum und dachte an den Rum im nächsten Hafen. Ihre größte Fähigkeit lag darin, anderen die eigene Arbeit aufzuhalsen. Nur leider vergaßen sie, dass das niemand lange mit sich machen ließ. Dass es sie irgendwann einen Preis kostete, der ihnen das Leben zerstören konnte. Jetzt würden sie etwas dazulernen und die Lektion nie wieder vergessen!
Kapitel 1
Es war ein warmer Tag, den nur gelegentliche Windstöße erträglich machten. Anne wünschte sich etwas Kaltes zu trinken und suchte einen Wasserverkäufer. Doch hier am Hafen gab es nur Bier, Rum, Whisky und anderen Alkohol. Anne verstand nicht, warum die Männer das Saufen als Genuss empfanden und freiwillig ihr Geld dafür ausgaben. Während sie das dachte, sah sie eine Gruppe grölender Matrosen in Schlangenlinien auf sich zukommen. Alle hielten halbvolle Flaschen in den Händen. Der Größte von ihnen blieb leicht schwankend vor Anne stehen.
„Na, duuu bischt aber mal ‘ne gjanz Hübsche. Wie wär’s? Hast de Durscht?“ Er grinste sie mit gelben Zähnen an.
Anne wich zurück. „Mit jemandem, der so stinkt wie du, trinke ich nichts!“
Die vier Begleiter des Riesen lachten los, woraufhin sich das Gesicht des Ausgelachten knallrot verfärbte. Mit geballten Fäusten ging er auf Anne zu. Einer seiner Freunde hielt ihn auf, indem er ihm eine Hand auf die Schulter legte.
„Hey, gjaaansch ruhig, Angelos. Die is doch bloos zickich. Die hält sich wohl für wat Besseres.“
Anne spannte jeden Muskel in ihrem Körper an. Wenn die Männer sie angriffen, würde sie sich wehren. Aufmerksam musterte sie ihre Gegner. Diese tranken aus ihren Flaschen. Erst als sie sich abwandte, mischte sich ein dritter Matrose ein. „Aber Terry, du kannscht doch nich einfach die Einladung von unschrem groooßzügigen Angelos zurücknehm’n!“
Er unterstrich seine Worte mit weit ausholenden Armbewegungen. „Und du! Du willscht doch nicht etwa schon geh’n und damit unsre waaahnsinnich nettes Angebot ablehnen?“
Spöttisch sah Anne auf ihn hinab. „Ich glaube, ich habe deutlich genug gesagt, dass ich mit so verlausten Kerlen wie euch keine Zeit verbringen will!“ Wütend holte ihr Gegenüber aus. Doch Anne duckte sich blitzschnell, sodass der Schlag ins Leere ging. Durch den Schwung und vom Alkohol benebelt, fiel der Angreifer neben Anne auf die Knie. Mit ihrem Lachen stachelten die anderen seinen Ehrgeiz an. Er griff nach ihr. Impulsiv trat sie ihm in den Bauch, bis er sich vor Schmerzen krümmte. Sie grinste. Mittlerweile starrten einige Schaulustige zu ihnen herüber und lachten über die Matrosen.
Diese Blamage war für sie zu viel. Sie kamen alle gleichzeitig auf Anne zu. Angelos packte ihre Schultern. Anne erstarrte für einen Moment. Mit einem solchen Angriff hatte sie nicht gerechnet. Panisch krallte sie ihre Fingernägel in den Handrücken des Riesen. Letzterer verstärkte seinen Griff und drückte Anne beinahe zu Boden. Mit aller Kraft bohrte sie ihre Finger tiefer in das Fleisch. Mit einem Aufschrei ließ er los. Dabei sprang er ein Stück zurück und stolperte über eine Kiste.
Anne wollte aufatmen, schaffte es aber nicht. Eine Hand lag fest auf ihrem Gesicht. Sie rang erfolglos nach Luft. Panisch zappelte sie umher. Wehr dich endlich!, befahl ihre innere Stimme. Anne biss zu. Der ranzige Geschmack ließ sie würgen. Doch sie hatte keine Wahl. Angeekelt klemmte sie die Finger ein, bis das Blut in ihren Mund floss.
Luft! Ihr Puls beschleunigte sich. Nur mit viel Mühe schaffte sie es, ihre Panik niederzuringen. Sie konzentrierte sich auf das Beißen. Das Blut rann in ihren Hals. Gleichzeitig riss der Angreifer seine Hand weg. Sie hustete und würgte. Im Hintergrund hörte Anne eine Reihe von Beschimpfungen. Die zwei übrigen Matrose nutzten Annes schlechten Zustand, um ihre Arme zu ergreifen. Immer noch hustend schlug und trat Anne um sich. Der Riese Angelo packte ihren Knöchel. Mit einem Ruck riss er ihn zur Seite. Anne schrie auf. Sie stürzte mit den beiden Männern, die sie festhielten, zu Boden. Einer von ihnen ließ sie los, um seinen eigenen Sturz abzufangen. Der andere klammerte sich auch im Fallen an ihr Handgelenk. Immer aufmerksam bleiben! Anne suchte den Boden ab. Sie hätte beinahe vor Glück aufgelacht, als sie einen Dolch entdeckte. Er musste einem ihrer Angreifer aus dem Gürtel gefallen sein. Mit der freien Hand griff sie nach der Waffe und rammte ihre scharfe Spitze dem Mann in die Schulter, der ihren linken Arm hielt. Der Getroffene schrie auf. Anne zog die Klinge zurück und schubste den Verletzten zur Seite. Genau in diesem Moment zog einer der anderen an ihren Haaren. Dabei löste sich ihre Spange und flog zu Boden. Ihre wilden Locken wehten um ihren Kopf, sodass sie kaum noch etwas sah. Anne stach blindlings auf den Kerl ein, der eine dicke Haarsträhne umfasst hielt, als hinge sein Leben davon ab. Sie streifte den Mann mit der Klinge. Der Verletzte ließ los und fiel auf den steinigen Boden. Abwehrbereit hob Anne den Dolch. Mit der linken Hand strich sie sich die widerspenstigen Locken aus dem Gesicht. Alle Angreifer lagen stöhnend im Dreck des Hafens von Charleston. Übelkeit stieg in ihr auf. Wären sie nicht so betrunken gewesen, hätte der Kampf anders ausgehen können. Ein Glitzern zog ihre Aufmerksamkeit auf sich. Anne erkannte ihre Spange. Sie hob sie auf, bevor sie langsam vor den Verletzten zurückwich. Dabei behielt sie jeden von ihnen im Blick. Es ging keiner zum Angriff über. Stattdessen begutachteten sie ihre Wunden.
„Ich schätze, das werdet ihr nicht vergessen“, höhnte Anne. Ihre Stimme klang überraschend fest. „Niemand wird das“, fügte sie hinzu und deutete auf die Menschen am Hafen.
Anne behielt ihr Gegner noch eine Weile im Blick, bevor sie einige Meter weiterlief. Als sie glaubte, genug Abstand zu den Betrunkenen gewonnen zu haben, legte sie den Dolch und die Spange auf den Boden. Mit ihrem Kleid wischte sie den Dreck aus ihrem Gesicht. Die Vorstellung wie sie jetzt aussehen mochte, dämpfte ihre Freude über den Triumph. Peg, ihre Mutter, würde vor Wut platzen, sobald sie Anne sah. Da half es nicht, das Blut notdürftig abzuwischen. Anne gab auf und ließ die dreckigen Röcke fallen. Stattdessen hob sie ihre Spange auf. Dabei entdeckte sie, dass eine Ecke abgebrochen war. Ihr Magen krampfte sich zusammen: Das würde Peg noch schlimmer finden, als das blutige Kleid. Leider konnte sie beides nicht reparieren.
Während sie ihre Haare hochsteckte, bemerkte Anne eine auf sie zurennende Gestalt. Sie griff nach dem Dolch und ging in Verteidigungshaltung. Doch zu ihrer Überraschung hob der Mann die Hände auf Schulterhöhe. „Ich gehöre nicht zu den Kerlen. Ich will dir helfen!“
Sie sah ihn zweifelnd an. Er gehörte eindeutig nicht zu den Matrosen. Mit seinem schlaksigen Körper sah er auch vollkommen anders aus. Trotzdem brachte Hilfe nach einem Kampf nur wenig. Anne glaubte allerdings nicht, dass er ihr gefährlich werden könnte. Deshalb steckte sie den Dolch in den Gürtel.
„Zum Helfen kommst du zu spät“, sagte sie, während sie sich abwandte.
„Unterschätze mich nicht, ich hätte es den Kerlen gezeigt, …“
„… wenn ich sie nicht schon erledigt hätte“, beendete Anne den Satz.
„Geh nicht, ich habe etwas für dich!“ Er hielt ihr das fehlende Bruchstück ihrer Spange unter die Nase. Anne nahm es ihm ab.
„Danke.“ Vor Erleichterung lächelte sie ihn an.
„Wieso hast du mit diesen Gaunern gekämpft, Mädchen?“
„Meinst du, nur weil ich eine Frau bin, soll ich mich von Betrunkenen beleidigen und schlagen lassen?“
Wütend stellte sie sich direkt vor ihn und griff nach dem Dolch. Sie plante keinen Angriff. Sie wollte ihm nur etwas Angst einjagen, damit er sie in Ruhe ließ.
„Nein, natürlich nicht!“ Er wich einen Schritt zurück. „Es ist nur so: Nicht jeder, der fünf von solchen Muskelprotzen entgegentritt, kann sie innerhalb einer Minute auseinandernehmen“, beschwichtigte er sie.
Anne wandte sich ohne einen weiteren Kommentar ab. Ein Griff an ihre Schulter hielt sie auf. Er ließ sie sofort wieder los, als sie sich umdrehte und ihn warnend anfunkelte.
„Wie heißt du überhaupt? Ich bin James Bonny und werde noch ein bisschen an diesem Hafen …“
„Charleston!“, warf Anne ein.
„Ich werde jedenfalls eine Weile hierbleiben. Vielleicht können wir uns ja näher kennenlernen.“
„Ich bin keine Hure!“
„Das dachte ich mir.“ Er grinste sie an. Anne stöhnte. Er würde nicht aufgeben, bis sie ihm wenigstens ein bisschen entgegenkam. „Ich bin Anne und sehr oft hier. Solltest du also länger hierbleiben, werden wir uns wohl oder übel nochmal sehen.“ Sie machte auf dem Absatz kehrt und lief davon.
Eigentlich hätte Anne heute im Haus arbeiten sollen. Immer wenn sie etwas anderes tat als zu putzen, zu waschen oder ihre Brüder zu verpflegen, rastete Peg aus. Dabei liebte Anne es, in den Büchern ihres Vaters zu blättern und draußen Abenteuer zu erleben. Doch nach jeder schönen Stunde musste sie sich einen Vortrag über die Wichtigkeit von Fleiß anhören. Außerdem seien diese Zeitvertreibe unschicklich für Mädchen. Anne war das egal. Sie griff trotzdem bei jeder Gelegenheit nach Reiseberichten und Seekarten. Und sobald Peg wegsah, schlich sie davon. Sie ging zum Port, um die Matrosen zu belauschen und die Güter aus fremden Ländern zu bestaunen. Sie würde alles, was sie hatte - sowohl ihre wenigen Besitztümer als auch ihre Existenz als Tochter eines reichen Plantagenbesitzers und erst recht ihre vorbestimmte Zukunft aufgeben - um auf die See hinauszufahren. Doch davon träumte sie nur. Sie musste ja schon für einen Ausflug nach Charleston hunderte von Regeln ignorieren. Außerdem nahm kein Kapitän eine Frau an Bord. Das brachte angeblich Unglück. Fest trat sie mit dem Fuß gegen einen Stein. Und gegen noch einen. Und noch einen. Sie flogen ihn hohen Bögen davon. „Au, verdammt!“, fluchte sie, als sie einen kleinen Fels traf. Sie setzte sich an den Wegesrand und untersuchte ihren rot werdenden Zeh. Dabei glitt ihr Blick über das blutige Kleid. Sofort vergaß sie den Schmerz. Wie erkläre ich das meinen Eltern? Die Chancen heimlich ins Haus zu kommen, waren ungefähr so groß, wie einen Diamanten zwischen den Kieselsteinen auf dem Boden zu finden. Sollte sie die Wahrheit sagen? Doch sie glaubte nicht an Verständnis von Seiten ihrer Mutter. Vermutlich wäre es ihr lieber Anne vergewaltigt und halbtot wiederzusehen, anstatt als Siegerin im Kampf mit Matrosen.
Aber irgendetwas musste sie erzählen. Am besten erwähnte sie nur einen Angriff und, dass sie sich gewehrt hatte. Das vorherige Gespräch und das Treffen mit James Bonny verschwieg sie besser. Auch ohne solche Details war ihr Hausarrest sicher. Und das bedeutete noch mehr Hausarbeiten als sonst. Und alles nur, weil diese Idioten sie unbedingt auf eine Flasche Rum hatten einladen wollen. Natürlich traf sie ebenfalls Schuld an dem Desaster: Wäre sie nicht abgehauen, wäre sie auch niemandem begegnet. Und wenn sie vor den Angreifern geflohen wäre, anstatt sich zu verteidigen, wäre ihr Kleid sauber geblieben. Aber sie war kein Feigling. Und der Ausflug war die Strafe allemal wert. Niemals würde sie auf ihre freien Momente verzichten!
Kapitel 2
Anne ging auf ihr Elternhaus zu. Ihr Vater, William Cormac, hatte es in einem erbärmlichen Zustand für wenig Geld gekauft. Als seine Geschäfte erfolgreich wurden, ließ er es renovieren. Mittlerweile gab es sogar einige Anbauten, die es zum wertvollsten Gebäude in der Umgebung machten.
Als Anne näher kam, entdeckte sie ihre wartende Mutter vor der Haustür. Sie drehte eine Locke ihrer schulterlangen, dunkelblonden Haare um den Finger. Das war ein schlechtes Zeichen.
„William!“, rief Peg mit schriller Stimme. Wenige Sekunden später stürmte er durch die Tür. Einen Herzschlag lang sah sie Erleichterung in seinem Blick. Dann kniff er die Augen zusammen und ballte die Fäuste. Als Anne näher kam, entgleisten die Gesichtszüge ihrer Eltern beim Anblick des Kleides. Nach einer Schocksekunde rannte Peg auf sie zu.
„Wo warst du? Und warum bist du schon wieder abgehauen? Und wer, denkst du, hat deine Arbeit erledigt?“
„Das würde ich auch gern wissen“, ergänzte William von der Haustür aus. „Na los, beantworte unsere Fragen!“
Anne vergaß die zurechtgelegte Antwort.
„Ich …“ Der Mund ihrer Mutter zuckte ärgerlich. Sag etwas, sonst lassen sie dich gar nichts erklären!, warnte sie sich selbst im Gedanken.
„Es ist alles in Ordnung. Am Hafen …“, die keifende Stimme von Peg unterbrach sie.
„Warum warst du am Hafen? Und dann wahrscheinlich auch noch alleine! Wie … wie so ein … ein mittelloser, dummer Jüngling.“
„Ich wollte die neuen Schiffe sehen. Heute sind drei angekommen.“ Peg öffnete den Mund, aber Anne sprach schnell weiter. „Egal was du jetzt sagst: Mir hat es gefallen und deshalb bereue ich es auch nicht“, sagte sie trotzig. Sie hätte so gerne von ihren Abenteuern berichtet. Leider wusste sie, dass ihre Eltern nicht zuhören würden.
Peg schielte hilfesuchend zu Annes Vater. Doch der hatte genug von dem Streit und ließ die beiden Frauen allein. Peg stand da, als hätte er sie geschlagen. Einen Moment lang schaute sie William fassungslos hinterher, dann ließ sie ihren Frust an Anne aus: „Und was ist mit deinem Kleid passiert? Glaubst du, die gibt es umsonst?“ Mit zwei Fingern griff sie nach dem Stoff.
Ruckartig wich Anne der Berührung aus. Sie atmete tief ein, bevor sie erneut zu einer Erklärung ansetzte:
„Vor einer Stunde luden mich ein paar Matrosen ein, mit ihnen zu trinken. Als ich nein sagte, griff einer von ihnen an. Ich verteidigte mich nur. Danach kehrte ich nach Hause zurück.“ Annes Stimme bebte. Das Kleid war Peg natürlich wichtiger als ihre einzige Tochter.
„Und das soll ich dir glauben? Ich soll dir glauben, dass Männer auf dich zukommen und dich mal eben so verprügeln wollen? Du bist ohne Erlaubnis zum Hafen gegangen. Du hast die anderen provoziert. Lüg mich gefälligst nicht an!“ Peg wollte nicht schreien. Anne wusste, dass sie panische Angst vor einer schlechten Meinung ihrer Nachbarn hatte. Doch in diesem Moment fiel ihr die Zurückhaltung schwer. Die Stimme lag einige Oktaven höher als normal.
„Ich lüge nicht!“, presste Anne zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor.
„Benehme dich endlich wie ein wohlerzogenes Mädchen!“
Anne lachte freudlos auf.
„Bis vor fünf Jahren habt ihr das nicht von mir erwartet!“ Wehmütig dachte Anne an ihr Leben als Adam Cormac zurück. Peg hatte es zwar auch damals nicht gern gesehen, wenn sie mit den Jungen spielte, aber sie hatte nichts dagegen machen können. Niemand hatte gewusst, dass sie die Mutter von Anne war.
„Diese furchtbare Zeit ist vorbei!“
„Die beste Zeit meines Lebens“, antwortete Anne. „Du selbst hast mich als Junge erzogen. Also musst du auch damit klarkommen, dass ich wie ein Junge kämpfen und sprechen kann.“
Peg holte mit dem Fuß aus, als wolle sie Anne treten. Nach kurzem Zögern stampfte sie jedoch nur mit dem Fuß auf. Anne verkniff sich ein Grinsen über die Angst ihrer Mutter.
„Dieses Mädchen benimmt sich schlimmer, als jeder noch so schlecht erzogene Junge!“, sagte Peg zu sich selbst. „Die erledigen wenigstens ihre Aufgaben, bevor sie sich die Köpfe einschlagen. Sogar deine Brüder sind verantwortungsbewusster, als du! Und die sind über zehn Jahre jünger!“ Ihre Brüder waren verzogene Kleinkinder, aber Peg behandelte sie wie Engel. Seit Julians Geburt war Anne Peg nur noch ein Dorn im Auge. Auch ihr Vater verlor an jenem Tag das Interesse für seine Tochter. Niemand unterstützte oder verstand sie.
„Ausgerechnet du sprichst von Verantwortungsbewusstsein? Schon vergessen, wer du warst, als ich geboren wurde?“, schrie Anne. Ihre Mutter wurde unfair? Das konnte sie auch!
Peg holte hörbar Luft. Der Vorwurf traf sie schlimmer als ein Schlag in die Magengrube. Sie war sehr auf ihre Sittsamkeit und ihr Ansehen bedacht. Dass sie als Dienstmagd mit dem verheirateten Herrn des Hauses geschlafen und von ihm ein Kind bekommen hatte, empfand sie bis heute als großes Vergehen.
„Ich habe meine Pflichten immer erledigt. Das ist etwas, was du nicht behaupten kannst!“, erwiderte sie mit bebender Stimme.
„Dazu gehört also auch dem Hausherrn das Bett zu wärmen?“, fragte Anne mit einem freudlosen Lächeln auf den Lippen. Darauf wusste Peg keine Antwort mehr.
„Rein! Geh dich waschen!“
Sie wollte Anne packen, doch die wich ihr aus und ging ohne ein weiteres Wort an Peg vorbei.
„Ich verfluche den Tag, an dem der Schwindel aufgeflogen ist!“, rief Anne ihrer Mutter zu. Während sie in ihr Zimmer lief, dachte sie an ihr altes Leben. William arbeitete damals in Kinsale als erfolgreicher Anwalt. Er führte ein perfektes Leben, an dem nur ein Mangel haftete: Seine Ehe blieb kinderlos. Aus diesem Grund schickte er seine Dienstmagd Peg Brennan auch nicht weg, als diese ein Kind von ihm erwartete. Stattdessen überlegte er sich eine Geschichte, um Anne selbst erziehen zu können: Kurzerhand steckte er das Mädchen in Jungenkleider und nannte es Adam. Er gab den Jungen als Sohn eines entfernten Verwandten aus, der wollte, dass sein Kind zum Juristen erzogen wird. Außerdem vertraute er Peg seinen Neffen an, damit niemand beim Wickeln ihr wahres Geschlecht erkannte. Zehn wunderbare Jahre lang funktionierte der Schwindel. Aber dann kam das Geheimnis ans Licht, woraufhin Williams Frau ihren Mann verließ. Als ihm aufgrund des Skandals die Mandanten ausblieben, zog er mit Peg und Anne nach South Carolina in die Nähe des Hafens Charleston. Hier kaufte er Baumwollplantagen, mit denen er für sich und seine Familie eine neue Existenz aufbaute. Leider beinhaltete diese auch, dass Anne sich wie ein braves Mädchen verhalten sollte. Keiner begriff, wie sehr ihr das widerstrebte.
Wütend knallte Anne die Zimmertür zu. Noch während sie lief, zog sie sich das verdreckte Kleid über den Kopf. Dabei fiel ihr der Dolch runter. Sie hob ihn auf und drehte ihn in den Händen hin und her. Was sollte sie mit ihm machen? Sie konnte die Klinge nicht einfach liegen lassen oder sie gar an ihren Gürtel hängen. Peg würde ihr den Hals umdrehen. Sie musste sie verstecken. Schnell schob Anne sie zwischen den Bettpfosten und die Wand.
Sie hatte den Dolch gerade festgeklemmt, da kam die Magd Olivia mit einer flachen Schüssel und einem Krug herein. Anne schätzte Olivias Alter auf etwa achtzehn. Eigentlich hieß die Sklavin Malaika, aber Peg fürchtete sich davor, einen unchristlichen Namen auch nur auszusprechen. Deshalb war sie gleich nach ihrem Ankauf in Olivia umgetauft worden. Das war mittlerweile schon mehr als vier Jahre her. Damals war Anne begeistert von dem eigenartigen Mädchen gewesen und hatte sie kennenlernen wollen. Ihre Mutter dagegen hatte geschimpft und geflucht. Hatte die Sklaven durch ihre Hautfarbe von Gott gestraft gehalten. Hatte gemeint, sie alle würden sich mitschuldig machen und sich versündigen, wenn sie mit den Verfluchten Kontakt aufnähmen.
Diese Einstellung hatte sich allerdings sehr schnell geändert, als ihr klar wurde, wie viel Geld sie dank der billigen Arbeitskräfte sparte. Außerdem besaß in South Carolina jeder wohlhabende Mensch Sklaven, die auf den Plantagen und in den Häusern arbeiteten. Es war eine Möglichkeit, den eigenen Reichtum zu zeigen.
Peg gewöhnte sich schnell an die Dunkelhäutigen, die William nach und nach kaufte. Anne konzentrierte sich vor allem auf Olivia. Sie half ihr beim Englischlernen, damit sie ihre Geschichte berichten konnte. Allerdings war diese nicht sonderlich erpicht darauf, die Sprache zu lernen. Deshalb verstand sie nur langsam einzelne Worte. Anne empfand Mitleid für das Mädchen, aber sie begriff ihr Verhalten nicht. Als sie verschleppt worden war, hatte sie nichts tun können. Sie war ein Kind und nach der langen Fahrt auf einem Sklavenschiff völlig ausgehungert gewesen. Doch obwohl es ihr mittlerweile körperlich besser ging, startete sie nicht einen Fluchtversuch. Sie führte jeden Befehl widerstandslos aus und ertrug alles, was man ihr antat. Seien es harsche Kritik, laute Beschimpfung oder sogar Schläge. Ihr Blick blieb immer gleich leer und unbewegt.
„Willst du nicht auch einfach fortlaufen und alles hinter dir lassen, Olivia?“, fragte Anne. Olivia erstarrte. Dann schüttelte sie panisch den Kopf. Ihr Haarband löste sich und flog in eine Ecke.
„Warum nicht?“ Olivia sah ihr direkt in die Augen.
„Ich kann nirgendwo hin.“ Anne betrachtete die junge Frau. Ihre schwarze Haut verriet überall ihre Gefangenschaft. Die Menschen würden sie versklaven, egal wo sie hinging.
Olivias Blick wechselte zur gewohnten Gleichgültigkeit. Anne sah ihr gedankenverloren zu, wie sie einen kleinen Lappen und ein großes Laken aus einer Truhe am Rand des Raumes holte. Olivia legte beides auf die Kommode neben die bereits abgestellte Schüssel. Dann machte sie einen Knicks und fragte mit starkem Akzent, ob sie noch etwas tun könnte. Anne hielt ihr das Kleid hin und befahl ihr knapp: „Vernichte es!“
Olivia suchte der Tochter ihres Herrn wortlos frische Kleidung raus. Gleich darauf verschwand sie, um den Befehl auszuführen. Als die Magd gegangen war, spülte sich Anne zuerst den Mund aus. Obwohl der Biss bereits über eine Stunde zurücklag, klebte noch immer ein widerlicher Pelz auf ihrer Zunge.
Das Wasser erinnerte sie an ihren quälenden Durst. Sie freute sich darauf, ihn beim Abendessen endlich löschen zu können, auch wenn sie dabei zwangsläufig auf ihre zornigen Eltern treffen würde. Angestrengt dachte sie darüber nach, wie sie sie besänftigen konnte.
Anne verstand Pegs Angst. Sie hatte vor wenigen Jahren ein Land verlassen müssen, weil sie dort einen Skandal ausgelöst hatte. Das wollte sie nie wieder erleben. Und es stimmte ja auch, was sie sagte: Es gehört sich für ein Mädchen nicht, allein durch die Stadt zu streifen. Aber Peg musste doch begreifen, dass Anne ihre Freiheit vermisste. Sie sehnte sich nach dem Meer und ihrer Heimat. Und sie verstand nicht, warum sie die Meinung der Nachbarn über ihr Glück stellen sollte. Sie wollte nicht ständig auf ihre kleinen Brüder aufpassen oder eine gute Hausfrau werden.
William hat seinem Neffen Adamviel mehr Freiheiten gelassen. Natürlich hatte sie als Lehrling eines Anwalts auch Pflichten erfüllen müssen. Sie sollte damals Jurist werden. Doch sie hatte selber wählen dürfen, wie sie ihr Leben ansonsten gestaltete. Sie hätte mit dem Argument, sie wolle Erfahrungen sammeln, in ihrem jetzigen Alter auf Reisen gehen können. Als Mann war es kein Problem allein auf einem Schiff anzuheuern. Im Gegenteil: Es galt sogar als Zeichen von Reichtum und Weisheit. Doch über eine Frau mit den gleichen Zielen zerrissen sich alle das Maul.
Sie trat gegen die Kommode, welche krachend an die Wand stieß. Bevor sie weitere Möbelstücke malträtieren konnte, trat Olivia ein.
„Das Essen ist fertig.“
„Kann ich mich so zeigen?“, fragte Anne sie, weil sie nicht wusste, ob ihr Gesicht noch immer schmutzig war. Als die Magd nickte, ging Anne ins Speisezimmer.
Auf dem Tisch standen Schüsseln mit Fleisch, Brot und Gemüse. Anne interessierte jedoch nur der Wasserkrug. Sie streckte ihre Hand aus, aber ein Räuspern hinderte sie am Zugreifen. Peg durchbohrte sie mit ihrem warnenden Blick, während William sie ignorierte. Schnell setzte sich Anne auf ihren Platz. Peg saß ihr gegenüber und erklärte ihren beiden Söhnen, warum sie nicht mit Messern werfen durften.
William eröffnete unterdessen das Essen, woraufhin Anne ihren Becher füllte und ihn in einem Zug austrank. Peg schaute sie missbilligend an.
„Kannst du nicht ein kleines bisschen Manieren zeigen?“