Schwarze Schafe - Gisa Pauly - E-Book
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Gisa Pauly

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  • Herausgeber: Piper ebooks
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2022
Beschreibung

Von schwarzen Schafen und falschen Fuffzigern

Endlich wieder Sommer auf Sylt, das genießt neben den Touristen auch Mamma Carlotta. Für Tratsch und Klatsch sorgt Sänger Pierre Thom, der gerade mit seiner Partnerin – einem echten Superstar! – auf der Insel weilt. Doch all das ist vergessen, als Frau Kemmertöns Mamma Carlottas Hilfe sucht: Ihr Lottogewinn ist verschwunden! Sie hatte ihn in einer alten Lexikonreihe versteckt, die ihr Mann nun an das lokale Tierheim gespendet hat. Keine Frage, die beiden Frauen müssen das Geld unbemerkt zurückholen! Selbstverständlich haben sie nicht erwartet, dabei des Nachts über eine Leiche zu stolpern. Und erst recht nicht, dass diese am nächsten Morgen wie vom Erdboden verschluckt sein könnte … Treibt sich etwa ein schwarzes Schaf auf Sylt herum?

»Gisa Paulys Romane verbreiten auf jeder Seite Inselatmosphäre.« WDR

Gisa Pauly lebt als freie Schriftstellerin, Journalistin und Drehbuchautorin in Münster, ihre Ferien verbringt sie am liebsten auf Sylt oder in Italien. Ihre turbulenten Sylt-Krimis um die temperamentvolle Mamma Carlotta erobern ebenso regelmäßig die Spiegel-Bestsellerliste wie ihre Italien-Romane. Die Leser der Fernsehzeitschrift rtv wählten sie zur beliebtesten Autorin des Jahres 2018.

Band 16 der Reihe um Hobbyermittlerin Mamma Carlotta

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Seitenzahl: 588

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© Piper Verlag GmbH, München 2022

Covergestaltung: Eisele Grafik·Design, München

Covermotiv: Martina Eisele unter Verwendung von Bigstock (Olgagi; Seregam; Yes Photographers; Thanumporn; Koljambus; Dr. Alex; noon202), Alamy Stock Foto (Hardyuno; Dawn Quadling) und GettyImages (Fuse)

Konvertierung auf Grundlage eines CSS-Layouts von digital publishing competence (München) mit abavo vlow (Buchloe)

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Inhalt

Inhaltsübersicht

Cover & Impressum

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Rezeptanhang 

Olive fritte (gebratene Kräuteroliven) 

Polenta smalzada trentina (Polenta mit Sardellen) 

Pollo alla Marengo (Geflügelragout mit Tomaten und Rührei) 

Zabaione con bacche (Weinschaum mit Beeren) 

Fagioli con cotechino (Bohnen mit Wurst) 

Frischkäse-Dessert mit Kirschen und Krokant 

Anguilla in umido (Aal in Tomatensoße) 

Mozzarella in carrozza (ausgebackene Käsebrote) 

Ginestrata (Eiercremesuppe) 

Pollo alla cacciatora (Huhn mit Kapern und Oliven) 

Budino di ricotta (Ricottapudding) 

Zucchini-Carpaccio mit Basilikum-Ricotta-Nocken 

Bigoli in Salsa 

Spinat-Ricotta-Malfatti mit Butter und Salbei 

Affogato al caffè 

Buchnavigation

Inhaltsübersicht

Cover

Textanfang

Impressum

1

Kriminalhauptkommissar Erik Wolf warf zornig den Hörer auf die Gabel zurück. »Schon wieder!«

Als hätte ihn seine eigene Gefühlsaufwallung erschreckt, blieb er nun sitzen wie ein gescholtener Schüler, der ermahnt worden war, sich ruhig und anständig zu benehmen. Sein Blick wanderte durch den Raum, und prompt merkte er, dass er wieder ruhiger wurde. Diese schäbigen Holzmöbel, die kahlen Wände, die Fenster, die dringend geputzt werden mussten, zu denen passte kein Temperamentsausbruch. Ein hässlicher Raum! Auch das Büro im Polizeirevier am Kirchenweg war nicht schön gewesen, allerhöchstens funktional, und auch das nicht in allen Bereichen. Immerhin hatte es ein paar Grünpflanzen gegeben und einen großen Wandkalender, auf den sein Blick gefallen war, wenn er aufsah. Jetzt hatte er nur eine schmucklose Wand vor sich. Angeblich lohnte es sich nicht, hier Hand anzulegen, die Unterbringung der Kriminalpolizei im Telekomgebäude war nur für eine Übergangszeit geplant. Aber man kannte das ja. Wenn ein altes Haus wie das Polizeirevier Westerland erst einmal einer Renovierungskolonne in die Hände gefallen war, konnte es lange dauern.

Er strich sich seinen Schnauzer glatt, sehr lange, immer und immer wieder, dann öffnete er seine Schreibtischschublade, tastete blind nach dem Inhalt, schob seine Pfeife zur Seite, obwohl er sie am liebsten angesteckt hätte, und seufzte erleichtert auf, als das Schokoladenpapier an seinen Fingerspitzen knisterte. Ein Stück Trauben-Nuss-Schokolade tat immer gut. Fast so gut wie das Anzünden der Pfeife, das Paffen der ersten Rauchwolken und ihr Gewicht im Mundwinkel, wenn sie zuverlässig glühte. Aber Rauchen im Büro kam natürlich nicht infrage. Mit geschlossenen Augen schob er sich ein Stück Schokolade in den Mund, legte den Rest zurück, während sie in seinem Mund schmolz, und genoss den Augenblick, in dem nur noch die Trauben und Nussstücke auf seiner Zunge lagen.

Die Tür öffnete sich, Oberkommissar Sören Kretschmer trat ein. »Gibt’s was Neues, Chef?«

»Immer nur dasselbe«, brummte Erik.

Sören stutzte. »Wollen Sie damit etwa sagen …?«

»Ja. Letzte Nacht schon wieder.«

»Das kann doch nicht wahr sein.« Sören hockte sich auf die Ecke von Eriks Schreibtisch. »Können wir die Ermittlungen nicht ablehnen?«

»Ich habe gerade mit dem Kurdirektor telefoniert. Der will unter keinen Umständen, dass etwas davon an die Öffentlichkeit dringt. Das Image unserer Insel würde schwer leiden. Er braucht also Spezialisten.«

Sörens rundes Gesicht, das immer einem reifen Apfel ähnelte, verzog sich ärgerlich. »Das kann nicht mehr lange dauern. Die Bauern suchen bereits nach Schafhirten. Die Tierheime organisieren private Wachen … der Kerl hat keine Chance.«

Erik entschloss sich zu einem zweiten Stück Schokolade. Er bot Sören eins an, der aber lehnte wie immer ab. »Nur gut, dass die Presse zurzeit mit dem Superstar aus Amerika beschäftigt ist. Nicht auszudenken, wenn das Inselblatt gerade jetzt mitten in einem Sommerloch steckte …«

Erik erhob sich schwerfällig. Nur ganz kurz schoss ihm der Gedanke durch den Kopf, dass er immer unbeweglicher wurde, obwohl er doch noch nicht einmal fünfzig war. Aber er schob diesen unangenehmen Gedanken schnell beiseite. Irgendwann würde er mit Sport beginnen. Irgendwann ganz bestimmt …

Er glättete seinen Pullunder, kontrollierte, ob in den tiefen Taschen seiner weiten Cordhose alles steckte, was er brauchte, dann sagte er zu Sören: »Kommen Sie, wir fahren zum Mittagessen.«

Sören zögerte. »Ihre Schwiegermutter ist gerade erst auf Sylt angekommen.«

»Gestern schon.«

»Da kann man ihr schon einen Gast zumuten?«

Erik schob Sören zur Tür. »Sie wissen doch, wie sie ist. Wenn ich ihr erzähle, dass Sie bei Gosch ein Fischbrötchen essen statt bei ihr Antipasti, Primo, Secondo und Dolce, wäre sie tödlich beleidigt.«

2

Am Morgen hatte sie nur kurz den Kühlschrank und die Regale in der Vorratskammer inspiziert. Es war wie immer gewesen. Außer ein paar Konservendosen mit den Aufdrucken »Nasi Goreng«, »Pichelsteiner Eintopf« und »Königsberger Klopse« war nicht viel zu finden gewesen. Es wurde Zeit, dass sie hier mal wieder Hand anlegte. In zwei, drei Monaten verlotterte der Haushalt ihres Schwiegersohns vollkommen. Da musste sie erst einmal für Ordnung sorgen, für Vorräte, die nicht in einer Fabrik, sondern in der eigenen Küche hergestellt worden waren, und für den gewissen Überfluss, der zu einem gut geführten Haushalt gehörte. Also für Lebensmittel, die niemand brauchte, die aber gern gegessen wurden: italienisches Gebäck, einige Hartwürste und natürlich jede Menge Oliven. Die Antipasti, die sie für gewöhnlich am Tag ihres Eintreffens auf Sylt einlegte, würden noch warten müssen. Nun hatte sie erst einmal fürs Mittagessen eingekauft, am Nachmittag würde sie dann das frische Gemüse, das gute Olivenöl und eine große Flasche Balsamico besorgen. Am nächsten Tag schon würde es im Hause Wolf duften, dass jedem Gast das Wasser im Mund zusammenlief. Nach der Siesta würde sie noch einmal losgehen, und dann mit viel Zeit. Sie würde alle Lebensmittel genau in Augenschein nehmen und ausgiebig betasten, um die frischeste Ware zu bekommen, sie würde die Kassiererinnen begrüßen und sich erkundigen, ob die eine immer noch die schrecklichen Gummistrümpfe tragen musste und eine andere endlich den Mut aufgebracht hatte, zum Zahnarzt zu gehen. Und natürlich würde sie auch den Filialleiter begrüßen, um ihn daran zu erinnern, dass er für die nächsten zwei Wochen die kritischste Kundin im Laden haben würde, die ihm je begegnet war. So jedenfalls hatte er einmal gesagt, und Mamma Carlotta hatte es als Kompliment verstanden, obwohl sie nicht sicher war, dass der Filialleiter es so gemeint hatte.

Natürlich war sie auch noch nicht dazu gekommen, die Nachbarin zu begrüßen. Ihr Flugzeug war ja erst am späten Nachmittag in Hamburg gelandet. So freute sie sich nun, dass Frau Kemmertöns ihr entgegenkam und ihr damit die Aufgabe abnahm, am Nachbarhaus zu klingeln oder darauf zu warten, dass man sich am Gartenzaun traf. Mamma Carlotta ließ die Einkaufstaschen fallen, damit sie beide Hände zur Begrüßung frei hatte. In Panidomino, ihrem Dorf, würde sie nach ihrer Rückkehr jede einzelne Nachbarin in ihre Arme ziehen, aber sie hatte mittlerweile gelernt, dass Gefühlsausbrüche dieser Art auf Sylt nicht gern gesehen und völlig unüblich waren. Jedenfalls unter denen, die auf der Insel geboren waren oder schon lange hier lebten. Also würde die rechte Hand völlig ausreichen.

»Moin.« Dass Frau Kemmertöns sich freute, die Schwiegermutter ihres Nachbarn zu sehen, konnte nur der erkennen, der mit ihrem Temperament vertraut war. In Italien wäre diese Art von Begrüßung einer Beleidigung gleichgekommen.

»Buon giorno!« Natürlich ließ Mamma Carlotta es sich nicht nehmen, Frau Kemmertöns so zu begrüßen, wie sie es gewohnt war: laut und herzlich, mit vielen überflüssigen Worten und Episoden, mit denen sie ins Haus fiel, um das Schweigen, das sie ernten würde, zu übertönen. Als sie ausgiebig das schlechte Wetter in Panidomino geschildert und erwähnt hatte, dass der Pfarrer ihres Dorfs an Gallensteinen litt, merkte sie allerdings, dass Frau Kemmertöns diesmal ihren Wortschwall nicht wie sonst über sich ergehen ließ wie einen Regenguss, dem man nicht ausweichen konnte. Nein, sie versuchte, Mamma Carlotta zu unterbrechen, weil sie augenscheinlich etwas auf dem Herzen hatte, was rauswollte. Das war ungewöhnlich. In Frau Kemmertöns’ Leben geschah wenig, ihre Tage liefen eintönig dahin. Die wenigen aufregenden Erlebnisse hatte sie allesamt Carlotta Capella zu verdanken, von der sie gelegentlich zu Abenteuern verführt wurde, die sie immer erst abzuwehren versuchte, wenn es zu spät war. Diesmal schien sie jedoch etwas zu drängen.

»Ich bin froh, dass Sie auf Sylt sind«, brachte sie schließlich heraus. »Ich brauche dringend Ihre Hilfe.«

Mamma Carlotta begriff sofort, dass es nicht um ein Pastarezept oder einen biologischen Unkrautvernichter ging. Sie riss ihre Einkaufstaschen in die Höhe und winkte die Nachbarin mit einem Kopfnicken zur Tür der Wolfs. »Ich muss das Mittagessen vorbereiten. Währenddessen können Sie mir erzählen, was los ist.«

Wie immer war Frau Kemmertöns von Mamma Carlottas Tempo völlig überfordert. Sie stand noch mit ausgestreckten Armen da, um ihr eine Einkaufstasche abzunehmen, als Carlotta schon auf dem Weg zur Haustür war – mit beiden Taschen. Und die Tür war längst aufgeschlossen und aufgestoßen worden, als Frau Kemmertöns sich endlich in Bewegung gesetzt hatte. Obwohl die beiden Frauen im gleichen Alter, von gleicher Statur und sich auf den ersten Blick sogar ähnlich waren, unterschieden sie sich auf den zweiten doch gründlich voneinander. Beide mussten ein Gewicht in Bewegung bringen, das in Kleidergröße 44 passte, für Frau Kemmertöns mit Stöhnen und Prusten verbunden, für Mamma Carlotta kein Problem. Sie ließ die Haustür hinter sich offen stehen und hatte schon in der Küche die Espressomaschine in Gang gesetzt, als sie endlich Frau Kemmertöns’ Schritte hörte. Diese drückte die Haustür umständlich ins Schloss, was Mamma Carlotta in der Regel mit einem kräftigen Stoß erledigte, der die Tür ins Schloss donnern ließ, dass die Fensterscheiben erzitterten.

Frau Kemmertöns setzte sich an den Tisch, betrachtete die Espressotasse, als könnte sie sich nicht erklären, wie diese so schnell dorthin gekommen war, und sah Mamma Carlotta beim Auspacken der Einkäufe zu. So wie Kükeltje, die kleine schwarze Katze der Familie Wolf, die mal wieder hoffte, dass in der großen Einkaufstasche von Mamma Carlotta auch etwas für sie sein könnte. Aufgeregt strich sie um Carlottas Beine herum, wurde aber zu ihrem großen Missfallen überhaupt nicht beachtet.

»Nun reden Sie schon! Wie kann ich Ihnen helfen?«

Frau Kemmertöns begann zu Mamma Carlottas Verdruss erst einmal mit einer längeren Vorrede, ließ sich über das Phlegma ihres Mannes aus, beklagte dessen Unaufmerksamkeit und die Tatsache, dass er mal wieder ihren Geburtstag vergessen hatte.

»Aber dabei brauchen Sie nicht meine Hilfe«, drängte Carlotta. »Ihr Jupp war doch schon immer so.«

Darüber musste Frau Kemmertöns erst einmal nachdenken, dann nickte sie. »Ja, eigentlich schon …«

Carlotta war froh, dass sie ihre Ungeduld an der Fleischwurst auslassen konnte, sonst wäre Frau Kemmertöns Gefahr gelaufen, bei den Schultern gepackt und geschüttelt zu werden, damit sie endlich mit ihrer Neuigkeit herausrückte.

Aber die Zwiebeln schmorten schon in der Pfanne, als es endlich so weit war: »Ich habe im Lotto gewonnen.«

»Come?« Mamma Carlotta rutschte der Streuer mit dem Majoran aus der Hand. »Das ist ja … grande. Congratulazioni!«

Warum Frau Kemmertöns alles andere als einen glücklichen Eindruck machte, konnte sie nicht verstehen. Sie selbst hätte in einem solchen Fall Freudenschreie ausgestoßen, die bis zum anderen Ende des Dorfs zu hören gewesen wären, und dafür gesorgt, dass sämtliche Nachbarinnen herbeigelaufen wären, um zu erfahren, was bei den Capellas los war. Und dann hätte sie einen Teil des gewonnenen Geldes in Spumante umgesetzt und so lange gefeiert, bis ihre Kinder sie ermahnt hätten. Die wären bald von der Sorge befallen worden, dass das ganze Geld durch zügellose Feierei durchgebracht worden war, ehe man sich überlegen konnte, wie es investiert werden sollte.

»Wie viel?«

Frau Kemmertöns flüsterte: »Hunderttausend.«

Mamma Carlotta merkte erst, dass die Zwiebeln angebrannt waren, als sie sich ausgiebig über diesen riesigen Geldbetrag erregt und sich vorgestellt hatte, welche Wünsche man sich mit so viel Geld erfüllen konnte. »Dio mio!« Sie riss die Pfanne vom Herd, leerte sie über dem Abfalleimer und machte sich daran, die nächste Zwiebel zu pellen und in Stücke zu schneiden. »Werden Sie verreisen? Oder sich endlich den rosa Blazer kaufen, den Sie schon so lange haben wollen?«

»Größe 42«, antwortete Frau Kemmertöns dumpf. »Für den hätte ich abnehmen müssen.«

Mamma Carlotta riskierte es erneut, die Zwiebeln dem heißen Fett zu überlassen, und setzte sich zu der Nachbarin. »Was dann?«

Frau Kemmertöns fiel ein, dass sie einen Espresso vor sich stehen hatte, und führte die Tasse langsam und sehr bedächtig zum Mund, trank einen winzigen Schluck, rieb Ober- und Unterlippe aneinander, stellte die Tasse zurück und sagte dann: »Das Geld ist weg.«

»Come?« Mamma Carlotta hielt es nicht auf ihrem Stuhl. Zum Glück, denn am Herd gab es eindeutig Handlungsbedarf. Aufgeregt verteilte sie die Zwiebeln in der Pfanne und drehte die Hitze zurück. »Wie konnte das passieren?«

Die Wurst hatte sich bereits unter die Zwiebeln gemischt und ihre Farbe verändert, die Bohnen hatten sich dazugesellt, das Ganze war mit Salz, Pfeffer und Majoran gewürzt und mit Rotweinessig überträufelt worden – da wusste Mamma Carlotta endlich, was geschehen war.

Vor vier Wochen war es gewesen. Frau Kemmertöns hatte zwischen der Mitteilung, dass sie gewonnen hatte, und der Heimkehr ihres Mannes, der einmal in der Woche in Käptens Kajüte mit seinen ehemaligen Kollegen Schafkopf spielte, genug Zeit gehabt, sich zu überlegen, was aus den Hunderttausend Euro werden würde, wenn ihr Jupp davon erfuhr. Er würde ein neues Gartenhaus haben wollen, an dem ihr nichts lag, ein neues Auto anschaffen wollen, an dem Frau Kemmertöns ebenfalls nichts lag, oder es einfach auf die hohe Kante legen wollen. Sie dagegen träumte von einer Kreuzfahrt, an der ihrem Mann nichts lag, und vermutete, dass er allen Leuten erzählen würde, dass sie gewonnen hätten, wo es doch Frau Kemmertöns gewesen war, die seit Jahren den Lottoschein ausfüllte. Und das, obwohl ihr Mann es bisher für rausgeworfenes Geld gehalten hatte.

Mamma Carlotta musste länger darüber nachdenken, ob dieses Verhalten für eine Ehefrau, die nach der Heirat alles mit ihrem Mann teilen sollte, richtig war, rang sich dann aber dazu durch, für die Nachbarin Verständnis zu haben. Sie kannte ja Herrn Kemmertöns. »Was haben Sie mit dem Geld gemacht?«

»Ich habe es in einem Lexikon versteckt. Nach unserer Hochzeit haben wir uns die Lexikonreihe zugelegt. Sie macht sich so gut im Bücherschrank, wirkt ein bisschen vornehm, und man muss ja immer mal was nachschlagen …« Frau Kemmertöns stockte und dachte offenbar darüber nach, wann sie zum letzten Mal etwas nachgeschlagen hatte. Es fiel ihr nicht ein.

»Das macht man doch heute im Internet«, sagte Mamma Carlotta und war stolz auf ihre moderne Auffassung.

»Eben!« Nun fiel Frau Kemmertöns wieder ein, warum sie so lange nichts nachgeschlagen hatte. Dass sie kein Smartphone besaß, verdrängte sie, und dass sie den Laptop, der seit ein paar Jahren das Wohnzimmer zierte, nicht einmal anstellen konnte, ebenfalls. »Also dachte ich, da ist das Geld gut aufgehoben. Da geht ja nie einer ran. Ich staube die Bücher regelmäßig ab, das war’s.«

»Ist etwa doch einer rangegangen?«

Frau Kemmertöns schüttelte den Kopf. »Das Geld steckt im dritten Band. D – E. Von Daktylus bis Ethnografie habe ich die Seiten herausgeschnitten. Da passten die Hunderttausend Euro rein. Da waren sie gut aufgehoben.« Mit zitternder Stimme ergänzte sie: »Eigentlich.« Dann kamen ihr die Tränen.

3

Eriks Handy klingelte, als er gerade das Auto geöffnet hatte. Er gab Sören einen Wink, damit er sich hinters Steuer setzte und er selbst in Ruhe telefonieren konnte. Früher hätte er ihm den Schlüssel reichen müssen, das war bei seinem neuen Wagen nicht mehr nötig. Erik war nach wie vor verblüfft, wenn er auf sein Auto zuging und es sich von selbst öffnete, nur weil er den Schlüssel in der Tasche trug. Nein, ein Schlüssel im herkömmlichen Sinne war es gar nicht, sondern ein Rechteck, das sich leider an keinen Schlüsselbund hängen ließ. Das war der einzige Nachteil. Sören war begeistert gewesen, als Erik endlich den jahrealten Vorsatz, sich ein neues Auto zuzulegen, in die Tat umsetzte. Besonders flott und schnittig war der Renault Scenic zwar nicht, aber immerhin besaß er die neueste Technik. Und Sören, der eigentlich der Meinung war, dass sich jeder Ort auf Sylt auch mit dem Fahrrad erreichen ließ, genoss sie.

»Die Staatsanwältin?«, fragte er, kurz bevor Erik das Gespräch annahm.

Der nickte und drückte den grünen Knopf seines Smartphones, noch bevor er einstieg. Nach wie vor gab es diesen Augenblick der Peinlichkeit, wenn er in Sörens Gegenwart mit Dr. Tilla Speck telefonierte. Es war noch gar nicht so lange her, da hatte er genervt aufgestöhnt, wenn sie am anderen Ende der Leitung war, hatte jedes Telefonat mit ihr vermieden und auf ihre schlechten Manieren geschimpft, wenn er es beendet hatte. Und nun sollte plötzlich alles anders sein? Noch immer kam es ihm so vor, als hätte er Sören all die Jahre betrogen und müsse sich nun bei jedem privaten Kontakt entschuldigen.

»Hallo, Tilla! Was gibt’s?« In Gegenwart anderer brachte er es immer noch nicht fertig, seine Gefühle erkennen zu lassen.

»Es ist Freitag«, gab sie mit einer Stimme zurück, die sie früher nie gehabt hatte. »Wochenende! Ich könnte morgen nach Sylt kommen.«

»Schön. Ich freue mich.«

»Hast du Zeit? Oder gibt es irgendeinen Fall, der dich einspannt?«

»Mehrfacher Mord«, gab Erik zurück, »inklusive schwerer Misshandlung. Aber sonst …«

»Was?« In diese eine Silbe konnte sie das legen, was er früher an ihr gehasst hatte: Gefühlskälte, Überheblichkeit, Anmaßung. Nun hatte er sich damit abgefunden, dass sie so reagierte, wenn ein Verbrechen geschehen war, dass sie dann nichts als Staatsanwältin war und alles Private wegschob. »Das sagst du mir so nebenbei?«

Erik betrachtete fasziniert Sörens Hände am Steuer, die dort blieben, auch wenn sein neues Auto in einen anderen Gang schaltete. So richtig hatte er sich an das Automatikgetriebe noch nicht gewöhnt.

»Es geht nicht um Menschenleben, sondern um das Leben von Schafen.«

»Wenn der Schlachter kommt, reden wir nicht von Mord.« Ihre Stimme war noch immer kühl.

»Ich rede nicht vom Schlachter, sondern von einem Menschen, der sich so ein Schaf schnappt, fesselt, es so lange wie möglich quält und es dann absticht.«

Auf der anderen Seite blieb es eine Weile still. »Davon habe ich noch nichts gehört.«

»Natürlich nicht. Es fällt erstens nicht in unseren Aufgabenbereich, und zweitens will der Kurdirektor auf keinen Fall, dass etwas an die Öffentlichkeit dringt. Deswegen soll die Polizei sich darum kümmern.«

»Die Mordkommission?«

»Es gibt zurzeit nicht viel zu tun.« Erik wurde nervös. »Ich sorge dafür, dass zusätzliche Streifen eingesetzt werden. Das ist alles.«

Er konnte hören, dass Tilla sich am anderen Ende der Leitung schüttelte. »Pfui Deibel. Mord ist immer schrecklich. Aber dass jemand Spaß daran hat, ein Lebewesen zu quälen …«

»Als wären uns niemals Sadisten untergekommen.«

Tilla dachte nach. »Mir eigentlich nicht. Nein, tatsächlich bisher nicht.«

Auch Erik überlegte, aber nur kurz. »Mir auch nicht.«

»Gott sei Dank.«

4

Das private Tierheim lag am nördlichen Ortsrand von Wenningstedt, hinter der Norddörferhalle, in der Nähe des Golfclubs. Es gab noch ein zweites zwischen Tinnum und Keitum, das der Tierschutzverein unterhielt. Das private Heim war von einer Frau gegründet worden, die sich von den Menschen ab- und den Tieren zugewandt hatte. Früher hatte sie zur Schickimicki-Gesellschaft gehört, das wusste Frau Kemmertöns, aber dann war ihr der reiche Ehemann weggestorben, hatte ihr viel Geld hinterlassen, und sie hatte ein großes Wohnhaus am Gaadt gebaut, das praktisch den Eingang zum Tierheim darstellte, das mit den Jahren immer größer geworden war, weil immer mehr Tiere dort abgegeben wurden.

Einer der Pfleger war eines Tages von Haus zu Haus gegangen und hatte um Bücherspenden gebeten. Die Besitzerin des Tierheims war auf die Idee gekommen, einen Bücherflohmarkt zu veranstalten. Die Sylter sollten ins Tierheim gelockt werden, Sponsoren sollten sich einfinden, Spenden sollten fließen und der Verkauf der Bücher natürlich dabei helfen, Tierfutter zu kaufen und einen neuen Pferdestall anzubauen. Anscheinend ging der reichen Dame das Geld aus. So war sie auf die Idee mit dem Bücherflohmarkt gekommen.

»Ausgerechnet, als ich im Krankenhaus war«, schluchzte Frau Kemmertöns.

Zwei Tage in der Nordseeklinik hatte ihr Hausarzt für nötig befunden, nachdem Frau Kemmertöns auf der Treppe gestürzt und ohnmächtig liegen geblieben war. Eine Gehirnerschütterung wurde befürchtet, aber nach zwei Tagen Beobachtung wurde sie gesund nach Hause entlassen. Sie war davongekommen.

Nach dem Schock, den sie nach ihrer Heimkehr erlitt, hätte sie eigentlich erneut in die Nordseeklinik eingeliefert werden müssen. Denn … ihr Bücherschrank war leer gewesen. Herr Kemmertöns hatte seiner Gattin stolz präsentiert, dass er endlich mal das gemacht hatte, worum er seit Jahren gebeten wurde. Er hatte sich ums Aufräumen gekümmert. Dass Frau Kemmertöns in Tränen ausbrach, konnte er begreiflicherweise nicht verstehen, schob es aber der Einfachheit halber auf die Folgen des Treppensturzes. Wenn sie auch keine Gehirnerschütterung davongetragen hatte, so war sie vielleicht psychisch noch angegriffen. Frauen waren ja so empfindlich. Damit begründete Herr Kemmertöns alles, was er an seiner Frau nicht verstand.

»Wann wird der Bücherflohmarkt veranstaltet?«, fragte Mamma Carlotta.

»Übernächsten Sonntag.« Frau Kemmertöns trank den Espresso aus. »Es ist noch Zeit genug, das Lexikon zurückzuholen. Aber … allein traue ich mich nicht.«

5

Seine Schwiegermutter war wie erwartet auf das Höchste erfreut, als er ihr den Besuch der Staatsanwältin für das Wochenende ankündigte. »Tilla wird kommen? Ich muss überlegen, was ich kochen werde.«

»Es reicht, wenn du die Reste aufwärmst.« Erik zeigte auf die Schüsseln, die zum Teil noch gefüllt waren.

Mamma Carlotta war empört. »Gästen setzt man nichts Übriggebliebenes vor.«

Erik verdrehte die Augen und schwieg. Wenn es ums Essen ging, war jede Diskussion zwecklos. Seine Schwiegermutter hatte da ihre ganz eigenen Ansichten, von denen sie niemals abwich. »Wenn du meinst …«

Zum Glück sorgte Carolins Erscheinen dafür, dass die Debatte nicht ausartete, wenn sie auch schuld daran war, dass die Stimmung sich trotzdem verschlechterte. »Fagioli con cotechino? Du weißt doch, dass ich das nicht mag.«

Mamma Carlotta lamentierte so lange, bis Felix erschien, der zum Glück derart hungrig war, dass er nach eigenem Bekunden sogar den Goldhamster eines Nachbarn essen würde, was zur nächsten Debatte führte, die sich darum drehte, ob solche Bemerkungen erlaubt waren, selbst wenn sie spaßeshalber gemacht wurden. Mamma Carlotta fiel prompt eine Geschichte aus ihrem Dorf dazu ein. Da hatte ein Obdachloser sich ein Kaninchen geschnappt, das in eine Falle geraten war, die er aufgestellt hatte. Das war verboten, deswegen hatte er behauptet, er habe aus dem Stall einer kinderreichen Familie ein Kaninchen gestohlen, was natürlich noch weitaus schlimmer war. Man hatte ihn aus dem Dorf gejagt, ehe der Kaninchenbestand der Familie gezählt und festgestellt worden war, dass alle Tiere vorhanden waren. »Er ist nie wieder in Panidomino aufgetaucht.«

Felix wollte sich ausschütten vor Lachen, Carolin dagegen reagierte so, wie auch Erik reagiert hätte, wenn er zu Wort gekommen wäre. »Du immer mit deinen Geschichten, Nonna! Die glaubt dir kein Mensch.«

Natürlich erntete Carolin heftige Empörung, die sie jedoch gelassen über sich ergehen ließ. Sie war durch und durch friesisch, von ihren italienischen Vorfahren hatte sie nichts geerbt. Ihr Teint war blass, ihre Haarfarbe aschblond, sie wurde nicht schnell aus ihrer Ruhe gebracht. Erik dachte oft an seine früh verstorbene Mutter, wenn er Carolin betrachtete. Sie war ihr Ebenbild. Felix dagegen kam ganz nach seiner Oma mütterlicherseits. Und natürlich nach seiner Mutter. Auch Lucia hatte dunkle Locken gehabt, einen Teint, den Erik nicht einmal durch langes Sonnenbaden bekommen hätte, sie hatte gern und laut geredet und alles in einem Tempo erledigt, dass Erik oft die Luft wegblieb. Ihr Temperament war unverwüstlich gewesen. Genau wie seine Schwiegermutter.

Er lächelte Carolin an, ohne dass sie es bemerkte. Seine Große! Seit sie ihre Ausbildung im Hotel Horizont machte, war sie richtig erwachsen geworden. Früher hatte sie oft zu weinen begonnen, wenn sie nicht gegen Felix und die Nonna ankam, wenn man ihr nie das letzte Wort gönnte und ihr Bruder immer schneller im Argumentieren war als sie. Mittlerweile hatte sie sich damit abgefunden. Das friesische Erbteil ihres Vaters schaffte es einfach nicht, sich gegen das italienische durchzusetzen. Felix fiel immer noch etwas ein, genau wie früher Lucia.

Erik griff noch einmal bei der Vorspeise zu, damit niemand merkte, dass er heimlich seufzte. Ach, Lucia! Wie sehr er sie vermisste! Immer noch. Tilla würde niemals ihren Platz einnehmen können. Hoffentlich machte sie sich da keine Hoffnungen.

Zur Freude der Nonna griff Carolin bei der Brokkolisuppe kräftig zu. »Wisst ihr eigentlich, wer im Hotel Horizont abgestiegen ist?«

»Natürlich!«, rief Felix. »Von Jenna Brown redet doch ganz Sylt.«

»Wir mussten Sicherheitskräfte einstellen«, berichtete Carolin, »weil sich ständig irgendwelche Journalisten im Foyer rumdrücken, die Jenna Brown belästigen, wenn sie auftaucht. Sogar im Innenhof! Einer ist auf den Baum geklettert, aber zum Glück hat er von da aus nicht in ihr Zimmer fotografieren können. In den Frühstücksraum lassen wir nur noch Hotelgäste, da passen wir genau auf. Kein Fotograf kann sich da reinschmuggeln.« Sie betrachtete ihren Teller, überlegte, ob ihr die Suppe reichen würde, und nahm dann einen weiteren Löffel. »Obwohl … die lässt sich ihr Frühstück sowieso im Zimmer servieren.«

»Weil sie mit Pierre Thom direkt nach dem Aufwachen Champagner schlürfen will?«, fragte Felix grinsend.

»Weil sie in ihrem Zimmer ihre Ruhe hat«, korrigierte Carolin. »Außerdem haben die beiden getrennte Zimmer.«

»Der Form halber«, vermutete Sören. »Pierre Thom hätte gar kein Hotelzimmer beziehen müssen. Seine Eltern wohnen noch auf Sylt, andere Verwandte auch, bei denen er übernachten könnte.«

Dazu sagte Carolin nichts. Sie verhielt sich immer sehr korrekt, wenn es um das Hotel und seine Gäste ging. Keine Information kam über ihre Lippen, die von einem Hauch Indiskretion gestreift wurde.

Sören erzählte, dass er Pierre Thom, als er noch Pieter Thomsen hieß, gekannt hatte. »Der war immer ein Einzelgänger und wahnsinnig schüchtern. Bei den Mädchen traute er sich nichts, obwohl er schon damals verdammt gut aussah. Wenn er sang, himmelten sie ihn an, aber sobald er von der Bühne runterkam, war er wieder der blasse Außenseiter.«

»Und in so einen verliebt sich Jenna Brown?« Felix konnte es nicht glauben.

»Wer weiß, was das ist zwischen den beiden«, überlegte Erik. »Kann auch sein, dass sich Pieter Thomsen als Pierre Thom sehr verändert hat.«

»Vielleicht will er nur von Jenna Browns Ruhm etwas abbekommen«, vermutete Carolin. »Die ist wirklich ganz oben angekommen. Sie ist sogar mit Lady Gaga und Jennifer Lopez befreundet. Pierre Thom wird demnächst in Kreisen verkehren … mein lieber Schwan.«

»Und wenn er genauso berühmt ist wie sie«, ergänzte Mamma Carlotta, »lässt er sie fallen wie ein heiße Patata.«

»Mal sehen, wie sich seine Karriere entwickelt.« Erik wiegte den Kopf. »In einem Festzelt auf Sylt zu singen oder bei Gosch zusammen mit dem Akkordeonspieler, das ist etwas anderes als die Fernsehauftritte, die er neuerdings hat. Wenn er beim großen Publikum nicht ankommt, kann schnell Schluss sein mit Jenna Brown.«

Mamma Carlotta kümmerte sich um die Käseomeletts. »Morgen Abend wird er im Kursaal auftreten. Das würde ich gerne miterleben. Was die Karten wohl kosten?«

»Vergiss es«, sagte Carolin. »Die Vorstellung ist restlos ausverkauft. Wir hatten ein paar Karten zurückgehalten für besondere Gäste, aber die sind auch weg.«

»Wegen Pierre Thom oder wegen Jenna Brown?«, fragte Sören grinsend.

»Sie wird jedenfalls in der ersten Reihe sitzen«, antwortete Carolin lächelnd. »Das weiß jeder. Die Paparazzi werden auf dem Vorplatz campieren, damit sie die beiden vor die Linse bekommen.«

6

Käptens Kajüte am Hochkamp hätte dringend einen neuen Anstrich gebraucht. Eine neue Tür ebenfalls. Und die beiden Tische, die vor dem Eingang standen, lockten auch niemanden an, der Wert darauf legte, eine Zwischenmahlzeit im Freien einzunehmen. Gelegentlich hockten dort ein paar Bauarbeiter, die während der Frühstückspause rauchen wollten, ansonsten blieben die beiden wackeligen Plastiktische und die Stühle, denen sich kein Übergewichtiger anvertraut hätte, leer. Ein großes Ärgernis für den Wirt, der nicht einsehen konnte, dass die Gäste es sich vor Gosch gern bequem machten, während sie seine Imbissstube mieden. Dass der fehlende Blick aufs Meer nicht das Einzige war, konnte und wollte er nicht glauben. Und dass seine Schlagermusik keine anziehende Wirkung ausübte, verstand er auch nicht.

Käptens Kajüte war auch kein Ort, an dem man sich zum Kaffeetrinken und Kuchenessen niederließ. Obwohl Tove Griess, der Wirt, in seiner Theke ein überschaubares Kuchenangebot präsentierte. Sandkuchen war immer dabei, dem am allerwenigsten anzusehen war, wenn er bereits mehrere Tage alt war, dazu ein Käsekuchen, den Tove aus einer fertigen Backmischung zusammenrührte, manchmal auch Schokoladentorte, wenn die entsprechende Backmischung gerade im Sonderangebot war.

Als Mamma Carlotta und Frau Kemmertöns die Imbissstube am Samstagvormittag betraten, sang Udo Jürgens gerade Aber bitte mit Sahne, Tove hoffte dementsprechend auf reißenden Absatz und griff schon zum Tortenheber. Aber die Damen verlangten nichts als Cappuccino und dazu seine ungeteilte Aufmerksamkeit. »Wir müssen mit Ihnen reden.«

»Was?« Wenn die Schwiegermutter des Kriminalhauptkommissars mit ihm reden wollte, schwante Tove Griess immer Böses. Sein Gewissen war niemals rein, und dass eine Frau, die mit einem Bullen verwandt war, zu seinen Stammgästen zählte und er sich sogar freute, sie zu sehen, würde er niemals zugeben. Vorsichtshalber setzte er die Miene auf, die jedes Kleinkind an den Rockzipfel seiner Mutter trieb. Freundlich sah er ja nie aus, selbst dann nicht, wenn er es wollte. Seine Stirn wölbte sich vor, die buschigen Brauen schoben sich über die Augen, sodass sie kaum zu sehen waren, seine Mundwinkel zeigten immer abwärts. Wenn er mal lachte, was sehr selten vorkam, wurde seine Miene sogar noch böser. Dann bleckte er das Gebiss wie ein Eisbär, der seine Beute vor sich hertreibt.

»Wenn Sie mit mir reden wollen, hat das meist nix Gutes zu bedeuten.«

Er war froh, dass sich in diesem Augenblick die Tür öffnete. Beim Eintreten eines Gastes wandte er sich selten so erfreut der Tür zu wie jetzt, da Fietje Tiensch eintrat. Der Strandwärter von Wenningstedt gehörte zu den wenigen, die schon seit Jahren mit Tove auskamen. Sie beleidigten sich gegenseitig, ohne dass einer es dem anderen übel nahm, sie beschimpften einander, behaupteten, sich nicht leiden zu können, und hätten niemals zugegeben, dass ihre Beziehung durchaus so etwas wie Freundschaft war.

»Gut, dass du kommst. Die Signora will mit uns reden.«

Fietje Tiensch blieb unschlüssig vor der Theke stehen, als wüsste er nicht, ob er unter diesen Umständen überhaupt in Käptens Kajüte einkehren wollte. Dann aber schob er seine Bommelmütze in den Nacken und grinste. »Moin, Signora. Mal wieder auf Sylt?«

Er schlurfte zu seinem Stammplatz am schmalen Ende der Theke und ließ sich umständlich dort nieder. Eine Bestellung brauchte er nicht aufzugeben. Tove begann ein Jever zu zapfen, etwas anderes hatte Fietje noch nie haben wollen. Er war klein und von schmächtigem Körperbau, trug immer Kleidung, die ihm zu groß war, und stets seine Bommelmütze, im Sommer genauso wie im Winter. Bei seinem dünnen Bart wusste man nie genau, ob Fietje vergessen hatte, sich zu rasieren, oder ob er eigentlich einen Victor-Emanuel-Bart wie Johnny Depp tragen wollte. Das war allerdings schon deswegen sehr unwahrscheinlich, da Fietje Tiensch auf Äußerlichkeiten nicht den geringsten Wert legte und sich immer danach richtete, ob er Lust zum Rasieren hatte oder nicht.

Mamma Carlotta hatte sich mittlerweile auf einem Thekenhocker eingerichtet, was Frau Kemmertöns einfach nicht gelingen wollte. Sie hatte ihre linke Körperhälfte auf den Hocker geschoben und schien sich nicht zu trauen, die rechte dazuzuholen. So blieb sie mit dem rechten Fuß am Boden und fühlte sich augenscheinlich unwohl.

»Was gibt’s denn, Signora?«, fragte Fietje, was ungewöhnlich war, denn er fragte eigentlich nie, er ließ sich fragen, und ob er dann antwortete, stand in den Sternen. Ihm war es am liebsten, wenn er dasitzen, zuhören und schweigen konnte. Aber offenbar gab es auch in seinem ausgeprägten Phlegma noch einen Funken Neugier.

»Willst du das wirklich hören?«, fuhr Tove ihn an. »Du weißt doch, da kommt immer was bei raus, bei dem wir die Drecksarbeit machen und aussehen wie zwei Dösbaddel.«

Mamma Carlotta verzichtete auf die Frage, was ein Dösbaddel war, sie konnte es sich denken. »Wenn Sie diese Geschichte hören, werden Sie verstehen, dass wir eingreifen müssen.«

Sie bat darum, Peter Alexander ein wenig leiser singen zu lassen, und erzählte dann, als Tove ihre Aufforderung überhörte, gegen die Kleine Kneipe an. Wie immer sehr weitschweifig, mit einem Anfang, der Spannung erzeugte, einem Ende, das sie so lange wie möglich hinauszögerte, und einem Mittelteil, der nicht immer vollinhaltlich der Wahrheit entsprach, sondern viele Möglichkeiten bot, die eine oder andere Darstellung so oder auch anders auszulegen. Als sie fertig war, tätschelte sie Frau Kemmertöns den Arm, die über ihrem Cappuccino zusammengesunken war, weil sie, während sie ihre eigene Geschichte hörte, merkte, wie dumm sie gehandelt hatte.

»Centomila euro! Die kann man nicht einfach verloren geben.«

Dieser Ansicht war Tove Griess ebenfalls. Fietje Tiensch dagegen gehörte zu den Menschen, denen Geld einerlei geworden war. Wenn die Kurverwaltung nicht genau auf die Einhaltung seiner Arbeitszeiten achtete, wenn er seine Bommelmütze hatte und dreimal täglich sein Jever in Käptens Kajüte bekam, war er wunschlos. Glücklich vielleicht nicht, dieses Gefühl kannte er gar nicht mehr. Von Zufriedenheit hätte er vermutlich auch nicht gesprochen, wenn er gefragt worden wäre. Aber die Gleichgültigkeit, mit der er sein Leben betrachtete, war letztendlich doch recht nahe an Zufriedenheit und Glück.

Tove fasste Frau Kemmertöns scharf ins Auge. »Da muss für mich was bei rausspringen. Umsonst mache ich das nicht.«

»Aber … Signor Griess …« Mamma Carlotta war entrüstet. »Wenn jemand Hilfe braucht …«

Tove ließ sie nicht ausreden. »Wer sich so dusselig anstellt, kann keine kostenlose Hilfe erwarten. Fünfzehn Prozent!«

Frau Kemmertöns sank beinahe ohnmächtig vom Thekenhocker. »Das ist ja … das sind ja fünfzehntausend! Nein, das ist zu viel!«

»Signor Griess«, rief Mamma Carlotta streng. »Sie sind unverschämt.«

»Also gut, dann zwölf Prozent. Darunter tu ich’s nicht.«

Am Ende einigten sie sich, nachdem Mamma Carlotta sich ausgiebig über Tove Griess’ Habgier empört hatte, auf zehn Prozent. Frau Kemmertöns nickte ergeben. Dann spendierte Tove hochzufrieden für jede ein Glas Rotwein aus Montepulciano, das aufs Haus ging. Dass nach Mamma Carlottas Meinung für Alkohol erst die Sonne untergegangen sein musste, ließ er in diesem Fall nicht gelten.

»So was geht ja nur mit Alkohol.« Er wandte sich Fietje zu. »Wenn du ein Jever umsonst willst, musst du heute Abend mitkommen.«

Für ein kostenloses Jever tat Fietje eine Menge. Außerdem hätte er nicht gewusst, was er mit sich und seiner Zeit anfangen sollte, wenn Käptens Kajüte geschlossen war. »Alles klar. Aber … warum gehen Sie nicht einfach tagsüber ins Tierheim und holen sich das Lexikon zurück?«

Frau Kemmertöns sah Fietje Tiensch an, als zweifelte sie an seinem Verstand. »Dann würde mein Mann von meinem Lottogewinn erfahren. Im Tierheim arbeitet jemand, den er gut kennt.«

Die Tür öffnete sich, und eine Stimme rief: »Das habe ich mir doch gedacht!«

Mamma Carlotta fuhr herum, während Frau Kemmertöns es bei dem Versuch beließ, auf dem unbequemen Hocker eine andere Position einzunehmen. Sie würde schon rechtzeitig merken, warum die Schwiegermutter von Hauptkommissar Wolf plötzlich herumzappelte, dass man um die dünnen Beine des Hockers fürchten musste.

Toves Gesicht verzog sich sogar zu einem Grinsen, und auch Fietje schob sich erfreut die Bommelmütze in den Nacken. »Guck an! Mal wieder auf Sylt?«

Richard Gercke war während Mamma Carlottas letztem Besuch auf Sylt gerade bei seinem Sohn zu Gast gewesen, der kurz vorher auf die Insel gezogen war.

»Ricardo!«, rief Carlotta hocherfreut.

Er war ein gemütlich aussehender Mann um die sechzig, nicht besonders groß, mit einem kleinen Bauch, der zeigte, dass er gutes Essen genießen konnte, hellen Augen, aus denen viel Lebensfreude strahlte, und schneeweißen Haaren, durch die er jetzt mit beiden Händen fuhr, als sollten sie auf keinen Fall ordentlich und gepflegt aussehen. »Sohn und Schwiegertochter sind unterwegs, meine Enkel auch, da war mir langweilig. Ich dachte, ich gucke mal, ob in Käptens Kajüte was los ist.«

»Sie kommen genau richtig.« Mamma Carlotta warf Tove, Fietje und auch Frau Kemmertöns einen vielsagenden Blick zu, von dem jedoch keiner verstand, was sie damit sagen wollte. Mit verschwörerischem Blick beugte sie sich über die Theke und flüsterte: »Wir können gut einen Mann mehr gebrauchen.« Sie bemühte die Finger ihrer linken Hand und zählte ihre Argumente auf. »Signor Griess sorgt dafür, dass wir auf das Gelände kommen, Signor Tiensch steht mit ihm … come si dice? … Schmiere! Während Frau Kemmertöns und ich nach dem Geld suchen, können wir gut noch jemanden gebrauchen, der auch Schmiere steht. Dort, wo die Bücher für den … Mercato gesammelt werden.«

Richard Gercke ahnte Böses. »Sie wollen mich schon wieder zu einer krummen Tour verführen?«

»No, no!« Mamma Carlotta wehrte empört ab. Wortreich erklärte sie Ricardo, dass sie ganz im Gegenteil der Gerechtigkeit zum Sieg verhelfen wollten. »Die arme Signora Kemmertöns! Sie muss ihr Geld zurückbekommen. Das sehen Sie doch ein?«

Richard betrachtete Frau Kemmertöns lange und schien sich Gedanken zu machen, die nicht mit denen übereinstimmten, die ihm soeben präsentiert worden waren. Währenddessen bestellte er sich einen Espresso, löffelte viel Zucker hinein und sagte dann: »Also gut. Ehe ich mich langweile …«

Tove wurde mit einem Mal hektisch, er sah auf die Uhr. »Dann mal los.« Er nahm den Damen die Cappuccinotassen weg, drängte Fietje, sein Bier auszutrinken, und fragte sich, wie lange ein Mensch für so einen kleinen Espresso brauchte. »Ich mache heute früher dicht.«

»Perché?«, fragte Mamma Carlotta. »Warum?«

»Morgen wird Sperrgut abgeholt, dann mache ich immer früher dicht. Was da für Sachen am Straßenrand stehen! Vieles davon kann man noch gut gebrauchen. Und wenn ich am späten Abend mit Ihnen zum Tierheim fahren soll, muss ich jetzt schon meine Runden drehen.«

7

Das Gebäude, in dem seit vielen Jahren das Polizeirevier von Westerland untergebracht war, war schon 1906 errichtet worden, zunächst hatte es das Amtsgericht beherbergt. Mittlerweile stand es unter Denkmalschutz und musste, wenn Renovierungsarbeiten anstanden, entsprechend sorgfältig behandelt werden. Die waren schon lange fällig und vor einigen Monaten endlich in Angriff genommen worden. Seitdem war die Polizeiwache in Containern am Fuß des Telekomturms untergebracht, ein Zustand, der sich nicht so schnell ändern würde. Erik machte sich wenig Hoffnung. Wenn ein altes Gebäude, das noch dazu unter Denkmalschutz stand, renoviert wurde, offenbarten sich immer Mängel, von denen vorher niemand etwas geahnt hatte. Die Arbeiten würden sich länger hinziehen als geplant, davon war er überzeugt. Dass die Kriminalpolizei im Telekomgebäude untergebracht worden war, in der oberen Etage, hoch über den Dächern Westerlands, gefiel ihm gut. Hier herrschte Ruhe, während es in den Containern ein ständiges Rein und Raus gab. Darüber hinaus klagten die Kollegen über eiskalte Fußböden und schlechte Heizungen, die vor allem bei Wind und erst recht bei Sturm vergeblich gegen die leichte Bauweise ankämpften.

Enno Mierendorf hatte Geburtstag – und ärgerte sich sehr, dass er an diesem Samstag Dienst hatte. Um ihn zu besänftigen, hatten Sören und Erik beschlossen, ins Polizeirevier zu fahren, um ihm zu gratulieren, außerdem wollte Erik sich bei dieser Gelegenheit eingehender mit dem Fall der Tierquälerei befassen. Enno war gerührt und schnell versöhnt. Zum Glück war es ruhig gewesen, Enno hatte eine Runde Sekt ausgeben können, ohne dass sie gestört worden waren, und Erik und die anderen Kollegen hatten sogar, wenn auch so leise wie möglich, Happy Birthday gesungen.

Danach war Erik in sein Büro gegangen, um seine Pfeife zu holen, die er am Freitag in der Schreibtischschublade vergessen hatte, und um sich noch einmal die Unterlagen anzusehen, die der Kurdirektor ihm zur Verfügung gestellt hatte. Zufällig stand er gerade am Fenster, als unten ein Taxi vorfuhr. Er lehnte die Stirn an die Scheibe, um besser erkennen zu können, wer ausstieg. Richtig! Er hatte es sich ja gedacht. Dabei hätte Tilla den kurzen Weg vom Bahnhof bis zum Telekomgebäude nun wirklich zu Fuß zurücklegen können.

Kopfschüttelnd betrachtete er das Gepäck, das der Fahrer aus dem Kofferraum holte. Ein großer Koffer, ein kleiner Handkoffer, ein Beautycase, eine Aktentasche für ihren Laptop, ihre Handtasche … kein Wunder, dass sie nicht zu Fuß gekommen war. Verrückt, dass sie immer Gepäck für sämtliche Eventualitäten dabeihatte. Sonniges Wetter, windiges Wetter, Regen und Sturm oder Hitze und Mückenplage. Sie stellte, nachdem sie den Taxifahrer bezahlt hatte, den großen Koffer sicher auf seine vier Räder, setzte den kleinen Koffer obenauf, hängte sich die Aktentasche über die linke Schulter, die Handtasche über die rechte und schaffte es so, eine Hand für ihr Beautycase frei zu haben. Mit energischen Schritten ging sie auf den Eingang der Telekom zu.

Erik stand schon am Aufzug, als sie oben ankam, und nahm ihr die beiden Koffer ab. »Wird das ein Besuch oder ein Umzug?«, fragte er grinsend.

Sie hob sich auf die Zehenspitzen und küsste ihn. »Man weiß nie …«

Er betrachtete sie, während sie vor ihm herging, ihre runden Waden über den knallroten High Heels, den kurzen roten Rock, ihre schmale Taille, das weite schneeweiße Shirt, die aufgesteckten blonden Haare. Dass sich eine solche Frau in ihn, den langweiligen Hauptkommissar, verliebt hatte, konnte er noch immer nicht glauben.

Nachdem sie Sören begrüßt hatte, ließ sie sich auf Eriks Schreibtischecke nieder. »Ich hätte gleich zum Süder Wung durchfahren können. Aber Carlotta ist nicht zu Hause, ich habe angerufen.«

»Die Kinder auch nicht?«

»Es hat keiner abgenommen. Deswegen bin ich hierhergekommen.«

»Meine Schwiegermutter kauft natürlich fürs Essen ein, ist doch klar. Die ist bei Feinkost Meyer zu finden, garantiert.«

Tilla rutschte von der Schreibtischecke wieder herunter und machte es sich auf Eriks Schreibtischstuhl bequem. »Erzähl mir mehr von dieser widerlichen Tierquälergeschichte. Es wird ja einen Grund haben, dass ihr sogar am Sonnabend im Büro seid.«

8

Mamma Carlotta war aus der Puste. Eigentlich ließ sie sich ja gern Zeit mit dem Einkaufen und Kochen, vor allem, wenn ein Gast erwartet wurde, aber da Erik nichts davon erfahren durfte, dass sie mit Frau Kemmertöns in Käptens Kajüte gewesen war, hatte alles sehr schnell gehen müssen. Erik sollte natürlich nichts von dem Geheimnis der Nachbarin wissen und darüber hinaus keinesfalls davon Wind bekommen, dass seine Schwiegermutter ein häufiger Gast in der Imbissstube war. Seiner Meinung nach war Käptens Kajüte kein geeigneter Ort für sie. Tove Griess war kein guter Umgang, Fietje Tiensch auch nicht, und Erik schärfte seiner Schwiegermutter immer wieder ein, um Käptens Kajüte einen großen Bogen zu machen. Jedes Mal versprach Carlotta es hoch und heilig, während sie die rechte Hand hob und mit der linken hinter dem Rücken die Finger kreuzte. Damit kam sie gut zurecht. So hatte sie es auch schon bei ihrem Mann gehalten. Es gab Dinge, von denen die Männer besser nichts erfuhren.

Sie legte die Zutaten für die gebratenen Oliven zurecht, die es als Vorspeise geben sollte, stolperte über Kükeltje, als sie zum Backofen ging, um ihn anzustellen, stolperte erneut über sie, als sie zurückging, um die Auflaufform einzufetten, und sperrte die Katze aus der Küche, als sie ihr ein drittes Mal vor die Füße geriet. Wenn Mamma Carlotta in der Küche hantierte, war die Katze nicht von der Idee abzubringen, dass etwas für sie abfallen könnte. Jetzt stand sie vor der Küchentür und maunzte herzerweichend, während Mamma Carlotta die Sardellen in Stücke schnitt, damit alles für die Polenta bereit war, die sie als Primo servieren wollte. Pollo alla Marengo schmorte bereits auf dem Herd, es würde kurz vor dem Verzehr seinen letzten Pfiff erhalten. Auch der Weinschaum stand schon im Kühlschrank, die Beeren stammten aus der Tiefkühltruhe von Feinkost Meyer. Ende September gab es im Garten keine Beeren mehr. Sie brauchte sich also nicht zu schämen, wenn sie auf Tiefkühlkost auswich, was in diesem Fall sogar in Panidomino akzeptiert worden wäre.

»Finito!« Sie lehnte sich an die Arbeitsplatte und stöhnte. Alles war vorbereitet. Gleich konnte sie in aller Ruhe den Tisch decken und auf Erik, Tilla und Sören warten. Ob die Kinder beim Abendessen dabei sein würden, wusste sie nicht. Noch einmal stöhnte sie, diesmal verärgert und ungeduldig. Seit Carolin ihre Ausbildung zur Hotelkauffrau machte, hing es immer von ihrem Dienstplan ab, ob sie mit der Familie essen konnte oder nicht, und Felix kam nach Hause, wann er wollte. Allein sein Stundenplan schien jede Woche anders zu sein, seine Nonna machte sich nicht mehr die Mühe durchzublicken. Oft traf er sich direkt nach der Schule und auch am Wochenende mit seinen Freunden, um zusammen mit ihnen zu lernen, oder er ging mit ihnen zum Sport. Gelegentlich schien er sich auch mit einem Mädchen zu treffen, wovon er seiner Großmutter jedoch kein Sterbenswörtchen verraten wollte. Sehr ärgerlich.

Mamma Carlotta holte also vier Gedecke aus dem Schrank. Sollten die Kinder doch noch auftauchen, würde man eben zwei Teller dazwischenschieben. Kein Problem. Viel schwerer war die Frage zu beantworten, wie sie zu später Stunde aus dem Haus kam. Möglich, dass Erik und Tilla sich früh zurückzogen und gar nicht bemerkten, wenn sie noch mal wegging, aber gewiss war das nicht. Auch die Kinder blieben womöglich zu Hause und wollten von ihrer Nonna wissen, was sie zu so später Stunde noch vorhatte. Dann durfte sie nicht in Verlegenheit kommen, sie musste sich vorher etwas einfallen lassen. Frau Kemmertöns hatte ihr das Versprechen abgenommen, unter allen Umständen zu schweigen. Es gab nur eine Möglichkeit, die außerdem den Vorteil hatte, dass sie in etwa der Wahrheit entsprach. Sie musste sagen, dass sie mit Frau Kemmertöns ausgehen wollte. Aber würde man ihr glauben? Zwar war sie schon gelegentlich mit der Nachbarin am Nachmittag oder am frühen Abend zum Eisessen ins Iismeer gegangen, aber dass sie erst zu einer Stunde aufbrachen, in der man sowohl im Hause Wolf als auch bei den Kemmertöns zu Bett zu gehen pflegte, war noch nie vorgekommen. Wie sollte sie das erklären?

Als die Staatsanwältin sie zur Begrüßung umarmte, als Sören wieder mal behauptete, es sei einfach wunderbar, dass er jede Mahlzeit im Haus seines Chefs einnehmen dürfe, wenn die Schwiegermutter zu Besuch war, und Erik lächelte, als freue er sich aufs Abendessen, vergaß sie für kurze Zeit, was sie bedrückte. Frau Kemmertöns hatte es da viel leichter. Sie wusste, dass ihr Jupp sich zur Tagesschau vor den Fernseher setzte und dort irgendwann einschlief. Das war Abend für Abend das Gleiche. Erst wenn seine Frau ihn weckte, taumelte er schlaftrunken die Treppe hinauf und schlief in seinem Bett weiter. Sie würde ihren Mann also nach ihrer Rückkehr einfach am Arm rütteln, ihm sagen, dass es nun aber wirklich Zeit fürs Bett würde, und konnte sicher sein, dass er nichts von ihrer Abwesenheit mitbekommen hatte. Und wenn doch? Diese Frage hatte Mamma Carlotta mehrmals gestellt. Aber auch da hatte Frau Kemmertöns mal wieder ihr stoisches Temperament bewiesen. »Dann bin ich gespannt, ob er sich wenigstens Sorgen gemacht hat.«

Während der Hauptspeise brachte sie die Rede auf die Nachbarin, die mit einem Mann verheiratet war, der ihr niemals den Gefallen tat, mal auszugehen, eine Veranstaltung zu besuchen oder in einem guten Restaurant zu essen. »Er will immer nur auf dem Sofa vor dem Fernseher hocken.«

Die Reaktion war so, wie sie erhofft hatte. Alle waren empört über einen solchen Ehemann, die Staatsanwältin ganz besonders. Sie wich jedoch argumentativ von Frau Kemmertöns’ Seite, als sie hörte, dass diese es nicht wagte, sich selbstständig zu machen, einfach auf die Begleitung ihres Mannes zu verzichten und allein etwas zu unternehmen. »Man muss sich doch als Frau emanzipieren!«

Mamma Carlotta kam sich sehr clever vor, als sie die Idee präsentierte, die angeblich Frau Kemmertöns gehabt hatte. »Sie will mit einer anderen Frau ausgehen. Und da hat sie mich gefragt.«

Erik warf einen Blick zur Uhr. »Heute noch?«

Mamma Carlotta war froh, dass sie aufstehen und die Teller abräumen konnte. Es war ja viel schwerer, jemandem ins Gesicht zu lügen, als ihm dabei den Rücken zuzudrehen. »Ich habe ihr gesagt, dass unser Abendessen natürlich vorgeht. Dass ich erst danach mit ihr losgehen kann.«

»Das wäre doch nicht nötig gewesen«, rief Tilla Speck. »Wir hätten uns allein versorgen können.«

Aber Carlotta wehrte ab. »Das kommt ja gar nicht infrage. Nur, weil Frau Kemmertöns ohne ihren Mann ausgehen will?« Sie holte die Nachspeise aus dem Kühlschrank und verteilte die Dessertteller. Warum war ihr nicht schon vorher diese wunderbare Ausrede eingefallen? Merkwürdig, dass ihr häufig spontan bessere Ideen kamen, als wenn sie die Zeit hatte, lange darüber nachzudenken und jedes Für und Wider abzuwägen. »In Italia ist es ja nichts Besonderes, erst nach zehn loszugehen. Aber auf Sylt … jedenfalls habe ich zu Signora Kemmertöns gesagt, dass ich erst spät kann.«

Erik runzelte die Stirn. »Das gefällt mir aber gar nicht. Wo wollt ihr denn überhaupt hingehen?«

Tilla legte eine Hand auf seinen Unterarm. »Deine Schwiegermutter ist kein kleines Kind mehr, Erik.«

»Ich will ihr ja keine Vorschriften machen«, antwortete er hastig. »Aber ich mache mir Sorgen.« Er wandte sich wieder Mamma Carlotta zu. »Dann wirst du ja erst sehr spät heimkommen.«

»Kann schon sein«, entgegnete Mamma Carlotta lapidar, tat jedem etwas von dem Weinschaum auf und redete lange davon, dass diese Nachspeise im Sommer eigentlich viel deliziöser sei, weil sie dann die Beeren im eigenen Garten geerntet hätte.

Ehe Erik einen weiteren Einwand vorbringen konnte, sorgte Tilla dafür, dass er schwieg. Lächelnd fragte sie: »Ist Richard Gercke zurzeit auch auf Sylt?«

Ehe Mamma Carlotta sich wundern konnte, hatte sie die Frage schon beantwortet. »Ja.« Und als sie begriff, warum Tilla sie gestellt hatte, spürte sie, dass ihr Gesicht rot anlief und ihre Wangen heiß wurden. In solchen Situationen war es immer am besten und einfachsten, die Toilette aufzusuchen. »Scusa!«

In der Diele, mit der Hand auf der Klinke des Gäste-WCs, blieb sie stehen und lauschte. »Du musst endlich einsehen, Erik, dass deine Schwiegermutter ein Recht auf Liebe hat. Sie ist doch noch nicht alt. Warum soll sie sich nicht noch einmal verlieben? Schlimm genug, dass sie sich nicht traut, dir die Wahrheit zu sagen.«

»Du meinst …« Erik schien es nicht aussprechen zu wollen.

»Natürlich! Sie will sich nicht mit Frau Kemmertöns, sondern mit Richard Gercke treffen. Ist doch klar! Garantiert ist es kein Zufall, dass er zur selben Zeit auf Sylt ist wie sie. Das letzte Mal hat sich was angebahnt, das habe ich doch gleich gemerkt.«

Mamma Carlotta betrat das Gäste-WC und atmete tief ein und aus. Sollte sie die Sache richtigstellen? Sie ließ die Spülung rauschen und wusch sich lange und ausgiebig die Hände. Es war vermutlich klüger, sich dazu nicht zu äußern. Später, wenn Frau Kemmertöns ihr Geld zurückhatte, bekam sie vielleicht Gelegenheit, alles geradezurücken. Jetzt war sie erst einmal dankbar, dass sie aus dem Haus gehen konnte, ohne weitere Erklärungen abgeben zu müssen.

9

Als sie wieder in die Küche trat, sahen die drei so nachdrücklich über sie hinweg und ignorierten sie derart betont, als sie sich an die Kaffeemaschine stellte und mit dem Espressokochen begann, dass nur einem besonders unsensiblen Menschen entgangen wäre, dass er vor Kurzem noch Mittelpunkt des Gesprächs gewesen war. Erik merkte gleich, dass er seiner Schwiegermutter nichts vormachen konnte. Sie wusste, dass über sie gesprochen worden war.

»Einige Bauern reden schon davon, Schafhirten einzustellen«, sagte er hastig.

Tilla Speck schüttelte den Kopf. »Was sind das für Menschen, die Befriedigung finden, wenn sie Tiere quälen? Wehrlose Kreaturen!«

Mamma Carlotta riss die Augen auf. »Tierquälerei? Dio mio! So was gibt es auf Sylt? Das ist ja … terribile.«

Natürlich wollte sie mehr wissen, jede schaurige Einzelheit sollte Erik ihr erzählen, aber wie erwartet, war er dazu nicht bereit. »Ein Schafripper! Und wehe, du redest darüber!«

Nun mischte sich Sören ein, der trotz des Wochenendes am Tisch seines Chefs Platz genommen hatte. Sein kurzer Versuch, die Familie Wolf allein essen zu lassen, war rundweg abgelehnt worden. »Ich habe im Internet recherchiert. Tierquälerei ist das Symptom einer Störung des Sozialverhaltens. Häufig werden ehemalige Opfer zu Tätern. Also Menschen, die selbst mal Prügelknaben waren, verschieben jetzt ein Tier in diese Rolle. Scheinbar wird dadurch, zumindest für kurze Zeit, ihre Aggression abgebaut.«

»Ich hoffe, wir lösen den Fall bald«, sagte Erik.

»Da wir zurzeit kein Kapitalverbrechen auf Sylt haben«, meinte Sören, »sollten wir jeden bereitstellen, den wir erübrigen können.«

»Habe ich schon«, antwortete Erik. »Alle Streifen achten besonders darauf.«

Die Tür öffnete sich, Carolin kam in die Küche. »Moin.« Sie zog ihre Jacke aus, warf sie auf die Arbeitsfläche, obwohl ihre Nonna das nicht leiden konnte, nahm sich einen Teller aus dem Schrank und quetschte sich zwischen ihren Vater und die Staatsanwältin. »Puh! Mir ist dreimal Geld angeboten worden, wenn ich bereit bin, ein Foto von Jenna Brown und Pierre Thom zu machen. Am besten im Bett.«

»Das wirst du doch nicht tun, Carolina!«, rief Mamma Carlotta empört.

Carolin tippte sich an die Stirn. »Bin ich blöd?«

Sie trug noch immer die Hoteluniform, die sie sonst, bevor sie heimkam, ablegte. Die hatte nach ihrem Einstellungsgespräch für eine längere Phase des Nachdenkens gesorgt. Sie sollte demnächst den ganzen Tag in einem knielangen Rock rumlaufen? Mit einer Hemdbluse, wie sie ihre Nonna gern trug? Mit einem Tüchlein um den Hals, das vor fünfzig Jahren mal modern war? Niemals! Aber als eine Mitschülerin ihr erzählte, dass sie Flugbegleiterin werden wolle und sich in den dunkelblauen Kostümen ihrer Airline auch alles andere als wohlfühle, fiel ihr die Entscheidung leichter. Sie war nicht die Einzige, die ihren Beruf in unkleidsamer Tracht versah.

Erik kam nicht dazu, sie zu fragen, warum sie an diesem Abend in ihrer Uniform nach Hause gekommen war, denn Carolin hatte viel zu erzählen und ließ ihn nicht zu Wort kommen. Sehr ungewöhnlich für sie. Ausgiebig berichtete sie, was sich zurzeit im Hotelfoyer abspielte. »Wir sind auf solche Promis gar nicht eingestellt. Die richtig berühmten Leute steigen normalerweise im Hotel Stadt Hamburg ab. Oder im Arosa in List.«

Sören hatte eine Erklärung. »Pieter stammt aus Wenningstedt. Vielleicht will er in der Nähe seiner Familie wohnen.«

»Schon möglich.« Carolin zuckte mit den Schultern. »Für uns ist es klasse. Mein Chef ist außer sich vor Begeisterung, trotz der vielen Probleme. Wo über Jenna Brown berichtet wird, sind auch Bilder vom Horizont zu sehen.« Sie blickte auf die Uhr. »Ich gehe gleich noch mal ins Hotel. Wir müssen alle an Bord sein, wenn das Konzert zu Ende ist.«

»Deswegen hast du dich nicht umgezogen?«

Carolin nickte. »Kann natürlich sein, dass Jenna Brown und Pierre Thom woanders den Erfolg feiern, aber wir wollen auf alles eingestellt sein. Die Bar wird abgesperrt, damit die beiden ihren Schlummertrunk ungestört einnehmen können.« Sie schob ihren Stuhl zurück und stand auf. »Ich muss noch was mit meinen Haaren machen, bevor ich wieder ins Hotel gehe.«

Die Staatsanwältin bestand darauf, den Tisch abzuräumen, damit Mamma Carlotta früh genug aus dem Haus kam. Sören beteiligte sich daran, während Erik eine gute Flasche Rotwein aus dem Keller holte und Carolin sich ins Bad verdrückte.

Bevor er die Treppe hinabstieg, sah er, dass Tilla seiner Schwiegermutter den Arm tätschelte. »Mach dich noch ein bisschen hübsch, Carlotta. So viel Zeit muss sein.«

Er bemerkte, dass sie zögerte. Hatte sie sich je für irgendein Ereignis hübsch gemacht? Klar, für eine Beerdigung holte sie ihr schwarzes Kostüm heraus und für eine Hochzeit ihr bestes Kleid, das schon viele Hochzeiten gesehen hatte. Aber dass sie sich für diesen Abend eine neue Bluse gekauft hatte und nach Lippenstift und Eau de Toilette suchte, konnte er sich einfach nicht vorstellen. Warum eigentlich nicht? Tilla hatte schon recht: weil seine Schwiegermutter für ihn eine Mutter und Großmutter war, eine Frau, die sich für andere aufopferte, eine Frau, die nie an sich selbst dachte, keine Frau, die von einem Mann begehrt wurde. Letzteres konnte er sich überhaupt nicht vorstellen und wollte es vor allem nicht.

Er nahm sich viel mehr Zeit mit dem Aussuchen des Weins, als nötig war, weil er hoffte, dass Mamma Carlotta aus dem Haus sein würde, wenn er wieder hochkam. Er wollte nicht sehen, dass sie die Lippen geschminkt oder ihre Wimpern getuscht hatte. Nein, auf keinen Fall!

Gerne hätte er sich länger die Zeit genommen, zwischen dem Merlot und einem Dornfelder zu wählen, aber in diesem Augenblick ertönte der Radetzkymarsch. Erik hatte eine Weile gebraucht, bis er sich an die neue Klingel gewöhnt hatte, die Felix unbedingt haben wollte. Eine Melodieklingel, die unzählige Musikstücke auf Lager hatte. Er lauschte ins Haus, hoffte, dass Carolin die Treppe herunterkommen würde, weil sie von einer Freundin abgeholt wurde, aber stattdessen hörte er Tillas Stimme: »Soll ich öffnen?«

»Komme schon!« Mit zwei Flaschen in der Hand stieg er die Treppe hoch, drückte sie Sören in die Hand und sagte: »Sie bestimmen, welchen wir trinken.«

Dann öffnete er die Tür, zusammen mit Kükeltje, die kurz nach ihrem Einzug ins Hause Wolf die Aufgabe der Empfangsdame übernommen hatte. Am Fuß der Treppe stand ein junger Mann von Anfang zwanzig, mit einer Tasche über der Schulter, die aussah, als steckte eine Kamera darin. »Ich möchte Carolin abholen.«

Erik wollte gerade nach seinem Namen fragen, da hörte er hinter sich Schritte auf der Treppe. Carolin kam herunter, sie kam geradezu heruntergeflogen. »Bin schon da.«

Sie riss eine Jacke vom Garderobenhaken, verpasste ihrem Vater einen verrutschten Kuss und zog die Tür hinter sich zu.

Als Erik in die Küche zurückkam, sah er Tilla am Fenster stehen. Mit einem langen Hals blickte sie Carolin nach. »Der sieht aus wie ein Journalist. Ich kenne diese Typen.«

Erik runzelte die Stirn. »Vermutlich ein Kollege. Scheinbar müssen heute Abend alle im Hotel sein.«

Sören goss den Rotwein ein. »Irgendwie … vermisse ich die Signora. Wenn sie nicht da ist, fehlt etwas.«

10

Carlotta war die Letzte, die in Käptens Kajüte erschien. Verblüfft blieb sie in der Tür stehen. »Was ist denn das?«

Damit meinte sie nicht Edith Piaf, die ein französisches Chanson zum Besten gab, während Tove eigentlich nur Gesang akzeptierte, den er verstand und heimlich mitsingen konnte, wenn niemand ihn hörte.

Die alten, wackeligen Stühle waren verschwunden, an ihrer Stelle gab es nun stabile Holzstühle von bester Qualität, mit geschwungenen Beinen, gut gepolstert und mit grün gemustertem Stoff überzogen. Schöne Stühle! Aber in Käptens Kajüte passten sie so gut wie Sofas mit weißen Seidenkissen in eine Bahnhofshalle.

»So was werfen andere weg!« Tove klopfte sich die Brust wie ein Indianer, dessen Pfeil genau in das Herz eines Büffels getroffen hatte. »Ich brauchte zwei Wagenladungen, bis ich sie alle hergebracht hatte.«

Carlotta sah sie sich genauer an. »Die standen auf der Straße? Als Sperrgut?«

»Sage ich doch. Aber nicht lange. Die habe ich mir sofort geschnappt. Toll sehen die aus, oder?«

Mamma Carlotta nickte höflich und bemerkte, dass sich sowohl Frau Kemmertöns als auch Richard Gercke mit der Beurteilung des neuen Mobiliars zurückhielten. Fietje hatte sowieso keine Meinung.

»Denn man tau«, rief Tove, dem seine neue, qualitativ hochwertige Einrichtung einen Motivationsschub verpasst hatte. »Wir fahren los.«

Frau Kemmertöns durfte auf dem Beifahrersitz Platz nehmen, Richard Gercke, Fietje Tiensch und Mamma Carlotta machten sich auf den hinteren Plätzen so schlank wie möglich. Der Lieferwagen musste mehrmals gebeten werden, dann endlich sprang er an und zuckelte los. Tove schimpfte, dass er anscheinend nur übergewichtige Passagiere an Bord habe, für die sein altes Gefährt zu gebrechlich sei. Dabei wusste Mamma Carlotta genau, dass der Lieferwagen immer eine Weile brauchte, bis er gleichmäßig fuhr und der Motor sich nicht mehr am Benzin verschluckte.