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Trotz einer unaufhaltsam fortschreitenden neurologischen Krankheit mit zunehmender Behinderung nimmt die Autorin den Kampf auf, schreibt ohne Wehleidigkeit von ihrem Schmerz, ihren Hoffnungen und Sehnsüchten. Man muss den Lebensmut, zu dem sie immer wieder zurückfindet und der in diesen Geschichten und Gedichten aufscheint, ebenso bewundern wie die sprachliche Sicherheit der Darstellung. Die Gedichte funkeln in Julia Neys Gesamtwerk mit besonderen Glanz. Sie sind filigran und transparent, manche Verse geradezu hellsichtig. Ihre Geschichten sind frisch und lebendig und werden nicht ohne Humor erzählt. Einige haben gleichnishaften Charakter, und manchmal lässt die Autorin sie in einer Märchenwelt spielen.
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Seitenzahl: 64
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Persönliche Vorbemerkung von Prof. Thomas Henke
Pseudonym
Aufwärts nach Volterra
Taktfest
Manchmal am Ende
Algorithmus
Festung
Morgen eine Ewigkeit
Ohne dich
Farben
Schätzchen
Naturgewalt
Schmarotze
Verlust der Wirklichkeit
Einfach nur so
Entschlossenheit
Karlsson vom Dach
Gleichmut
Seifenblasen
Labradoodle
Du
Zerrissenheit
Das tausendste Gesicht
Krankenhauszimmer
Tag X
Gedankenverloren
Verlust der Wirklichkeit
Hochmut kommt vor dem Fall
Luftschloss
Sandkastenliebe
Neujahr in Langendamm, Besuch an der Ostsee
Morgen eine Ewigkeit
Notaufnahme
Eine Ahnung im Winter
Einfach nur so
Tinitus oder Das lächelnde Insekt
Gänseblümchen
Das Wörtchen wenn
Über die Autorin
Julia Ney, die sich selbst den Künstlernamen Jule Blofeld gab, hat zwischen 1987 und 2016 zahlreiche Gedichte, Kurzgeschichten, Essays und Romane geschrieben. Veröffentlicht wurden 2007 ihre wissenschaftliche Abhandlung Die keine Rolle spielen - Menschen mit Behinderungen im Film sowie 2015 der Roman Morgen eine Ewigkeit. Zu ihrem Roman hatte ich damals diese Zeilen geschrieben:
»Ein unfassbar mutiges und wichtiges Buch. Eine Erzählerin, der es gelingt, die Bilder für ein Leben mit und ohne Behinderung aus den tiefsten Dimensionen der Wirklichkeit zu schöpfen. Ein Buch über die Liebe, das Sterben, den Schmerz, die Sehnsucht und den Abschied. Bei Jule Blofeld werden die Wörter zu Zeugen eines unsagbaren Lebensmutes.«
Fast zehn Jahre später sind mir Julias Mut, ihre Suche nach Wahrhaftigkeit und ihre unfassbare Tapferkeit noch präsenter, ihre Texte wirken noch eindringlicher. Wenn ich mich daran erinnere, dass sie im späten Stadium ihrer Erkrankung ihre hochkomplexen, virtuosen Texte ganz und gar »im Kopf geschrieben« hat (ohne die Hilfe des Mediums in einem Prozess von Schreiben, Streichen, Neu-Schreiben), um sie dann mühevoll ihren Assistentinnen zu diktieren, frage ich mich jedes Mal, wie das überhaupt möglich war? Wahrscheinlich, so meine Vermutung, kann das nur ein Mensch, dessen eigentliche Zuflucht das Schreiben geworden ist, dessen Worte, Sätze und Gedanken unmittelbar bei ihm wohnen, ein so besonderer Mensch wie Julia.
Ich freue mich sehr, dass nun auch ihre bisher unveröffentlichten Gedichte und Kurzgeschichten ihren Weg in die Öffentlichkeit finden.
Ihre Gedichte, so ist meine persönliche Empfindung, funkeln in Julia Neys strahlendem Gesamtwerk mit einem ganz besonderen Glanz, so filigran, transparent und zerbrechlich wie ein Bienenflügel, manche Zeilen geradezu hellsichtig in sprachlicher Vollkommenheit.
Manchmal, mitten im Alltag, nicht zuletzt in schwereren Stunden, denke ich plötzlich an Julia, richte ein paar Worte an sie - nur in meinem Kopf - und denke, was für ein Glück ich doch habe, dass ich Julia kennenlerne durfte - und was für ein Glück diejenigen haben, die Julias Texte jetzt lesen werden.
Thomas Henke im Juli 2024
Sich hinter einem falschen Namen klein machen. Eine neue, körpertrunkene Identität aufbauen. Mit einer erfundenen Vergangenheit. Welche Freiheit, welcher ungeahnte Schatz – zum Todlachen. Und ganz viele verrückte Sachen machen.
Mein Pseudonym ist mal ganz leise und anonym, mal aber auch ein ungestümes Ungetüm.
Es filtert und es selektiert, so spaltet es Gedanken ab, die mein namenloses Ich konsumiert.
Mein Pseudonym ist quasi ein getarntes Verdauungsenzym und sollte in Apotheken verkauft werden.
Ich liebe mein Pseudonym. Es ist mir eine Maske, ein Kostüm.
Nicht nur zu Carnival bin ich verborgen, ich brauch mich auch nicht mehr um meinen Ruf zu sorgen.
Scheißegal. Deshalb denke ich mir jetzt ein Pseudonym aus, unter dem ich jeden Blödsinn veröffentlichen werde.
Es ist ja mein Pseudonym.
13.12.1999
Gerade geht die Sonne unter. Sie ist in ein Wolkenloch gefallen. Ihre Strahlen aber wird niemand schlucken, sie scheinen hell und majestätisch aus ihrem Gefängnis. Im Kontrast zu den ungewöhnlich weißen Wolken wirken sie wie gelbe Schwerter, die den plastisch scheinenden Himmel durchschneiden. Der ganze Horizont verbreitet eine mystische und übernatürliche Atmosphäre, so als ob gleich muskulöse Götter den Wolkenvorhang beiseite reißen, sich Schwerter ergreifen und gegeneinander kämpfen!
Der Bus windet sich die kurvige Straße hinauf. Wenn das Schauspiel meine Fensterseite passiert, um dann nach der nächsten Kurve auf der anderen Seite vorbeizuziehen, habe ich das Gefühl, die Sonne verfolgt mich, will mir ihre Kraft, ihre Unbesiegbarket demonstrieren.
Ich verspüre ein ungeahntes Verlangen, mich in das Loch zu kugeln
versinken – erglühen – überglüht werden – verglühen.
Unter den steinernen Augen von Tina, Uni und Menrua tauche ich wieder auf, um gleich darauf in der Vorstellung wegzusinken, von einer heroischen Schlacht heimzureiten, um an einem etruskischen Bankett um die Ecke teilzunehmen – stattdessen zwängt sich unser 4-Sterne-Luxus-Reisebus mit lahmen, müden Historikern und durchgeknallten, grölenden Künstlern durch das steinerne Zeugnis eines versunkenen Volkes.
20.06.1996
eine Melodik der Lebenslust
ersinnen.
dem Rhythmus der Höhen und Tiefen
nachspüren
und sich im Gleichklang
bewegen.
die Einförmigkeit des Alltags
mit wippender Heiterkeit
und unbeugsamem Frohsinn
jauchzend durchbrechen,
deiner verletzenden Nähe
lachend entkommen.
sodann werden
dumpfe Angst und kalter Pessimismus
übertönt von
wogendem Wohlklang
ausgeglichenen Taktes.
tanzend
tosend
tröstlich vergessend
wiegendes und warmes Fallenlassen
in eine taktfeste
Melodie des Behagens.
März 2005
Zersplittert in Ignoranz und Stolz
zu Mut gezwungen
ja nichts zugeben.
Unausdrückliche Angst
überwältigt mich
manchmal.
meinen Mut
meinen Stolz.
Mut, der mir verbietet, zu denken, ich bin am Ende.
Stolz, der mir verbietet, zu sagen, ich bin am Ende.
Gehetzt zwischen Langeweile und Lebenslust
fiebre ich der Zeit entgegen
neugierig und arrogant.
Nichts wahrnehmen, was dich ernährt.
Das Wechselspiel stumm ertragend.
So tun,
als ob
ich
mitspiele.
13.12.1995
Ein Algorithmus ist eine eindeutige Handlungsvorschrift zur Lösung eines Problems oder einer Klasse von Problemen. Algorithmen bestehen aus endlich vielen, wohldefinierten Einzelschritten. Somit können sie zur Ausführung in einem Computerprogramm implementiert, aber auch in menschlicher Sprache formuliert werden. Bei der Problemlösung wird eine bestimmte Eingabe in eine bestimmte Ausgabe überführt (Wikipedia).
Die Klasse meiner Probleme ist vordefiniert und somit unauflöslich bestimmt. Ich bin gespannt, wie sich die Ausgabe herauskristallisiert. Mein algorithmisches Ich ist abhängig von der Klasse seiner Probleme und somit ein undefinierter Raum in der Ein- und Ausgabe. Die Eingabe wird überlagert von
Ende
Voll Hohn
schaue ich zu,
wie ihr vor meinen Mauern steht
versucht,
eine Lücke zu finden
mich zu treffen
vergeblich.
Voll Genugtuung
schaue ich zu,
wie ihr Halt sucht
mich zu erklimmen
vergeblich.
Voll Zorn
schaue ich auf euch hinab
ihr seid so unterlegen
so klein und
manchmal
so verletzend,
wenn ihr trefft.
Aber jetzt
zielt ihr vergeblich
auf meine Festung.
Tropfen fallen und
zerstören
die Sandburg.
15.06.1996
Die Ewigkeit ist ein Bruchteil unendlicher Augenblicke.
Augenblicke voller Glück und Liebe geben sich ein Wechselspiel
mit Augenblicken voller Leid und Schmerz.
Keine Träne bleibt ewig warm.
Tränen des Triumphes, der Freude und auch der Entbehrung
rinnen durch die Ewigkeit
und bilden zusammen
den Strom der Empfindungen.
Rinnsale
schmücken so die Ewigkeit.
Morgen.
September 2008
Unendliche Leere
unterbrochen von Wut
und Angst
und Trauer
und Zorn.
Was musste ich tun,
dass du mich so behandelst
respektlos
achtlos
lieblos.
Bin ich für dein Leben
verantwortlich,
muss ich dich
ernähren und gleichzeitig
ertragen?
Wo bin ich?
Wo hast du mich hingebracht?
Diesen Weg wollte ich nie gehen,
aber ohne dich komme ich
weder vor
noch zurück.
Zerrissen
zwischen zärtlichem Zorn
und
wütender Liebe
möchte ich
gehen und alles
hinter mir lassen.
Eintauchen in
Stille, Wärme, Leichtigkeit, Schwärze.
Da will ich hin.
Ohne dich.
27.10.1998
Manchmal banne ich
schimmernde Lebensfreude auf Leinwand.
Dann vibrieren Farben wie Stimmungen
und gleichen einem gedachten blühenden
Meer. Zerfließende gelbe, rote und grüne
Farbkleckse fügen sich zu meinem Horizont
zusammen,
der sich in der Wirklichkeit verläuft.
Manchmal ziehen sich durch
diese bunten Horizonte
vereinzelte schwarze
Spuren, diese bilden
jedoch ein gemeinsames
Gefüge,
denn ohne sie würden meine
Farben nicht so intensiv
leuchten.
April 2010