Schwebezustand - Andreas Jungwirth - E-Book

Schwebezustand E-Book

Andreas Jungwirth

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Beschreibung

Ein Mädchen zwischen zwei Jungs

Seit ihre beste Freundin einen Freund hat, fühlt Sophie sich immer öfter wie das fünfte Rad am Wagen. Das wird anders, als sie Moritz trifft. Der ist schon 19, fährt ein schnelles Auto, ist cool. Mit ihm kommt Sophie sich völlig losgelöst vor, weit weg von allem – dem Zoff mit ihrer Freundin, der Trennung ihrer Eltern. Doch als es darauf ankommt, ist nicht Moritz, sondern Paul für sie da. Und Paul kennt sich aus damit, wenn alles in der Schwebe ist ...

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Seitenzahl: 297

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DER AUTOR

© Alexi Pelekanos

Andreas Jungwirth hat am Konservatorium der Stadt Wien Schauspiel studiert und trat dann sechs Jahre lang zusammen mit dem Komponisten Wolfgang Heisig als das Duo »Zwirn« mit Dada und Neuer Musik auf. In dieser Zeit entstanden erste eigene Texte und Hörspiele. Für das Schauspielhaus Wien entwickelte und leitete er »Szene machen!«, einen Schreibworkshop für Jugendliche. Heute lebt und arbeitet er als Hörspiel- und Theaterautor in Wien. »Schwebezustand« ist sein zweiter Jugendroman.

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ANDREAS JUNGWIRTH

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sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der

Erstveröffentlichung verweisen.

1. Auflage

Erstmals als cbt Taschenbuch Oktober 2017

© 2017 cbt Verlag

in der Verlagsgruppe Random House GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Alle Rechte vorbehalten

Umschlaggestaltung: Suse Kopp

Umschlagmotiv: © Gettyimages/Kevin Fitzgerald

tp · Herstellung: eS

Satz: KompetenzCenter, Mönchengladbach

ISBN: 978-3-641-16743-1V001

www.cbt-buecher.de

Für Florian

Erster Teil

1

»Gloria ist Gloria!«

»Und weiter?«

»Wie weiter?«, fragt Vanessa, als gäbe es über einen Menschen nicht mehr zu sagen als seinen Namen.

»Und woher kennst du diese Gloria?«, bohrt Sophie nach.

»Ihre Eltern haben eine riesige Villa am Stadtrand, mitten in einem riesigen Garten mit uralten Bäumen, und zwischen den Bäumen ist ein Swimmingpool, und sie haben Angestellte, und einer ist Tag und Nacht nur dafür zuständig, die Blätter, die ins Wasser fallen, aus dem Pool zu fischen …« Vanessa gibt sich Mühe, so zu klingen, als würde sie das nicht rasend beeindrucken.

»Und wieso weißt du das alles so genau?«

»Ich war schon dort.«

Sophie schluckt. Sie kann nur mit einem dort gewesen sein, das weiß Sophie auch, ohne Vanessa danach zu fragen.

»Und jetzt zieh dir endlich was anderes an«, drängelt Vanessa.

Fix sind die neuen schwarzen Skinny Jeans. Sophies Vater hat sie bei seinem vorletzten Wochenendbesuch finanziert. Nachdem Sophie sich hineingezwängt hat, zupft sie ein T-Shirt nach dem anderen aus dem Schrank. Das rote, das blaue, das grüne? Sie entscheidet sich für das mit dem Strass-Totenkopf, das auch Vanessa trägt, und streift es über.

»Muss das sein?« Vanessa lungert auf Sophies Bett, verdreht die Augen, hörbar genervt.

Widerspruchslos zieht Sophie das Totenkopf-Shirt aus und wühlt in dem Haufen zu ihren Füßen nach irgendwas anderem. Aber plötzlich schnürt sich ihre Kehle zu. Langsam steht Sophie auf und denkt: Ich will jetzt nicht heulen, ich will nicht, ich will nicht, das ist einfach idiotisch!

»He«, sagt Vanessa nach einer Weile, die Sophie endlos vorkommt. Dann umarmt Vanessa sie von hinten. »Ich hab dich lieb, Sophie, das weißt du doch«, flüstert sie ihr ins Ohr. »Das war schon immer so und wird immer so bleiben. Aber es ist kindisch, wie Zwillinge herumzulaufen. Findest du nicht auch?«

Sophie nickt zögernd, lacht ein wenig gekünstelt und zieht das weiße Shirt mit dem goldenen Princess-Aufdruck heraus. Vanessa und Susa besitzen das gleiche. Die dreiPrinzessinnen sind den ganzen letzten Sommer damit herumgelaufen.

Mit gespitzten Lippen mustert Vanessa Sophies neues Outfit.

»Und das?« Sophie ist sich plötzlich nicht mehr sicher, ob Princess auf Glorias Party nicht irgendwie komisch rüberkommen würde, eingebildet oder lächerlich oder tussig oder einfach falsch.

Statt sich dazu zu äußern, erklärt Vanessa: »Wir müssen los!«

Um es rechtzeitig ins Aquarium zu schaffen, sollten sie sich demnächst auf den Weg machen. Von dort werden sie dann alle zusammen weiterziehen.

»Können wir?«, will Vanessa wissen und schlüpft in den Flur hinaus.

»Augenblick! Ich muss meiner Mutter noch Bescheid geben!«

»Nicht wirklich, oder?« Vanessa zappelt in ihrer roten Lederjacke bereits ungeduldig in der offenen Wohnungstüre.

»Geht aber schnell.«

Sophie findet ihre Mutter im Wohnzimmer in dem flauschigen rosa Bademantel. Ihre schwarzen Locken hat sie unter einem Handtuchturban versteckt. Der Fernseher läuft, irgendeine dämliche Sitcom mit eingeblendeten Lachern, nach der Sophies Mutter süchtig ist, besonders nach der Arbeit, um von dem Stress runterzukommen, den sie als KrankenschwesterdenganzenTagübermitnervigenPatienten hat.

»Wir gehen zu Susa und übernachten dort«, erklärt Sophie, auch wenn sie erst nach Glorias Party dort landen werden.

»Was macht ihr?«, will Sophies Mutter wissen.

»Filme schauen«, ist das Erstbeste, was Sophie mit Blick auf den Fernseher in den Sinn kommt.

»Wenn ihr wollt, könnt ihr auch hier.«

»Wollen wir aber nicht.«

»Kommst du endlich!«, hört Sophie Vanessa im Flur quengeln.

»War’s das?«, hakt Sophie überflüssigerweise nach.

»Wann kommst du morgen heim?«

»Sobald ich ausgeschlafen habe.«

Sophies Mutter gibt sich noch nicht zufrieden. Es sieht aus, als suche sie angestrengt nach irgendetwas, was sie noch sagen kann.

»Was denn?«, fragt Sophie ungeduldig.

Eine Weile betrachtet Sophies Mutter ihre Fingernägel. »Nichts. Schon gut.«

»Kann ich jetzt gehen?«

Ihre Mutter nickt und seufzt leise, dann dreht sie ihren Kopf wieder zur Glotze.

»Du hast es so gut, du bist kein Einzelkind«, meint Sophie, als sie im Flur auf den Lift warten, »du musst nie solche lähmenden Diskussionen führen.«

»Kann schon sein«, sagt Vanessa nachdenklich, aber ihrem Blick nach zu schließen hat sie überhaupt nicht zugehört. Das ist so typisch, in letzter Zeit sind Vanessas Gedanken immer ganz wo anders.

Sophie und Vanessa marschieren die Fußgängerzone hinunter, vorbei am Klamottenladen, wo sie die Princess-Shirts gekauft haben, einem Einkaufscenter, mehreren Schmuckläden, Handyshops, einem Buchladen, Supermärkten und einem Schuhgeschäft, in dessen Auslagen seit Neuestem Wir-schließen-Plakate prangen. Aus den türkischen Imbissläden wehen scharfe Gerüche zu ihnen herüber. Sophie hat Hunger, sie hat den ganzen Tag nichts gegessen, sie hat einfach nicht daran gedacht.

Das Handy in der Linken, tippt Vanessa eine Nachricht. Prompt kommt Antwort. Vanessa schaut auf das Display und grinst.

»Was hat er geschrieben?«, fragt Sophie neugierig.

Vanessa tippt erneut drauf los.

»Was schreibst du?«

»Komm, nehmen wir die Abkürzung!«, sagt Vanessa.

Gegenüber der Stern-Apotheke biegen sie von der Favoritenstraße in eine Seitengasse ein. Ab jetzt laufen sie auf eines der Häuser zu, die im vergangenen Jahr um den neuen Hauptbahnhof in den Himmel gewachsen sind. Je länger sie die Straße hinuntergehen, umso zahlreicher tauchen sie vor ihnen auf. Das dreizehnstöckige Hochhaus, in dem Sophie aufgewachsen ist, war bisher weit und breit konkurrenzlos. Jetzt wird es von mehreren Neubauten übertrumpft. Wie Zacken einer Krone, die man der Stadt aufgesetzt hat, staunt Sophie jedes Mal wieder aufs Neue. Zwischen den Neubauten stehen Kräne, für noch mehr Hotel-, Wohn- und Bankentürme. Um die Kräne kreisen ein paar Vögel. Sophie schaut zu ihnen hoch. Wie gerne würde sie jetzt die Arme ausbreiten und mit ihnen durch die Luft segeln können, hin und her, kreuz und quer, bis zu den Wolken, die gerade aufziehen.

Mit einem leisen Zischen gleiten die Schiebetüren zur Bahnhofshalle auf. Sophie und Vanessa jagen die erstbeste Rolltreppe ins Untergeschoß und dann weiter Richtung U-Bahn. Der Coffeeshop liegt kurz vorm Abgang zur Station zwischen einer Pizzeria und einem Burger-Lokal und hat eine breite Glasfront. Je nachdem, ob man vor dem Lokal steht oder im Lokal sitzt, die Menschen auf der anderen Seite der Scheibe sind die Fische, hat Susa einmal gemeint. Wir treffen uns im Aquarium, sagen sie seitdem.

Jonas sitzt bereits auf einem Hocker an einem der hohen Tische. Über ihm baumelt eine schwarze Lampe, die ihren Lichtkegel auf die Tischplatte schickt. Sein Gesicht liegt halb im Schatten. Die blonden Haare hat er zu einem Zöpfchen gebunden. Er nickt im Rhythmus einer Musik, die nur in seinem Kopf spielt. Auf einem zweiten Hocker liegt sein Motorradhelm. Kaum hat Jonas die beiden erspäht, öffnet sich sein sanft geschwungener Mund zu einem breiten Grinsen und er streckt den rechten Arm zur Seite. Mit einem kurzen Glücksschrei läuft Vanessa auf ihn zu und schmiegt sich an ihn. Er streicht ihr mit seiner großen Hand zärtlich über die Haare und lässt sie dann in ihrem Nacken liegen.

»He!«, begrüßt er sie leise.

Vanessa legt ihre ausgestreckten Arme auf seine Schultern und sie schauen einander tief und schweigend in die Augen.

Sophie steht reglos daneben und fühlt sich komplett überflüssig. Sie lässt ihren Blick durchs Aquarium gleiten, registriert ein paar Reisende mit Koffer, die hier alleine ihre Wartezeit überbrücken, einen alten Mann mit unruhigen Augen, der ein Stück Schokokuchen in sich hineinstopft, und ein paar Jugendliche in ihrem Alter, die um den Tisch im hinteren Winkel sitzen. Sophie glaubt sie von der Schule her zu kennen, weiß aber weder ihre Namen, noch in welcher Klasse sie sind.

Der Typ hinter der Theke grinst mit seinem Mund voller weißer Zähne zu Sophie herüber. Dass er Pavel heißt, weiß Sophie von seinem Namensschild auf dem grün-blau-roten Overall, den alle Angestellten im Aquarium tragen. Sophie schätzt ihn auf siebzehn oder achtzehn, also nur wenig älter als Jonas. Ein paarmal geht ihr Blick zwischen Pavel und Jonas hin und her, ohne zu wissen, was sie eigentlich herausfinden will. Eines ist allerdings sicher: Vanessa und Jonas haben nur Augen und Ohren füreinander, von ihrer Umgebung kriegen sie nichts mit. Sophie checkt ihr Handy, ob eine Nachricht von Susa gekommen ist. Nein. Dabei kommt Susa nie zu spät, sie ist immer pünktlich.

»Gehen wir eben ohne eure Freundin«, meint Jonas.

»Auf keinen Fall!«, platzt Sophie heraus. »Vielleicht ist irgendwas passiert?«

»Was soll denn passiert sein?« Jonas lacht und greift nach seinem Helm.

»Können wir nicht noch ein wenig warten?«, bittet Sophie.

»Du wartest«, bestimmt Jonas. »Es reicht, wenn einer von uns hier blöd herumsitzt. Außerdem können wir eh nicht zusammen. Ihr müsst mit der U-Bahn. Vanessa und ich können ja schon mal los.«

Sophie schickt Vanessa einen flehentlichen Blick.

»Geben wir ihr noch zehn Minuten«, schlägt Vanessa vor.

»Muss das sein?«

»Ist doch nicht so schlimm.«

Entnervt legt Jonas seinen Helm wieder ab.

Wann kommst du?, tippt Sophie hektisch in ihr Handy. Wir warten im Aquarium! Wir wollen los! Wo bist du?

Es vergeht eine ganze Minute ohne Antwort. Als Sophie Susa anruft, hebt sie nicht ab. Ratlos schaut Sophie in die Runde.

»Vielleicht ist ihr wirklich etwas passiert«, überlegt Jonas. »Ein Unfall. Oder Überfall. Oder noch Schlimmeres.«

»Was Schlimmeres?«, fragt Sophie vorsichtig. »Was meinst du?«

»Jemand hat sie vor die U-Bahn gestoßen, einfach so, ohne bestimmten Grund, nur weil er es einfach mal ausprobieren wollte«, vermutet Jonas, ohne lange nachzudenken.

»So ein Blödsinn!«

»Aber es gibt so arge Typen«, stimmt Vanessa Jonas zu.

»Hört sofort auf!«, fleht Sophie.

Jonas lacht.

»Jonas hat recht. Du musst nur die Zeitungen lesen«, ergänzt Vanessa, »täglich passiert irgendwas, das man nie und nimmer glauben würde.«

»Was bringt euch das, so zu reden?«, zischt Sophie.

»Wir überlegen nur.«

»Hört einfach auf damit!«

»He, kein Stress«, sagt Jonas »es muss ja nichts passiert sein. Wir blödeln nur herum. Nimm dir das doch nicht gleich so zu Herzen.«

Hinter der Glasscheibe schwimmt gerade ein Schwarm bunter Fische aus dem U-Bahn-Schacht herauf und weiter Richtung Ausgang. Sie gleiten dahin, wie von unsichtbaren Fäden gezogen, zu unbekannten Zielen. Je länger Sophie sie beobachtet, umso weniger Unterschiede kann sie erkennen. Einer wie der andere. Aber dann schwimmt plötzlich eines dieser besonderen Wesen vorbei, die genau wissen, dass sie immer alle Aufmerksamkeit auf sich ziehen.

Langsamer als die meisten marschiert sie in ihren hochhackigen Schuhen von links nach rechts durchs Bild. Rote, schulterlange Haare und das Gesicht voller Sommersprossen. Und Brüste, die bei jedem Schritt wippen. Dass sie anderen im Weg ist, macht ihr nichts aus, im Gegenteil.

»Kennst du die?«, blafft Vanessa plötzlich und reißt ihre Arme von Jonas’ Hals.

»Wen?« Jonas schaut, als hätte er keine Ahnung, wovon die Rede ist.

»Hast du das gar nicht bemerkt, dass du dieser Rothaarigen wie ein Affe hinterhergestarrt hast?« Vanessa streckt ihren Rücken durch und presst die Lippen zusammen.

Sophies Alarmglocken schrillen in maximaler Lautstärke. Sie kennt niemanden so gut wie Vanessa und sie weiß ziemlich genau, was jetzt kommt. Jonas scheint es nicht zu wissen.

»Ach, hör auf«, sagt er gelangweilt. »Ich hab gedacht, das ist eure Susa!«

Falsche Antwort, denkt Sophie.

Und richtig: »Schwachsinn!« Vanessa fuchtelt mit den Händen als wären es Luftschlangen. »Susa ist einen Kopf kleiner! Sie würde niemals solche Nuttenschuhe tragen. Sie ist nicht rothaarig! Sie sieht komplett anders aus …!«

»Ist mir eben so vorgekommen«, schiebt Jonas in aller Ruhe nach. Er hat immer noch keinen blassen Schimmer, worauf das hier hinausläuft.

»Und warum hast du ihr dann von hier bis dort nachgeschaut?« Vanessa breitet ihre Arme aus, die ganze Spannweite. »Hat er doch?« Die Frage geht an Sophie. »Oder?«

Sophie zuckt mit den Schultern. Sie weiß, jede Antwort wäre jetzt verkehrt. Und einer von Vanessas Anfällen hat ihr gerade noch gefehlt. Gleichzeitig hofft sie, dass sich Vanessas aufkeimende Wut noch eindämmen lässt.

»Von hier bis dort, weiß ich nicht …«, versucht Sophie die Sache herunterzuspielen.

»Du hältst auch noch zu ihm?«, fragt Vanessa empört.

»Reg dich nicht auf, Van«, sagt Jonas, »Blicke bedeuten nichts.«

»Aber du gibst es zu!«, triumphiert Vanessa.

»Ich habe sie einfach nur verwechselt«, erklärt er noch mal. »Das kann doch mal passieren.«

»Glaub ich dir nicht!«

»Dann eben nicht.« Jonas ist jetzt auch genervt und kratzt sich mit der Rechten am Hinterkopf.

Vanessa hat in der Zwischenzeit einen Meter Abstand genommen. Die Jugendlichen, die Sophie aus ihrer Schule kennt, haben zu kichern begonnen und verfolgen den Streit mit leuchtenden Augen.

»Okay«, lenkt Jonas ein.

»Wusste ich es doch!«

»Lass mich doch ausreden«, fordert er.

Ohne ihm die Chance gegeben zu haben, auch nur den Mund aufzumachen, faucht Vanessa ihn an: »Dann rede auch!«

Jonas atmet durch. »Nachdem mir das klar geworden ist, dass das nicht Susa ist, habe ich dieser Tussi eben noch zwei Sekunden länger …«

Okay, das war’s, denkt Sophie. Wenn Jonas ernsthaft glaubt, so billig davonzukommen, dann hat er es nicht anders verdient.

»Was ist das denn für Schwachsinn?«, unterbricht Vanessa erwartungsgemäß.

Sophie schielt zu Pavel. Der ist auch nicht gerade glücklich über den Lärm.

»Hast du das gehört, Sophie?«

»Ja, hab ich«, stimmt sie Vanessa diesmal zu.

Vanessa nickt zufrieden.

»Aber du musst jetzt wirklich keine so große Sache draus machen!« Auch Sophie geht die ganze Sache langsam aber sicher auf den Zeiger. Warum muss Vanessa sich so aufspielen? Den ganzen Tag hat sie nur von Jonas geredet, sich einen Scheiß für Sophie interessiert, wegen ihm wollte sie unbedingt pünktlich im Aquarium sein, und jetzt …

»Wie bitte?«, kreischt Vanessa.

Gleich ist sie nicht mehr zu stoppen, Sophie kennt das schon.

»Natürlich rege ich mich auf!«

»Vanessa, beruhig dich!«

»Ich mich beruhigen?«, quiekt Vanessa. »Mein Freund lügt mich an, meine beste Freundin fällt mir in den Rücken und ich soll mich beruhigen?«

»He, hör auf, das ist doch scheiße«, mischt Jonas sich ein.

»Scheiße, scheiße, scheiße!«, brüllt Vanessa als überlautes Echo durch den Raum.

Das ist zu viel. Wenig später steht Pavel bei ihnen. Mit Blick auf Vanessa verlangt er, dass sie entweder mit dem Herumgeschreie aufhören soll oder …

»Oder was?«

»Ich bitte dich zu gehen.«

Vanessa starrt Pavel fassungslos an, fünf Sekunden lang, dann legt sie erst so richtig los: »Weißt du was, Jonas? Mach doch, was du willst! Und du«, schreit sie Sophie an, »weißt du was? Überleg dir, ob du noch meine Freundin sein willst. Und du«, schreit sie Pavel an, »weißt du was? Du und dein Laden seid mir so was von egal!« Und zack, Vanessa reißt ihre Lederjacke mit sich fort … Und weg ist sie.

Für eine Weile hört man noch ihre Sneakers auf den Steinfliesen quietschen. Dann taucht sie durch die Tür des Aquariums nach draußen, wenig später schwimmt sie die Rolltreppe hoch nach oben.

Von null auf hundert. Von total lieb zu plötzlich stinksauer. So schlimm wie heute war schon lange keiner mehr von Vanessas Wutanfällen. Und jetzt?, fragt sich Sophie. Es kann wohl nicht angehen, dass wegen Vanessas Launen der Abend auch für sie gelaufen ist.

Jonas zieht den Haargummi von seinem Zöpfchen. Seine blonden Haare fallen ihm bis auf die Schulter. Er nimmt seinen Helm und verkündet, dass er jetzt abhauen würde. Auch Sophie springt vom Hocker.

»Aber vielleicht taucht Vanessa ja doch wieder auf.« Sophie glaubt selbst nicht so richtig daran.

»Ganz ehrlich?«, sagt Jonas. »Mir wäre es lieber, wenn nicht.«

Einen Moment lang stehen sie unentschlossen nebeneinander.

»Fährst du trotzdem zur Party?«, fragt Sophie.

»Kommst du mit?«

»Sicher«, antwortet Sophie prompt, obwohl sie bisher nicht den Bruchteil einer Sekunde darüber nachgedacht hat. Aber plötzlich ist das eine verlockende Möglichkeit. Außerdem ist der Platz auf seinem Motorrad ja jetzt frei.

Jonas kann ein vollkommen ausdrucksloses Gesicht machen, ohne jede Regung, und niemand kann sagen, was er gerade denkt oder fühlt, ob er da ist oder weg, ob er sich für irgendwas interessiert oder für rein gar nichts.

»Dann komm«, sagt er schließlich.

2

Sollte in 100 Jahren jemand dieses Heft finden, werde ich tot sein, das ist sicher. Sicher ist auch, dieser Jemand kann mich dann nichts mehr fragen. Aber dieser Jemand in 100 Jahren soll ein paar Sachen wissen: Mein Name ist Paul, ich bin 14 Jahre alt, geboren in Wien, gehe in die vierte Klasse eines Gymnasiums im 21. Bezirk, was auf der anderen Seite der Donau ist, also nicht gerade in Zentrum. Ich konnte schon mit vier lesen, weshalb mich meine Mutter für ein Genie hält. Stimmt aber überhaupt nicht: Ich bin durchschnittlich. Genauso durchschnittlich wie ich aussehe: nicht groß, nicht klein, nicht dick und nicht dünn. Braune Haare, eher hell als dunkel. Meine Mutter findet, ich sehe super aus, aber ich bin ja nicht blöd, sie ist meine Mutter, was soll sie auch sonst sagen. Sport mache ich keinen, außer Skateboarden, zumindest früher. (Das Board ist in der alten Wohnung geblieben.) Obwohl ich mich mit Worten leicht tue, hätte ich nie und nimmer ein Tagebuch angefangen. Aber vor vier Tagen wollte mein Lehrer plötzlich mit mir reden, alleine, nicht vor der Klasse. Ich war sofort in Panik. Vielleicht war er sauer, weil ich seit zwei Wochen fast jeden Tag zu spät komme. Aber ich schaffe es einfach nicht früher. Das liegt an diesem verdammt langen Schulweg, den ich neuerdings habe. Sogar jeder Mathematikidiot weiß, dass eine halbe Stunde U-Bahn mehr bedeutet, eine halbe Stunde früher aufstehen zu müssen. Früher musste ich nur über die Straße. Das war einfach, wie überhaupt früher alles einfacher war. Das Zuspätkommen hat Herrn Valentin aber gar nicht interessiert. Er redete über meinen Umzug, meine Mutter, meinen Großvater, bei dem ich neuerdings wohne. Dabei kenne ich den überhaupt nicht. Dem Alten war meine Mutter nämlich bisher scheißegal. Und er war mir bisher auch scheißegal, kein Wunder, schließlich habe ich ihn in meinem bisherigen Leben nur zwei- oder dreimal gesehen. Auf jeden Fall hat Herr Valentin mir dann dieses Heft gegeben und gesagt, ich soll gelegentlich aufschreiben, was mir so durch den Kopf geht. Wozu das denn? Mein Leben ist ohnehin schon total kompliziert. Ich wäre fast ausgeflippt. Aber Herr Valentin meinte, ich soll es probieren, es würde mir helfen. Bei was, hat er nicht gesagt. Soll ich da jetzt raten, oder was? Dann musste ich mir auch noch ein paar Tipps anhören: Ich soll so schreiben, als würde ich das alles jemandem erzählen. Aber ich soll das, was ich aufschreibe, niemandem zeigen, weder ihm, noch meinem Großvater, noch sonst irgendwem. Damit ich nichts verschweige, aus Angst, jemand könnte es lesen und sauer auf mich sein. Aber ich soll mich auch zu nichts zwingen. Wenn mir nichts mehr einfällt, soll ich einfach aufhören. Zumindest der letzte Satz hörte sich gut an.

3

»Weißt du, wie viel so eine Karre kostet?« Jonas deutet auf das dunkelblaue Cabrio mit den grauen Ledersitzen, hinter dem er sein Motorrad abgestellt hat, einen Zweisitzer, der ziemlich flach auf der Straße liegt.

Sophie hat null Ahnung.

»Mindestens achtzig«, erklärt Jonas, sichtlich fasziniert von der Summe, »wenn nicht mehr.«

»Nicht schlecht«, sagt Sophie, als würde sie sich genauso dafür interessieren wie Jonas.

Das Tor zum Grundstück steht sperrangelweit offen. Sie schlendern über einen breiten Kiesweg auf das Haus zu, der Kies knirscht unter ihren Schuhen. Der mittlere Teil des Hauses hat zwei Etagen und einen Eingang mit Säulen, links und rechts gibt es ebenerdige Anbauten. Wow! Nur den Pool und den für die Blätter Zuständigen kann Sophie nicht entdecken.

»Was denkst du, was so eine Bude wert ist?«

Sophie zuckt mit den Schultern.

»Mindestens zehn Mille!« Wieder bebt Jonas’ Stimme vor lauter Ehrfurcht.

Die Fenster im Parterre und ersten Stock sind alle schwarz, nur im Kellergeschoss flackern Lichter.

»Komm!«

Sie laufen ein Stück über den Rasen und gelangen zu einer Treppe, die nach unten führt. Hinter der Kellertür wummert Musik.

»Woher kennst du eigentlich diese Gloria?«

»Du musst dir die Anlage anschauen«, sagt Jonas, statt zu antworten. »Da kostet eine Box mindestens fünftausend und der Sound ist total abgefahren.«

Jonas reißt die Tür auf. Ein Schwall warmer Luft und die Vibration dunkler Bässe drücken ihnen entgegen. Dann stehen sie in einem Kellerraum, dessen Ende von hier aus nicht absehbar ist. Möglicherweise liegt es an seiner Größe, vielleicht ist es aber auch die matte Beleuchtung und der Zigarettenrauch, der in der Luft hängt. Und es riecht irgendwie süßlich, nach Energydrinks und Schweiß.

Neben der Tür lungert ein muskulöser Typ, etwa in Jonas’ Alter, mit dem Rücken an einem riesigen Kühlschrank. Einen so großen Kühlschrank hat Sophie überhaupt noch nie gesehen. Er reicht fast bis zur Decke. Der Typ hat glasige Augen und kaut nervös auf seinen Lippen. Entweder ist er betrunken oder er hat irgendwas eingeworfen.

Hinter ihnen drängen ein paar Leute zur Tür herein, aufgedonnerte Tussen, jede mit einem Typen an der Hand. Jonas und Sophie stehen ihnen im Weg und müssen ausweichen. Eine der Tussen reißt den Kühlschrank auf und verteilt Getränke an die anderen. Jonas schnappt sich eines, Sophie geht leer aus.

Die meisten Partygäste hocken auf Sitzkissen, die über den Boden verteilt sind. Sophie und Jonas schlendern zwischen ihnen hindurch und Sophie zählt circa vierzig fremde Gesichter. Als sie auf ein Pärchen stoßen, das eng umschlungen mitten im Weg liegt, steigen Jonas und Sophie mit großen Schritten über die beiden hinweg.

Jonas hält Ausschau, vermutlich nach Gloria.

Plötzlich wird die Musik ruhiger, Gitarrengeklimper. What we do, what we do, yeah we do what we do, singt eine Frauenstimme dazu. Es ist ein Song, der gerade ständig im Radio läuft und jede Woche bei Youtube zehntausend Klicks mehr bekommt.

Sophie sieht sich nach Jonas um. Er hat Gloria immer noch nicht gefunden.

Mittlerweile sind sie am Ende des Raums angekommen. Hier tanzen ein paar mit geschlossen Augen und fühlen die Musik. What we do, what we do, yeah we do what we do! Sophies Körper nimmt langsam den Rhythmus auf. Sie lässt ihre Arme durch die Luft fliegen, die Füße fest am Boden.

Kurz entschlossen greift sie nach Jonas Hand, zieht ihn mit sich fort, mit auf die Tanzfläche, wo die riesigen, fünftausend Euro teuren Boxen von der Decke hängen. Eine Diskokugel schickt unzählige Lichtpunkte durch den Raum. Kaum hat Sophie Jonas’ Hand losgelassen, verschwindet er wieder im Dunkeln. Sophie tanzt noch, bis der Song zu Ende ist, erst dann schaut sie sich nach ihm um. In dem Gewühle dauert es eine Weile, bis sie ihn findet. Es steht bei einer großen schlanken Brünetten mit schulterlangen Haaren, sie ist in Sophies Alter, vielleicht aber auch schon fünfzehn oder sechzehn, grüner Minirock, mit ihren Schuhen fast so groß wie Jonas. Sie lehnt an der Wand. Jonas redet auf sie ein. Sophie stellt sich zu ihnen.

»Das ist Gloria!«, brüllt Jonas Sophie ins rechte Ohr.

»Das habe ich mir schon gedacht«, brüllt Sophie zurück.

»Willst du nicht einfach wieder tanzen gehen«, schreit Gloria ihr daraufhin ins linke Ohr.

Okay, alles klar.

Sophie dreht ab und macht einen Abstecher zum riesigen Kühlschrank beim Eingang. Sie fischt sich jetzt auch eine Flasche heraus, mit etwas, das wie Cola aussieht. Dann arbeitet sie sich zurück auf die Tanzfläche und lässt sich von der Musik aufsaugen. Ab und zu zersplittern die Partygäste für ein paar Sekunden im Licht des Stroboskopscheinwerfers. Wenig später setzen sich die Einzelteile wieder zu ganzen Menschen zusammen.

Sophie tanzt und tanzt und tanzt, bis sie klatschnass und völlig erschöpft auf ein Sitzkissen stürzt. Ihr ist heiß und ihr Herz schlägt wie kurz vorm Zerspringen. Ihre Füße schmerzen. Ihre Lippen schmecken salzig.

Nachdem das Stroboskoplicht erneut die Partygäste in ihre Einzelteile zerlegt hat, kommt es Sophie plötzlich vor, als hätten die einzelnen Splitter nicht wieder ihren richtigen Plätze gefunden. Arme und Beine, Köpfe und Bäuche sind komplett durcheinander und keiner der Tanzenden sieht jetzt so aus wie noch vor einer halben Minute. Die einen haben unterschiedlich lange Gliedmaßen, andere haben auch fünf oder sechs davon. Erstaunlicherweise scheint das niemanden zu stören. Einer der Mutanten wankt auf Sophie zu. Hilfe! Bei dem Lärm hört das natürlich niemand. Sie schließt die Augen. Verdammt! Mit mir stimmt irgendwas nicht, denkt Sophie panisch und schüttelt den Kopf. Ich muss … ich muss … ich muss Jonas suchen, fällt ihr ein, er soll mich so schnell wie möglich hier wegbringen. Mit Mühe stemmt sie sich aus dem Sitzkissen hoch und taumelt durch den Raum.

Nicht einmal einen Meter von Jonas entfernt kommt sie zu stehen. Er lehnt an der Wand, Gloria schmiegt sich an ihn. Beide sehen aus wie immer: Arme, Beine, Nase, Ohren, alles hat seinen Platz. Erst atmet Sophie erleichtert durch, aber dann stockt ihr der Atem. Jonas hält Glorias Kopf zwischen den Händen, wie er im Aquarium Vanessas Kopf gehalten hat. Und er schaut Gloria tief in die Augen, wie er Vanessa in die Augen geschaut hat. Den kann ich erst einmal vergessen, weht es durch Sophies Hirn. Aber zwei Sekunden später hat sie ihr Handy in der Hand und richtet die Kamera auf die beiden, wartet, bis das Bild am Display scharf ist, dann drückt sie ab. Ein Scheißbild, kein Wunder bei den Lichtverhältnissen, aber Jonas ist eindeutig zu erkennen, auch das Profil von Gloria. Sophie schiebt das Handy zurück in die Hosentasche. Sie dreht sich um. Geht weg. Sie hat Durst. Aber der Kühlschrank neben der Eingangstür ist verdammt leer.

Jemand tippt ihr von hinten auf die Schulter. Nachdem sie sich erschrocken umgedreht hat, sieht sie eine halbleere Flasche vor sich. Sophies Blick streift die Hand, die die Flasche hält, den Arm, das blaue T-Shirt. Das Gesicht ist schmal und älter als die Gesichter der anderen Partygäste. Danke! Sophie nimmt die Flasche und steuert auf die Tür zu. Sie stolpert die paar Stufen hinauf in den Garten.

Draußen läuft sie ein paar Schritte. Irgendwann bleibt sie stehen und nimmt einen Schluck. Das Zeug schmeckt bitter und ein wenig nach Alkohol. Dann pumpt Sophie ihre Lungen mit der nächtlichen Luft voll.

Sie schlüpft aus ihren Sneakers und den Strümpfen, lässt sie da liegen, wo sie sie ausgezogen hat, läuft barfuß über die Wiese, zwischen hohen Bäumen, sie schlägt einen Haken und noch einen und noch einen und lacht jedes Mal dabei. Immer weiter läuft sie, bis sich vor ihr ein großes, viereckiges finsteres Loch auftut. Gerade noch rechtzeitig kann Sophie stoppen. Um das Gleichgewicht nicht zu verlieren, streckt sie die Arme zur Seite. Die blaue Farbe des Pools schimmert im Mondlicht, aber es ist kein Wasser drin. Wäre sie gestürzt, hätte Sophie sich alle Knochen gebrochen. Langsam setzt sie sich hin und lässt die Beine baumeln. Vanessa hat mit dem Pool also nicht übertrieben.

Von hier hört man nur noch die Bässe aus dem Keller wummern, gleichmäßig und dumpf. Sophie lauscht auf die knackenden Äste, dann huscht etwas den Stamm herunter, ein Eichhörnchen vielleicht, es verschwindet in der Dunkelheit. Und tschüss! Sophie lässt sich nach hinten gleiten, Wirbel für Wirbel, bis sie mit dem Rücken flach am Boden liegt. Über ihr flattern die Zweige, der Mond ist groß und rund. Zeit vergeht.

Ein schmales Gesicht mit einem kräftigen Kinn schiebt sich zwischen Sophies Gesicht und den Nachthimmel. Obwohl der Typ ganz plötzlich da ist, erschrickt sie nicht, kein bisschen, als hätte sie die ganze Zeit gewusst, dass er in ihrer Nähe ist. Erst auf den zweiten Blick erkennt sie ihn wieder. Von ihm hat sie vorhin das Getränk bekommen.

»Hi.«

»Hallo.«

Er ist auf allen vieren, wie ein Tier. Sophie schaut in stechend blaue Augen, blau wie das Wasser, das nicht da ist.

»Bist du der Zuständige?«, fragt sie schließlich leise.

»Nein, ich bin Moritz.«

Sophie muss über die Antwort lachen.

»Zuständig wofür?«, fragt er jetzt doch. Seine Stimme klingt freundlich und sanft.

»Zuständig für die Blätter.«

»Für die Blätter?«

»Die in den Pool fallen.«

Moritz schaut sie nur an. Sophie spürt seinen Atem auf der Haut. Er riecht nach Minze.

»Bist du der, der Tag und Nacht nur dafür zuständig ist, die Blätter aus dem Wasser zu fischen, oder bist du es nicht?«

»Es gibt kein Wasser«, sagt Moritz, »und es gibt niemanden, der dafür zuständig ist.«

»Ach so«, sagt Sophie mit gespielter Enttäuschung, »dann hat jemand Vanessa wohl einen Bären aufgebunden.«

Moritz stößt sich mit beiden Armen vom Boden ab, setzt sich neben Sophie an den Poolrand. Sophie richtet sich auch auf. Ihr ist ein wenig schwindlig und sie hat ein flaues Gefühl im Magen. Moritz streckt seine Beine aus und starrt auf seine Zehenspitzen. Auch er trägt keine Schuhe und keine Strümpfe.

»Warum ist kein Wasser drin?«

»Er soll umgebaut werden. Größer. Länger. Breiter.« Dann liest Moritz den goldenen Schriftzug auf Sophies Shirt. »You are a Princess«, sagt er. »A Princess. A Princess.«

»A Princess«, wiederholt Sophie leise.

Moritz lächelt. »Woher kennst du Gloria?«

Wie alt ist der? Achtzehn? Neunzehn?

»Ich kenne sie gar nicht«, erklärt Sophie. »Ich bin mit jemandem mitgekommen.«

Eine Weile sitzen sie nur nebeneinander und lassen ihre Beine baumeln. Sophie muss daran denken, was da im Keller passiert war, diese unheimlichen Gestalten und Fratzen, die Sophie gesehen hat … es muss irgendwas in der Cola gewesen sein, etwas, das ihr das Gehirn derartig vernebelt hat.

»Warum hast du meine Schwester fotografiert?«, fragt Moritz plötzlich in die Stille.

Sophie ist einen Augenblick lang sprachlos. Ihr war nicht im Entferntesten in den Sinn gekommen, dass jemand sie dabei beobachtet haben könnte, wie sie das Foto von Jonas und Gloria geschossen hat. Dann kombiniert sie: »Gloria ist deine Schwester?«

»Exakt.«

»Bist du mir deswegen in den Garten gefolgt?«

»Nicht nur deswegen«, sagt Moritz.

»Warum noch?«

»Auch weil du eine Princess bist.«

Sophie lässt sich zu einem müden Lächeln hinreißen, legt ihren Kopf in den Nacken und schaut in den Sternenhimmel. »Ich habe nicht deine Schwester fotografiert, sondern Jonas«, erklärt sie schließlich.

»Verstehe«, sagt Moritz knapp.

Er streckt die Arme durch und schiebt die Hände unter die Oberschenkel. Sophie wartet, ob noch etwas von ihm kommt. Nichts. Moritz starrt in das leere Becken. Das Mondlicht wirft die Schatten der Bäume über den Garten. Irgendwo heult ein Hund. Ein leichter Wind hebt an. Die Blätter rauschen und die Schatten beginnen zu zittern.

Sophies Gedanken streifen den Abend im Aquarium. Warum Susa nicht gekommen ist? Sie streifen den Streit zwischen Vanessa und Jonas. Wo Vanessa jetzt wohl ist? Sophie überlegt, wie sie ihre Sneakers und ihre Strümpfe dort in der Dunkelheit jemals wiederfinden soll.

Sie springt auf und läuft zurück zum Haus. Nach ein paar Schritten hört sie ihn »He, Princess!« hinter sich herrufen. Moritz klingt ein wenig ärgerlich. Sophie kümmert sich nicht darum. Sie sucht die Wiese nach ihren Schuhen und Strümpfen ab, vergeblich.

Barfuß kehrt sie zurück in den Keller, wühlt sich durch die Menschen. Die Luft ist jetzt noch dicker, wie zum Schneiden. Sophie durchsucht auch hier jeden Winkel, diesmal nach Jonas. Nichts. Sie findet weder Jonas noch Gloria.

Sophie läuft über den Kiesweg Richtung Einfahrt. Die Steinchen drücken sich schmerzhaft in ihre nackten Fußsohlen. Sie versucht nicht darauf zu achten. Jonas’ schwarz-orange lackierte KTM steht noch auf ihrem Platz, okay, gut. Und Jonas?

Sie dreht sich zum Haus um. Hinter einem der Fenster im ersten Stock brennt jetzt Licht. Kann sein, dass Jonas mit Gloria dort oben ist … und dann denkt Sophie nur noch: Arme Vanessa.

Elf Euro, dreiundsiebzig Cent. Vorhin waren es zwölf Euro und fünfundvierzig Cent. Bin ich auch schon zu doof zum Zählen, fragt sich Sophie. Sie steht auf der Straße, hat sämtliche Münzen aus ihren Hosentaschen zusammengekratzt und zählt sie so konzentriert wie möglich. Es ist in jedem Fall zu wenig. Ich bin hier am Arsch der Welt. Ihr Schädel brummt und sie will hier weg, einfach nur weg.

»Also«, sagt eine Stimme hinter ihr, »was ist?«

Sophie atmet durch, an Moritz hat sie überhaupt nicht mehr gedacht. Sie weiß auch nicht, ob sie froh darüber sein soll oder nicht, dass er abermals so plötzlich neben ihr aufgetaucht ist. Aber immerhin könnte er ihr helfen. »Kannst du mir Geld leihen?«

»Wofür?«

»Für ein Taxi.«

»Nein.« Moritz grinst frech. Aber er zaubert hinter seinem Rücken ihre Schuhe und Strümpfe hervor. »Wärst du ohne abgehauen?«

Sophie zieht ihre Sachen mit einer Hand an. Dann schaut sie wieder auf die Münzen in ihrer Rechten. Neun Euro zwanzig. Ich werde noch wahnsinnig, denkt sie.

»Ich kann dich irgendwohin chauffieren«, bietet Moritz an.

»Okay.«

Wenn ihre Mutter Nachtdienst hätte, wäre das jetzt alles kein Problem, sie würde nicht mitten in der Nacht aufwachen und eine Erklärung verlangen.

Sophie zückt ihr Handy. Vielleicht kann sie bei Vanessa übernachten. Aber das Display bleibt schwarz. Da kann sie herumdrücken, so viel sie will. Der Akku ist leer. Shit.

»Wo ist dein Auto?«, fragt Sophie.

Es ist der dunkelblaue Flitzer, hinter dem Jonas sein Motorrad abgestellt hat. Sophie marschiert um den Wagen herum und lässt sich auf den Ledersitz fallen.

»Und wohin willst du?«, fragt Moritz, nachdem er mit quietschenden Reifen losgefahren ist.

»Und wenn ich sage, ans Meer?«

»Würde ich dich ans Meer bringen.« Moritz dreht den Kopf zu ihr.

»Bis zum Meer sind es mindestens fünfhundert Kilometer«, sagt Sophie. »Ja, ich weiß. Und?«

»Außerdem …«

»Was?«

»Schau auf die Straße!« Sophie lacht.

Grinsend richtet Moritz seinen Blick nach vorne. »Und wohin willst du wirklich?«

Sophie lässt ihren Kopf auf die Brust sinken. »Das ist alles ein bisschen kompliziert.«

Moritz nimmt einen anderen Weg, als den, den sie mit Jonas gekommen ist. Eine Weile geht es den Hügel hinauf, an noch mehr Villen mit riesigen Gärten vorbei, eine prächtiger als die andere.

Wie ihr Leben wohl wäre, wenn sie hier und nicht im neunten Stock eines Hochhauses aufwachsen würde?

»Wie kompliziert genau?«, unterbricht Moritz Sophies Gedanken.

Also gut: »Meine Mutter denkt, ich schlafe bei Susa. Aber der Abend ist anders verlaufen als geplant. Wenn meine Mutter mitkriegt, dass ich um die Zeit noch unterwegs bin, flippt sie aus.«

»Und jetzt?«

»Eben. Ich weiß nicht.« Obwohl sie das nicht absichtlich macht, klingt Sophies Stimme, als wäre sie ein total hilfloses Mädchen.

Moritz nickt ernst und biegt jetzt doch auf die Straße am Kanal Richtung Innenstadt. Es sind kaum noch Autos unterwegs und die Ampeln blinken dauerhaft Orange. In den Schalensitzen hockt man gefühlte zwei Zentimeter über der Straße. Es ist, als würden die Sitze sie umarmen. Sophie mustert ihre Hände und betrachtet den abgeblätterten Lack auf ihren Fingernägeln. Als Moritz herüberschaut, rollt sie die Finger schnell zu Fäusten zusammen.

»Wer ist eigentlich dieser Jonas?«, will Moritz plötzlich wissen.

Sophie stöhnt unwillkürlich. »Jonas ist der Freund meiner besten Freundin. Aber um ehrlich zu sein, mir ist das gerade alles zu kompliziert. Können wir nicht einfach ein bisschen durch die Nacht fahren? Einfach so? Ohne über solche komplizierten Sachen zu sprechen?«

»Okay«, willigt Moritz ein, »aber nur wenn du mir deinen Namen sagst.«

»Princess. Nenn mich Princess!«

»Princess!« Mit einem verschmitzten Lachen macht Moritz das Autoradio an. Sie nähern sich der Innenstadt und hören Musik. Sie erzählen einander, welchen Song sie mögen und welchen nicht. Bis die Moderatorin den Song von Jessie J ankündigt, der vorhin auch im Keller lief.