Schwedenmord: Tod in der Walpurgisnacht / Die Akademiemorde / In den besten Kreisen (3in1 Bundle) - Karin Wahlberg - E-Book
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Schwedenmord: Tod in der Walpurgisnacht / Die Akademiemorde / In den besten Kreisen (3in1 Bundle) E-Book

Karin Wahlberg

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  • Herausgeber: btb Verlag
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2021
Beschreibung

Drei Mal Schwedische Lesespannung in Einem!

„Tod in der Walpurgisnacht“: Veronika Lundborg und ihr Mann Claes Claesson trauen ihren Augen nicht als beim alljährlichen Walpurgisnachtfeuer plötzlich die brennende Leiche eines Mannes zum Vorschein kommt. Während Claesson sich des Falls annimmt, beginnt auf Lundborgs Station die junge Ärztin Hilda den ersten Teil ihrer praktischen Ausbildung. Durch Zufall stößt die junge Frau auf die Krankenakte ihrer Mutter, die vor Jahren angeblich an einer Blutvergiftung gestorben ist. Doch als sich dann herausstellt, dass der Tote aus der Walpurgisnacht Hildas Mutter damals ins Krankenhaus gebracht hatte, kommt eine unglaubliche Geschichte ans Licht …

„Die Akademiemorde“: Stockholm, im Mai: Im weltberühmten Hotel Berns Salonger hat man gerade Strindbergs 100. Todestag begangen. Die Festrede hielt der Ständige Sekretär der Schwedischen Akademie, ein würdiger Mann und ebenfalls angesehener Schriftsteller. Jetzt kurz vor Mitternacht ist er auf dem Weg nach Hause, durch einen abgeschiedenen Park – und wird erschossen. Am nächsten Tag geschehen vier weitere Morde. Die Opfer: ebenfalls Mitglieder der Akademie, die für die Auslobung des jährlichen Literaturnobelpreisträgers verantwortlich ist. Was treibt den Mörder um? Claudia Rodriguez von der Zentralen Mordkommission ermittelt auf eigene Faust – und gegen den Willen ihrer Vorgesetzten. Stattdessen bittet sie ihren alten Freund Leo Dorfman um Hilfe, einen Buchantiquar …

„In den besten Kreisen“: Der bekannte schwedische Unternehmer und Millionär Björkenstam, der sich zum Schutz mit einer Motorrad-Rockergang umgibt, hat Dreck am Stecken. Ex-Journalist und Kneipier Harry Svensson, findet im Garten des Millionärs eine Drogen-Plantage. Svensson beginnt sich in der Drogenszene umzuhören, kurz darauf wird ein stadtbekannter Dealer ermordet in Svenssons Haus gefunden. Wie kommt er aus der Sache wieder heraus? Wie kann er beweisen, dass nicht er, sondern Björkenstam der Gesuchte ist? Und dann taucht plötzlich ein kleines Mädchen auf und bittet den Journalisten um Hilfe. Ihre Mutter befindet sich in der Gewalt des Unternehmers, weil sie zu viel wusste …

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»Tod in der Walpurgisnacht«: Veronika Lundborg und ihr Mann Claes Claesson trauen ihren Augen nicht als beim alljährlichen Walpurgisnachtfeuer plötzlich die brennende Leiche eines Mannes zum Vorschein kommt. Während Claesson sich des Falls annimmt, beginnt auf Lundborgs Station die junge Ärztin Hilda den ersten Teil ihrer praktischen Ausbildung. Durch Zufall stößt die junge Frau auf die Krankenakte ihrer Mutter, die vor Jahren angeblich an einer Blutvergiftung gestorben ist. Doch als sich dann herausstellt, dass der Tote aus der Walpurgisnacht Hildas Mutter damals ins Krankenhaus gebracht hatte, kommt eine unglaubliche Geschichte ans Licht …

»Die Akademiemorde«: Stockholm, im Mai: Im weltberühmten Hotel Berns Salonger hat man gerade Strindbergs 100. Todestag begangen. Die Festrede hielt der Ständige Sekretär der Schwedischen Akademie, ein würdiger Mann und ebenfalls angesehener Schriftsteller. Jetzt kurz vor Mitternacht ist er auf dem Weg nach Hause, durch einen abgeschiedenen Park – und wird erschossen. Am nächsten Tag geschehen vier weitere Morde. Die Opfer: ebenfalls Mitglieder der Akademie, die für die Auslobung des jährlichen Literaturnobelpreisträgers verantwortlich ist. Was treibt den Mörder um? Claudia Rodriguez von der Zentralen Mordkommission ermittelt auf eigene Faust – und gegen den Willen ihrer Vorgesetzten. Stattdessen bittet sie ihren alten Freund Leo Dorfman um Hilfe, einen Buchantiquar …

»In den besten Kreisen«: Der bekannte schwedische Unternehmer und Millionär Björkenstam, der sich zum Schutz mit einer Motorrad-Rockergang umgibt, hat Dreck am Stecken. Ex-Journalist und Kneipier Harry Svensson, findet im Garten des Millionärs eine Drogen-Plantage. Svensson beginnt sich in der Drogenszene umzuhören, kurz darauf wird ein stadtbekannter Dealer ermordet in Svenssons Haus gefunden. Wie kommt er aus der Sache wieder heraus? Wie kann er beweisen, dass nicht er, sondern Björkenstam der Gesuchte ist? Und dann taucht plötzlich ein kleines Mädchen auf und bittet den Journalisten um Hilfe. Ihre Mutter befindet sich in der Gewalt des Unternehmers, weil sie zu viel wusste …

Karin Wahlberg arbeitet als Ärztin an der Universitätsklinik von Lund. "Die falsche Spur" war ihr erster Kriminalroman, der auf Deutsch erschien. In Schweden stehen ihre Romane regelmäßig auf den ersten Plätzen der Bestsellerliste. Und auch in Deutschland erfreuen sich Karin Wahlbergs Krimis um die Chirurgin Veronika Lundborg-Westman und Kommissar Claes Claesson großer Beliebtheit.

Martin Olczak, geboren 1973, wohnt in Stockholm. Er stöbert leidenschaftlich gerne in Archiven, wo er sich auf die Suche nach geheimnisvollen Geschichten und spannenden Geschehnissen macht. Er ist einer der bekanntesten Jugendbuchautoren Schwedens. "Die Akademiemorde" ist sein erster Roman für Erwachsene. Er wurde in zahlreiche Länder verkauft und in mehrere Sprachen übersetzt.

Mats Olsson (geboren 1949) ist einer der bekanntesten Journalisten Schwedens. Er arbeitet als Sportreporter, Musikkritiker und Auslandskorrespondent. Momentan lebt er in New York. Olsson ist vielfach preisgekrönt für seine journalistischen Texte, er ist darüber hinaus der schwedische Übersetzer von Joseph Wambaugh, Robert Crais und James Lee Burke. Die Serie um den ehemaligen Journalisten Harry Svensson ist von Presse und Lesern international begeistert aufgenommen worden.

Karin Wahlberg, Martin Olczak, Mats Olsson

Schwedenmord

Drei Romane in einem Band

Tod in der Walpurgisnacht Die Akademiemorde In den besten Kreisen

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»Tod in der Walpurgisnacht«

Copyright © Karin Wahlberg 2011 by agreement with Grand Agency.

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2010 by btb Verlag in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, München

Umschlaggestaltung: semper smile, München

Umschlagmotiv: plainpicture/Design Pics

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

»Die Akademiemorde«

Copyright © der Originalausgabe 2013 Norstedts Forlag, Stockholm. By Agreement with Grand Agency

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2014 by btb Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München.

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

»In den besten Kreisen«

Deutsche Erstveröffentlichung Dezember 2018, btb Verlag in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München

Copyright © der Originalausgabe 2016 by Mats Olsson

Published by agreement with Salomonsson Agency

Covergestaltung: semper smile, München

Covermotiv: Shutterstock/Peyker; STILLFX; DedMityay; Piotr Zajc

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN 978-3-641-28808-2V001

www.btb-verlag.de

Karin Wahlberg

Tod in der Walpurgisnacht

Aus dem Schwedischen von Susanne Dahmann

Vorbemerkung der Autorin

Der Glasbläserort Hjortfors ist auf der Karte nicht ohne weiteres zu finden. Aber wenn Sie einen Finger auf die Stelle im östlichen Småland legen, wo sich die drei Gemeinden Högsby, Nybro und Uppvidinge treffen, dann liegen Sie richtig. Alle anderen Orte, die in diesem Buch genannt werden, haben auch in der Wirklichkeit ihren geographischen Platz. Und wenn Sie sich sowieso zufällig in Ost-Småland aufhalten, dann sind Glasbläserorte ohnehin nicht schwer zu finden.

Karin Wahlberg

September 2011

Kapitel 1

Das Licht war der große Feind. Kaum war es dunkel geworden, begann bereits die Morgendämmerung. Im Osten, wo der Himmel die dunklen Tannenspitzen berührte, konnte man die Veränderung erahnen. Wenn der neue Tag da war, war alles zu spät.

Wie ein Eisenband spannte sich der Hass um den Leib, verstärkte ihn und ließ die Muskeln arbeiten. Einen Körper zu schleppen war schwer.

Die Angst machte sich bemerkbar, es musste gehen. Schließlich gab es solche Fanatiker, die den Tag damit begannen, am frühen Morgen joggen zu gehen oder am See entlangzuwandern. Die könnten etwas sehen und melden, und dann wäre alles ruiniert.

Bei dem bloßen Gedanken daran wurde der Mund staubtrocken, die Hände wurden vor Stress unruhig, die Füße ungelenk. Ein toter Körper war erstaunlich schwer zu hantieren, willenlos und widerstandlos machte er, was er wollte, und ließ sich nicht zwischen die Bretter drücken. Als wäre die Leiche lebendig und wollte auf lächerliche Weise am Ende noch störrisch sein.

Verdammt!

Die Schwierigkeit bestand darin, sie weit genug hineinzupressen. Nichts durfte zu sehen sein, der Kopf nicht und nichts vom restlichen Körper. Die Jacke, die das Loch im Bauch verdeckte, glitt zur Seite, und Gedärm und Blut quollen heraus, widerlich und eklig. Auch wenn das schummrige Licht einiges verbarg, spürten die Hände doch, was es war; es war weich und feucht und immer noch warm. Außerdem roch es nach Scheiße. Der Gestank löste einen Brechreiz aus, es war die Hölle, konnte aber mit ein paar langsamen Atemzügen unterdrückt werden. Ein Glück, denn man durfte natürlich keine Spuren hinterlassen. Die Experten konnten jede DNA aus einem kleinen Spuckefleck extrahieren, das sagten die jedenfalls im Fernsehen. Da wäre ein Haufen Erbrochenes leichte Arbeit.

Am schlimmsten war das Gesicht, denn es erinnerte daran, dass dies ein Mensch war. Am besten nicht hinsehen. Zu spät für Reue. Getan ist getan, und die Leiche musste weg. Morgen würde niemand etwas merken. Alles würde in Rauch aufgehen.

Mitten in dem Gerümpel steckte ein Karton. Nachdem die Augen sich an das Halbdunkel gewöhnt hatten, war er gut zu erkennen. Der Karton konnte erstaunlich leicht herausgezogen werden, ohne dass der Rest in sich zusammenfiel. Er war aus harter Pappe und noch heil, und er enthielt nur eine Menge Holzscheite, die man rasch ausleeren und in den Scheiterhaufen schieben konnte.

Manchmal hatte man einfach Glück!

Die Leiche passte fast in den Karton hinein. Die Füße ragten heraus, aber die konnte man auch noch unterbringen, indem man die Knie anwinkelte. Dann hieß es nur noch, den Karton an seinen alten Platz zu bugsieren.

In diesem Moment kroch das Licht über den See und beschien die Tische, die unten am Wasser standen. Auf denen aßen andere später ihr Picknick – der Gedanke war ekelerregend, aber scheißegal; einer der Tische war genau richtig, denn er war groß genug, um darauf stehen zu können.

Der schwere Karton glitt an seinen Platz, keineswegs im Handumdrehen, aber es ging. Und der Tisch war schnell wieder zurückgetragen.

Auf der Rückfahrt lag die ganze Gegend noch im Schlaf. Der Motor schnurrte.

Es war geschafft.

Kapitel 2

Hilda, Dienstag, den 1. Februar 2011

Hilda Glas sah Sterne. Obwohl es mitten am Tag war, hatte es plötzlich direkt vor ihr eine Explosion von blitzenden, sprühenden, winzig kleinen flimmernden Lichtpünktchen gegeben. So hell, wie es um diese Jahreszeit überhaupt möglich war.

Februar. Der Jahreslauf hatte sich gewendet. Ein zarter Sonnenstrahl wagte sich vor dem Fenster im vierten Stock der Chirurgischen Klinik in Oskarshamn vorsichtig heraus. Sie hatte ein paar Minuten lang geträumt und einfach nur hinausgeschaut, ehe sie sich, nichts Böses ahnend, am Schreibtisch neben dem Empfangstresen niederließ.

Kurz darauf sprühte das Feuerwerk vor ihren Augen los. Ohne Vorwarnung.

Aber nicht ohne Grund.

Sie war durch die Halle mit den Fahrstühlen geschritten und hatte die Treppe zu der sogenannten administrativen Station genommen. Dort gab es Aufenthaltsräume, Konferenzräume, Empfangsräume für Ärzte und Büroräume für Sekretärinnen, aber keinerlei Räume für die Patientenversorgung. Eine offene Küche, wo man mitgebrachtes Essen in der Mikrowelle warm machen oder einen Vormittagskaffee nehmen konnte, gab es auch.

Sie hatte allerdings ihr Mittagessen in der Kantine zu sich genommen, wo sie in einer Scholle herumgestochert hatte, die viel essbarer gewesen wäre, wenn man sie nicht paniert hätte. Nun ruhte der Fisch zusammen mit den gekochten Kartoffeln und der Remouladensoße in ihrem Magen, entzog ihr alle Energie und machte sie schwindlig.

Sie war schon eine Weile müde und aufgedreht zugleich. Die Nacht hatte viel zu wenig Schlaf geboten. Außerdem fehlte es ihr noch an Routinen, die ihre Arbeit geschmeidiger machten. Es war anstrengend, neu zu sein. Ihre Bemühungen, sich anzupassen und alles recht zu machen, verursachten ihr leicht Stress. Die Tage waren lang, aber überhaupt nicht langweilig.

»Genießen Sie die Zeit. So dynamisch wie jetzt zu Anfang wird es nie wieder werden«, hatte Daniel Skotte, ihr Chef, schon am ersten Tag zu ihr gesagt. Er hatte dabei wie ein alter Mann geklungen, obwohl er höchstens fünfunddreißig war.

Jetzt war der halbe Arbeitstag schon wieder vergangen. Den Vormittag hatte sie in der Sprechstunde verbracht, und das war wider alle Erwartungen gut gegangen. Ein Patient hatte zu ihr gesagt, sie sei wunderbar, und sie war innerlich ein paar Zentimeter gewachsen. Dass alles so gut lief, lag hauptsächlich daran, dass die Krankenschwester, die die Patienten brachte, freundlich und rücksichtsvoll war. Die Schwester achtete darauf, dass sie ihr nur so viele Patienten zumutete, wie sie als unerfahrene Ärztin bewältigen konnte. Und sie verschonte sie mit den schwierigeren Fällen. Hilda hätte bei Bedarf ältere Kollegen fragen oder im Internet auf den inländischen oder ausländischen Seiten für medizinisch ausgebildete Fachkräfte nachsehen können. Doch wenn die Patienten in der Sprechstunde ihretwegen warten mussten, dann bekam sie einen trockenen Mund, und im Kopf war alles nur noch eine zähe Karamellmasse.

Nun lag der Nachmittag wie eine öde Wüste vor ihr. Sie sehnte sich danach, sich hinlegen zu können, sich zu entspannen und vielleicht ein Nickerchen zu machen, einen »Powernap«, aber daran war natürlich nicht zu denken. Außerdem gab es ohnehin keinen Ort, wo man sich hinlegen konnte.

Es war erst Dienstag, und von der Arbeitswoche war noch viel übrig. Heute Abend würde sie das Handy ausschalten und früh zu Bett gehen, das hatte sie sich schon am Morgen geschworen. Und sie würde sich nicht vor die Nähmaschine an den Küchentisch setzen, über dem die Stahllampe wie eine einsame fliegende Untertasse von der Decke hing. Die Lampe hatte auf dem Flohmarkt nur einen Hunderter gekostet und machte ein recht ungemütliches Licht, gab aber eine gute Arbeitsbeleuchtung ab. Wie die Fliege zum Zucker zog es sie zu der Lampe und dem Küchentisch. Zufrieden dasitzen und nähen, als wäre das der wahre Sinn des Lebens. Geborgenheit.

Zufrieden!

Sie musste kichern. Das Wort hatte sie bei einer alten Frau gehört, einer Patientin, die sie sofort gemocht hatte. »Man muss versuchen zufrieden zu sein«, hatte die Frau gesagt.

Jetzt kam es darauf an, im Fluss zu bleiben und die Wellen auszureiten, dann würde die Zufriedenheit schon von selbst kommen.

So wie gestern. Da hatte sie vor der Nähmaschine gesessen, das Radio plauderte vor sich hin, die Stadt draußen schlief freundlich, und man hörte nur die Autokarawane, die von der Gotlandfähre heruntergefahren war und auf dem Weg durch die Stadt war. Die Lampe über dem Küchentisch leuchtete unermüdlich, der Rest der kleinen Wohnung hatte in friedlichem Dunkel gelegen.

Plötzlich war sie woanders. Nicht unter Palmen auf einer Südseeinsel, sie war vielmehr in einen anderen inneren Zustand verschoben worden. Plötzlich machte sich ein wohliges Gefühl breit und verdrängte die alltäglichen Sorgen, während die Hände die zugeschnittenen Stoffstücke drehten und wendeten. Die Zeit bekam Flügel. Sie vergaß sich. Wer weiß, vielleicht war das eine Art Therapie. Statt Yoga.

Und mit einem Mal war es viel zu spät gewesen, mehrere Stunden nach Mitternacht. Müde tappte sie ins Badezimmer, agierte einmal kurz mit der Zahnbürste und fiel ins Bett.

Als der Handywecker anfing zu flüstern, waren ihre Glieder bleischwer. Viereinhalb Stunden Schlaf, das war gelinde gesagt die Hölle!

Sie absolvierte ihr PJ, das Praktische Jahr in der medizinischen Ausbildung. Es schloss sich direkt an die fünfeinhalb Jahre Studium an und umfasste zusammengenommen einundzwanzig Monate in verschiedenen Kliniken. Ihr Einsatz in der Chirurgie war auf sechs Monate veranschlagt, von denen sie einen schon hinter sich hatte.

Außerdem war dies ihr erster Einsatz. Sie war als Ärztin noch leuchtend grün hinter den Ohren, und sie unternahm auch nichts, um das zu verbergen. »Ein Mädelchen«, hatte ein Patient zu seiner Frau gesagt, als er sich außer Hörweite glaubte. Er klang dabei nicht gemein, und ihr selbst war durchaus klar, dass sie Unerfahrenheit ausstrahlte.

Sie sah kurz auf die Uhr und zog dann ihre Codekarte für die Tür zur administrativen Station aus der Tasche. Die Tür machte klick, und sie trat in die Stille. Es waren an die sechs Stunden vergangen, seit sie sich viel zu spät in den Konferenzraum der Klinik geschlichen hatte, der wie eine Insel mit Glaswänden mitten auf der Station lag.

Jetzt war niemand dort, ebenso wenig wie in den Büroräumen zu beiden Seiten. Das waren kleine Schachteln, zum Flur mit Wänden und Türen aus Glas ausgestattet, die freie Sicht hinein, aber auch hinaus ermöglichten. Kein Milchglas. Vielleicht sollte das das Gefühl des Eingeschlossenseins verringern und gleichzeitig ein klein wenig Tageslicht in den Flur bringen. Doch sie hatte schon bemerkt, dass in den meisten Räumen die Gardinen zugezogen waren. So konnte niemand sehen, wenn man in der Nase bohrte oder anderen Geheimnissen fröhnte.

Am Morgen war sie zehn Minuten zu spät wie ein furchtsames Hündchen in den Konferenzraum geschlichen, war lautlos auf den Stuhl am langen Konferenztisch geglitten und hatte versucht, sich unsichtbar zu machen. Der Arbeitstag begann um halb acht, eine halbe Stunde früher, als sie es aus der Studienzeit gewohnt war, und morgens machte das einen großen Unterschied. Außerdem waren die Straßen glatt und mit dem Fahrrad schwer befahrbar gewesen. Zu Fuß hätte sie noch länger gebraucht.

Doch die um den Tisch versammelten Gesichter wirkten freundlich, nicht kritisch, und sie konnte sich ein wenig entspannen. Daniel Skotte, der in der Nacht Dienst gehabt hatte, berichtete gerade. Unrasiert und mit leerem Gesicht saß er wie ein Kartoffelsack in zerknittertem, hellblauem Arbeitshemd da und versuchte, das Wichtigste aufzuzählen. Der Spickzettel in seiner Hand war abgegriffen. Sie konnte über seine Schulter hinweg sehen, dass da nicht viel stand, und er sah auch nur flüchtig auf den Zettel. Er konzentrierte sich auf den Oberarzt und Klinikchef. Bettelte er um Anerkennung?

Mit einem Mal tat er Hilda leid. Das unstillbare Bedürfnis, alles recht zu machen, war so offenkundig. Ein gesellschaftliches Erbe der unteren Schichten, damit kannte sie sich aus, denn sie empfand genauso. Außerdem sprach er eindeutig Dialekt. Die Diphthonge breiteten sich wie fette Wülste aus und brachten ihr Herz zum Schmelzen. So menschlich, ursprünglich und nett. Er war zumindest nicht hochnäsig und versnobt.

Sie absorbierte gierig jedes Wort, das gesagt wurde. Sie war wie ein Löschpapier. Skotte berichtete von einer Frau mit Messerstichen im Gesicht – ihr Ehemann war über sie hergefallen –, die jetzt genäht worden war, Antibiotika bekommen hatte und stationär behandelt wurde. Ein Patient mit Prostatakrebs konnte sich zu Hause nicht mehr versorgen und hatte auch ein Bett bekommen. Alle im Zimmer kannten den Patienten. Vielsagende Blicke wanderten um den Tisch.

»Wahrscheinlich kann er im Laufe des Tages in die Onkologie«, meinte Skotte und holte Luft, ehe er den letzten Fall ansprach.

»Heute Morgen gegen halb sieben kam eine vierzigjährige Frau, die zusammengeklappt ist, als sie sich auf den Weg zur Arbeit machen wollte«, berichtete er. »Der Ehemann hat sie ins Krankenhaus gefahren. Sie war wirklich blass, fast weiß und hatte einen Hb von 7,5.«

Hilda konnte nur noch mit einem Ohr zuhören. Die Gedanken verselbstständigten sich. Skotte fuhr fort, den Zustand der anämischen Frau zu analysieren. Sie hatte keine physisch anstrengende Arbeit, saß in einem Büro, sonst hätte sie die Blutarmut wohl schon früher bemerkt.

»Weder eine übermäßige Menstruation und weder aus dem Enddarm noch aus der Mundhöhle«, spulte er ab.

Hilda begriff, warum er alles abdecken wollte, sonst würde nämlich einer der anderen Kollegen noch eine Stelle nennen, aus der man womöglich auch bluten konnte, das hatte sie schon gelernt. Ärzte verhielten sich oft so. Nichts sollte vergessen werden, aber man wollte auch zeigen, wie gut man war.

Doch niemand sagte etwas, sondern alle nickten nur. In der Stille, die ganz kurz entstand, verspürte Hilda, wie sich ein schleichendes und unangenehmes Ziehen in ihren Eingeweiden ausbreitete. Warum jetzt das?

Die Frau war jetzt mit zwei Ladungen Blut betankt worden, in der Blutzentrale war noch mehr bestellt worden, sie war vom Kreislauf her stabil und befand sich im Moment im CT, wie Daniel Skotte berichtete.

»Ihr könnt heute Morgen direkt mit ihr weitermachen«, meinte er, woraufhin die von der Tagesschicht nickten.

Danach brachen sie auf.

In Hilda herrschte immer noch ein unverständliches Chaos, als sie zusammen mit den anderen durch die Tür ging, um sich umzuziehen.

Jetzt, da sie sechs Stunden später wieder auf der administrativen Station war, dachte sie darüber nach, warum sie am Morgen so heftig reagiert hatte. Blutung aus unbekannter Quelle, was war schon damit?

Auf jeden Fall ekelte sie sich nicht vor dem Blut, denn dann hätte sie den falschen Beruf gewählt. Das rote, lebensspendende Blut, das durch die Blutbahnen gepumpt wurde, erschreckte sie nicht. Das Blut mit den sauerstoffhaltigen roten Blutkörperchen, den Erythrozyten, und den weißen Blutkörperchen, den Leukozyten, und mit all den Plasmaproteinen, den verschiedenen Eiweißen.

Sie saß allein in dem kleinen Büro. Die Oberärztin, bei der sie untergebracht worden war, wirkte nett und arbeitete außerdem in Teilzeit, weil sie in recht hohem Alter noch kleine Kinder bekommen hatte. Deshalb hatte Hilda das Zimmer an manchen Tagen oder halben Tagen ganz für sich allein.

Die Arbeitszimmer waren für zwei Personen geplant und mit Schreibtisch und Regal dahinter mehr oder weniger identisch eingerichtet. Manche Ärzte hausten allein in ihrer Bude. Das hatte sicherlich etwas mit Status zu tun und damit, wie lange man schon in der Klinik arbeitete.

Im Moment war sie allein. Wahrscheinlich war abgesehen von ein paar Sekretärinnen, die etwas weiter unten im Flur saßen, niemand außer ihr auf der administrativen Station. Die Kollegen waren auf die Pflegeabteilungen, die Operationssäle und die Sprechzimmer verteilt, während sie selbst davon an diesem Nachmittag befreit war. Im Dienstplan hieß das »administrative Zeit«, doch neu wie sie war, hatte sie nicht viel zu administrieren. Natürlich könnte sie sich ausstempeln, doch dann verlor sie Geld, auf das sie nach all den Jahren, die sie von ihrem Studentenbudget gelebt hatte, nicht verzichten konnte.

Stattdessen hatte sie vor, die Zeit in die Forschungsstudie zu investieren, die sie brauchte, um nach erfolgreichem PJ die Zulassung als Ärztin zu erhalten.

Sie loggte sich ein. Erst die Mails lesen, ehe es losging. Ein paar Kommilitonen aus dem Medizinstudium in Lund hatten von sich hören lassen. Alle jammerten aus den verschiedenen »Käffern« im Land, wo sie jetzt Dienst taten. Sie sehnten sich nach dem pulsierenden Leben der Universitätsstadt zurück. Als ob sie nicht erwachsen werden wollten, dachte sie. Sie selbst eingeschlossen. Aber alle freuten sich, nach fünfeinhalb Jahren Studium endlich arbeiten zu können.

Sie verließ den Mailaccount, schob die Tastatur zurück und machte Platz für die Krankenakten, die sie durchsehen sollte. Aber sie konnte sich nicht aufraffen, die Stille um sie herum machte sie müde. Sie erhob sich ungelenk und initiativlos und erwog, einen Kaffee aufzusetzen. Sie verschränkte die Arme vor der Brust und schauderte. Die nackten Unterarme, dünn wie Stöcke, hatten eine Gänsehaut. Sie nahm den Arztkittel vom Haken, zog ihn über und schob die Hände tief in die Taschen. Auf der Ringstraße draußen krochen die Autos langsam gen Westen. Der Schnee war wie Sorbet. Von hier oben sahen die Reifenspuren aus wie schwarze Schlangen im Weiß.

Plötzlich sehnte sie sich heftig nach dem Leben, das außerhalb der abgeschlossenen Wände des Krankenhauses stattfand. Aber sie ließ sich pflichtschuldig am Schreibtisch nieder und knöpfte alle Knöpfe des Arztkittels zu. Dieses symbolträchtige Kleidungsstück, das außer dem einen oder anderen nostalgisch veranlagten Oberarzt niemand mehr bei der Arbeit mit Patienten trug. Sie brauchte vor allem die Taschen des Kittels, die ihr als wandelnde Aktentasche dienten.

Die wissenschaftliche Arbeit, die sie erledigen sollte, war weder umfangreich noch besonders. Wohl kaum ein Samen zu einem zukünftigen Nobelpreis, sondern eher aus der Serie »muss auch jemand machen«. Nicht völlig öde, aber auch nicht wirklich spaßig.

Das spielte keine große Rolle. Sie war es gewohnt, sich weniger unterhaltsamen Aufgaben anzunehmen. Große Teile der medizinischen Ausbildung waren Training zur Überwindung des inneren Schweinehunds gewesen, um zu arbeiten, ob man nun Lust hatte oder nicht.

Ergeben starrte sie auf die drei hohen Aktenstapel, die sich vor ihr auf dem Schreibtisch türmten. Ihr Interesse für das, was sich in den braunen Mappen verbarg, war mäßig. Sie ließ die Schultern hängen, spürte aber, dass sie trotz allem etwas antrieb, vielleicht eine allgemeine Neugier. Oder etwas Unausgesprochenes, wie ein leichtes Kitzeln mit einer Feder an der Wange. Irgendetwas, was immer es war. Wir werden sehen, dachte sie.

Die Akten waren unterschiedlich dick. Einige Patienten hatten es sogar auf zwei Mappen gebracht, richtig schlimme Dinger, die so dick und bleischwer waren, dass es die Umschläge sprengte und sie mit dicken Gummibändern zusammengehalten werden mussten.

Sämtliche Akten waren nur für sie aus dem Archiv geholt worden, und es warteten noch mehr auf sie. Ihr Name, Hilda Glas, stand auf allen Ausleihkarten, die die Aktenmappen jetzt in den Regalen ersetzten. Sie hatte sich vorbereitet und die Stapel schon am Tag zuvor geholt, hatte sie in Stahlkörbe gelegt und zum Schreibtisch gerollt. Die Arbeit musste in der Klinik geschrieben werden, weil die Akten das Krankenhaus nicht verlassen durften. Die administrative Station wurde am Abend abgeschlossen, und nur Personen mit entsprechenden Codekarten hatten Zutritt.

Diese Krankenakten waren älteren Datums, denn sonst hätte es sie schon in digitaler Form gegeben. Vor etwa zehn Jahren hatte man im Krankenhaus Oskarshamn das elektronische System eingeführt.

Auf der Vorderseite der Mappen war jeweils ein kleines Kreuz zu sehen, das man mit Kugelschreiber oder schwarzer Tinte aufgemalt hatte. Daneben stand ein Datum – das Todesdatum. Allen Patienten, die zu ihrer schlichten wissenschaftlichen Arbeit gehörten, war gemeinsam, dass sie tot waren.

Sie verglich die verschiedenen Aktentexte nach einem festgelegten Protokoll mit dem, was kurz gefasst in der Aussage über die Todesursache stand. Dieser Text, der inzwischen aus dem Computer geholt wurde, musste immer von Ärzten ausgefüllt und dann innerhalb von drei Wochen nach dem Todesdatum an die statistische Abteilung des Sozialamtes geschickt werden. Eine Kopie davon wurde in der Akte aufbewahrt. Die fand sie meist ganz hinten zwischen Laborlisten und Antworten von Bakteriologen, Zytologen, Pathologen und anderen externen Instanzen. Stimmte der Text mit dem in der Krankenakte überein? Ihre Aufgabe war es unter anderem, das zu kontrollieren.

Die Vorgehensweise bei ihrer Arbeit war in Zusammenarbeit mit ihrem Doktorvater in Lund geplant worden. Alle Formalien waren geklärt, die Studie war von der ethischen Kommission genehmigt. Ihr Doktorvater war ein mäßig engagierter fünfzigjähriger Chirurg, den sie nicht unnötig mit Fragen belästigte. Sie hatte das Gefühl, nicht einschmeichelnd genug zu sein, um ihm wirklich angenehm zu sein.

Jetzt gähnte sie zum tausendsten Mal und streckte sich mit schlafwandlerischer Sicherheit nach der obersten Krankenakte. Sie war dünn. Das wird schnell gehen, dachte sie. Wahrscheinlich keine chronischen Krankheiten oder komplizierte Verläufe, die sie nachvollziehen musste.

Ein Lastwagen oder ein anderes schweres Gefährt nahm unten im Schneematsch langsam Fahrt auf, während sie sich auf das Geburtsjahr auf dem Umschlag konzentrierte. Der Stift ruhte in ihrer Hand, und sie setzte die Spitze auf dem Papier auf, um das Datum zu notieren.

Doch sie hielt mitten in der Bewegung inne. Der Name blendete sie. »Clarissa Andersson-Glas«. Sie rang nach Luft. Hielt dann den Atem an und starrte noch einmal auf die Personennummer. Fokussierte nochmals.

Doch, es stimmte! Auf jeden Fall die ersten sechs Ziffern: Jahr, Monat und Tag. Die Krankenakte ihrer Mutter!

Sie erstarrte, ihr Inneres wurde zu Magma. Ein heißer, dampfender und glühender Lavastrom wallte auf und fand keinen Weg hinaus. Weil ihr nichts anderes einfiel, blieb sie einfach sitzen. Sie war vollkommen überrumpelt, und die Verwirrung wurde noch größer, als sie den Namen der Ärztin las, die den Bericht diktiert hatte. Veronika Lundborg-Westman, dieselbe Oberärztin, mit der sie jetzt das Büro teilte. Allerdings hatte diese seither einen Nachnamen verloren, wahrscheinlich hatte sie sich scheiden lassen. Ein Oberarzt wurde in dem Text auch schon in der ersten Reihe genannt: Elof Tingström. Soweit sie wusste, arbeitete er nicht mehr in der Klinik.

Sie hatte selbst entschieden, das PJ in ihrer Heimatstadt abzuleisten, und sie hatte auch ihr Forschungsgebiet nach eigenem Wunsch gewählt. Somit hatte sie also mehr oder weniger um diese Entdeckung gebettelt und stolperte jetzt gleich zu Anfang darüber. Wahrscheinlich hatte sie sich eingebildet, dass es leichter wäre, unschuldig zu sein, zufällig etwas zu finden, als aktiv danach zu suchen.

Ihr schwirrte der Kopf. Doch mit ihrem Kopf war alles in Ordnung, das hatte sie schon oft gehört, und was ansonsten an ihr vielleicht nicht in Ordnung sein könnte, damit wollte sie sich gar nicht befassen. Jetzt saß sie jedenfalls hier und zitterte, hatte Angst vor dem Inhalt dieser Mappe und davor, dass ihr Dasein wieder auf den Kopf gestellt werden könnte.

Wieder und wieder schluckte sie, aber es half nichts.

Es war nie darum gegangen, sich zwischen Vergessen oder Erinnern zu entscheiden, diese Freiheit hatte sie nie gehabt. Um groß werden zu können, hatte sie sich geweigert sich zu erinnern.

Wenn sie irgendetwas in ihrer Ausbildung gelernt hatte, dann, dass ein Kind nicht alle schrecklichen Dinge oder Traumata in sich bewahren kann. Ein Kind sortiert aus. Deshalb hatte sie sich clean gemacht und abweisend gegen alles, was sie sonst verbrannt hätte. Rein intellektuell hatte sie das später im Seminar über Pädiatrische Psychosomatik gelernt. Es war also nichts, was sie bewusst geübt hatte, sondern ein eingebauter Schutzmechanismus.

Und es hatte ausgezeichnet funktioniert, da niemand mit ihr geredet hatte, weder damals, als das alles geschah, noch später. Die Erwachsenen hatten eine Glocke des Schweigens um alles gelegt, was mit ihrer Mutter zu tun hatte. Nicht nur ihre Mutter, auch ihr Vater war von demselben Schweigen umgeben. Kinder sollen durch Unwissen und Schweigen geschont werden.

Was im Schnee versteckt wird, im Tauwetter sich offenbart, dachte Hilda. Es war eine Weile vergangen, sie konnte nicht sagen, ob Minuten oder Sekunden. Mutter war nicht alt gewesen, als sie starb, aber das hatte sie natürlich schon immer gewusst. Nur ein paar Jahre älter als sie selbst jetzt war.

Nun lag die Wahrheit vor ihr. Sie hatte gehört, dass ihre Mutter eine Blutvergiftung gehabt hatte, gegen die die Ärzte nichts hatten ausrichten können. So ein junger Mensch, sagte man in mitleidvollem Ton und mit schief gelegtem Kopf.

Gift im Blut – was könnte erschreckender sein? Kein Penicillin sprach an. Sie erinnerte sich an die schmalen, ernsten Lippen der Nachbarin und an die Hand, die ihr übers Haar strich. Mariana hieß sie. Mariana Skoglund, sie hatte auch in der Glashütte gearbeitet, wie Mama.

Während ihres Studiums hatte sie einige Male einen starken Impuls verspürt herauszubekommen, welcher Mikroorganismus es genau gewesen war, der ihre Mutter heimgesucht hatte, so dass sie einen derart ernsten septischen Schock entwickelt hatte, dass sie daran gestorben war. Sie hatte erwogen, einen Arzt zu bitten, ihr die Krankenakte zu besorgen, sie zu lesen und zu erklären. Sie selbst durfte die Akte nicht bestellen, denn es war die der Mutter und nicht ihre eigene. Die Schweigepflicht galt auch nach dem Tod. Aber der Impuls verging wieder. Es war nicht eilig.

Jetzt lag die Akte vor ihr. Verdammt! Sie biss sich auf die Unterlippe. Ganz fest biss sie, bis sie anfing zu bluten und sie die Lippe mit dem Handrücken abwischen musste. Als das nicht reichte, kramte sie ein Papiertaschentuch aus dem Rucksack und drückte es auf die Lippe. Die andere Handfläche legte sie derweil behutsam auf die Mappe, um sich zu versichern, dass das alles nicht nur Einbildung war.

Zur Sicherheit kontrollierte sie noch einmal die Personennummer. Auch die vier letzten Ziffern bestätigten, dass es sich um ihre Mutter handelte. Sie begannen mit einer 29, und das stimmte damit überein, dass die Mutter im Bezirk Kalmar geboren war. Diese Ziffern für den Geburtsbezirk wurden inzwischen nicht mehr verwendet. Die dritte Ziffer war natürlich gerade, eine Vier, da es sich um eine Frau handelte. Männer hatten an dieser Stelle eine ungerade Zahl. Die vierte Ziffer war eine Kontrollziffer, die nach einer gewissen Formel errechnet wurde, die sie nicht interessierte.

Der Bericht war mit einer losen Klammer zusammengefügt, die durch die vorgefertigten Löcher gezogen war. Ganz vorn auf der Übersicht, wo Operationen und andere Krankenhausaufenthalte aufgeführt waren, gab es zwei Eintragungen. Der Bericht galt ausschließlich für die Chirurgische Klinik. Wenn sie wissen wollte, ob ihre Mutter in anderen Kliniken und in ambulanter Pflege gewesen war, dann musste sie die Berichte von dort holen, und so weit war sie noch nicht. Gewisse Informationen konnte sie unter der Rubrik »Frühere Erkrankungen« dem gewöhnlichen Laufzettel entnehmen, der zusammen mit der Einlieferung erstellt worden war, sofern der betreffende Arzt die Zeit gehabt hatte, danach zu fragen.

Das erste Mal, dass ihre Mutter im Krankenhaus gelegen hatte, war zwei Tage im Zusammenhang mit einer Appendektomie, einer Blinddarmoperation aufgrund einer Appendizitis, einer Blinddarmentzündung, gewesen. Nicht der Rede wert. Erst beim nächsten Krankenhausbesuch war alles schiefgegangen. Mit einem Mal tanzten eigene Erinnerungen vorbei. Flimmerten, manche in Farbe, wie bei einem Film, andere schwarzweiß, aber zumeist in Form von Lauten und Lautbildern. Immer schneller lief der Film, ruckartig und unzusammenhängend, während sie aufzunehmen versuchte, was dort in dem Bericht stand. Ihr Herz pochte. Sie blätterte, las und hielt plötzlich inne. Sie war dabei gewesen!

Das war also nichts, was sie sich nur eingebildet oder geahnt hatte. Sie sollte sich wirklich daran erinnern, aber es gelang ihr nun mal nicht. Es stand im Text. »In Begleitung einer minderjährigen Tochter«.

Warum hatte die Mutter sie mitgenommen? Gab es vielleicht niemanden, der auf sie hätte aufpassen können?

Blitzartige Erinnerungsfetzen nahmen immer mehr Form an. Die Mutter auf der Trage, bleich, weiß. Und noch eine Person. Wer war das? Ein Mann im Anzug? Kleinkariertes Jackett. Hahnentrittmuster – ein Wort, das sie damals nicht beherrschte, aber sie erinnerte sich an das Muster.

Auf jeden Fall hatte sie auf einem Stuhl in der Ecke gesessen. Ein harter Stuhl. Saß sie da allein im Behandlungsraum, während ihre Mutter im Sterben lag? Das konnte sie sich nicht vorstellen. Das wäre doch nicht normal! Sie musste das herauskriegen. Vielleicht mit Veronika sprechen, falls die sich erinnerte.

Dann hatte jemand sie hinausbegleitet, daran erinnerte sie sich. Eine Krankenschwester, die nett gewesen war und ihr einen Apfel gegeben hatte. Stimmte das, oder war das nur ein Wunschtraum? Dass nette Menschen sich um Mama gekümmert hatten und auch um sie und dass alles gut werden würde?

Haben sie das gesagt? Haben sie überhaupt gesagt, was werden würde? Haben sie gelogen? Betrogen?

Sie rollten Mama auf einer Trage davon, es war Trubel, und sie war nicht sicher, ob es Mama war, da waren so viele andere kranke Menschen. Die Leuchtstoffröhren an der Decke blendeten, glatte graue Wände im Korridor, auf denen der Blick ausrutschte. Sie fuhren mit Mama weg, weil mit dem Blut etwas nicht in Ordnung war. Das war ernst. Schlechtes Blut. Hatten sie wirklich Blutvergiftung gesagt?

Damals wie heute brach Chaos im Gehirnkontor aus. Sie hatte sich geweigert zu verstehen, was da geschah. Eine Mutter konnte doch nicht sterben, das war unmöglich. Und schon gar nicht, wenn Papa bereits tot war.

Schließlich fiel ihr Blick auf die Diagnose, und etwas in ihr gab nach. Diese Diagnose hatte überhaupt nichts mit einer Infektion zu tun, damit, dass Bakterien das Blut angegriffen hätten. Kein einziges Wort von Blutvergiftung. Von Sepsis.

Zum Teufel, man hatte ihr direkt ins Gesicht gelogen, all die Jahre! Warum nur?

Der Zorn kochte in ihr hoch. Die große Wut. Sie war betrogen worden. Es war nie schön, sich betrogen zu fühlen. Ihr Herz hämmerte. Sie hob den Kopf und starrte geradewegs an die Wand, während sie sich zu beruhigen suchte. Dann konnte sie nicht mehr.

Das Herz nahm Fahrt auf, es schmerzte in der Brust. Das Blut schoss ihr in den Kopf. Plötzlich war es, als würde etwas bersten, und ein weißes, sprühendes Licht explodierte vor ihren Augen. Sie holte Luft und fing an, heftig zu blinzeln. Wie Scheibenwischer im Platzregen sausten die Augenlider auf und ab, aber das Flimmern blieb.

Sie war wie geblendet, aber das Lichtphänomen rührte nicht von einer Lampe oder einem Scheinwerfer, sondern kam von innen, vom Gehirn und den Sinneszellen. Flimmerskotom, eine Aura, dachte sie. Die Warnung vor einem Migräneanfall, allerdings würde es ihr erster sein. Die Kopfschmerzen folgten, das wusste sie, und die konnten so explosiv sein, dass der Betroffene gezwungen war, sich bei vorgezogenen schweren Gardinen ins Bett zu legen, mit einem Eimer daneben, in den er reinkotzen konnte.

Aber noch war sie nicht so weit.

Der Sternenregen rieselte über die Aktenmappen, breitete sich über den Schreibtisch und am Computer vorbei aus, um schließlich über alles zu regnen, auf das sie zufällig den Blick lenkte.

Plötzlich zog es in den Eingeweiden. Angst, dachte sie. Nicht jetzt! Sie hielt dagegen. Lange, ruhige Atemzüge.

Sie musste raus. Fuhr hoch und machte ein paar Schritte Richtung Flur und Toilette, um sich das Gesicht mit kaltem Wasser zu waschen, aber sie torkelte und schlug gegen die Wand, die Schulter schmerzte. Schnell versuchte sie sich wieder zu setzen, aber die Rollen unter dem Stuhl bewegten sich, und sie stürzte, musste sich schwindelig wieder aufrappeln, um sich schließlich doch zu setzen. Sie tastete nach dem Telefon auf dem Schreibtisch, konnte aber die Tasten nicht klar erkennen. Schaffte es nicht, mit den Fingerspitzen zu fühlen, sondern gab auf und ließ den Kopf hängen.

Die Wangen brannten. Wenn jetzt Veronika Lundborg plötzlich hereinkam und sie in dieser peinlichen Situation vorfand? Sie wollte das nicht erklären müssen. Sie wollte sich nicht lächerlich machen. Wollte nicht anders sein oder in irgendeiner Weise schwierig wirken.

Sie hob den Kopf und drehte ihn in verschiedene Richtungen. Das Licht blendete unvermindert scharf und weiß, was auch immer sie tat. Ihr Magen krampfte sich zusammen. Keine Angst! Sie tröstete sich damit, dass sie schließlich noch jung war. Aber Jugend schützt nicht vor allem Bösen!

Vor ihrem inneren Auge tauchte eine siebzehnjährige Gymnasiastin auf. Es war im Universitäts-Krankenhaus Lund gewesen, und sie selbst war Medizinstudentin, als die Frau mit einem Flimmerskotom in die Ambulanz stolperte. Das Gesicht gequält. Die Migräne war immer noch nicht gekommen. Noch hielt die Wand des ausgebeulten Blutgefäßes im Gehirn. Die Eltern kamen ein paar Schritte dahinter. Keiner ahnte, was geschehen würde.

Kurz darauf setzten bei der Patientin die Kopfschmerzen ein, stechend und quälend. Das war keine Migräne. Wenn es überhaupt je eine gewesen war. Die junge Frau verlor das Bewusstsein, die CT-Bilder zeigten eine große Hirnblutung, und sie wurde augenblicklich in die neurochirurgische Operationsabteilung gerollt. Ein Aneurysma. Die Blutung wurde gestillt, das Gefäß repariert, aber Hilda erfuhr nie, wie es danach weitergegangen war.

Hatte sie selbst eine dünnwandige Ausbuchtung in einer Hirnarterie, die bisher keinerlei Symptome gezeigt hatte?Aber sie hatte keine anderen Symptome außer das Flimmern. Ein wenig Herzrasen.

Sie lehnte sich im Stuhl zurück und wartete.

Sie hatte kein Zeitgefühl. Wahrscheinlich waren nur ein paar Minuten vergangen, als das Flimmern allmählich weniger wurde. Sie ahnte, dass es bald vorübergehen würde. Auf der administrativen Station war immer noch nichts los. Im Zimmer der Sekretärinnen klingelte ein Telefon, das war alles.

Um etwas zu tun zu haben, zog sie das Handy aus der Tasche und hielt es eine Weile in der Hand, um es dann wieder zurückzustecken. Sie hatte die Telefonnummer von Sam ohnehin nicht im Kopf und auch nicht im Handy abgespeichert. Um nach der Nummer im Internet zu suchen, konnte sie nicht genug sehen. Jetzt nicht. Später würde sie versuchen, ihn zu erreichen.

Samuel war der einzige Mensch auf der Welt, der sie ohne viele Worte verstehen würde. Ihre einzige echte Verbindung in die Vergangenheit. Es würde genügen ihm zu sagen, wessen Krankenakte sie da in Händen hielt, dann würde er verstehen. »Verdammte Scheiße«, würde er sagen. Dann würden sie beide schweigen.

Wo war er bloß? Es war fast zwei Jahre her, seit sie das letzte Mal Kontakt hatten, und das war nicht nur positiv gewesen. Unglaublich, wie viel Dreck aufgewirbelt wurde, wenn sie an ihn dachte, alles unsortiert und brackig. Mit Sam war es immer auf und ab gegangen, deshalb hatte Mama ihn nicht in den Griff gekriegt. Aber die Familie in Kalmar glaubte an ihn. Ob er sich wohl in Stockholm hatte fangen können?

Die Sehnsucht schmerzte, Sehnsucht nach Samuel. Zerrissen und hoffnungslos und wahrscheinlich völlig sinnlos. Aber stark. Der Name der Mutter und ihre Personennummer, mit einer altmodischen Schreibmaschine auf einen weißen Klebezettel geschrieben, leuchtete ihr von einem achtzehn Jahre alten Krankenbericht entgegen.

Damals war sie in die zweite Klasse gegangen, und wenn man genauer bedachte, mit welcher Katastrophe alles begonnen hatte, waren es sogar achtzehneinhalb Jahre gewesen. Es war im Herbst passiert. Vielleicht hatte sie damals schon blinde Flecken in der Erinnerung. Aber es war wohl das andere große Ereignis, das ihr widerfahren war, das sie systematischer vergessen ließ.

Die Erwachsenen um sie herum waren nicht leicht zu verstehen gewesen. Man strich ihr sanft über den Kopf und bat sie, in ihrem Zimmer oder draußen zu spielen. In jener Zeit war sie viel in ihrem Zimmer oder allein draußen gewesen.

Sie wurde aus ihren Gedanken gerissen. Es roch nach Kaffee. Draußen im Personalraum hatte jemand welchen aufgesetzt. Sie wandte den Kopf zur Tür und sog die Luft ein, erhob sich aber nicht.

Die Traurigkeit war jetzt in ihrem Innern eine Etage tiefer gerutscht und lag dort schwer und zäh. Sie schluchzte nicht einmal. Vielleicht würde alles wieder in Gang kommen, wenn sie sich zusammennehmen und die knapp vierzig Kilometer ins Landesinnere fahren würde, in die Gegend, die sie zwischen zweiter und dritter Klasse verlassen hatte, um dann in Oskarshamn aufzuwachsen.

Jetzt war sie eine freiwillige Rückkehrerin auf Zeit. Denn wenn das PJ erst einmal abgeschlossen war, wollte sie nach Lund zurückkehren. In die Wohnung an der Södra Esplanaden, die jetzt untervermietet war. Zurück zu Schwung und Elan der Studentenstadt, zurück an den Ort, an dem niemand ihren Hintergrund kannte. Wo sie einfach nur irgendjemand war.

Aber das musste noch warten. Jetzt gab es anderes zu erforschen. Die durchtrennten Kabel zwischen damals und heute waren unweigerlich wieder miteinander verbunden worden. Der Strom floss. Sie musste da durch.

Der Atem stockte ihr. Ihre Lippen glitten auseinander, um den zitternden Luftstrom rauszulassen und auch das Weinen, das jetzt endlich kam.

»Die Jahre vergehen«, stieß sie mit belegter Stimme hervor. Das sagte sie wie eine alternde Frau, die sich über den Gang der Dinge beklagt. Der Computerbildschirm vor ihr antwortete natürlich nicht, ebenso wenig wie die Wand oder das Pinnbrett.

»So ist es«, sagte hingegen eine fröhliche Stimme direkt hinter ihr. »Und das ist so ziemlich das Einzige, dessen man sich ganz sicher sein kann.«

Sie fuhr auf dem Drehstuhl herum und sah in das Gesicht von Veronika Lundborg, die eben mit einem Stapel Zeitschriften den Raum betreten hatte. Die ältere Kollegin versuchte angestrengt, die Zeitschriften in das bereits überfüllte Regal zu stopfen. Warum schmeißen wir den Mist nicht einfach weg?, dachte Hilda flüchtig. Das meiste davon findet man inzwischen ohnehin im Netz.

Doch sie sagte nichts, weder über die Zeitschriften noch darüber, was sie eben entdeckt hatte. Beide nickten und lächelten einander zu. Dann war sie wieder allein.

Und sofort überfiel sie alles von neuem.

Kapitel 3

Hilda, Dienstag, den 1. Februar 2011

Hilda riss ihr Rad aus dem Fahrradständer. Es standen nur wenige Räder unter dem Wellblechdach, natürlich waren die meisten Leute mit dem Bus oder dem Auto gefahren. Erst neulich war ihr aufgefallen, dass der Bus immer noch das Fortbewegungsmittel für Frauen war – die Krankenschwestern und Sekretärinnen nahmen »die Öffentlichen«, während ihre Männer mit dem Auto fuhren. In Lund fuhren alle mit dem Rad. Doch hier standen reihenweise glänzende Karossen zwischen den kahlen Vogelbeerbäumen, die den Parkplatz in verschiedene Abschnitte aufteilten. Sogar die Autos wirkten, als würden sie in der rauen Luft zittern.

Sie zog den Sattelschutz über, stieg auf und radelte langsam und unsicher am Eingang des Krankenhauses vorbei zum Fahrradweg Richtung Stadtzentrum. Der Schnee lag in gräulichen Rinnen und entblößte zum Teil getaute, unebene Eisplacken. Die Räder rollten halb und rutschten halb; glatt war es und unberechenbar, was für eine blöde Jahreszeit! Immerhin gab es noch Tageslicht, obwohl es schon später Nachmittag war. Sie musste nicht das Fahrradlicht einschalten, das war ja schon mal etwas.

Nachdem Veronika gegangen war, hatte sie Schluss gemacht. Sie hatte die Mappe zusammengeklappt, sich schnell umgezogen, ausgestempelt und den Fahrstuhl nach unten genommen. Sie musste sich abkühlen und brauchte Ruhe.

Jetzt schaffte sie es mit Mühe und Not, den kurzen Weg zum Rondell an der östlichen Einfahrt zum Stadtzentrum zu bewältigen. Februar und März waren eine schreckliche Übergangszeit, weder Winter noch Frühling. Sie dachte an Sam. Wenn sie ihn doch nur finden könnte, sie sehnte sich danach, mit ihm zu sprechen. Über früher reden. Worte für den Schrecken finden. Vielleicht erinnerten sie sich ja an unterschiedliche Dinge. Sie hatten niemals über das gesprochen, was da geschehen war, warum sollten sie auch? Es tat schließlich weh. Auf jeden Fall hatte sie selbst versucht, nach vorn zu schauen. Ihr Leben als Erwachsene konnte sie beeinflussen und so gut wie möglich gestalten. Es zu ihrem Leben machen. Zumindest bildete sie sich das ein. Aber es gab so viele Lücken und seltsame Dinge. Patienten wollen eine Erklärung, am liebsten eine Diagnose. Sie wollte auch eine Erklärung. Die Leere in ihr hallte wider, und die Angst kroch in ihr hoch, wenn sie an früher dachte. Aber es gab auch Sanftes, warme Umarmungen und viel Lachen.

Waren ihr Weltbild und das von Sam eher gleich, oder unterschieden sie sich? Vielleicht konnte er das Bild vervollständigen. Zwar war er bereits ausgezogen, als die Mutter starb, aber da gab es noch so vieles, was davor geschehen war und woran sie sich nur dunkel erinnerte. Vielleicht konnte er mit plausiblen Erklärungen aufwarten.

Ihr Eifer wuchs, plötzlich hatte sie das Gefühl, nicht mehr weiterleben zu können, wenn sie nicht bald erfuhr, wie das mit Papa, Sam und Mama alles zusammenhing. Ihre Schultern verspannten sich bei dem seelischen Balanceakt und weil sie versuchte, sich auf der Straße zu halten.

Völlig ohne Sinn schob sich plötzlich der Gedanke an Fredric Lido zwischen all ihre Überlegungen über das Leben. Als ob sie ihr Gewissen noch mehr beschweren wollte!

Wenn das eine echte und nahe Beziehung war, dann sollte sie sich ihm natürlich anvertrauen. Sie sollte Fredric anrufen oder ihm zumindest eine Mail schicken, denn die Geschichte, dass sie die Krankenakte von ihrer Mutter gefunden hatte, war natürlich nichts, was man mit einer SMS abtat. Aber sie hatte keine Lust mit ihm zu reden. War an dieser Beziehung nicht irgendetwas völlig falsch? Das wollte ihr schlechtes Gewissen ihr natürlich sagen. Tu etwas! Reiß dich zusammen und trenne dich. Einfach nichts tun geht nicht.

Seit sie in Oskarshamn war, hatte sie ihn erst einmal angerufen, was schon viel besagte. Er, der so schlau war, wie er immer betonte, sollte das dann doch selbst begreifen, fand sie. Superschlau war er, das Ass des Studienjahrgangs.

Sie konnte nicht gut Schluss machen, und noch weniger konnte sie akzeptieren, wenn jemand mit ihr Schluss machte. Wahrscheinlich lag da das Problem. Sie versuchte, sich ihn ins Gedächtnis zu rufen. Das ging nur langsam, aber es ging. Lockige Haare, die voll und glänzend waren und doch viel weicher, als man meinen würde. Sie fuhr in Gedanken mit den Fingern durch diese Haare, wie sie es oft getan hatte. Und dann hatte er immer beide Arme um sie gelegt und sie an sich gezogen.

Aber diesmal tat er es nicht. Er tat es nicht, weil sie es nicht einmal in ihren Gedanken wollte. Oder vielleicht weil sie nicht damit rechnete, dass er so folgsam war. Zwar war er schlau, aber nicht sonderlich einfühlsam. Er würde sie nicht wegschieben, sondern einfach nur mit hängenden Armen dastehen, den Kopf voller wichtiger Gedanken zu neuen Experimenten, die er im BMC, dem Biomedizinischen Centrum an der Sölvegatan in Lund, direkt neben dem Krankenhaus, durchführen würde. Sie sah ihn schon in dem weißen Laborkittel mit der Pipette in der Hand an einem Tischabzug.

Es regte sich rein gar nichts in ihr. Wenn sie versuchte, das Gefühl zu beschwören, wenn sie miteinander schliefen, blieben ihre Überlegungen idiotischerweise daran hängen, wo es am besten war. Nicht die Stellungen oder die Berührungen, sondern ob sie in ihrer Wohnung in Lund oder in seinem schmalen Bett am Tornavägen hemmungsloser fickten. Weder im Kopf noch sonst wo wollten sich irgendwelche Gefühle einstellen. Alles blieb leer.

Der Fahrradweg war zu Ende, und die Straße ins Zentrum hinein war so glitschig, dass sie abstieg und schob. Der Bürgersteig war eigentlich gestreut, aber es fühlte sich nicht gut an, dort mit dem Rad zu fahren. Ihre Fingerspitzen waren zu Eiszapfen geworden, die leicht abbrechen konnten, und die Füße in den dünnen Stiefeln waren taubgefroren. Trotzdem ging sie schnell, von Ungeduld getrieben.

Ihre Gedanken kehrten wieder zu Sam zurück. Die ganze Zeit sehnte sie sich danach, dass sie einander wiederfinden würden.

Die Fingerhandschuhe genügten nicht, sie sollte sich Fäustlinge und ein Paar dickere Stiefel anschaffen. Diese waren nicht einmal bequem, sondern flach und dünn. Aber schick. Das war ja manchmal genauso wichtig.

Sie hatte schon fast vergessen, dass es hier, dreihundert Kilometer weiter nördlich, mehr schneite als in Lund. In Skåne hingegen wehte ein rauer Wind. Sie hatte noch nie die Ski mit nach Lund genommen, die standen immer noch im Schuppen am Axel-Munthes-Stig in Oskarshamn. Bei Robert und Britta-Stina.

Ein Wollschal, der sich um den Hals schmiegte, und eine dicke und winddichte Mütze wären auch nicht dumm. Sie könnte heute einfach in einen Laden gehen und sich welche kaufen. Aber wo? Sie kannte sich in Oskarhamns Läden nicht mehr aus, es fiel ihr nicht gleich ein passendes Geschäft ein, und plötzlich war sie sehr müde.

Nicht heute, dachte sie. Ich muss versuchen, Sam zu erreichen. Sie sah ihn die Schultern bis zu den Ohren hochziehen, sich zusammenkrümmen und in der Kälte schnattern und dann fast verlegen unter der Haartolle hervorkucken. Oder ganz einfach aus Scham. Sie erinnerte sich, dass er oft den Blick schweifen ließ, als gäbe es etwas, wofür er sich schämte, als hätte er ungewollt irgendetwas falsch gemacht. Er hatte nur allzu oft ungerechte Beschuldigungen über sich ergehen lassen müssen.

Ein Taugenichts, sagten ein paar der Alten im Dorf. Flink und witzig, sagten andere. Als sie klein waren, hatte sie sich immer für Samuel geschämt, und gleichzeitig hatte er ihr leidgetan. Sie, die Schwester des Taugenichts.

Ganz sicher fror Samuel in diesem kalten Winter. Er hatte immer so viel im Kopf gehabt, dass ihm ganz egal gewesen war, was er anzog. Er nahm einfach das, was Mama ihm hingelegt hatte. Bestimmt machte er es immer noch so, dass er sich das Nächstbeste griff, was er selbst beim Ausziehen auf den Boden hatte fallen lassen. Vielleicht nur eine dünne Jeans und ein Hemd, oder ein verwaschenes T-Shirt, oder einen zu klein gewordenen Pullover, bei dem die Hände aus abgewetzten und schmuddeligen Bündchen herausstaken. Und dann nur eine alte Sommerjacke, obwohl es Winter war. Das schnitt ins Herz. Es war eine so wahnsinnig traurige Vorstellung, dass sie es kaum aushielt. Sie wollte, dass es genau andersherum wäre, dass mit Samuel alles in Ordnung wäre. Dass er es gut hatte. Dass ihm warm war und seine Wangen rosig. Aber nicht, dass er sich mit Alkohol wärmte, bloß nicht!

Aber warum sollte er das auch, nur weil er Künstler war? Und weil er an dem Abend vor zwei Jahren, als sie sich das letzte Mal gesehen hatten, sternhagelvoll gewesen war? Damals hatte sie keine Lust mehr gehabt, ihn öfter zu treffen.

Ein Auto dröhnte an ihr vorbei und fuhr so schnell und so nah am Bordstein, dass sie von einer Schneematschkaskade durchtränkt wurde. Idiot! Sie versuchte, das Schlimmste abzuklopfen. Die Schuhe waren undicht. Die Strümpfe waren nass, aber das merkte sie nicht mehr. In fünf Minuten war sie zu Hause in der Dammgatan. Eine typische Seitenstraße mitten im Zentrum, mit Autowerkstatt und Flohmarkt in den alten Fabrikgebäuden direkt gegenüber.

Als sie endlich an der Ampel in der Stengatan ankam, war die Straße stärker befahren, und so sprang sie aufs Fahrrad und rollte das letzte Stück herunter, bremste vorsichtig ab und bog in die Straße ein, in der sie wohnte.

Das Gebäude hatte einen Fahrradkeller, sie bemühte sich, das Rad so hinzustellen, dass das Schloss über Nacht nicht einfror, und versuchte dann, Leben in ihre Füße zu bekommen, indem sie zum Eingangsbereich im Erdgeschoss lief. In dem Moment öffnete sich die Eingangstür aus Glas, und sie konnte eine Daunenjacke erkennen, die nach draußen verschwand. Sie kannte niemanden im Haus, und man begegnete sich nur selten.

Die Wohnung, die sie über eine Annonce gefunden hatte, passte ausgezeichnet. EineEinzimmerwohnung mit verhältnismäßig geräumiger Küche und einem kleinen Flur. Die Küche ging zur Straße raus, das Zimmer nach hinten zum Hof. Manchmal lärmte der Kühlschrank, aber ansonsten herrschte des Nachts Friedhofsstille, als würden nur sie, die Nähmaschine, der Sternenhimmel und die Stimmen aus dem Radio allein auf der ganzen Welt existieren. Abgesehen von den inzwischen vertrauten Motorengeräuschen der Schlange aus Autos und Lastwagen, die die Gotlandfähre verließen und dann über die Norra Fabriksgatan aus der Stadt fuhren. Das geschah immer gegen zwanzig Uhr.

Davon abgesehen passierte auch tagsüber kein nennenswerter Verkehr die Dammgatan. Als sie das erste Mal die Haustür aufgeschlossen hatte und über die Schwelle getreten war, hatte sie gedacht, dies sei ein Ort, an dem man Angst bekommen könnte. Aber sie bekam keine Angst. Sie hatte schließlich nicht vor, in Oskarshamn zu bleiben.

Als sie nach dem Abitur die Stadt verlassen hatte, war sie wie eine Löwenzahndolde davongeflogen – leicht, eifrig und neugierig auf das Leben jenseits der Stadtgrenzen. Sie landete in einer weitaus offeneren Landschaft in einer anderen Art von Stadt, in der die Menschen nicht so einfach aufeinanderstießen. Eine alte Universitätsstadt mit über einhunderttausend Einwohnern. Sie kam an einen Ort, an dem niemand sie kannte, und das war großartiger, als sie je geahnt hatte.

Doch sie sagte sich selbst immer wieder, dass sie aus freien Stücken nach Oskarshamn zurückgekehrt war. Das musste erst mal reichen. Ein paar Kollegen bei der Arbeit hatten sie natürlich gefragt, ob sie Heimweh gehabt habe und ob sie deshalb zurückgekommen sei. Diese Frage hatte sie verneint, ohne unhöflich zu sein. Sie hatte nicht gesagt, dass sie Oskarshamn eigentlich verabscheute, aber dass sie mit der Stadt in Ermangelung anderer Möglichkeiten vorliebnahm. Die Erklärung war, dass das PJ hier einen guten Ruf hatte, sie bekam sofort einen Platz ohne Warteliste, wie es bei den beliebteren und größeren Stellen der Fall war.

Ach, ganz egal, jetzt war sie hier!

Die Wohnung in Lund hatte sie schnell und problemlos vermietet, hatte Kleider, Computer und Nähmaschine eingepackt und konnte mit einem Freund mitfahren, der ein Praktikum bei der Zeitung in Oskarshamn machen wollte.

In der ersten Nacht schlief sie bei Britta-Stina und Robert am Axel-Munthes-Stig in Norrtorn. Sie freuten sich, dass sie kam, und wahrscheinlich ebenso sehr, dass sie nicht vorhatte, ihr Haus zu beanspruchen. Von ihnen bekam sie ein Bett, das Robert auf dem Autodach festschnürte, und es war ein rechtes Abenteuer, bis sie es durch den Schneeregen in ihre Wohnung gebracht hatten.

Der Flohmarkt gegenüber erwies sich als Goldgrube, dort konnte sie ihre ganze Wohnung für wenig Geld ausstatten. Ein Tisch, vier verschiedene Küchenstühle, Teller, Besteck, Gläser, Töpfe und die Kommode, die alle in dem einzigen Zimmer standen. Robert hatte ihr geholfen, das nach Hause zu tragen, was sie nicht allein schaffte. Die Kommode war gelb gestrichen und an einigen Stellen abgestoßen, aber sie erhellte den Raum und sah richtig nett aus. Die Fenster mussten kahl bleiben, es lohnte sich nicht, Gardinen aufzuhängen. Sie war zufällige Touristin in ihrer eigenen Stadt, und so sollte es auch bleiben.

So war das. Plötzlich öffnete sich eine Tür.

Kapitel 4

Kriminalkommissar Claes Claesson legte den Hörer auf, hob den Kopf und sah mit zusammengekniffenen Augen aus dem Fenster. Ein paar Sekunden lang wurde es in seinem Innern ganz still. Die Magie der wechselnden Jahreszeiten, jedes Jahr gleich, aber immer eindrucksvoll. Wessen Werk war das? Wenn man das sah, konnte man direkt religiös werden.

Es war der erste Februar und noch dazu ein Dienstag, und die vielversprechenden und gleißenden Lichtstrahlen regten die Pupillen dazu an, sich zu schwarzen Stecknadelköpfen zusammenzuziehen.

Dann wandte er dem Fenster den Rücken zu und ging zur Treppe. Die Wanduhr im Aufenthaltsraum zeigte knapp zwanzig nach. Nina Persson vom Empfang hatte angerufen und ihm mitgeteilt, dass Yvonne Almgren da sei. Das war fast zehn Minuten vor der vereinbarten Zeit, denn erst um halb zwei sollte er sich mit ihr treffen. Doch er hatte jetzt schon Zeit und musste sich nicht wichtigmachen, indem er sie warten ließ.

Er konnte verstehen, was sie umtrieb. Die arme Frau! Kinder sollten nicht verschwinden und auch nicht sterben. Yvonne Almgren hatte eines, aber sie wusste nicht, ob dieses einzige Kind lebte oder tot war. Wenigstens hatte sie zwei Enkelkinder, dachte er beschönigend.

Ihm war es recht spät im Leben glücklicherweise noch beschieden, dass er zwei Kinder bekommen hatte. Dieses Jahr würde die jüngste Tochter ein Jahr alt werden. Mit Schaudern dachte er, dass den Töchtern nichts, aber auch gar nichts zustoßen durfte.

Yvonne Almgrens Tochter war schon erwachsen gewesen, als sie verschwand, doch das machte die Sache nicht besser. Und Yvonnes Ehemann konnte einem natürlich genauso leidtun, aber er kam nur selten mit. Bengt hieß er, ein recht verschlossener Mann, zu dem Claesson noch keinen richtigen Kontakt hatte bekommen können.

Anfang Juni vergangenen Jahres war die Tochter von Yvonne und Bengt Almgren, Tina Rosenkvist, verschwunden. Sie war wie vom Erdboden verschluckt. Sie war damals zweiunddreißig Jahre alt und durchaus in der Lage, auf sich selbst aufzupassen.

Mehr oder weniger, korrigierte Claesson sich selbst. Tina Rosenkvist hatte ihr Privatleben ganz schön in Schräglage gebracht. Untreue konnte ernste Folgen haben, das war nichts Neues.

Den größten Teil der Nachforschungen hatten die Kollegen Lerde und Berg betrieben, und zwar nach allen Regeln der Kunst. Helikopter, Suchtrupps, Hunde und Zivilpersonen, darunter auch Taucher, waren involviert gewesen.

Sie verschwand zu einem Zeitpunkt, als Claesson selbst alle Hände voll mit dem Fall des Teppichhändlers Olsson aus Oskarshamn zu tun hatte, der in Istanbul tot aufgefunden worden war. Das war ein Fall, mit dem hauptsächlich er und Mustafa Özen betraut gewesen waren. Er musste nach Istanbul reisen, um an Ort und Stelle Ermittlungen vorzunehmen, was natürlich Spaß gemacht hatte. Mustafa Özen, als Kind türkischer Eltern in Malmö aufgewachsen, war eine große Hilfe gewesen. Inzwischen war Özen von der »Ordnung« zur Kripo befördert worden und konnte glücklicher nicht sein.

»Die kriechen dem nur in den Arsch, weil er Einwanderer ist«, hörte er Lerde vor einer Weile murmeln.

Claesson entschied sich, nichts darauf zu entgegnen.

Der Fall der vermissten Tina Rosenkvist war mit anderen Worten nicht mehr hochaktuell. Da die Zeit verging und man sie nicht gefunden hatte, hatten die Eltern gefordert, mit jemandem sprechen zu können, der größeres Gewicht hatte als Berg und vor allem als Lerde, die zusammen die Fäden in der Hand gehalten hatten. Die beiden wurden von Yvonne Almgren nur »Rotzbengel« genannt, und sie behandelte sie so unfreundlich, dass Claesson gemeinsam mit Berg und Lerde beschlossen hatte, dass er in Zukunft den persönlichen Kontakt mit Almgren und ihrem Mann übernehmen würde. Er hatte Klartext mit den Eltern geredet, hatte ihnen erklärt, dass seine Möglichkeiten, die Ermittlungen und die Suche fortzusetzen, beschränkt waren, auch wenn er ihnen nicht direkt gesagt hatte, dass man den Fall mehr oder weniger auf Eis gelegt hatte. Vielleicht würde er einmal etwas für die Cold-Case-Gruppe werden, die sich mit ungelösten Fällen befasste, die schon mehrere Jahre auf dem Buckel hatten.

Tinas Ehemann, die Eltern, Verwandte, Nachbarn, Freunde und Arbeitskollegen waren sämtlich verhört worden, man hatte Suchaktionen im Fernsehen und in den Zeitungen gehabt und ihr ganzes Haus auf der Suche nach Spuren durchkämmt. Doch die Ermittlungen waren zum völligen Stillstand gekommen.

Außerdem war der Winter mit viel Schnee ungewöhnlich hart gewesen, und ein Ende war noch nicht in Sicht.

Doch es wird tauen. Was dann wohl zutage trat?

Es wurde in alle Richtungen spekuliert, nicht zuletzt unter Tinas Kollegen, zu denen auch Claessons Ehefrau gehörte. Tina hatte als Krankenschwester in der Chirurgischen Klinik in Oskarshamn gearbeitet, wo sie von den Kollegen »die Rose« genannt wurde.

Es ist, wie es ist, eine traurige Geschichte, dachte er und sah im selben Augenblick Yvonne Almgren auf dem Besuchersofa im Eingangsbereich sitzen. Sie fuhr hoch und machte sich bereit, ihm wie ein eifriger Welpe zu folgen. Schweigend stiegen sie die Treppe zu seinem Zimmer hinauf. Die Tür stand offen. Auf der Schwelle sagte sie, sie müsse zur Toilette. So war es immer. Wahrscheinlich die Nerven.

Yvonne Almgren ließ auf sich warten. Ihr Magen musste in Aufruhr sein. Er konzentrierte sich auf die beiden leeren Sessel und erwog, sich schon jetzt dort niederzulassen. Sie waren mit graublauem Stoff bezogen und nicht von der Sorte, in die man tief versank. Schließlich betrieb er hier keine Psychotherapie.

Plötzlich wurde die Sonne von den Wolken verschlungen, der Kontrast war groß. Als Yvonne Almgren wieder auf der Schwelle stand, versank das Zimmer in einem grauen Dämmer. Sie setzten sich.

»Wie geht es Ihnen?«, begann Claesson.

»Haben Sie etwas Neues herausgefunden?«, fragte Yvonne Almgren ohne Umschweife und betrachtete ihn mit zwei grauen Augen, in denen die Hoffnung noch nicht verloschen war.

»Nein, leider nicht«, antwortete er und fuhr sich, wie er es gern tat, reflexhaft mit der einen Hand innen in den Hemdenkragen. »Ich wünschte, wir könnten mit etwas Neuem aufwarten. Wir wissen, dass es schwer für Sie ist, aber wie ich schon gesagt habe, ich verspreche Ihnen, dass wir von uns hören lassen, sowie wir etwas herausbekommen.«

»Man hofft schließlich immer«, erwiderte sie tonlos und sah auf ihre trockenen, mageren Hände, an denen der Ehering sehr locker saß. »Haben Sie aufgegeben?«

Claesson holte tief Luft.

»Wir machen mit der Suche nicht in dem Maße weiter wie zu Anfang, das ist so. Und das wissen Sie auch. Aber wir halten die Augen immer offen. Wir haben Tina nicht vergessen«, sagte er und sah ihr in die Augen.

Der Name der Tochter schlug wie ein Blitz ein. Das Gesicht der Mutter erstarrte, der Körper krümmte sich zusammen. Dann kam das Weinen. Wie erwartet.

Sie hatten sich schon ihre Rituale geschaffen, Yvonne Almgren und er. Das Weinen gehörte dazu, es hatte eine hohe Priorität, und er konnte begreifen, warum das so war. Er blieb sitzen und ließ ihr Gesicht klatschnass werden. Dabei fiel es ihm nicht sonderlich schwer zu schweigen, denn er hatte ohnehin keinen Trost zu spenden. Es war einfach beschissen, anders konnte man es nicht nennen.