Schweigsame Stimmen - Désirée Schindel - E-Book

Schweigsame Stimmen E-Book

Désirée Schindel

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Beschreibung

Nach dem Teil 1 steinige Wege folgt nun der zweite Teil der Trilogie um Soley Courtney. Das Serum musste dringend angepasst werden, aber nur einer kannte die richtige Formel. Soley dachte gerade ihr Leben sei perfekt mit dem was sie hatte, da holte sie ihre Vergangenheit erneut ein. Sie entdeckte, dass sie nicht die Einzige war und musste sich entscheiden, welchen Weg sie gehen wollte und wer mit ihr kam. Sie musste lernen, je mehr Rückschläge Menschen verkraften müssen, desto aggressiver verfolgen sie ihr Ziel. Und wofür? Für das einzigartige Gefühl der Macht, welches schneller verblasst als der Morgennebel.

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Die Autorin:

Désirée Schindel wurde 1985 in Herford geboren. Nach dem Fachabitur machte sie zunächst eine Ausbildung zur Bürokommunikationskauffrau, studierte anschließend nebenberuflich BWL und erlangte ihren Abschluss zur internationalen Bilanzbuchhalterin. Sie lebt in Herford (OWL) und arbeitet in einer IT-Firma, in welcher sie mittlerweile im Controlling tätig ist.

Neben dem Hobby der Schriftstellerei schreibt sie einen Blog „www.rheumagefuehle.de“ und probiert sich in sämtlichen, für sie händelbaren, Sportarten aus.

„Schweigsame Stimmen“ ist der zweite Teil ihrer geplanten Fantasy-Roman-Trilogie.

Handlungen, Figuren und Schauplätze dieses Buches entspringen voll und ganz der Fantasie der Autorin. Eventuelle Übereinstimmungen von Personen und Schauplätzen sind zufällig und nicht beabsichtigt.

Inhaltsverzeichnis

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Ausklang

Prolog

Es war still. Außer dem Knacken der Äste war nichts zu hören. Sie konnte nichts sehen, bis auf die Bäume um sie herum und das Gestrüpp auf dem Boden. Mit jedem Schritt, den sie machte, wurde ihre Panik größer.

„Wer bin ich? Wo bin ich? Warum laufe ich vor jemandem davon?“ In diesem Augenblick war sie völlig orientierungslos und wusste nicht einmal warum sie lief. Aber mit jedem Schritt wurde ihre Angst stärker, dass sie erwischt werden könnte. Aber was würde dann passieren? Warum hatte sie überhaupt Angst, wenn sie nicht einmal wusste vor wem sie weglief?

Egal! In diesem Moment sagten Körper und Geist, sie solle laufen, also lief sie. Sie durchquerte enge Waldwege und sprang über kleine Bäche. Sie war barfuß und hatte nicht wirklich viel Kleidung an. Nach einem kurzen Blick nach unten glaubte sie, dass es sich um ein OP-Hemdchen handelte, aber sie hatte keine Zeit sich damit zu beschäftigen. Der kalte Wind, der ihr wie ein Schauer den Rücken herunterlief, bestätigte ihr, dass es nicht mehr Kleidung sein konnte. Aber jetzt war einfach nicht die Zeit darüber nachzudenken, denn sie hatte Panik, dass sie stürzen könnte und der Teufel hinter ihr sie einholen würde.

Doch irgendwann konnte sie nicht mehr. Jeder Atemzug brannte wie Feuer in ihrer Lunge und ihr Blut war nicht mehr fähig, Sauerstoff aufzunehmen und ihren Körper ausreichend mit Energie zu versorgen. Sie war am Ende und musste sich schnell überlegen, ob sie sich irgendwo verstecken konnte.

Langsam scannten ihre Augen beim Laufen die Umgebung, aber sie fanden einfach keinen Unterschlupf. Keine Spur von irgendetwas, keine Erhebung, kein Ast. Nachdem sie fast aufgeben wollte, entdeckte sie eine kleine alte Holzhütte, die unbewohnt zu sein schien. Ihr war klar, dass die Verfolger vermutlich als erstes in der Hütte suchen würden, aber es schien ihr im Moment die beste Lösung zu sein. Sie rannte darauf zu.

Sie sprintete die Veranda hoch und testete, ob die Eingangstür verriegelt war. Sie hatte Glück, die Tür war tatsächlich offen. Sie ging hinein, verschloss diese und versperrte sie mit einem Tisch, der in der Ecke stand, bevor sie sich näher umsah. Sollte jemand versuchen herein zu kommen, würde sie es wenigstens früh genug hören und konnte sich auf einen Kampf vorbereiten oder durch einen anderen Ausgang entfliehen. Was auch geschehen würde, sie wollte nicht überrascht werden.

Zeit zum Atmen blieb ihr immer noch nicht. Sie war einfach nur entsetzt über das, was gerade mit ihr geschah, versuchte aber trotzdem sich mit ihrer neuen Umgebung vertraut zu machen.

Die Hütte bestand nur aus einem rechteckigen Zimmer. In der rechten hinteren Ecke befand sich ein Badezimmer. Dieses war nicht wirklich groß und besaß nur eine Dusche und eine Toilette. Man konnte sich einmal im Kreis drehen und das war es. Sie bemerkte direkt, dass hier jahrelang niemand gewesen sein konnte, oder derjenige war zu der Zeit nicht der reinlichste. Die Duschwanne und das Waschbecken waren extrem verschmutzt und der Duschvorhang war zerrissen.

Im Hauptraum gab es eine kleine Küchenzeile, ein Sofa und einen Holztisch mit zwei Stühlen. Auch hier sah es nicht besonders einladend aus. Sie fand den Gedanken beängstigend, dass hier vermutlich einmal Menschen gelebt haben. Warum sonst sollte man eine Hütte im Wald besitzen? Aber als Versteck sollte es zunächst reichen. Plötzlich hörte sie jemanden sagen „Jane? Wo bist du? Kannst du mich hören?“

Sie konnte die Stimme nicht zuordnen. Kam diese aus ihrem Kopf oder war jemand hier?

„Wer ist da? Ist hier jemand?“, fragte sie voller Angst. Sie ging in die Küche und schaute ob es irgendetwas gab, womit sie sich im Notfall wehren konnte. Sie fand zwar kein Messer, aber an der Küchenzeile lehnte ein kleiner Holzpfosten, der sicherlich ausreichen würde, um jemanden K.O. zu schlagen.

Stille. Keine Antwort. Sie hatte sich die Stimme wohl doch nur eingebildet.

Nach einigen Minuten hatte sie sich beruhigt und wollte die Zeit ausnutzen, um sich auszuruhen. Sie setzte sich vor das Fenster, beobachtete die Umgebung und ließ den vorderen Bereich nicht aus den Augen. Zu stark war die Angst, dass der Teufel sie in der Hütte finden würde, bevor sie wieder bereit war weiter zu laufen.

***********************************************************

Nachdem sie einige Stunden so ausgeharrt hatte, schaute sie sich langsam um. In der Küche befanden sich noch einige alte Konserven. Das Datum auf den Dosen verriet ihr, dass sie schon seit drei Jahren abgelaufen waren. Im Notfall würde sie diese essen, aber das würde sie erst dann entscheiden, wenn sie nichts Anderes finden würde. Erstmal würde sie versuchen Beeren und Blätter im Wald zu sammeln oder, war sie vielleicht sogar fähig ein kleines Tier zu erlegen? Aber wie lange sollte sie hier warten, wenn sie nicht mal wusste, vor was oder wem sie sich versteckte? Während sie aus dem Fenster starrte, erinnerte sie sich an jeden Schritt, den sie im Wald gemacht hatte, aber was war davor? Sie dachte bereits seit Stunden nach, versuchte sich zu erinnern, aber nichts geschah. Wer war sie? Sie musste ruhig bleiben und versuchen rational zu denken. Vielleicht war sie gestürzt und hatte ihr Gedächtnis verloren. Fing deswegen alles erst im Wald an? Konnte das sein?

Sie widmete sich wieder der Suche nach Nahrung, konnte aber in der Küche keine weiteren Lebensmittel ausfindig machen. Die Mülleimer waren geleert worden und überraschenderweise war sie auch noch keinem Tier in der Hütte begegnet. Vielleicht hatten die Eigentümer das Haus wirklich sauber verlassen und waren ewige Zeiten nicht hier gewesen.

An den Wänden hingen einige Jagdtrophäen. Scheinbar waren die Besitzer Jäger, nur wo waren die Waffen? Diese hätten nun sehr hilfreich für sie sein können.

„Man kann halt einfach nicht alles im Leben haben“, sagte sie laut zu sich selbst, um nicht irre zu werden. Genauso machte sie auch weiter, während sie sich umsah. Sie erzählte sich quasi selbst was sie gerade machte, um ihre Stimme zu hören und ihr Gehirn anzuregen, vielleicht konnte sie sich dann wieder erinnern.

„Zumindest kann ich wohl relativ normal denken, dann bin ich anscheinend nicht ganz so dumm. Die Frage ist nur, was ist mir passiert und werde ich vielleicht vermisst?“ Da kam ihr eine Idee. Sie musste so oder so irgendwie eine Stadt erreichen und eine Zeitung bekommen. Vielleicht suchte ja schon jemand nach ihr und hatte bereits eine Vermisstenanzeige geschaltet. Sie freute sich über diese Idee und grinste. Das hielt allerdings nicht lange an, da sie nun das erste Mal in Ruhe an sich heruntersah. Sie trug tatsächlich ein OP-Hemdchen, ihre Vermutung war also richtig gewesen. Es war wohl sehr offensichtlich, dass sie vor ihrer Flucht in einem Krankenhaus gewesen war.

Sie ging ins Bad und suchte nach einem Spiegel, der an der Wand war, aber scheinbar abgenommen worden, warum auch immer. Man konnte noch deutlich einen helleren Rand an der Wand erkennen. In einer Schublade im Schrank unter dem Waschbecken, der in der Breite höchstens für eine Klopapierrolle reichte, fand sie glücklicherweise einen kleinen Handspiegel. Allerdings war dieser zerbrochen. Bei näherer Überlegung über ihre Beobachtungen im Haus fand sie nichts, in dem man sich vernünftig ansehen konnte. Die Scheiben waren zu dreckig und weitere Spiegel oder Gläser gab es nicht oder sie hatten weiße undurchsichtige Ablagerungen.

„Spontan sind die wohl nicht aufgebrochen. Die haben das Haus hier bewusst zurückgelassen. Wer hier wohl mal gelebt hat? Was soll es, das macht mir im Moment auch wenig aus und würde die Situation nicht verändern“, sagte sie zu sich selbst und sah in einen kleinen Splitter von dem Handspiegel.

Sie erschrak etwas über den Zustand ihres Gesichtes, aber es kam ihr nicht bekannt vor. Sie schätzte sich auf ungefähr zweiundzwanzig Jahre, musste aber im gleichen Augenblick grinsen. Warum kam ihr genau dieses Alter in den Sinn? Für zwanzig sah sie zu alt aus, aber für fünfundzwanzig auch zu jung. Allerdings war es egal wie sie es in ihrem Kopf drehte, sie sah ziemlich fertig aus. Wie lange sie wohl schon auf der Flucht war?

„Jane? Bist du hier? Sag doch etwas!“

Auf einmal ging alles ganz schnell. Jemand stand an der Tür. Sie hörte also doch keine Stimmen in ihrem Kopf. Sie nahm den Holzbalken und stellte sich hinter die Eingangstür, aber die Tür ging nicht auf. Ein Mann, der sich geschätzt in den Vierzigern befand, ging einfach hindurch, ohne diese zu öffnen.

„Jane, leg den Balken weg. Du weißt doch genau, dass das bei mir nichts bringt. Was soll denn das?“

„Wer bist du?“ Ihre Panik stieg an.

„Ist das dein Ernst? Du machst mit mir immer solche Späße, aber wir haben dafür nun keine Zeit. Du musst mit mir kommen, die anderen sind bald hier. Sonst geht unser Plan nicht auf.“

„Ich frage nur noch einmal. Wer bist du?“

„Du meinst das wohl ernst. Was ist mit dir passiert? Deswegen bist du auch vor mir davongelaufen und nicht nur vor den anderen. Ich dachte schon, du vermutest, ich wäre auf deren Seite, weil ich dich auch verfolgen musste. Das war nur zu unserem Schutz! Das musst du mir glauben“, flehte er sie mit den Augen an.

„Wenn du mir schon nicht sagen willst, wer du bist, dann wenigstens wer ich bin?“ Vielleicht versuche ich es offen und ehrlich indem ich preisgebe, dass ich keine Ahnung mehr habe wer ich bin, dachte sie.

„Du bist Jane. Wenn du alles vergessen hast, solltest du nun wirklich mit mir kommen und ich werde dir alles erklären. Was hast du schon zu verlieren?“

Wo er Recht hat, hat er Recht. Wenn man nicht wusste, was einem passiert war, wie sollte man dann wissen, was richtig und was falsch für einen war.

„Mein Name ist also Jane?“

„Ja, dein Name ist Jane“, sagte der Mann. Er war circa 175 Zentimeter groß und hatte eine sympathische Ausstrahlung. Bis auf einen kleinen Bauch war er normal gebaut, hatte kurze braun-graue Haare und braune Augen.

„Warum bin ich hier?“

„Das werde ich dir alles erklären, aber jetzt müssen erstmal dafür sorgen, dass dich die Männer nicht erwischen“, sagte er eindringlich.

„Woher weiß ich, dass ich dir vertrauen kann? Du hast mich auch verfolgt. Oder woher wusstest du, wo ich bin?“ fragte sie ihn, ohne auf die Tatsache einzugehen, dass er durch eine geschlossene Holztür gegangen war.

„Du stellst die falschen Fragen zum falschen Zeitpunkt“, sagte der Fremde.

„Ist es nicht egal, wann ich welche Fragen stelle?“

„Nein, nicht, wenn wir unter Zeitdruck stehen. Wenn dich die Männer wieder mitnehmen, dann sind wir verloren“, sagte er und wirkte immer verzweifelter.

„Warum brauchst du mich?“, fragte Jane erneut.

„Weil ich ohne dich nicht von hier fortkommen kann. Du bist mein Ausweg!“, sagte er.

Was meint er nun damit? Warum sein Ausweg? Dann hörte sie schon die Schritte vor der Tür. Jane nahm sich erneut den Holzbalken und stellte sich mitten in den Raum.

Warum sie das tat, konnte sie selbst nicht sagen. Eigentlich würde es mehr Sinn machen sich zu verstecken, um einen Überraschungseffekt zu erzeugen. Aber sie spürte, dass sie zu schwach und benommen war und langsam nicht mehr klar denken konnte. Nach den Schritten, die sie hörte zu urteilen, waren es mehrere Männer und diese waren sicherlich um einiges stärker als sie.

„Jane bitte, jetzt glaub mir doch! Wir haben keine Zeit mehr und wenn die anderen uns hier finden, nehmen sie dich mit und das kann ich mir nicht leisten!“

Da wurde die Tür aufgestoßen.

„Runter mit dir, wir sagen das nur einmal.“ Drei Männer kamen durch die Tür. Sie waren alle drei zwischen 190 und 200 Zentimeter groß. Einer war recht schlank und hatte kaum Muskeln, vermutlich klammerte er sich deshalb so sehr an seine Waffe. Der Zweite war ziemlich stämmig und der größte von den dreien. Die Arme mussten den Umfang ihrer Oberschenkel haben. Der dritte Mann wirkte normal muskulös und war am ganzen Körper tätowiert.

Sie gab auf und legte sich auf den Boden. Die drei Männer schienen den Mann, mit dem sie sich unterhalten hatte, nicht zu bemerken.

„Warum nur ich, was ist mit ihm?“ fragte sie verwirrt.

Der fremde Mann gab ihr ein Zeichen, sie solle ruhig sein und ihn nicht verraten.

„Sei lieber still, sie werden dich für verrückt halten und das macht es in deiner Situation nicht besser“, sagte er leise.

„Was ist mit wem?“, fragte der mit den Oberarmmuskeln.

„Ach nichts“, sagte sie verwirrt und ließ sich einfach von den Typen mitnehmen. Sie war zu schwach zum Kämpfen, zu verwirrt, um eine Entscheidung zu treffen. Woher sollte sie auch wissen, was nun richtig oder falsch war?

Sie ließ sich einfach fallen. In dem Moment, in dem sie die Entscheidung getroffen hatte, wurde sie furchtbar müde. Sie gab ihren Körper frei. Er sollte sich erholen und ihr hoffentlich ihre Erinnerungen zurückgeben. Nur so konnte sie vielleicht erfahren, wer sie war und wo sie hinwollte, oder wer diese Männer waren. Sie hätte sowieso nicht entscheiden können, welcher Weg der richtige sein würde.

Mit diesen letzten Gedanken fiel sie in einen tiefen Schlaf. Die Männer nahmen sie mit nach draußen und legten sie auf den Wagen.

„Sie hat schon wieder gefragt warum wir den anderen nicht mitnehmen. Ob sie Geister sieht?“, sagte einer der jetzt vier grausamen Gestalten, die sich vorne in den Transporter zwängten. Der vierte hatte die ganze Zeit im Wagen gewartet, um schnell losfahren zu können.

„Keine Ahnung, soll auch nicht unser Bier sein. Dafür werden wir nicht bezahlt. Wir fahren.“

Kapitel 1

„Habt ihr alles?“

„Natürlich Chef, haben wir dich jemals enttäuscht?“

Ein Blick vom Doktor genügte, sodass das Gespräch vorzeitig beendet war. Die Männer brachten Jane in einen Raum in der hinteren Gangreihe eines großen Institutes.

„Gab es Komplikationen?“

„Selbstverständlich nicht.“

Der Arzt war ein großer Mann, um die 1,90. Er ging neben den vier Männern her und erkundigte sich genauer über den Ablauf der Mission. Die Gänge erinnerten Soley an die alten Bilder in ihrem Kopf und sie war sich nicht sicher, ob sie sich gerade in dem Gebäude befand und ihre Geschichte erneut begann. War das Mädchen sie? Aber sie wurde von den Männern Jane genannt, daher schloss sie diesen Gedanken aus. Sie hatte das Gefühl, dass sie neben den Männern her flog und konnte dadurch noch mehr Einblicke in das Gebäude erhalten. Es waren ungefähr zehn Zimmer, die immer nach links und rechts von einem Hauptgang abgingen.

Dies musste ein kleines Krankenhaus sein. Wenn in jedem Zimmer nur ein Patient lag, dann wären es pro Etage zehn Patienten und sie konnte keine Krankenschwestern entdecken. Gerne hätte sie in die Zimmer hineingeschaut, aber das war aus irgendeinem Grund nicht möglich.

Der Arzt, zumindest sah er so aus mit seinem weißen Kittel und dem Stethoskop um den Hals, ging direkt auf das Zimmer von Jane zu. Die vier Männer verließen die Klinik, ihr Job war scheinbar erledigt.

„Jane, was soll das?“ fragte der Doktor, als er in das Zimmer kam.

„Wer bin ich?“

„Was soll die Frage? Du bist Jane und bist in unser Krankenhaus eingeliefert worden. Wir sind gerade dabei dich zu untersuchen. Was ist dir passiert?“

„Was sollte das?“ dachte Soley. Er hatte sie doch wieder herbringen lassen. Er lügt sie an.

„Warum bin ich denn hier?“

„Das wissen wir nicht. Du hast scheinbar vergessen, wer du bist und was dir passiert ist.“

„Fall nicht auf ihn rein!“, rief Soley Jane zu und überraschenderweise schaute sie ihr direkt in die Augen.

„Worauf?“

„Was?“, fragte der Doktor. „Ich habe doch gar nichts gefragt.“

Soley war klar, dass der Doktor nicht ahnen durfte, dass hier etwas nicht stimmte. Aber Jane schien Soley wirklich sehen und hören zu können.

„Jane, bleib ruhig. Reagiere nicht auf mich, falls du mich wirklich wahrnehmen kannst.“

„Was passiert hier mit mir?“, fragte Jane den Arzt.

„Nichts, was du nicht willst. Warum fragst du?“

Jane fing an zu weinen. „Ich will wissen, wer ich bin. Draußen im Wald hatte ich große Angst. Ich bin vor Männern geflohen, die mich verfolgt haben. Haben Sie die gesehen?“ „Nein“, antwortete der Arzt ohne jegliche Gefühlsregung.

„Er lügt. Ich werde dir alles in Ruhe erklären und ich hoffe, ich werde dir helfen können“, sagte Soley zu ihr.

Jane schaute sie wieder direkt an und fing noch hemmungsloser an zu weinen. Über ihr schien eine Welt zusammen zu brechen und sie konnte nichts dagegen tun. Sie wusste weder wer sie war, noch wo sie sich befand und sie hatte keine Ahnung, dass ihr größter Feind ihr direkt gegenüber stand. Soley schmerzte es in ihrem Herzen, dass sie nicht helfen oder eingreifen konnte.

„Was mache ich hier nur?“ fragte Jane in Richtung Soley, aber die Antwort kam vom Doktor.

„Wir werden dir nun erstmal etwas zur Beruhigung geben und morgen sieht die Welt schon wieder besser aus. Ich werde dir helfen. Ich finde heraus, wer du bist und wo du herkommst. Und wenn du wieder fit bist, dann bringen wir dich nach Hause.“

„Aber ich weiß ja nicht einmal, wo das ist und ob ich dort wieder hin will.“

„Das bekommen wir alles raus und es wird wieder gut. Noch haben wir jeden gesund gemacht”, ergriff der Doktor wieder das Wort.

Er machte einen sehr freundlichen und zuvorkommenden Eindruck. Und genau das war vermutlich sein Ziel. Anscheinend brauchte er sie und am besten ohne das Wissen über ihre eigene Vergangenheit.

Soley konnte nur die Augen verdrehen. Sie wusste nicht warum, aber ihr war klar, dass hier etwas nicht stimmte.

Wenn man von vier Männern nicht nur gesucht und brutal wieder eingeliefert wurde, sondern besagter Arzt diese auch noch fragte ob alles gut gelaufen war, dann stimmte was nicht. Jane war wohl von diesem Ort geflohen und die Abgeschiedenheit des Gebäudes ließ vermuten, dass es für Forschungszwecke genutzt wurde.

Soley ließ das Gefühl nicht los, dass Jane sich auch auf einen Deal eingelassen hatte oder ihre Eltern. Vielleicht hatte sie in ihrem Leben nie etwas Anderes gesehen als das Institut. Soley selber hatte so etwas erlebt. Ihre Eltern hatten sich in so einer Umgebung kennen und lieben gelernt. Ihre Zeugung war weder geplant noch geduldet gewesen. Sie sollte ermordet werden und nun sah sie dieses Mädchen mit dem scheinbar gleichen Schicksal.

„Ich werde dir helfen, Jane. Wenn ich mich nicht irre, bin ich wie du. Vertraue diesem Doktor nicht. Er baut für dich eine Scheinwelt auf. Du sollst dich in seiner Umgebung sicher fühlen, aber genau das ist seine Taktik. Ich werde auf dich aufpassen, das verspreche ich dir!“, sagte Soley und hoffte, dass der Doktor endlich den Raum verließ, damit Jane auf sie reagieren konnte.

„Dann werde ich mal schauen, was ich herausfinden kann“, sagte der Doktor in seiner freundlichen Art und verließ den Raum.

„Wer bist du?“, fragte Jane und sah Soley wieder genau an.

„Du kannst mich sehen?“, fragte sie.

„Ja, scheinbar existierst du nur in meinem Kopf. Ich bin verrückt, aber wenn du mein Unterbewusstsein bist, dann kannst du mir vielleicht wirklich helfen meine Vergangenheit wieder zu finden”, sagte Jane.

„Das kann ich leider nicht”, sagte Soley und auf einmal war Jane weg.

**************************************************************

„Soley, wach auf!“, Lewis rüttelte an ihr.

„Was?“, fragte Soley und riss die Augen auf.

„Du scheinst wieder geträumt zu haben. In letzter Zeit kommt das wieder häufiger vor oder irre ich mich?“, fragte Lewis.

„Ja. Ich kann dir aber auch nicht sagen, warum. Vielleicht ist es ein Zeichen.“

„Das uns sagen soll, der Urlaub ist vorbei und wir müssen weitermachen?“, Lewis verdrehte die Augen.

„Tu das bitte nicht. Du weißt wie wichtig mir das ist seit ich weiß, dass es Leute wie uns gibt und wir beeinflusst werden, beziehungsweise wir immer noch nicht alles über uns wissen.“

Lewis war dies natürlich schon lange klar und sie hatten ja nun auch ein halbes Jahr hier verbringen dürfen. Er hatte sich mit seinem Buch beschäftigt und war fleißig am Schreiben, während Soley vor ihrem eigenen Rechner saß und eine Software programmierte.

Soley hatte beschlossen ihre Entwicklung für die Firma, in der sie arbeitete, zu ergänzen und sich tiefer in die Funktionen von Security-Software einzuarbeiten. Dabei hatte sie so einige andere Anbieter in ihrer Funktionsweise analysiert und Verbesserungspotential herausgearbeitet.

Das war ziemlich langweilig und an diesen Tagen war sie extrem schlecht gelaunt. Abends ging sie dann oft laufen oder war noch ins Meer gesprungen, um sich abzureagieren. Einen geeigneten Box-Club hatten sie hier nicht finden können. Allerdings trainierten sie oft miteinander, um in Übung zu bleiben.

Beide boxten schon seit einigen Jahren und waren begeistert von unterschiedlichen Kampfsportarten. Persönlich kannten sie sich erst ein paar Monate. Lewis hatte aber vorher lange Zeit aus der Entfernung auf Soley aufgepasst, da sein Ziehvater Dave das so wünschte. Dabei verliebte er sich in Soley und nachdem sie sich kennengelernt hatten, erwiderte sie seine Gefühle. Relativ kurz danach verschwand Lewis Ziehvater für immer, offenbarte ihnen aber vorher noch alles, was er über ihre Vergangenheit wusste. Beide wurden von Eltern gezeugt, die in einem Institut groß geworden waren und ihre Körper an die Forschung verkauft hatten, um die Welt zu einem besseren Ort zu machen. Das sahen allerdings nur die behandelnden Ärzte so, zu denen Dave auch gehört hatte. Nach seinem Verschwinden waren Soley und Lewis zusammen weiter gezogen. Soley hatte sich vorgenommen, Menschen wie ihnen zu helfen. Sie hatte Hinweise erhalten, dass es mehrere Institute gab und nicht alle eliminiert wurden. Sie trennte sich von ihrer Familie, die sie aus dem Waisenhaus adoptiert und in der sie einen Bruder Phil hatte.

Durch die Genmanipulation ihrer leiblichen Eltern hatten die beiden besondere Fähigkeiten. Es hatte eine Zeitlang gedauert, bis Soley ihre Fähigkeit kontrollieren und sie wusste, wie sie eingesetzt werden konnte. Sie hatte die Begabung die Seele von Menschen erlösen und heilen zu können. Scheinbar verloren diese Personen jegliche negativen Emotionen und empfanden kein Leid mehr. Sie wurden nach dem Kontakt mit Soley zu besseren Menschen. Für wie lange das anhielt, konnte Soley noch nicht sagen. Es konnte sein, dass es nur ein Moment war und dass das Leben die reine Seele direkt wieder veränderte. Neid und Hass waren leider ziemlich starke menschliche Emotionen, die sich nicht kontrollieren ließen und sich kontinuierlich wieder neu aufbauten.

Sie bemerkte ihre besondere Gabe durch Exfreunde, die hinterher nicht mehr mit Drogen dealten oder ihre schreckliche Vergangenheit verarbeiteten. Soley konnte diese durchleben und hatte danach zunächst sehr starke Schmerzen. Bis Lewis und Vater, so nannte Lewis seinen Ziehvater Dave, ihr beibrachten ihre Fähigkeit zu kontrollieren. Damals passierte ihr das beim Küssen. Sobald sie die Lippen von jemandem berührte und den Mund zart öffnete, verlor sie die Kontrolle. Es erschien ein helles Licht und sie konnte sich erst von dem anderen lösen, wenn sie deren Geschichte gedanklich komplett durchlebt hatte. Das machte sie jedes Mal sehr schwach und lies sie zu Beginn sogar vergessen was geschehen war.

Lewis hatte die Fähigkeit einen menschlichen Körper zu scannen und Krankheiten zu diagnostizieren. Was ihn dabei belastete war, dass er nur erkennen und nicht heilen konnte. Er war sozusagen ein Seher, der einen Zustand nicht verändern konnte. Durch Dave hatte er seine Fähigkeit dafür schon sehr früh kennen und kontrollieren gelernt.

Beide kannten ihre Fähigkeiten nun besser, allerdings war die Durchführung immer noch mit Schmerzen verbunden. Beide ahnten, dass es andere wie sie gab. Es musste weitere veränderte Personen geben, die durch genmanipulierte Eltern gezeugt worden waren. Wo diese lebten und was sie konnten, war aber ungewiss. Obwohl Soley oft diese Träume von einem Mädchen hatte, welches sie sehen und mit welchem sie kommunizieren konnte. Wo dieses sich aufhielt, konnte Soley bisher nicht heraus bekommen, sie wollte sie aber unbedingt finden.

Bisher hatten sie den Tag, an dem sie ihre Suche nach weiteren Opfern des Institutes fortführen wollten, immer wieder verschoben. Soley hatte gerade die langweilige Analyse beendet und konnte nun endlich die Programmierung starten. In solchen Momenten lebte sie auf. Das war es, was sie gerne machte und für immer tun wollte. Das Gefühl des Glücks, wenn etwas funktionierte, nach Stunden der Investition ein laufendes Programm zu haben, das war sehr befriedigend. Leider rückten aber so die Nachforschungen über die Institute eine Weile in den Hintergrund.

„Wie lösen wir das Problem nun? Wie bekommen wir weitere Informationen?“, fragte Lewis am Abend, nachdem Soley den Tag wieder vor ihrem Computer verbracht hatte.

Der Grund, warum Lewis gerade jetzt fragte war, dass er sein Buch fertig gestellt und an seine bekannten Verlage übergeben hatte. Er konnte sich nun mit weiteren Recherchen in seinen Fachgebieten beschäftigen oder sich auf Soleys Wunsch nach Gerechtigkeit konzentrieren. Er wollte wissen, was er tun sollte.

„Ich habe keine Ahnung. Wenn wir doch nur Dave finden würden. Oder wir wüssten wer diese Frau ist, die uns verfolgt und wo sie sich gerade aufhält.“ Soley hatte keine Ahnung, wie sie anfangen sollte. Sie würde nun wieder zu forschen beginnen. Vielleicht konnte sie mehr über Dave Miller herausfinden. Lewis hatte nie nach seinem richtigen Namen gefragt und hatte sein Leben in Daves Obhut als gegeben hingenommen. Über das Türschild kannten sie den genauen Namen von seinem Vater erst seit kurzem, aber das müsste doch bei der Suche behilflich sein.

„Ich werde meine neue Software testen und versuchen mehr über Dave Miller herauszufinden. Sie funktioniert zunächst wie Google nur auf anderen Sites. Erklären werde ich dir nicht mehr, das nervt dich ja nur. Du wiederum könntest dich mehr draußen im Ort herumtreiben. Rede mal wieder mit den Menschen, vielleicht findest du die Frau. Was meinst du? Wenn meine Träume hier beginnen, vielleicht ist sie sogar in unserer Nähe? Klar suchen wir momentan die Nadel im Heuhaufen, aber was sollen wir sonst machen? Ich denke wir haben keine andere Wahl, wenn wir wieder starten wollen.“ Lewis hörte ihr aufmerksam zu, während sie verlegen ihren Monolog führte, immer mit Bedacht nichts Falsches zu sagen.

„Kein Problem. Da ich derzeit keinen besseren Plan habe, würde ich einfach das tun, was du vorschlägst“, sagte er und lächelte sie an.

In den letzten Wochen hatten sie vermehrt über dieses Thema gesprochen, die Suche wieder aufzunehmen und es hatte teilweise im Streit geendet. Sie hatten unterschiedliche Meinungen dazu, deshalb war Soley diesmal vorsichtig. Lewis wiederum merkte, dass die Träume intensiver wurden und es Soley nicht gut damit ging. Somit war es ihm wichtig, dass die Suche weiter ging. Sein Buch war fertig. Wenn es nun frei gegeben wurde, konnten sie mit der Veröffentlichung als Wissenschaftsdokumentation für einige Zeit aus den Erlösen leben. Zum Glück wurde er nicht nach Exemplaren bezahlt, sondern würde zunächst für das Ergebnis eine relativ hohe Provision erhalten.

Die beiden genossen einen ruhigen Abend auf der Veranda am Meer, wohlwissentlich, dass es bald ein Ende haben würde. Die Sonne ging langsam am Horizont unter. Es war ein wunderschöner Abend, wie sie hier schon mehrere erlebt hatten.

Soley würde sehr traurig sein diesen Ort zu verlassen, aber vielleicht konnten sie ja auch wiederkommen. Sie konnten dieses Haus behalten oder sogar kaufen. Irgendwann brauchte jeder Mensch einen Platz, den er Heimat nennen kann und das hatten die beiden noch nicht so richtig erlebt.

Soley war bei ihren Adoptiveltern in einem kleinen Ort in der Nähe von San Francisco aufgewachsen und war dann zum Studium in die Stadt gezogen. Auch das Waisenhaus war in der Nähe von San Francisco und ihrem späteren Elternhaus. Sie hatte Kalifornien noch nie verlassen. Lewis ging es ähnlich. Er hatte immer mit seinem Ziehvater in einem Haus im Wald gelebt. Es waren alles Orte, die nur etwa drei Stunden Autofahrt auseinanderlagen.

Soley blickte Lewis an, der scheinbar wie sie total in Gedanken verloren war. Sie fand es erstaunlich, wie schnell man zu einem Menschen so eine innige Beziehung aufbauen konnte. Sie kannten sich nun knapp eineinhalb Jahre, wobei sie die meiste Zeit miteinander verbracht hatten. Sie sah ihn an und liebte jedes Detail an ihm. Seine Augen, sein weiches kurzes Haar und die Grübchen, wenn er grinste. Wenn er nachdachte sah man diese nicht, dann zogen sich seine Mundwinkel gerade nach außen und er wirkte etwas unzufrieden. Das war ihr schon damals aufgefallen, als sie ihn das erste Mal in der Bahn gesehen hatte. Schon da fing ihr Herz direkt an zu pochen. Genauso ist es heute noch, wenn sie ihn in ruhigen Momenten ansah. Ob das ein Leben lang so bleiben würde? Gab es das? Konnte ein Mensch den anderen durch seine bloße Anwesenheit bis zum Ende des Lebens so glücklich machen?

Soley hatte es immer bezweifelt, aber in diesem Augenblick schloss sie die Möglichkeit nicht mehr aus. Eigentlich würde sie sich nun gerne die Klamotten vom Leib reißen und über ihn herfallen, allerdings wurde ihr Plan durchkreuzt.

Auf einmal sprang Lewis auf und lief, ganz zu Soleys Verwunderung, in Richtung Strand.

„Was machst du?“, rief sie ihm hinterher.

„Ich rede kurz mit dem Mann da unten, er kommt mir bekannt vor.“

Soley beobachtete die Situation. Sie sah zu, wie Lewis alleine am Strand stand und mit sich selbst redete. Er gestikulierte in der Luft herum und hielt scheinbar eine wichtige Konversation. Das Problem in diesem Moment war nur, dass Soley niemand anderen sehen konnte. Was machte er dort nur?

Plötzlich wurde Lewis von jemanden gestoßen, sodass er rückwärts zu Boden fiel. Er stand wieder auf und schlug um sich, als würde er sich mit jemandem prügeln, den niemand sehen konnte.

„Was soll das?“, rief er nun lauter. Soley konnte seine Stimme deutlich hören.

„Wo warst du so lange und warum haben wir dich nicht gesehen? Ich bin es leid. Nimm die Anschuldigungen an Vater zurück, er war wenigstens für mich da.“

Soley überlegte, was sie tun sollte. Beobachten, was dort mit ihm passierte oder hingehen und schauen, ob dort jemand war, auch wenn sie niemanden sehen konnte? Die Worte, die bei ihr ankamen, waren bedenklich. Es klang für sie so, als würde er mit seinem leiblichen Vater reden. Verbindungen, die er versuchte herzustellen oder Erinnerungen, die er verarbeitete. Was stimmte dort nicht und warum passierte wieder alles zum gleichen Zeitpunkt?

Nachdem Lewis kurz danach wieder zu Boden ging, bekam sie Angst und rannte aufgeregt zu ihm.

„Lewis, was ist los?“

„Vorsichtig, lass ihn lieber. Wir dürfen ihn nicht unterschätzen, ich kenne ihn. Der Typ ist auch mal bei Vater aufgelaufen und ist ziemlich stark“, sagte Lewis, sprang auf und stellte sich schützend vor Soley.

„Aber ich sehe niemanden!“, sagte sie verängstigt.

In dem Moment schaute er ihr in die Augen und als würde er einen unsichtbaren Schlag abbekommen, ging er erneut zu Boden und blieb vor ihr liegen.

*****************************************************************

Soley hatte ihn auf das Sofa gehievt und ließ sich nun mit ihrem Glas Wein daneben nieder. Was war eben nur los? Gab es wirklich etwas, das sie nicht sehen konnte oder drehte Lewis langsam durch? Aber warum ging er dann genau in dem Moment zu Boden, als sie neben ihm stand und er sein „Gegenüber“ aus den Augen ließ? Selbst wenn es nur seine Einbildung war, wen sah er da? Wirklich jemanden aus seiner Familie? Warum mal wieder genau in dem Moment, als sie die Suche wieder aufnehmen wollten? Waren beide mit anderen Personen verbunden? Gab es einen Zusammenhang?

Soleys Interesse an der Wahrheit und der Komplexität war wieder erwacht. Sie musste weitermachen, bevor es Lewis schlechter gehen würde.

Er blickte auf und sah sie völlig erschrocken an. Als er sie erkannte lächelte er und behauptete, er hätte schlecht geträumt.

„Wann bin ich denn eingeschlafen?“, fragte Lewis sie.

„Weißt du nicht mehr, was passiert ist?“

„Was ist denn passiert?“ Er sah sie ungläubig an.

„Du hast am Strand mit jemandem gekämpft, den ich nicht sehen konnte.“

„Was?“

„Ja, ich kann es dir auch nicht erklären, aber ich habe es mit eigenen Augen gesehen. Und ich mache mir Sorgen um dich. Ich träume, aber du schlafwandelst ziemlich krass.“ Für Soley war das die wahrscheinlichste Erklärung. Was sollte das da unten sonst gewesen sein?

„Wen hast du dort geschlagen?“, fragte Soley.

„Wie, wen habe ich geschlagen? Ich schlage niemanden bewusst und das weißt du.“

„Ich habe dich mit ihm reden hören. Du kennst ihn. Und du hast ihm gesagt, dass er nicht schlecht über Dave reden soll. Ich weiß nicht, wen du dort gesehen hast, aber wenn du dich an was erinnerst, sag es und ich finde es heraus.“ Soley brannte nach Wissen. Es konnte noch ein Tropfen auf dem heißen Stein sein, aber genau das brauchte sie nun, Ansätze.

„Ich erinnere mich nicht”, flüsterte Lewis traurig.

„Du bist vorhin einfach von der Liege aufgesprungen, weil du jemanden am Strand gesehen hast. Ich vermute, du warst eingeschlafen und hast geträumt”, erklärte Soley ihm.

„Ich kann mich nicht erinnern”, sagte Lewis.

„Schade. Scheinbar war die Person, mit der du dich unterhalten hast, auch einmal bei Dave. Du hast gesagt, er sei um einiges stärker als wir und ich solle mich in Acht nehmen“, fuhr Soley fort.

„Komisch. Vielleicht träume ich irgendwann nochmal davon”, sagte er.

„Träumen ist nicht das Problem. Ich mache mir einfach nur Sorgen, dass du dabei herumläufst und dich zu weit vom Haus entfernst. Ich habe einfach Angst, dass du irgendwann mal ins Wasser läufst oder aus Versehen aus einem Fenster springst”, stellte Soley besorgt klar.

„Das kann ich mir nicht vorstellen und ich werde alles tun, was ich kann, um das zu verhindern”, versuchte Lewis sie zu beruhigen und streichelte ihr sanft über das Gesicht.

„Ich liebe dich!“, sagte er.

Soley erwiderte seine Worte, machte sich dennoch Gedanken um diese Situation. War das schon vorher so und sie hatte es nur bis heute nicht bemerkt?

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Was genau verarbeite ich da nur, fragte Lewis sich. Er wusste genau wie Soley, dass sie nun Antworten brauchten. Auch wenn er eben noch gezweifelt hatte, so schnell konnte sich ein Augenblick wandeln. Er hatte irgendwas erlebt, er fühlte es, aber jegliche genaue Eigenanalyse seiner Gedanken zeigte ihm nur Leere. Je mehr er nachdachte, desto mehr verschwanden die Zipfel seiner Erinnerungen.

Ohne es erzählt zu haben, war er in letzter Zeit häufiger an Orten wach geworden, wo er nicht eingeschlafen war. Meistens endete die letzte Erinnerung vor seinem Notebook. Er hatte Soley nichts gesagt, aber versuchte sich zu erinnern. Nun wusste sie leider von der Sache und hatte vielleicht mehr mitbekommen als er selbst. Mal wieder lernte er, dass er offen und ehrlich zu ihr sein sollte, um gemeinsam gegen seine Träume anzukämpfen. Alleine waren sie nicht weit gekommen, zusammen hatten sie gerade erst begonnen.

Kapitel 2

„Jane, wach auf!“ Eine Krankenschwester rüttelte sie wach. Völlig benommen schaute Jane ihr in die Augen und versuchte sie scharf zu stellen.

„Wie geht es dir? Hast du gut geschlafen?“, fragte die leicht übergewichtige Frau freundlich, während sie die Hand auf Janes Schulter legte.

„Wer bin ich?“, war die erste Frage, die Jane hervorbrachte.

„Du erinnerst dich wirklich nicht?“ Die Krankenschwester schaute Jane an und schwieg einen Augenblick. „Du bist irgendwann hier aufgelaufen und hast dich in unsere Obhut begeben, weil du draußen scheinbar niemanden mehr hattest. Wir haben dich aufgenommen, wie viele andere Waisen auch, haben uns um dich gekümmert.“ Die Schwester hatte eine sehr einfühlsame Ausstrahlung. Aber der Arzt hatte ihr doch gestern etwas anderes gesagt. Warum lügt sie?

„Ich glaube, der Arzt hat mir gestern was anderes erzählt. Erwähnte er nicht, dass ich gerade erst draußen gefunden wurde und er würde mir helfen die Wahrheit herauszufinden?“ Jane war verwirrt.

„Ich weiß nicht wovon du redest, mein Kind. Die meisten Ärzte hier wissen nachher oft nicht mal mehr, wer wer ist. Ich denke, er wollte dich in dem Zustand gestern einfach nicht weiter verängstigen. Wie geht es dir denn jetzt? Hast du Schmerzen?“

Jane nahm nun das erste Mal ihren Körper wahr. Nach dem anstrengenden Lauf gestern ging es ihr eigentlich besser als gedacht. Sie hatte teilnahmslos einen ganzen Marathonlauf durch den Wald gemacht.

Schwester Elli, die heute Schicht hatte, wusste natürlich, dass Jane sogar mehrere Tage weg gewesen war und die Jungs wirklich Mühe gehabt hatten sie wieder einzufangen. Jane wurde immer stärker und langsam zu einer Gefahr. Mal sehen was der Doktor nun entscheiden wird, wie es mit ihr weitergehen soll, dachte Elli.

Die Abteilungen in der Klinik waren nach Etagen sortiert. Am liebsten arbeitete Elli hier oben. Die „Kreaturen“ waren noch am besten gestimmt. Die meisten, die in den unteren Etagen wohnten, waren bereits ausgesondert worden oder hatten sich als zu aggressiv herausgestellt. Sie hatte Angst dort zu arbeiten und größtenteils wurden nur die Männer eingeteilt. In den zwei Jahren musste sie zum Glück nur drei Mal einspringen.

Klar hatte sie eine Ausbildung für diese Fälle absolviert, aber ihr war nicht klar, warum diese Menschen nicht einfach entlassen oder getötet wurden. Sie waren schließlich eine Gefahr für die Menschheit und hier eingesperrt würde sie doch keiner brauchen oder vermissen. Bei dem Gedanken erschrak Elli plötzlich. Dachte sie wirklich so grausam? Was war in den letzten Monaten hier mit ihr passiert? Statt Menschen sah sie einfach nur noch Objekte, Nummern, die hier untersucht wurden und bei den Studien halfen. Sie war schon genauso herzlos wie der Doktor.

Sie würde sich niemals davon freisprechen können, was sie in der Zeit auf der Insel getan hatte. Ob sie jemals in ein normales Leben außerhalb des Instituts zurückfinden würde?

„Nein, die Schmerzen halten sich in Grenzen”, antwortete Jane auf Ellis Frage. „Wann darf ich aufstehen?“

„Jederzeit, wenn du willst. Aber du musst dich noch hier im Flur aufhalten, bis sich deine Werte stabilisiert haben”, sagte Schwester Elli.

Genau das würde natürlich niemals passieren, zumindest dachten die „Patienten“, dass sie instabil waren und deswegen nicht nach draußen durften.

„Das klingt gut. Wo sind wir denn hier?“

„An der wunderschönen Westküste von Australien, Schätzchen.“

Elli erfand immer die schönsten Ecken der Welt, wenn Patienten nach ihrem Aufenthaltsort fragten. Dank ihrer Fantasie konnte sie die Orte genauestens ausmalen und träumte sich dorthin. In diesem Jahr war es für alle Australien, ihr Reisewunschziel. In Wirklichkeit wusste nicht mal sie, wo sie waren. Man hatte ihr einen Job angeboten für sehr gutes Geld. Sie wusste, dass sie am Meer lebte, in einer kleinen einsamen Hütte, vermutlich in Asien. Sie durfte keinen Kontakt zur Außenwelt oder ihrer Vergangenheit haben und wurde morgens mit verbundenen Augen zu diesem Institut gefahren.

Dies war kein Traumleben, aber es war für eine absehbare Zeit. Sie war für drei Jahre angestellt und danach würde sie sich ihren Traum erfüllen. Jetzt schon träumte sie sich jeden Abend an die schönsten Orte der Welt und strich die Tage im Kalender ab.

Am Anfang kam ihr dieser Ort wie ein Paradies vor, aber jetzt, wenn man immer nur auf das Meer schaute und keine anderen Möglichkeiten hatte, konnte auch ein Strandhaus ein Gefängnis werden. Ein Jahr musste sie noch durchhalten und dann konnte sie gehen, wohin sie auch immer wollte. Sie wurde so gut bezahlt, dass sie nach diesen drei Jahren nie mehr arbeiten musste. Dafür war es doch ein guter Deal gewesen. Dann war sie frei und konnte sich alle ihre Wünsche erfüllen.

Doch sie begann immer mehr in Zweifel zu verfallen.

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„Wie geht es unserer Patientin denn heute?“, fragte der Arzt beim Eintreten.

„Den Umständen entsprechend. Sie möchte gerne schon wieder aufstehen, wie wir sie kennen.“

„Ach Jane, bleib ruhig, das hat dich alles viel Kraft gekostet”, sagte der Doktor.

Jane war so schlau einfach gar nichts zu sagen. Sie wollte nicht mit diesem Mann reden.

Sie hatte diese junge Frau heute Nacht gesehen, oder wann auch immer das war, und im Wald den jungen Mann. Beide waren eindeutig Menschen, aber der Mann sah realer aus als die Frau, als wäre er wirklich da. Das Mädchen schwebte in der Luft und beobachtete sie nur, warnte sie. Es fühlte sich ähnlich an, aber auch anders. Beide wollten Kontakt zu ihr aufnehmen, das schien klar. Was, wenn sie mit ihnen sprechen könnte und sie nach Hilfe fragte?

Die Schwester und der Arzt verließen den Raum. Jane sah sich um. Es war ein kleines steriles Zimmer. Keine Bilder an der Wand, nur ein paar Kinderzeichnungen und die waren sicher nicht von ihr. Immer etwas versetzt, gab es ein paar Tiere und eine kleine Familie. Ein Mann und eine Frau mit einem kleinen Kind im Garten vor dem Haus. Etwas, das jedes Kind wohl irgendwann schon mal gemalt hatte. Allerdings hatte dieses Kind eine Träne auf der Wange und die Eltern lachten fröhlich. Ob das Kind wohl traurig war und weg von ihnen wollte? Es sah ein wenig so aus, aber vielleicht interpretierte sie das nur rein, weil es ihr unwissentlich mal so ergangen war. Sie hatte keine Ahnung, nur was sie wusste, dass sie den Raum und das Gebäude verlassen wollte. Der Drang war stark und sie fühlte sich gewaltig manipuliert.

Die Tür war direkt neben ihr. Man kam von der linken Seite auf sie zu, wenn man von draußen reinkam. Monitore und weitere Geräte die man üblicherweise in einem Krankenhaus findet, standen auf ihrer rechten Seite. Für sie war das ungewöhnlich, weil man doch mit rechts mehr machen musste. Warum hatten die ihren stärkeren Arm angeschlossen und kommen immer von links auf sie zu? Die schwächere Seite. Hatte das Gründe? Oder war sie Linkshänderin? Und warum dachte sie soweit?

Ihr Blick bewegte sich weiter durch den Raum. Es gab keine Fenster. Allerdings einen großen Spiegel mit hellen Lichtern, sodass man nicht das Gefühl hatte eingeengt zu werden. Der Spiegel war auch respektvoll angebracht, dass man sich nicht immer selber ansah.

Was sie verwunderte war, dass es scheinbar keine Toilette gab. Die meisten Patienten schiene hier, wie auch sie, ans Bett gefesselt zu sein. Nicht wörtlich mit Fesseln, sondern einfach aufgrund der angeschlossenen Geräte. Vermutlich befanden sich auf dem Flur die Toiletten. Neben ihr stand ein kleiner Tisch, worauf eine Flasche Wasser stand und ein kleines Körbchen mit Obst. Daneben gab es ein Buch, welches ihr unbekannt war. Keine weiteren persönlichen Sachen.

Was soll ich hier nur über mich herausfinden? Sie betrachtete weiter die Bilder, die an die Wand gemalt worden waren. Dort waren Elefanten und Tiger aufgezeichnet. Sie schloss daraus, dass das Kind schon mal draußen gewesen war oder die Tiere zumindest kannte. Warum dachte sie so medizinisch und psychologisch? Ob sie beruflich in diesem Bereich ausgebildet worden war?

Ich muss irgendwie um die Mitte zwanzig sein, das werde ich mir im Spiegel noch mal genauer anschauen, wenn ich aufgestanden bin, dachte sie. Ich brauche einen Plan, damit ich nicht den Verstand verliere.

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„Wie gehen wir mit Patientin 329 weiter um?“, fragte die Schwester.

„Das kann ich noch nicht sagen. Wir mussten sie leider schon vor einer langen Zeit von ihren Eltern trennen. Ich wollte beobachten, wie sie sich ohne diese entwickelt und das habe ich. Sie hat auf jeden Fall mehr Gefühle als ihre Eltern, allerdings haben sie die Jahre bei ihren Adoptiveltern auch nicht besonders geprägt. Es liegen uns einige Ergebnisse zu diesem Objekt vor. Einmal durch den Kontakt mit ihren leiblichen Eltern, mit ihren Pflegeeltern und in den letzten Jahren bei uns in der Klinik. Allerdings brauchen wir sie hier auch nicht mehr.

Daraus ergeben sich zwei Optionen. Wir bringen sie, zunächst in das untere Stockwerk und gliedern sie in Studie 220 ein oder wir lassen sie laufen und geben ihr einen der Soldaten an die Seite. Wie viele haben wir noch?“

„Unsere Räume unten werden langsam leerer und außerdem haben wir kaum noch Objekte, die ich als gelungen und geeignet für Jobs ansehe”, sagte ein jüngerer Arzt.

„Wer hat sie um ein Urteil gebeten? Ich habe lediglich die Frage gestellt, wie viele Objekte wir unten noch haben?“, sagte der Chefarzt des Institutes.

Der junge Arzt sah die Schwester an, die eben noch bei Jane im Zimmer war und beide verstanden sich ohne Worte.

„Fünf“, mehr hatte er dann wohl nicht mehr zu sagen.

„Geben sie mir die Akten und setzen sie auf meine Agenda, dass ich mich erneut mit Rekrutierungen beschäftige, Elli! Ich brauche neue freiwillige Objekte, sonst können wir diesen Standort bald schließen und eure Deals gehen den Bach runter“, sagte er und sah die beiden bösartig an.

„Davon war nie die Rede, dass wir am Erfolg beteiligt sein sollten. Wir wurden für drei Jahre angestellt und wollen nach diesen auch unseren Lohn erhalten”, sagte der jüngere Arzt trocken.

„Was nicht zahlbar ist, ist nicht zahlbar”, sagte der Arzt abschließend und forderte sie mit einer Geste auf, den Raum zu verlassen.

Elli und der junge Arzt sahen sich an und verließen wortlos das Zimmer.

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„Was sollen wir bloß machen?“, fragte Elli.

„Ich habe keine Ahnung, weitermachen und ihn unterstützen, dass alles so läuft wie gewünscht und wir unser Geld erhalten.“ Er sah sie an und fragte dann: „Was hast du mit dem Geld vor?“

„Ich will reisen, mein Leben genießen, mich verlieben und eine Familie gründen und bis ans Lebensende glücklich sein. Mir kommen die letzten beiden Jahre wie eine schreckliche Vergangenheit vor und ich will raus und diese vergessen. Wie ist es bei dir?“

„Ich habe vergessen wozu ich studiert habe. Letztendlich sind wir schon fast wie unsere Testobjekte. Wir hatten beide nichts zu verlieren, haben uns für diesen Job gemeldet, um alles hinter uns zu lassen. Ich frage mich, ob ich einen gewaltigen Fehler gemacht habe. Ich habe einst studiert, um Menschen zu helfen. Hierhin brachte mich genau diese Überzeugung, dass ich Menschen helfen wollte, und zwar bevor sie versuchen sich das Leben zu nehmen. Aber leider geht es nur darum, manipulierbare Kampfmaschinen aus Fleisch und Blut zu erschaffen, die letztendlich das Gefühlsleben eines Roboters haben. Es wird so enden, wie es bei den Menschen immer endet. Die Reichen werden unsere Ergebnisse nutzen um noch reicher zu werden, oder um sich Gesundheit kaufen zu können. Den mittellosen, kranken oder hilflosen Menschen wird nicht geholfen!

Sorry, ich wollte dich damit nicht belasten, machen wir erstmal weiter. Bis später, Elli“, sagte der junge Arzt, drehte sich um und ging den Flur entlang Richtung Treppe zu den fünf letzten Objekten im Keller.

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Am Abend saß Elli mit einem Glas Wein an der Strandpromenade vor ihrer Hütte und genoss den Sonnenuntergang, versunken in ihre eigenen Gedanken und Träumen.

So offen hatte Mervin noch nie über seine Gedanken gesprochen. Ob Mervin überhaupt sein richtiger Name war? Sie selber hatte sich Elli genannt, als sie hier ankam. Sie durften sich damals eigene Namen ausdenken. Mervin hatte mit ihr vor ungefähr zwei Jahren angefangen. Nun lagen noch acht Monate vor ihnen.

Nur noch acht Monate und doch begann sie nach dem heutigen Gespräch zu zweifeln, ob sie es durchhalten würde. Sie hatte bisher niemanden kennengelernt, der vor ihnen hier gearbeitet hatte. Sie mussten sich alles aus Handbüchern aneignen und so die Arbeitsschritte mit den Patienten abarbeiten. Damals gab es auch noch nicht so viele Patienten in der unteren Etage, in der Oberen waren ein paar mehr. Die Gänge waren strickt nach Männern und Frauen getrennt. Oben spritzte man den Objekten eine Art Serum, danach wurden sie in das erste Untergeschoss gebracht wo sie dann weiterbehandelt wurden. Leider gab es immer wieder Fälle, die von dort aus in den Keller gebracht wurden, wo sie so ungern arbeitete, weil es meistens sehr gewalttätige und unberechenbare Objekte waren. Nachts brüllten sie vor Schmerzen und sie konnte ihnen nicht helfen. In der oberen Etage war es angenehmer, man konnte noch etwas menschliches in ihnen erkennen, zumindest in den Augen. Vor ihrer Tätigkeit in der Klinik hatte sie immer gesagt, dass es Menschen gibt, die einfach leer aussehen und nicht mehr lachen können. In ihren Augen würde man die Trauer erkennen, die sich in ihrem Leben aufgestaut hatte. Aber das hatte sie inzwischen in dieser Klinik revidiert. Vorher hatte sie nie solch leere und gefühllose Augen gesehen. Und leider hatte sie auch selten erlebt, dass Objekte tatsächlich das Gebäude verlassen konnten.

Jane war laut Akte schon einige Jahre in der Klinik. Sie wurde mit fünf Jahren in einer Familie untergebracht, die sich bereit erklärt hatte, ein Kind zu adoptieren. Das funktionierte auch recht gut, bis sie fünfzehn Jahre wurde. Die Adoptiveltern kontaktierten ihren Chef und behaupteten, dass das Kind Halluzinationen habe und sie es nicht behalten können.

Elli konnte nicht verstehen, wie man ein Kind nach zehn Jahren einfach so wieder abgeben konnte, aber als sie in dem Institut ihre Tätigkeit anfing, ging es Jane scheinbar schon viel besser. Sie wirkte zwar immer wie auf Droge, was vermutlich auch der Fall war, aber sie lebte wieder ohne Geister.

Bis vor ein paar Tagen, als sie zurückgebracht wurde. Sie wirkte verschreckt, aber voller Leben.

Inzwischen war Jane zweiundzwanzig Jahre alt und Elli wünschte sich, dass sie in die Welt entlassen werden konnte. Dass der Doktor sie endlich gehen ließe und es an ihrer Stelle ein passendes Objekt zur Beobachtung im unteren Kellerstockwerk gab. In dieses durfte sie derzeit nicht rein, sie hatte also keine Ahnung was dort vor sich ging. Sie arbeitete schon länger nur in der oberen Etagen, Sie besaß auch gar nicht die Berechtigung für die Türen und man ließ sie dort auch nicht rein. Mervin hatte Zutritt, auch für das mittlere Stockwerk, wo die „Ausbildung“ stattfand, aber erzählte nie von dieser Etage. Sie konnte ihm aber ansehen, dass er die Arbeit dort nicht mochte. Allerdings musste er die meiste Zeit dort verbringen. Sie fragte sich, was dort schlimmer sein konnte als in den Kellerräumen. Vielleicht die Entwicklung der Kandidaten, oder was diese durchmachen mussten. Vielleicht wollte sie es auch gar nicht wissen und erleben, dass schmerzte sie. Wenn sie aber weit entfernt davon war, dann konnte sie rational denken

Sie stellte sich die Arbeit so vor, dass Mervin oder der Doktor hinter einer Glasscheibe saßen und sich Notizen machten, während die Patienten irgendwelche Tests oder Übungen machten.

Dann kamen die Objekte wieder hoch zu ihr und erhielten noch mal ein Serum. Meistens waren sie nicht ansprechbar. Sie beobachtete ihre Vitalwerte und legte die Infusionen an. Nach drei Tagen waren sie wieder verschwunden.

Jane war somit ihr einziger sprechender Patient und sie wollte am liebsten gar nicht auf sie verzichten, wünschte ihr dennoch ein normales Leben, sofern das möglich war. Sie würde zumindest versuchen alles dafür zu geben, dass sie nicht eliminiert wurde. Das bedeutete vielleicht auch nichts Gutes, aber dessen war sie sich heute erst bewusst geworden, als der Doktor sagte, dass sie ein Testobjekt wäre.

Nach einigen Stunden auf der Terrasse ging sie schlafen und hoffte auf den neuen Tag, dass eine Entscheidung gefällt würde und sie wusste was mit ihrer Kleinen passieren würde.

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„Kommt ihr bitte direkt in mein Büro?“, sagte der Doktor und meinte damit Elli und Mervin.

Er ließ die Beiden Platz nehmen und schloss hinter ihnen die Tür. „Ich habe mir heute Nacht reichlich Gedanken gemacht. Wenn wir Jane eliminieren, verlieren wir eventuell wissenschaftliche Erkenntnisse. Ich würde sie gerne entlassen und ihr Mikel an die Hand geben.“

„Mikel?“, fragte Mervin erschrocken. Auch Elli war von dem Gedanken überhaupt nicht begeistert. Er war im Keller einer der gewalttätigsten Objekte. Die Beschreibung zu seiner Person sagte aus, dass er Gewalt aus Langeweile aufbaute. Seine Augen hatten definitiv KEINEN Funken Leben mehr in sich. Elli hatte ihn nur kurz gesehen, als er krank war. Das kam bei den Objekten fast gar nicht vor, aber Mikel hatte es einmal mit einer schweren Grippe erwischt.

„Ja, er ist am sichersten. Er ist ausgebildet und hat auf das Serum am besten angesprochen.“

„Das kann sein”, sagte Mervin, „aber er wird keine Lust auf so einen nebensächlichen Auftrag haben, bei dem er niemanden verletzen kann. Das macht mir Sorge.“

Der Doktor grinste. „Kann er doch. Kann uns doch egal sein. Soll er alle um Jane herum töten, die Hauptsache er beschützt sie und gibt uns Bericht, wie sie sich entwickelt. Vielleicht bekommen wir dann raus, was dieser „Unfall“ für Fähigkeiten entwickelt hat. Vielleicht trifft sie auf andere, ich nenne es mal „ihrer Art“, und wir können ebenfalls sehen was passiert. Ob sie Empathie empfinden kann und was sie von ihren Eltern behalten hat. Es gibt mehrere freilaufende Fehl-Objekte, die wir von anderen Objekten beobachten lassen.“

„Ich halte es für bedenklich, Doktor. Aber wenn es ihre Entscheidung ist, dann werden wir das so in die Wege leiten.“ Mervin schien zu merken, dass diskutieren keinen Sinn machen würde.

Elli war stille Beobachterin, sie wollte sich nicht mehr einmischen und was sagen. Sie hoffte für Jane, dass sie leben konnte, sie war noch so jung. Wenn man sie nun behandelte, von Ärzten außerhalb der Klinik, dann würde sie vielleicht weiterleben dürfen.

„Wie viele von ihr gibt es draußen?“, fragte Elli nun doch geistesabwesend.

„Das geht euch nichts an. Es wird immer welche geben, bei denen das Serum oder die Beruhigungsmittel anders wirken, als wir es uns wünschen. Daher mach dir keinen Kopf, dafür wirst du nicht bezahlt.“

Sie hasste seinen barschen und unfreundlichen Ton, aber genau diesem Teufel hatte sie sich vor zwei Jahren verschrieben. Er war so eiskalt, aber sobald er ein Patienten-Zimmer betrat, legte er die Maske eines netten und verständnisvollen Arztes auf. Das ist totaler Wahnsinn. Zu Hause bei seiner Frau musste dies ebenfalls klappen, sonst würde sie doch nicht mit ihm verheiratet sein. Und Kinder hatte er scheinbar auch, war er ein liebender Vater? Unvorstellbar aus ihrer Perspektive. Wie ist so was möglich? Warum ließ Gott das zu? Er hätte doch auch viel mehr Ruhe, wenn er das zumindest verhindern würde?

Sie war nicht besonders gläubig, sonst würde sie sicher nicht an diesem Ort arbeiten. Aber immer, wenn sie sich selber etwas nicht rational erklären konnte oder wollte, sprach sie zu Gott. Vermutlich doch immer noch mit der Hoffnung, dass er sich meldete und ihr erklärte warum solche Dinge passierten. Menschen tendierten dazu sich immer in Notsituationen an ihn zu wenden, so auch sie.

„Also, wie gehen wir weiter vor?“, hörte sie Mervin sagen, um das Thema wieder auf den Fall zu lenken.

„Wir setzen sie am besten wieder mit Gedankenverlust im Wald aus”, sagte der Doktor.

„Und Mikel?“

„Der bekommt Zeit sich auf Janes Akte vorzubereiten. Ich gehe so von zwei bis drei Tagen aus. Jane wird sich im Wald wieder in die Hütte flüchten und dort versuchen sich zu erinnern. Es wird ihr gelingen, Stückchen für Stückchen. In der Hütte wird es ihr dann langsam zu ruhig und sie wird sich auf die Suche begeben und herausfinden wo sie ist. Vielleicht findet sie sogar eines Tages ihre Pflegeeltern, die ja leider verstorben sind”, sagt der Doktor.

„Die sind verstorben?“, fragte Elli.

„Bis dahin wird das erledigt sein”, sagte er wieder kalt.

Elli wurden die Ausmaße immer deutlicher. Er würde alle vernichten lassen, die Jane Anhaltspunkte geben könnten. Sie würde bei null anfangen und sich ein neues Leben aufbauen müssen, immer von Träumen gequält und auf der Suche nach ihrer Vergangenheit. Sie war sich nicht mehr sicher, ob das wirklich der richtige Weg war, aber Töten stellte für sie keine Alternative dar.

Stattdessen sah sie auch Mervin und sich selbst in Gefahr. Auch sie hatten Anhaltspunkte, die Jane helfen konnten mehr über sich herauszufinden. Der Doktor war in den letzten Monaten noch kälter geworden und sie war sich ihres Lebens auf dieser Insel nicht mehr sicher.

„Dann macht alles fertig. Ich kümmere mich um Mikel und brauche deine Hilfe”, dabei sah er Mervin an.

„Du, Elli, kümmerst dich um Jane. Gib ihr eine Dosis und lass sie von den Jungs im Wald aussetzen. Du kennst das Spiel.“

Elli stand auf und verließ wortlos den Raum. Sie brauchte kurz eine Zigarette und einen Kaffee, um sich zu beruhigen.

Kaum saß sie mit Beidem in der Hand vor dem kleinen Ausgang an der Klinik, als Mervin dazu kam.

„Wie geht’s dir?“, fragte er besorgt. Mervin hatte das anscheinend schon häufiger mitgemacht und für sie war es das erste Mal.

„Wie soll es mir gehen? Ich lasse Jane in die Freiheit. Mir geht es gut.“

„Dir geht es genauso wenig gut damit, wie mir. Lüg mich nicht an”, sagte der junge Arzt streng.

„Das ist richtig, aber was soll ich machen. Wir haken den Fall damit ab und ich kann in acht Monaten einfach mein Leben genießen”, warf Elli ein.

„Das ist, es was dich hier oben hält, oder? Hast du nicht einmal daran gezweifelt, ob es so kommen wird, wie man es dir versprochen hat?“, frage Mervin in einem Ton, der Elli gar nicht gefiel.

„Was meinst du damit?“, fragte sie.

„Wir haben nie jemanden gesehen, der hier vorher gearbeitet hat, wundert dich das nicht? Wenn es bereits Kollegen gegeben hätte, die auch ausbezahlt wurden und sich ein neues Leben aufgebaut hätten, hört man meistens doch immer noch mal was. Auch wenn es einfach eine Rückfrage beim Doktor ist.“

„Das ist doch klar geregelt. Man darf sich danach hier niemals mehr melden”, erklärte Elli ihm.

„Du siehst aber schon, wie kalt der Doktor ist, oder? Der hat nicht zum ersten Mal entschieden jemanden töten zu lassen. Glaubst du wirklich wir kommen lebend hier raus?“

Erneut war Elli am Zweifeln. Ihr war gar nicht bewusst, warum sie diese Gedanken noch nie zuvor hatte. Mervin sah, dass er sein Ziel erreicht hatte, sie hatte Angst. Es tat ihm leid, aber er musste seine Angst mir jemandem teilen. Beide waren noch relativ jung, auch wenn Elli sicherlich zehn Jahre älter war, wollte sie sich mit dem Geld ein gutes Leben ermöglichen, genau wie er.

„Was meinst du könnten wir dagegen tun?“

„Abwarten was passiert oder versuchen hier rauszukommen, beides wird nicht einfach. Wir haben zwei Möglichkeiten, die nächsten Monate noch in Ruhe arbeiten oder aber wir reagieren früher und versuchen hier zu entkommen. Beides könnte für uns tödlich enden, das ist ja das Schlimme. Ich habe keine Ahnung, was wir tun sollen, ich muss nur endlich mit jemandem darüber reden“, sagte Mervin nun etwas verzweifelt.

Auf einmal tat er Elli leid. Er war noch um einiges jünger und hatte früh eine falsche Entscheidung getroffen, weil er etwas Gutes erreichen wollte. Wie lange zweifelte er wohl schon an seinem Plan? Sie würde sich seiner annehmen. Wenn sie noch jemandem helfen konnte nachdem Jane weg war, dann war das sicherlich ihm. Schließlich war helfen mal ihr Job gewesen. Nicht nur Menschen lahmlegen und manipulieren. Was war an ihrem alten Leben so schlimm gewesen, dass sie diesen Weg eingeschlagen hatte? Eigentlich nichts, das sieht man nur leider immer zu spät ein.

Still saßen sie nebeneinander und sahen sich an.

„Wir machen erstmal das, was wir tun sollen. Wenn du Mikel so weit hast und ihn einschätzen kannst, können wir ja noch mal überlegen, wie wir weiter vorgehen wollen. Wenn du aber doch so eine Angst hast, meinst du nicht wir werden hier und in unseren Wohnungen kontinuierlich überwacht?“, fragte Elli.

„Ich habe das mal versucht herauszufinden. Alles umgestellt und neu eingerichtet. Ich glaube sie fühlen sich sicher, weil auf diese Insel niemand anderes rauf oder runterkommt”, sagte er beiläufig.

Die arrogante Art vom Doktor würde das bestätigen, aber wie konnte man so ein streng geheimes Forschungsinstitut unbeobachtet lassen? Auch er musste ja Angst um seine Existenz haben. Schon länger fragte Elli sich, wie das hier finanziert wurde. Ihr wurden Unmengen an Geld versprochen,