Schwere Zeiten - Charles Dickens - E-Book

Schwere Zeiten E-Book

Charles Dickens.

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Beschreibung

"Schwere Zeiten" ist ein Roman von Charles Dickens. Der Originaltitel lautet "Hard Times".

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Inhaltsverzeichnis

Einleitung.

Erstes Kapitel.

Zweites Kapitel.

Drittes Kapitel.

Viertes Kapitel.

Fünftes Kapitel.

Sechstes Kapitel.

Siebentes Kapitel.

Achtes Kapitel.

Neuntes Kapitel.

Zehntes Kapitel.

Elftes Kapitel

Zwölftes Kapitel.

Dreizehntes Kapitel.

Vierzehntes Kapitel.

Fünfzehntes Kapitel.

Sechzehntes Kapitel.

Siebzehntes Kapitel.

Achtzehntes Kapitel.

Neunzehntes Kapitel.

Zwanzigstes Kapitel.

Einundzwanzigstes Kapitel.

Zweiundzwanzigstes Kapitel.

Dreiundzwanzigstes Kapitel.

Vierundzwanzigstes Kapitel.

Fünfundzwanzigstes Kapitel.

Sechsundzwanzigstes Kapitel.

Siebenundzwanzigstes Kapitel.

Achtundzwanzigstes Kapitel.

Neunundzwanzigstes Kapitel.

Dreißigstes Kapitel.

Einunddreißigstes Kapitel.

Zweiunddreißigstes Kapitel.

Dreiunddreißigstes Kapitel.

Vierunddreißigstes Kapitel.

Fünfunddreißigstes Kapitel.

Sechsunddreißigstes Kapitel

Siebenunddreißigstes Kapitel.

Einleitung.

Den Roman »Schwere Zeiten« (Hard times) schrieb Dickens um 1853, zu einer Zeit, als er bereits auf der Höhe seines Ruhmes und seines meisterlichen Könnens stand. Warmherzige Menschlichkeit zu predigen und die Sprache des Gemütes und der Seele höher zu stellen als alle bloße kalte Verstandesweisheit, wird Dickens seit »Oliver Twist« nicht müde. »Schwere Zeiten« richtet sich vor allem gegen die trockene seelenlose Tatsachengelehrsamkeit. Man könnte als Motto über den Roman Goethes Worte aus der Schülerszene des »Faust« setzen:

»Grau, teurer Freund, ist alle Theorie

Und grün des Lebens goldner Baum.«

Insbesondere wandte sich Dickens gegen die Auswüchse der Manchester-Schule und ihrer Lehren vom rücksichtslosen wirtschaftlichen Egoismus. Er zeigt sich dabei diesmal weniger als Satiriker, sondern als der scharfe Beobachter und Menschenkenner. So malt er lebenswahr und ergreifend die Welt der Tatsachenmenschen und Verstandesegoisten: den brutalen, herzlosen Emporkömmling, den Fabrikanten Bounderby, der eitel, unbeherrscht und selbstsüchtig zum Tyrannen gegen die Arbeiter seiner Unternehmungen wird, und sein Gegenspiel Mr. Gradgrind; aber dieser Mann hat im Grunde ein menschlicher Empfindungen fähiges Herz. Er ist nur ein Opfer der zeitlichen Mode geworden, die mit Statistiken und Zahlen die Geheimnisse des Lebens glaubt meistern zu können, und die alle Phantasie und alles blühende Schöpfertum der Seele als ungehörig und belanglos ablehnt. So erzieht Gradgrind seine beiden Kinder Luise und Tom in dem erkältend nüchternen Sinn reiner Verstandesmechanik. Die Folge ist, daß er seiner Tochter alle Sicherheit und alles Glück ihrer Jugend zerstört, sein Sohn aber zum skrupellosen Verbrecher wird. Die feine, menschlich tiefe psychologische Entwicklung der dargestellten Menschen, ihres Wirkens und Leidens ist von Dickens mit unübertrefflicher Meisterschaft gegeben. Zuletzt offenbart sich darin Dickens schöner unbeirrter Glaube an die Weltgerechtigkeit, daß er zum Schluß die Sache des Guten siegen läßt. Die furchtbaren Folgen der verkehrten lebenstötenden Erziehung muß der alte Gradgrind unerbittlich auskosten, aber Reue und die Hoffnung, daß über die in schweren Zeiten geprüften und geläuterten Menschen eine bessere Zukunft heraufziehen möge, gibt dem Roman einen versöhnenden Ausklang. Erschütternd lebensecht ist daneben die Welt der gebundenen, in schwerem Werktagslos dahinlebenden Massen der trostlosen Fabrikstädte gesehen.

Hier erweist sich Dickens als ein Vorgänger Zolas und seiner großen sozialen Romane. Daneben sind dann einzelne Typen mit erfrischender Satire gezeichnet, so die vornehme Madame Sparsit, die den verarmten und entarteten Adel darstellt, der sich schmarotzend mit Emporkömmlingen vom Schlage Bounderbys und ähnlichen Industriellen verband. Sehr »interessant« (das Wort in seiner vollsten Bedeutung genommen) ist auch der Vertreter des Snobs, Mr. Harthouse, der amoralische Genußmensch, der das Leben in all seinen Gewöhnlichkeiten durchschaut, der an nichts als eben an diese Gewöhnlichkeit glaubt.

Was diesem Roman unvergängliche Frische verleiht, ist die lebendige Kraft, die noch immer von ihm ausströmt. Die Bounderbys und Gradgrinds wandeln noch immer unter uns. Und immer noch bemüht sich der technisierende nüchterne Verstand, allen Frühling des Herzens und der Phantasie totzuschlagen. Deshalb können die »Schweren Zeiten« auch unserer Generation als Mahnung zur Einkehr, zur Selbstbesinnung wärmstens empfohlen werden.

Bei der Textrevision bin ich von Dr. Eva Thaer freundlichst unterstützt worden.

P. Th. H.

Erstes Kapitel.

»Nun, was ich brauche, das sind Tatsachen. Bringen Sie diesen Knaben und Mädchen nichts als Tatsachen bei. Im Leben bedarf man nur der Tatsachen. Pflanzen Sie nichts anderes ein und entwurzeln Sie alles übrige. Den Geist vernunftbegabter Tiere können Sie nur durch Tatsachen bilden; nichts anderes wird ihnen je von Nutzen sein. Nach diesem Grundsatz erziehe ich meine eigenen Kinder und nach dem gleichen Grundsatz erziehe ich diese Kinder. Halten Sie sich an Tatsachen, mein Herr.«

Der Schauplatz bestand aus einem kahlen, schmucklosen und einförmigen Raum von Schulzimmer, und der plumpe Zeigefinger des Sprechers verlieh dessen Bemerkungen Nachdruck, indem er jeden Satz mit einer Linie am Ärmel des Schulmeisters unterstrich. Der Nachdruck wurde erhöht durch des Sprechers plumpe, mauerartige Stirn, die sich schwer über dessen Augenbrauen erhob. Seine Augen fanden gleichsam ein bequemes Kellergeschoß in zwei dunklen Höhlen, die von der Mauer beschattet wurden. Der Nachdruck wurde erhöht durch den Mund des Sprechers, der dünn, breit und scharf gezeichnet war. Der Nachdruck wurde erhöht durch die Stimme des Sprechers, die unbiegsam, trocken und herrisch klang. Der Nachdruck wurde erhöht durch das Haar des Sprechers, das sich borstenartig an den Enden seines kahlen Kopfes wie eine Pflanzschule von Tannen emporsträubte, um den Wind von dessen schimmernder Oberfläche abzuhalten. Diese war, der Kruste einer Rosinenpastete gleich, ganz mit Knoten bedeckt, als ob der Kopf kaum genug Lagerraum für die harten Tatsachen hätte, die in seinem Innern aufgespeichert lagen. Das stöckische Benehmen, der plumpe Rock, die plumpen Beine und die plumpen Schultern des Sprechers – ja, sein Halstuch sogar, das in seiner unbiegsamen Tatsächlichkeit so zusammengezogen war, um ihn bei der Kehle mit einem unnachgiebigen Griffe zu fassen – das alles erhöhte den Nachdruck.

»In diesem Leben haben wir nichts als Tatsachen nötig, mein Herr: nichts als Tatsachen.«

Der Sprecher und der Schulmeister samt der dritten erwachsenen Person, die zugegen war, alle zogen sich nunmehr etwas zurück und ließen ihre Augen über die geneigte Ebene kleiner Gefäße schweifen, die hier und da in Ordnung aufgepflanzt waren, bereit, mit richtig gemessenen Gallonen von Tatsachen vollgeschüttet zu werden, bis sie bis zum Rand gefüllt wären.

Zweites Kapitel.

Thomas Gradgrind, mein Herr. Ein Mann der Wirklichkeit. Ein Mann der Tatsachen und Berechnungen. Ein Mann, der von dem Prinzip ausgeht, daß zwei und zwei vier sind und nicht mehr, und bei dem jedes Zureden, etwas mehr zu gestatten, vergebens ist. Thomas Gradgrind, mein Herr – Thomas schlechterdings – Thomas Gradgrind. Mit einem Lineal und einer Wage, samt der Multiplikationstafel in der Tasche, mein Herr, bereit, jedes Stück menschlicher Natur zu wägen und zu messen, und euch genau zu bestimmen, auf wieviel es sich beläuft. Das ist eine bloße Zahlenfrage, ein Gegenstand der einfachen Arithmetik. Ihr könnt die Hoffnung hegen, sonst etwas Unsinniges in den Kopf von George Gradgrind oder Augustus Gradgrind, oder John Gradgrind, oder Joseph Gradgrind (lauter angenommene, nicht existierende Personen) zu bringen, aber in den Kopf von Thomas Gradgrind – niemals, mein Herr!

Mit solchen Ausdrücken führte sich Mr. Gradgrind immer, entweder im Privatkreis seiner Bekanntschaften oder beim Publikum im allgemeinen, in Gedanken ein. Mit solchen Ausdrücken und nur »Knaben und Mädchen« anstatt »mein Herr« setzend, stellte jetzt Thomas Gradgrind mit Nachdruck diesen selben Thomas Gradgrind den kleinen vor ihm stehenden Krügen vor, die ganz und gar mit Tatsachen vollgefüllt werden sollen.

Als er aus dem früher erwähnten Kellergeschoß feurige Blicke auf sie schleuderte, glich er in der Tat einer Art Kanone, die bis zur Mündung mit Tatsachen gefüllt, bereit war, die Kleinen mit einem Schuß aus den Regionen der Kindheit hinauszufegen. Er hatte auch Ähnlichkeit mit einem galvanischen Apparat, der anstatt der zarten, jugendlichen Bilder, die verscheucht werden sollten, mit einem greulichen, mechanischen Ersatzmittel angefüllt war.

»Mädchen Nummer Zwanzig«, sagte Mr. Gradgrind mit seinem plumpen Zeigefinger plump hindeutend. »Ich kenne dieses Mädchen nicht. Wer ist dieses Mädchen?«

»Cili Jupe, mein Herr«, setzte Nummer Zwanzig errötend, sich erhebend und knixend, auseinander.

»Cili ist kein Name«, sagte Mr. Gradgrind. »Nenne dich nicht Cili. Nenne dich Cecilie.«

»Vater nennt mich Cili, mein Herr«, erwiderte das junge Mädchen mit zitternder Stimme und mit einem zweiten Knix.

»Dann hat er kein Recht dazu«, sagte Mr. Gradgrind. »Sag ihm, Cecilie Jupe, daß er das nicht tun darf. Laß einmal sehen. Was ist dein Vater?«

»Er gehört zur Reitertruppe, wenn Sie erlauben, mein Herr.«

Mr. Gradgrind runzelte die Stirn und machte mit der Hand eine abwehrende Bewegung gegen den verwerflichen Beruf.

»Wir brauchen darüber hier nichts zu wissen. Du mußt uns darüber hier nichts sagen. Dein Vater reitet Pferde zu, nicht wahr?«

»Ja, zu dienen, mein Herr. Wenn welche zum Bereiten zu bekommen sind, so werden sie in der Reitbahn zugeritten, mein Herr.«

»Du mußt uns hier nichts über die Reitbahn erzählen. Gut also. Beschreibe deinen Vater als einen Bereiter. Er kuriert Pferde, wie ich voraussetze?«

»O ja, mein Herr.«

»Sehr gut nun. Er ist also ein Veterinär, ein Pferdearzt und Bereiter. Gib mir deine begriffliche Bestimmung vom Pferd.«

(Höchste Bestürzung von Cili Jupe über diese Frage.)

»Mädchen Nummer Zwanzig nicht imstande auseinanderzusetzen, was ein Pferd ist«, sagte Mr. Gradgrind zum allgemeinen Nutzen der sämtlichen kleinen Krüge. »Mädchen Nummer Zwanzig hat in bezug auf eines der gewöhnlichsten Tiere keine Tatsachen inne. Nun soll ein Knabe die begriffliche Bestimmung von einem Pferd geben. Bitzer, los!«

Der plumpe Finger geriet, hin- und herschweifend, plötzlich auf Bitzer. Vielleicht deshalb, weil er gerade von demselben Sonnenstrahl getroffen wurde, der durch eines der kahlen Fenster des ungewöhnlich weißgewaschenen Zimmers fiel und auf Cili seinen Schimmer warf. Die Knaben und Mädchen saßen nämlich in einem Raum mit schräg abfallendem Fußboden und waren voneinander durch einen schmalen Gang in der Mitte getrennt. Sie saßen in dichten Haufen. Cili aber, die sich an der Ecke einer Reihe an der sonnigen Seite befand, wurde von dem Anfange eines Sonnenstrahles getroffen. Von diesem Sonnenstrahl fing Bitzer, der sich an der Ecke auf der andern Seite einige Reihen weiter vorwärts befand, das Ende auf. Während jedoch das Mädchen so dunkeläugig und so dunkelhaarig war, daß sie eine tiefere und glänzendere Farbe durch den Sonnenschein erhielt, war der Knabe wieder so helläugig und lichthaarig, daß ganz dieselben Strahlen das bißchen aus ihm herauszuziehen schienen, was er an Farbe je besessen. Seine glanzlosen Augen würden kaum als solche gegolten haben, wenn die kurzen Enden von Augenwimpern ihre Form nicht dadurch hervorgehoben hätten, daß sie diese in einen unmittelbaren Kontrast mit noch etwas Blasserem, als sie selbst waren, gebracht hätten. Sein kurzgestutztes Haar konnte als eine bloße Fortsetzung der rötlichen Sommersprossen auf Stirn und Gesicht gelten. Seine Haut hatte, was die natürliche Farbe betraf, ein so ungesundes und mangelhaftes Aussehen, daß er den Anschein hatte, als würde er weiß bluten, wenn man ihn schnitte.

»Bitzer«, sagte Thomas Gradgrind, »deine begriffliche Bestimmung von einem Pferd.«

»Vierfüßig. Grasfressend. Vierzig Zähne, nämlich: vierundzwanzig Backenzähne, vier Augenzähne und zwölf Schneidezähne. Wirft im Frühling die Haut ab und in morastigen Gegenden auch die Hufe. Die Hufe sind hart, müssen jedoch mit Eisen beschlagen werden. Zeichen im Maule geben das Alter an.« Also (und noch viel mehr) sprach Bitzer.

»Nun, Mädchen Nummer Zwanzig«, sagte Mr. Gradgrind, »weißt du, was ein Pferd ist.«

Sie knixte abermals und würde noch mehr errötet sein, wenn sie überhaupt noch mehr hätte erröten können, als sie es bisher getan hatte. Nachdem Bitzer auf Thomas Gradgrind mit beiden Augen zugleich rasch hingeblinzelt hatte und das Licht auf seinen zitternden Spitzen von Augenwimpern so auffing, daß sie wie Fühlhörner geschäftiger Insekten aussahen, fuhr er mit den Knöcheln an die sommersprossige Stirn und setzte sich wieder.

Der dritte Herr trat jetzt vorwärts. Er war ein tüchtiger Mann im Knuffen und Schlagen; ein Regierungsbeamter. Nach seiner Weise (und auch in der der meisten Leute) ein erklärter Boxer. Immerfort in Übung, immerfort mit einem Plane bei der Hand, die Kehle von aller Welt wie ein Arzneikügelchen abzuwürgen, posaunte er ständig vor den Schranken seines Bureaus aus, daß er bereit sei, es mit »ganz England« aufzunehmen. Um in der Phraseologie der Faust fortzufahren, besaß er ein eigenes Talent, überall mit jedermann anzubinden und sich als einen abscheulichen Kumpan zu bewähren. Er konnte irgendwo hinkommen und sofort jeden beliebigen Menschen eines mit der Rechten versetzen, mit der Linken nachholen, einhalten. Arme wechseln, sich stemmen und seinen Gegner (er schlug sich stets mit »ganz England«) bis zu dem Seitenring drängen und dann über ihn geschickt herfallen. Er war sicher, ihm das Lebenslicht auszublasen und seinen unglücklichen Gegenkämpfer für ewig taub zu machen. Er hatte auch von einer höheren Autorität den Auftrag, das große Bureau des tausendjährigen Reiches zu begründen, wenn solche Kommissare je einmal zur Herrschaft auf Erden gelangen sollten.

»Sehr gut«, sagte dieser Herr, munter lächelnd und die Arme kreuzend. »Das ist ein Pferd. Laßt mich euch nun die Frage vorlegen, Mädchen und Knaben, würdet Ihr ein Zimmer mit den bildlichen Darstellungen eines Pferdes tapezieren?«

Nach einer Pause rief die eine Hälfte der Kinder im Chor: »Ja, mein Herr!« worauf die andere Hälfte, die in dem Gesicht dieses Herrn las, daß Ja unrichtig war, im Chor ausrief: »Nein, mein Herr«, wie es bei solchen Prüfungen gewöhnlich geschieht.

»Versteht sich, nein. Warum aber?«

Eine Pause. Ein wohlbeleibter, bedachtsamer Knabe, der keuchend Atem holte, wagte die Antwort: weil er ein Zimmer gar nicht tapezieren, sondern malen lassen würde.

»Du mußt es tapezieren«, sagte der Herr ziemlich leidenschaftlich.

»Du mußt es tapezieren«, sagte Thomas Gradgrind, »ob du willst oder nicht. Sag uns nicht, du würdest es nicht tapezieren. Was meinst du. Junge?«

Nach einer zweiten und schrecklichen Pause begann der Herr abermals: »Ich will euch also erklären, warum ihr ein Zimmer nicht mit den bildlichen Darstellungen eines Pferdes tapezieren würdet. Sehet ihr je in Wirklichkeit Pferde auf den Seiten eines Zimmers hin und her gehen? Seht ihr das in der Tat?«

»Ja, mein Herr«, von der einen Hälfte und »Nein, mein Herr«, von der andern.

»Versteht sich, nein«, sagte der Herr mit einem unwilligen Blick auf die unrichtige Hälfte. »Nun, ihr werdet nie etwas sehen, was ihr nicht in der Tat sehet. Ihr werdet nirgends etwas haben, was ihr nicht in der Tat habt. Was man Geschmack nennt, ist nur eine andere Bezeichnung für Tatsache.«

Thomas Gradgrind nickte seine Beistimmung zu.

»Das ist ein neues Prinzip, eine Entdeckung, eine große Entdeckung«, sagte der Herr. »Nun werde ich euch nochmals auf die Probe stellen. Vorausgesetzt, ihr ließet ein Zimmer mit einem Teppich belegen. Würdet ihr einen Teppich wählen, auf dem sich bildliche Darstellungen von Blumen befinden?«

Da jetzt die allgemeine Überzeugung vorherrschte, daß »Nein, mein Herr«, bei diesem Herrn immer die richtige Antwort sei, so war der Chor von Nein sehr stark. Nur einige Nachzügler riefen Ja; unter diesen Cili Jupe.

»Mädchen Nummer Zwanzig«, sagte der Herr in der ruhigen Würde seiner Weisheit lächelnd. Cili errötete und erhob sich.

»Also du würdest dein Zimmer oder das deines Mannes, wenn du schon erwachsen wärest und einen Mann hättest, mit einem Teppich belegen, auf dem Blumen abgebildet sind – würdest du da«?« rief der Herr, »Warum würdest du das?«

»Wenn Sie erlauben, mein Herr, ich habe Blumen sehr lieb«, antwortete das Mädchen.

»Und warum möchtest du also Tische und Stühle auf sie stellen und die Leute mit ihren schweren Stiefeln darauf herumtreten lassen?«

»Da« würde ihnen nichts schaden, mein Herr. Sie würden nicht zerdrückt werden und verwelken. Wenn Sie erlauben, mein Herr. Sie wären nur die Bilder von etwas recht Hübschem und Angenehmen, und ich würde mir einbilden –«

»Ei! Ei! Ei! Aber du darfst dir nichts einbilden«, rief der Herr, ganz stolz darauf, so glücklich zu diesem Punkt geraten zu sein. »Das ist's ja gerade. Du darfst dir nie etwas einbilden.«

»Du darfst nie, Marie Jupe«, wiederholte Thomes Gradgrind feierlich, »dergleichen tun.«

»Tatsachen! Tatsachen! Tatsachen!« sagte der Herr, und »Tatsachen! Tatsachen! Tatsachen!« wiederholte Thomas Gradgrind.

»In allen Dingen müßt ihr«, sagte der Herr, »von Tatsachen geleitet und gelenkt werden. Wir hoffen, in kurzem einen Ausschuß der Tatsachen, zusammengesetzt aus Kommissaren der Tatsachen, zu haben, die das Volk zwingen werden, ein Volk der Tatsachen und nur der Tatsachen zu sein. Das Wort Einbildung müßt ihr ganz verbannen. Ihr habt nichts damit gemein. Ihr dürft in keinem Gegenstande, der zum Nutzen oder zur Zierde gereicht, etwas finden, das mit der Tatsächlichkeit im Widerspruch steht. Ihr geht in der Tat nicht auf Blumen: ihr dürft also auf Blumen in Teppichen nicht gehen. Ihr seht nirgends, daß ausländische Vögel und Schmetterlinge herbeifliegen, um sich auf eurem Geschirr niederzulassen; es kann euch daher nicht gestattet werden, ausländische Vögel und Schmetterlinge auf euer irdenes Geschirr zu malen. Ihr begegnet nie vierfüßigen Tieren, die auf den Wänden hin und her spazieren; ihr dürft also keine vierfüßigen Tiere auf den Wänden darstellen lassen. Zu all solchen Belangen«, fügte der Herr hinzu, »dürft ihr nur Vergleiche und Zusammenstellungen (in Grundfarben) mathematischer Figuren in Anwendung bringen, die einer Beweisführung fähig sind. Das ist die neue Entdeckung. Das ist Tatsache. Das ist Geschmack.«

Das Mädchen knixte und setzte sich. Sie war sehr jung und sah aus, als ob sie vor dem Prospekt der Tatsächlichkeit, den die Welt bot, erschrocken wäre.

»Nun, wenn Mr, M'Choakumchild«, sagte der Herr, »zu seiner ersten Lektion hier schreiten will, so werde ich mich glücklich schätzen, auf Ihr Ersuchen, Mr. Gradgrind, sein pädagogisches Verfahren zu beobachten.«

Mr. Gradgrind war sehr verbunden. »Mr. M'Choakumchild, wir warten nur auf Sie.«

So fing denn Mr. M'Choakumchild in seiner besten Weise an. Er und andere hundertundvierzig Schulmeister wurden vor kurzem zu gleicher Zeit, in derselben Faktorei und nach denselben Prinzipien wie ebenso viele Pianogestelle, gedrechselt. Er war durch eine zahllose Menge von Fächern gegangen und hatte ganze Bände von kopfzerbrechenden Fragen beantwortet. Orthographie, Etymologie, Syntax und Prosodie, Biographie, Astronomie, Geographie und allgemeine Kosmographie, die Wissenschaften der zusammengesetzten Proportionen, Algebra, Landmessen und Nivellieren, Gesang und Zeichnen nach Modellen, das alles saß ihm sozusagen fest bis in die Spitzen seiner erstarrten zehn Finger. Er hatte sich den steinigen Pfad in die Liste B. des hochehrwürdigen geheimen Rates Ihrer Majestät gebahnt, und hatte die Blüte in den höheren Zweigen der Mathematik und Naturwissenschaft und im Deutschen, Französischen, Lateinischen und Griechischen davongetragen. Er wußte alles hinsichtlich der natürlichen Ländergrenzen der ganzen Welt (was immer sie sein mögen); er wußte alle Geschichten aller Völker, und alle Namen aller Berge und Flüsse, und alle Erzeugnisse, Sitten und Gebräuche aller Länder und all ihre Grenzen und Lagen auf den zweiunddreißig Punkten des Kompasses. Ach, ziemlich überladen, Mr. M'Choakumchild! Wenn er nur etwas weniger gelernt hätte, wie unendlich besser hätte er weit mehr beibringen können!

Er machte sich in der Vorbereitungslektion an die Arbeit, wie ungefähr Morgiana in den »Vierzig Dieben«, indem er nacheinander in all die Gefäße blickte, die vor ihm geordnet standen, um zu sehen, was sie enthalten. Sage doch, guter M'Choakumchild: glaubst du, wenn du von deinem quellenden Vorrat jeden Krug bis an den Rand füllen wirst, imstande zu sein, dem Wegelagerer Phantasie, der darinnen lauert, für immer den Garaus zu machen, oder ihn nur zu verstümmeln und zu verrenken?

Drittes Kapitel.

Mr. Gradgrind schwebte von der Schule hochzufrieden nach Hause. Es war seine Schule, und er hatte sie zu einem Muster bestimmt. Er wollte aus jedem Kinde darin ein Muster machen – ganz wie die jungen Gradgrinds sämtlich Muster waren.

Es gab fünf junge Gradgrinds und jedes von ihnen war ein Muster. Sie waren von ihrem zartesten Alter an gehofmeistert worden: gehetzt wie junge Hasen. Beinahe seit sie allein laufen konnten, wurden sie angehalten, in die Schule zu laufen. Der erste Gegenstand, mit dem sie in Berührung kamen, oder von dem sie eine Erinnerung hegten, war eine große schwarze Tafel, woran ein garstiger Oger schreckliche weiße Figuren mit Kreide malte.

Nicht daß sie etwas von der Natur oder dem Namen Oger wußten. Bewahre die Tatsächlichkeit! Ich bediene mich nur des Ausdrucks, um ein Ungeheuer in einem pädagogischen Kastell zu bezeichnen, das mit einem, der Himmel weiß aus wie vielen Köpfen bestehenden Haupt die Jugend gefangennahm und sie bei den Haaren in die düsteren statistischen Höhlen schleppte.

Kein Junges von den Gradgrinds hat je ein Gesicht im Monde gesehen. Es war schon oben im Mond, ehe es noch deutlich sprechen konnte. Kein Junges von den Gradgrinds hat je das einfältige Reimgeklingel gelernt: O schimmre, schimmre kleiner Stern. Was du denn bist, wie wüßt' ich's gern! es hat nie Bewunderung für diesen Gegenstand gehegt, da es schon mit fünf Jahren den großen Bären wie ein Professor Owen zergliedern und den Charles Wain wie ein Lokomotivführer treiben konnte. Kein Junges von Gradgrinds hat je eine Kuh auf dem Felde mit jener berühmten Kuh mit dem krummen Horn in Verbindung gebracht, die den Hund emporschleuderte, der die Katze erwürgte, die die Ratte tötete, die das Malz fraß, oder mit der noch berühmteren Kuh, die Tom Thumb verschlang. Es hatte nie von jenen Berühmtheiten vernommen und wurde mit der Kuh nur bekannt, als mit einem grasfressenden, wiederkäuenden, vierfüßigen Tier, das diverse Magen hatte.

Mr. Gradgrind lenkte seine Schritte seiner Wohnung der Tatsächlichkeit zu, die den Namen Stone Lodge (Steinhaus) führte. Er hatte sich der Wirklichkeit gemäß von seinem Großhandel mit Eisenwaren zurückgezogen, ehe er noch Stone Lodge baute und sah sich jetzt nach einer schicklichen Gelegenheit um, eine arithmetische Figur im Parlament auszumachen. Stone Lodge war in einem Marschlande innerhalb einer Meile oder zwei von einer großen Stadt gelegen, die in dem gegenwärtigen zuverlässigen Wegweiser den Namen Coketown (die Kohlenstadt) führt. Stone Lodge bildete eine ganz regelmäßige Figur auf der Fläche der Gegend. Kein einziger Gegenstand verdunkelte oder umschattete diese unnachgiebige Tatsache in der Landschaft. Ein großes vierkantiges Haus, dessen Hauptfenster von einem plumpen gewölbten Gang verdunkelt waren, wie die Augenbrauen seines Besitzers dessen Augen umdüsterten. Ein berechnetes, ausgeklügeltes, erwogenes und rekonstruiertes Haus war es. Sechs Fenster auf dieser Seite der Tür, sechs auf jener Seite; im ganzen zwölf auf diesem Flügel und im ganzen zwölf auf jenem Flügel; vierundzwanzig waren auf der Rückseite angebracht. Ein freier Rasenplatz und Garten samt einer jungen Allee, alles schnurgerade abgemessen, wie ein botanisches Register. Die Gasröhren und der Ventilator, die Abzugsgräben und die Wasserleitung, alles war von der vorzüglichsten Beschaffenheit. Eiserne Latten und Bindebalken, feuerfest von oben bis unten. Mechanische Hebemaschinen für die Hausmägde, mit ihren sämtlichen Bürsten und Besen – alles was das Herz begehren konnte.

Alles? Nun, ich nehme es an. Die kleinen Gradgrinds hatten auch Kabinette für verschiedene wissenschaftliche Fächer. Sie hatten ein kleines konchyliologisches Kabinett, ein kleines metallurgisches Kabinett und ein kleines mineralogisches Kabinett. Die Proben waren sämtlich geordnet und mit Zetteln versehen, und die Stücke Metall und Stein sahen aus, als ob sie von ihren verwandten Stoffen mit jenen erschrecklich harten Instrumenten – ihren eigenen Namen – abgelöst worden wären. Wenn nun, um die einfältige Legende von Peter Piper, der nie seinen Weg in ihre Kinderstube gefunden, zu umschreiben, die lüsternen jungen Gradgrinds nach mehr als alledem haschten, was war es, um Gottes Barmherzigkeit willen, wonach die lüsternen jungen Gradgrinds haschten!

Ihr Vater schritt in einer hoffnungsvollen, zufriedenen Gemütsstimmung aus. Er war nach seiner Weise ein zärtlicher Vater. Aber er würde sich wahrscheinlich (wenn er wie Cili Jupe um eine Definition befragt worden wäre) als einen »ausgezeichnet praktischen« Vater bezeichnet haben. Er setzte einen besonderen Stolz in die Redensart »ausgezeichnet praktisch«, was eine besondere Anwendung auf ihn zu haben schien. Was für Versammlungen jemals in Coketown abgehalten wurden und was deren Programm auch immer sein mochte, ganz gewiß ergriff bei einer solchen ein Coketowner die Gelegenheit, auf seinen ausgezeichnet praktischen Freund Gradgrind anzuspielen. Das fand immer den Beifall des ausgezeichnet praktischen Freundes. Er wußte, daß so etwas ihm gebührte; auch war ihm diese Gebühr angenehm.

Er hatte den neutralen Boden außerhalb des Weichbildes der Stadt erreicht, der weder Stadt noch Land war, und doch war eins von beiden beeinträchtigt, als der Klang von Musik an seine Ohren scholl. Die schmetternde und lärmende Bande, die zu der Kunstreitergesellschaft gehörte, und die seit einiger Zeit sich in dem hölzernen Pavillon daselbst niedergelassen hatte, war in vollem Zug. Eine Fahne, die von der Spitze des Tempels flatterte, verkündigte der Menschheit, daß es »Slearys Reitertruppe« sei, die auf ihren Beifall Anspruch erhebe.

Sleary selbst, eine derbe, moderne Statue, mit einer Geldbüchse am Ellbogen, in einer kirchlichen Nische von altertümlicher gotischer Bauart, nahm das Geld. Miß Josephine Sleary weihte damals, wie einige sehr lange und sehr schmale Streifen von Ankündigungszetteln anzeigten, die Belustigungen mit ihrem anmutigen Reiterkunststück des Tiroler Blumentanzes ein.

Unter den sonstigen angenehmen, aber stets höchst moralischen Wundern, die gesehen werden müssen, um geglaubt zu werden, sollte Signor Jupe an jenem Nachmittag »die ergötzlichen Fertigkeiten seines ausgezeichnet dressierten und sich produzierenden Hundes Merrylegs erläutern«. Er sollte ferner vorführen »sein Erstaunen erregendes Kunststück, 75 Zentner in hastiger Aufeinanderfolge rückwärts über den Kopf zu schleudern, und auf diese Weise einen Springbrunnen von festem Eisen inmitten der Luft zu bilden: ein Kunststück, das weder in diesem, noch in einem andern Lande je versucht worden, und das, nachdem es einen so entzückenden, stürmischen Beifall unter den begeisterten Massen hervorgerufen, dem Publikum nicht vorenthalten werden darf. Derselbe Signor Jupe sollte in häufigen Zwischenräumen »die verschiedenartigen Darstellungen mit seinen keuschen Shakespeareschen Stichelreden und Neckereien beleben«. Schließlich sollte er sie dadurch in Spannung versetzen, daß er in der »funkelnagelneuen und drolligen Hippokomedietta des Schneiders Reise nach Brentford, in seiner Lieblingsrolle des Mr. William Button von Tooly Street, erschien«.1

Thomas Gradgrind beachtete diese Trivialitäten, wie es sich von selbst versteht, nicht im geringsten, sondern ging vorüber, wie ein praktischer Mensch vorübergehen sollte, die lärmenden Insekten entweder von seinen Gedanken verscheuchend oder sie dem Zuchthaus überliefernd. Die Wendung der Straße führte ihn aber an der Rückwand der Bude vorüber, und an der Rückwand der Bude eine Menge von Kindern in einer Menge von merkwürdigen Verrenkungen beisammen und war bestrebt, die verborgenen Wunder des Platzes zu begaffen.

Das brachte ihn zum Stehen. »Nun sehe einer einmal diese Vagabunden«, sagte er, »wie sie das junge Pack aus einer Musterschule anlocken.«

Da ein Raum von niedergetretenem Gras und trockenem Schutt sich zwischen ihm und dem jungen Pack befand, so zog er seine Brille aus der Tasche, um nach einem Kinde zu sehen, das er bei Namen kannte und fortrufen könnte. Ein fast unglaubliches, obwohl deutlich wahrgenommenes Phänomen – was mußte er denn erblicken, als seine eigene bleichsüchtige Luise, die mit aller Gewalt durch ein Loch in einem Dielenbrett guckte, und seinen eigenen mathematischen Thomas, der sich auf dem Boden niederkauerte, um nur einen Huf von dem anmutigen Reiterkunststück des Tiroler Blumentanzes zu erhaschen!

Stumm vor Bestürzung schritt Mr. Gradgrind zu der Stelle, wo seine Familie sich so sehr entwürdigte, legte seine Hand auf jedes der sündigen Kinder und sagte: »Luise! Thomas!«

Beide erhoben sich, rot und außer Fassung. Luise blickte jedoch zu ihrem Vater mit mehr Kühnheit als Thomas empor. Thomas sah ihn in der Tat gar nicht an, sondern ließ sich ruhig wie eine Maschine nach Hause bringen.

»Im Namen des Erstaunens, des Müßiggangs und der Torheit«, sagte Mr. Gradgrind, indem er jedes mit einer Hand wegführte, »was macht ihr hier?«

»Wollten sehen, wie das Ding ausschaut«, erwiderte Luise kurz.

»Wie das Ding ausschaut?«

»Ja, mein Vater.«

In beiden war die Miene unterdrückter Hartnäckigkeit ausgeprägt, besonders aber in dem Mädchen. Trotzdem glühte da ein Leuchten im Auge und brach sich durch die Unzufriedenheit ihres Gesichtes Bahn, ein Leuchten, das keine Ruhe kannte, ein Feuer, das keinen Nahrungsstoff vorfand, eine verkommene Phantasie, die auf irgendeine Weise Leben in sich erhielt. Dies Feuer war es, das dem Leben in dieser Seele Glanz verlieh. Nicht den Glanz, der der fröhlichen Jugend so eigen, sondern den mit unsteten, heftigen und ungewissen Flammen, die etwas Schmerzliches in sich haben, ähnlich den Zuckungen eines blinden Gesichtes, das nach dem Wege umhertappt.

Sie war jetzt noch ein Kind von fünfzehn oder sechszehn Jahren, dürfte sich aber in kurzem plötzlich zur Jungfrau entfalten. Ihr Vater war dieser Meinung, als er sie anblickte. Sie war hübsch. Würde eigensinnig gewesen sein (dachte er in seiner ausgezeichnet praktischen Weise), wenn es die Erziehung nicht verhindert hätte.

»Thomas, obgleich die Tatsache vor mir liegt, kann ich es doch kaum glauben, daß du mit deiner Erziehung und deinen Hilfsmitteln, deine Schwester zu einem derartigen Schauplatz gebracht haben solltest.«

»Ich brachte ihn, Vater!« sagte Luise rasch. »Ich bat ihn mitzukommen.«

»Es tut mir leid, das zu hören. Es tut mir in der Tat sehr leid, das zu hören. Es macht Thomas darum nicht besser und macht dich nur schlechter, Luise.«

Sie blickte abermals zu ihrem Vater empor, aber keine Träne benetzte ihre Wangen.

»Du, Thomas, und du, denen der Kreis der Wissenschaften geöffnet ist, Thomas und du, die ihr sozusagen mit Tatsachen angefüllt seid, Thomas und du, die ihr zur mathematischen Genauigkeit erzogen wurdet, Thomas und du hier!« rief Mr. Gradgrind. »In dieser entwürdigenden Lage! Ich bin ganz bestürzt!«

»Ich habe es satt, Vater. Ich habe es seit langem satt gehabt«, sagte Luise.

»Satt gehabt? Was?« fragte der erstaunte Vater.

»Ich weiß nicht was – ich glaube all und jedes.«

»Sag mir keine Antwort mehr«, entgegnete Mr. Gradgrind. »Du bist kindisch. Ich will nichts mehr hören.«

Er sprach nicht wieder, bis sie ungefähr eine halbe Meile stillschweigend gegangen waren, als er auf einmal losbrach: »Was würden deine besten Freunde sagen, Luise? Legst du auf ihre gute Meinung keinen Wert? Was würde Mr. Bounderby sagen?«

Bei der Nennung dieses Namens warf seine Tochter einen verstohlenen Blick auf ihn, der wegen seiner heftigen und forschenden Beschaffenheit merkwürdig war. Er merkte nichts davon; denn ehe er sie anblickte, hatte sie ihre Augen wieder auf den Boden geheftet.

»Was«, wiederholte er gleich darauf, »was würde Mr. Bounderby sagen?«

Während des ganzen Weges nach Stone Lodge wiederholte er in Zwischenräumen, während er die beiden Verbrecher nach Hause führte:

»Was würde Mr. Bounderby sagen?«

Als ob Mr. Bounderby Mrs. Grundy gewesen wäre!

1 Hippokomedietta: eine Pantomime, verbunden mit Vorführung von Pferdedressuren und Reiterkunststücken.

Viertes Kapitel.

Da Mr. Bounderby nicht Mrs. Grundy war, wer war er denn?

Nun, Mr. Bounderby war so nahe daran, Mr. Gradgrinds Busenfreund zu sein, wie ein Mann, allen Gefühls bar, sich in jener geistigen Verwandtschaft an einen Zweiten anzuschmiegen vermag, der allen Gefühles bar ist. So nahe, oder wenn der Leser es vorziehen sollte, so ferne stand ihm Mr. Bounderby.

Er war ein reicher Mann: Bankier, Kaufmann, Fabrikant und was nicht alles noch. Ein dicker, lärmender Mann mit glotzenden Blicken und einem ehernen Gelächter. Ein Mann aus einem rohen Stoff geschaffen, der ausgedehnt worden zu sein schien, um ihn so umfangreich zu machen. Ein Mann, dessen Kopf und Stirn aufgedunsen war, mit geschwollenen Adern an den Schläfen und einer Haut, die auf seinem Gesicht derartig ausgespannt war, daß es schien, als hielte sie seine Augen offen und als hebe sie seine Augenbrauen empor. Ein Mann mit dem vorwaltenden Anschein, als sei er wie ein Ballon aufgebläht und bereit, aufzufliegen. Ein Mann, der sich nie genug damit brüsten konnte, sich selbst aufgeschwungen zu haben. Ein Mann, der durch seine, wie ein metallenes Sprachrohr klingende Stimme fortwährend seine ehemalige Unwissenheit und Armut ausposaunte. Ein Mann, der ein Renommist der Demut war.

Um ein oder zwei Jahre jünger als sein ausgezeichnet praktischer Freund, sah Mr. Bounderby doch älter aus. Seinen siebenundvierzig oder achtundvierzig Jahren konnten die sieben oder acht noch hinzugefügt werden, ohne daß es jemanden überrascht hätte. Er hatte nicht viel Haare. Man mochte denken, er habe sie weggeschwatzt, und die übriggebliebenen, die sämtlich in Unordnung emporstanden, waren so unordentlich, weil sie durch seine aufgeblasene Ruhmredigkeit fortwährend hin und her getrieben wurden.

Mr. Bounderby stand also in dem förmlichen Gesellschaftszimmer von Stone Lodge auf dem Kaminteppich, wärmte sich am Feuer und erging sich in einigen Bemerkungen darüber, daß gerade sein Geburtstag sei. Er stand vor dem Feuer, teils weil der Frühlingsnachmittag, obgleich die Sonne schien, kühl war, teils weil das Gespenst von feuchtem Mörtel stets in dem Schatten von Stone Lodge spukte, und teils weil er auf diese Weise eine gebieterische Stellung einnahm, von wo aus er Mr. Gradgrind sich unterwerfen konnte.

»Kein Schuh bedeckte meinen Fuß. Was Strümpfe betrifft, so kannte ich dergleichen nicht einmal dem Namen nach. Die Tage brachte ich in einem Graben zu und die Nächte in einem Schweinestalle. Auf diese Weise feierte ich meinen zehnten Geburtstag. Nicht daß ein Graben mir etwas Neues wäre – denn in einem Graben wurde ich geboren.«

Mrs. Gradgrind war ein kleines, dünnes, weißes Bündel von Schals mit winzigen Äuglein und einer ungemeinen sowohl geistigen als körperlichen Schwäche. Sie schluckte andauernd Medizin, ohne daß dies eine Wirkung hervorbrachte, und sie wurde jedesmal, wenn Symptome eines neuen Auflebens sich bei ihr einstellten, unausbleiblich von einem wuchtigen Stück Tatsache, das auf sie niederstürzte, betäubt. Mrs. Gradgrind hoffte, daß der Graben trocken gewesen?

»Nein! So naß wie ein eingetunkter Bissen. Ein Fuß hoch Wasser darin«, sagte Mr. Bounderby.

»Genug um einem Kindchen eine Erkältung zuzuziehen«, bemerkte Mrs. Gradgrind.

»Eine Erkältung? Ich wurde mit einer Lungenentzündung geboren, und das war, wie ich glaube, die einzig mögliche Entzündung«, entgegnete Mr. Bounderby. »Jahrelang, Ma'am, war ich eines der elendesten, beklagenswertesten Kinder, die es je gegeben. Ich war so kränklich, daß ich fortwährend stöhnte und ächzte. Ich war so zerlumpt und schmutzig, daß Sie mich nicht mit einer Zange angefaßt hätten.«

Mrs. Gradgrind warf einen matten Blick auf die Zange, was bei ihrer Blödheit das geeignetste war, was sie tun konnte.

»Wie ich mich durchgewunden, das wüßte ich nicht zu sagen«, meinte Bounderby. »Ich glaube, mit meiner Entschlossenheit. Ich war in meinem nachherigen Leben ein entschlossener Charakter, und so war ich dazumal, wie ich glaube. Da bin ich nun, Mrs. Gradgrind, auf irgendeine Weise und habe niemandem als mir selbst dafür zu danken.«

Mrs. Gradgrind drückte schwach und zart die Hoffnung aus, daß seine Mutter –

»Meine Mutter? Durchgebrannt, Ma'am«, sagte Bounderby.

Mrs. Gradgrind stutzte wie gewöhnlich, brach zusammen und gab nach.

»Meine Mutter überließ mich meiner Großmutter«, sagte Bounderby, »und meiner schärfsten Erinnerung gemäß war meine Großmutter das boshafteste und schlechteste alte Weib, das je gelebt hat. Wenn ich zufällig ein Paar Schuhe erhielt, so war sie imstande, sie mir abzunehmen und für Getränke zu verkaufen. Ja, ich habe mit angesehen, wie diese Großmutter, im Bette liegend, vierzehn Gläser Branntwein vor dem Frühstück sich einverleibte.«

Mrs. Gradgrind, die matt lächelte und kein sonstiges Lebenszeichen von sich gab, sah aus (wie das bei ihr gewöhnlich der Fall war) wie ein leidlich ausgeführtes Transparent einer kleinen Frauenfigur, ohne daß man hinreichendes Licht dahinter angebrannt hatte.

»Sie hielt einen Krämerladen«, fuhr Bounderby fort, »und legte mich in eine Eierkiste. Das war die Wiege meiner Kindheit, eine alte Eierkiste. Sobald ich so groß war, um davonzulaufen, lief ich natürlich davon. Alsdann ward aus mir ein junger Vagabund. Statt daß ein altes Weib mich prügelte und verhungern ließ, ward ich jetzt von allen geprügelt und dem Hunger preisgegeben. Sie hatten recht; für sie war kein Grund vorhanden, anders zu verfahren. Ich war eine Last, ein Krebsschaden und eine Pest. Ich weiß alles recht wohl.«

Sein Stolz, es zu einer Periode seines Lebens zu der großen gesellschaftlichen Auszeichnung gebracht zu haben, eine Last, ein Krebsschaden und eine Pest zu sein, konnte nur durch eine dreimalige laute Wiederholung dieser Renommage befriedigt werden.

»Ich war, wie ich glaube, bestimmt, mich durchzuwinden, Mrs. Gradgrind. Ob ich dazu bestimmt war oder nicht, Ma'am, ich tat es. Ich wand mich durch, obgleich mir niemand an die Hand ging. – Vagabund, Laufjunge, wieder Vagabund, Arbeiter, Träger, Schreiber, erster Geschäftsführer, halber Kompagnon, Josiah Bounderby von Coketown. Das sind die Vorstufen meiner Laufbahn bis zum Gipfel. Josiah Bounderby von Coketown erlernte das ABC an den Aufschriften der Läden und erhielt erst die Fertigkeit, die Zeit auf einem Zifferblatte zu enträtseln, als er die Turmglocke der St.-Giles-Kirche in London unter der Leitung eines versoffenen Krüppels studierte. Das war ein überführter Dieb und ein unverbesserlicher Landstreicher. Erzählt Josiah Bounderby von Coketown von euren Kreisschulen und euren Musterschulen und euren Erziehungsanstalten und eurem ganzen Plunder von Schulen, und Josiah Bounderby von Coketown wird euch einfach sagen: Ganz recht, ganz schön – er hatte nicht diese günstigen Gelegenheiten – laßt uns aber Leute mit harten Köpfen und starken Fäusten haben – die Erziehung, die ihn emporgeschwungen, taugt nicht für einen jeden. Das weiß er recht gut – auf diese Art war nun aber seine Erziehung, und ihr könnt ihn dazu zwingen, kochendes Fett hinunterzuschlucken, aber ihr werdet ihn nie dazu bewegen, die Tatsachen aus seinem Leben zu verheimlichen.«

Erhitzt auf diesem Gipfel seiner Rede angekommen, hielt Josiah Bounderby von Coketown inne. Er hielt gerade inne, als sein ausgezeichnet praktischer Freund, noch immer von den beiden Verbrechern begleitet, ins Zimmer trat. Als sein ausgezeichnet praktischer Freund ihn erblickte, blieb er stehen und warf auf Luise einen vorwurfsvollen Blick, der einfach sagte: »Sieh hier deinen Bounderby!«

»Nun«, polterte Mr. Bounderby, »was gibt's? Warum sieht der kleine Thomas so sauertöpfig drein?«

Er sprach von dem kleinen Thomas, sah aber dabei Luise an.

»Wir guckten in den Zirkus hinein«, murrte Luise hochmütig, ohne ihre Augen zu erheben, »und Vater erwischte uns.«

»Und, Mrs. Gradgrind«, sagte ihr Gatte pathetisch, »ich hätte meine Kinder ebensogern beim Lesen von Gedichten überraschen mögen.«

»Du lieber Himmel«, wimmerte Mrs. Gradgrind. »Wie konntet ihr nur, Luise und Thomas? Ich verwundere mich über euch. Ich gestehe offen, ihr könntet es einen bereuen lassen, überhaupt je Kinder gehabt zu haben. Ich habe große Lust zu sagen, ich wollte, ich hätte keine. Was ihr aber dann getan haben würdet, das möchte ich gern wissen.«

Diese triftigen Bemerkungen schienen auf Mr. Gradgrind keinen günstigen Eindruck zu machen. Er runzelte ungeduldig die Stirn.

»Als ob ihr bei der Migräne, an der mein Kopf jetzt leidet, die Muscheln, Mineralien und sonstigen Dinge, die für euch angeschafft wurden, nicht hättet anstatt der Zirkusse besichtigen können!« sagte Mrs. Gradgrind. »Ihr wißt so gut wie ich, daß Kinder keine Zirkuslehrer haben, oder Zirkusse in Kabinetts besitzen, oder über Zirkusse Lektionen anhören. Was könntet ihr also möglicherweise von den Zirkussen erfahren? Ihr habt sicherlich genug Beschäftigung, wenn euch darum zu tun wäre. Bei dem gegenwärtigen Zustand meines Kopfes könnte ich mich selbst der Namen von der Hälfte der Tatsachen nicht erinnern, die ihr euch zu merken habt.«

»Das ist es ja eben«, schmollte Luise.

»Sagt mir nicht, daß ist es ja eben; weil es dergleichen nicht sein kann«, sagte Mrs. Gradgrind. »Geht und treibt sogleich etwas Geographiologisches.« Mrs. Gradgrind war nicht gelehrter Natur und schickte ihre Kinder gewöhnlich mit diesem allgemeinen Befehle fort, um ihre Studien fortzusetzen.

Mrs. Gradgrinds Vorrat an Tatsachen befand sich wirklich im allgemeinen in einem jammervollen Zustand der Mangelhaftigkeit. Mr. Gradgrind war aber durch zwei Gründe bewogen worden, diese Dame zur ehelichen Würde zu erheben. Erstens gewährte sie als arithmetisches Problem die höchste Befriedigung, und zweitens war ihr jeder »Unsinn« fremd. Mit Unsinn bezeichnete er Phantasie; und es ist in der Tat wahrscheinlich, daß sie von jedem derartigen Makel ebenso frei war, als je ein menschliches Wesen, das nicht die höchste Stufe des Stumpfsinns erreicht hatte.

Der einfache Umstand, mit ihrem Mann und Mr. Bounderby sich allein zu befinden, war hinreichend, diese bewunderungswürdige Frau abermals zu betäuben, ohne daß sie mit einer andern Tatsache zusammengestoßen wäre. So starb sie abermals hin, und niemand bekümmerte sich um sie.

»Bounderby«, sagte Mr. Gradgrind, und rückte einen Stuhl an das Feuer, »Sie interessieren sich stets so sehr für meine Kinder – besonders für Luise – ich suche daher um gar keine Entschuldigung für meinen Ausspruch, daß diese Entdeckung mich tief kränkt. Ich habe mich (wie Sie wissen) der Ausbildung der Vernunft meiner Kinder systematisch gewidmet. Die Vernunft ist (wie Sie wissen) die einzige Naturgabe, die von der Erziehung ausgebildet werden sollte. Und doch dürfte folgendes aus dem heutigen unerwarteten Ereignis, so unbedeutend es an und für sich sein mag, deutlich werden: Es hat sich etwas in die Köpfe von Thomas und Luisen geschlichen, das bestimmt ist – oder vielmehr das es nicht ist – ja, ich wüßte mich nicht besser auszudrücken, als indem ich sage, das niemals bestimmt war, entwickelt zu werden und woran ihre Vernunft keinen Anteil hat.«2

»Es liegt gewiß nichts Vernünftiges darin, einen Haufen Vagabunden zu betrachten«, erwiderte Bounderby. – »Als ich selbst noch ein Vagabund war, wurde ich von niemandem mit Interesse betrachtet. Das weiß ich wohl.«

»Dann entsteht die Frage«, sagte der ausgezeichnet praktische Vater und heftete die Augen auf das Feuer, – »worin hat diese gemeine Neugier ihren Ursprung?«

»Ich will Ihnen sagen worin. In eitler Phantasie.«

»Ich will nicht hoffen«, sagte der ausgezeichnete Praktikus. »Ich muß indessen gestehen, daß diese Besorgnis mich auf dem Heimwege wirklich ergriffen.«

»In eitler Phantasie, Gradgrind«, wiederholte Bounderby. »Das ist höchst schädlich für jeden Menschen, und verflucht schädlich für ein Mädchen wie Luise. Ich würde Mrs. Gradgrind für meine derben Ausdrücke um Verzeihung bitten, wenn sie nicht wüßte, daß ich keine Bildung besitze. Wer bei mir Bildung erwartet, wird sich getäuscht finden. Ich habe keine gebildete Erziehung genossen.«

»Ob irgend«, sagte Mr. Gradgrind, mit den Händen in den Taschen und die höhlenartigen Augen auf das Feuer gerichtet, »ob irgendwer von den Lehrern oder der Dienerschaft ihnen etwas zugeflüstert hat? Ob Luise oder Thomas etwas gelesen haben mögen? Ob trotz aller Vorsichtsmaßregeln ein unnützes Märchenbuch seinen Weg ins Haus gefunden? Denn so etwas ist doch wahrlich gar seltsam und unbegreiflich bei Gemütern, die durch Regel und Norm von der Wiege auf praktisch ausgebildet wurden.«

»Halt!« rief Bounderby, der während der ganzen Zeit wie früher beim Feuer saß und auf demselben Stück Möbel in herzbrechender Demut zerflossen war. »Sie haben eines von den Kindern jener Landstreicher in der Schule?«

»Cecilie Jupe mit Namen!« sagte Mr. Gradgrind, seinen Freund einigermaßen betroffen anblickend.

»Nun halt!« rief Bounderby abermals. »Wie kam sie hierher?«

»Nun, Tatsache ist, daß ich das Mädchen gerade jetzt zum erstenmal gesehen. Sie kam eigens hierher mit der Bitte, aufgenommen zu werden, da sie nicht eigentlich zur Stadt gehört und – ja Sie haben recht, Bounderby, Sie haben recht.«

»Nun halt!« rief Bounderby nochmals. »Luise hat sie bei ihrer Ankunft gesehen?«

»Luise hat sie sicherlich gesehen; denn sie meldete mir noch das Gesuch. Aber Luise hat sie ohne Zweifel in Mrs. Gradgrinds Gegenwart gesehen.«

»Bitte, Mrs. Gradgrind«, sagte Bounderby, »was war vorgegangen?«

»Ach, ich arme Kranke!« erwiderte Mrs. Gradgrind. »Das Mädchen bedurfte der Schule und Mr. Gradgrind brauchte Mädchen für die Schule: da sagten Luise und Thomas beide, das Mädchen wünsche zu kommen und auch Mr. Gradgrind wolle, daß Mädchen kommen möchten. Wie war es da möglich, ihnen zu widersprechen, bei solchem Tatbestande?«

»Ich will Ihnen nun was sagen, Gradgrind«, rief Bounderby. »Jagen Sie das Mädchen geradezu aus der Schule und damit hat die Geschichte ein Ende.«

»Ich bin ganz Ihrer Meinung.«

»Auf einmal abgetan!« sagte Bounderby, »war mein Wahlspruch von Kindheit auf. Als mir der Gedanke kam, von der Eierkiste und meiner Großmutter davonzulaufen, tat ich es auf der Stelle. Verfahren Sie ebenso. Probieren Sie es auf einmal.«

»Wollten Sie einen Gang machen?« fragte sein Freund. »Ich habe die Adresse des Vaters. Vielleicht hätten Sie nichts dagegen, mit mir nach der Stadt zu gehen.«

»Nicht das geringste«, sagte Mr. Bounderby, »da Sie es auf einmal abmachen wollen.«

Mr. Bounderby warf sich den Hut auf – er warf ihn immer auf, um sich als einen Mann darzustellen, der zu sehr damit beschäftigt war, sich emporzuschwingen, als daß er die Mode hätte studieren können, wie ein Hut aufzusetzen sei – und schlenderte, mit den Händen in der Tasche, in den Vorsaal.

»Ich trage nie Handschuhe«, pflegte er gewöhnlich zu sagen. »Ich hatte keine, als ich die Leiter emporklomm. Würde sonst nicht so hoch gestiegen sein.«

Als er, während Mr. Gradgrind hinaufging, um die Adresse des Vaters zu holen, einige Minuten in dem Vorsaal herumschlendernd zurückgeblieben war, öffnete er die Tür des Studierzimmers der Kinder. Er blickte in jenes helle, mit einer Fußbodendecke belegte Gemach, das ungeachtet seiner Bücher- und Schubladenschränke und seiner mannigfachen gelehrten und wissenschaftlichen Einrichtungen den heiteren Anblick einer Friseurstube gewährte. – Luise lehnte träge am Fenster und sah hinaus, ohne etwas zu sehen, während der kleine Thomas racheschnaubend beim Feuer stand. Adam Smith und Malthus3, zwei jüngere Gradgrinds, waren bei einer Lektion aufgehoben, und die kleine Jane war, nachdem sie auf ihrem Gesicht vermittels Griffel und Tränen eine ziemliche Masse von feuchtem Pfeifenton fabriziert hatte, über einfachen Brüchen eingeschlafen.

»Ist schon abgemacht, Luise! Schon abgemacht, kleiner Thomas!« sagte Bounderby. »Ihr werdet es nicht wieder tun. Ich stehe gut dafür, daß Vater es vergessen wird. Nun, Luise, das ist einen Kuß wert, nicht wahr?«

»Sie können sich einen nehmen, Mr. Bounderby«, entgegnete Luise nach einer frostigen Pause, ging langsam durch das Zimmer und hob, während sie ihr Gesicht abwandte, ihre Wange zu ihm in unfreundlicher Weise empor.

»Immer mein Goldkindchen! Nicht wahr, das bist du doch, Luise?« sagte Mr. Bounderby. »Adjes, Luise!«

Er ging seines Weges, sie aber blieb an derselben Stelle stehen und rieb sich mit ihrem Taschentuche die Wange, die er geküßt hatte, bis sie feuerrot wurde. Fünf Minuten nachher tat sie noch immer dasselbe.

»Was treibst du denn, Luise?« warnte sie ihr Bruder in verdrießlichem Tone. »Du wirst dir ein Loch ins Gesicht reiben.«

»Du kannst die Stelle mit deinem Federmesser ausschneiden, Tom, wenn du willst. Es würde mich nicht weinen machen.«

2 Ironische Anspielung auf einen philosophischen Satz, daß nur das, was vernünftig ist, wirkliche Seinsgeltung hat, alles Unvernünftige dagegen nicht.

3 Thomas Robert Malthus (1766-1834), Volkswirtschaftler, der die bekannten Theorien von der Überbevölkerung aufstellte.

Fünftes Kapitel.

Coketown, wohin die Herren Bounderby und Gradgrind sich jetzt begaben, war ein Triumph der Tatsächlichkeit. Es zeigte sich nicht mehr von Phantasie befleckt, als Mr. Gradgrind selbst. Laßt uns zuerst den Grundton zum Klingen bringen, Coketown, bevor wir in unserm Liede fortfahren.

Es war eine Stadt aus roten Ziegelsteinen, oder von Ziegelsteinen, die rot gewesen wären, wenn Rauch und Asche es gestattet hätten. So aber hatte die Stadt ein unnatürliches, schwarzrotes Aussehen, wie das gemalte Gesicht eines Wilden. Es war eine Stadt von Maschinen und hohen Rauchfängen, aus denen endlose Schlangen fort und fort emporwirbelten und niemals ein Ende nahmen. Dort befand sich auch ein schwarzer Kanal und ein Fluß, der mit einer übelriechenden Farbe purpurn dahinströmte.

Ungeheure Fabrikkasernen-Massen mit öden Fenstern ragten da. Den ganzen Tag hörte man Klirren und Beben. Einförmig fuhr der Stempel der Dampfmaschine auf und nieder, wie der Kopf eines Elefanten in melancholischem Wahnsinn. Diese Stadt enthielt große Straßen, die sich alle einander glichen, und viele kleine Straßen, die sich noch mehr glichen, bewohnt von Leuten, die sich ebenfalls gleich waren, die alle zu denselben Stunden ein- und ausgingen, mit demselben Tritt auf demselben Pflaster, um die nämliche Arbeit zu verrichten, bei denen jeder Tag dem von gestern und morgen gleichkam und jedes Jahr das Duplikat des vergangenen und des künftigen war.

Diese Eigenheiten von Coketown waren überhaupt von der Arbeit, durch die es lebte, unzertrennlich. In grellem Gegensatz dazu stehen jene Bequemlichkeiten des Lebens, die in der ganzen Welt beliebt sind, und die Annehmlichkeiten des Lebens, die an der Dame der Kultur und Gesellschaft, wir wollen gar nicht nachforschen, wieviel Anteil haben. Solch Wesen geselliger Lebensfreude könnte kaum ertragen, auch nur den Namen des erwähnten Ortes nennen zu hören. Der Rest der charakteristischen Eigenschaften war nicht sonderlich belangvoll; es waren folgende:

Man sah in Coketown nichts, was nicht streng arbeitsam war. Wenn die Bekenner einer Religion eine Kapelle daselbst bauten – wie die Bekenner von achtzehn Religionssekten es getan – so machten sie es zu einem frommen Parkhaus aus roten Ziegelsteinen, zuweilen mit einer Glocke (dies aber nur bei besondern Prachtexemplaren) in einem Vogelkäfig an der Spitze. Als einzige Ausnahme stand die neue Kirche da, ein mit Stuckarbeit versehenes Gebäude, mit einem vierkantigen Turm oberhalb des Tores. Dieser Turm endete in vier kurzen Zinnen, die wie geschmückte Stelzen aussahen. Alle öffentlichen Inschriften in der Stadt waren auf gleiche Weise mit harten Schriftzügen in Schwarz und Weiß ausgeführt. Das Gefängnis hätte das Krankenhaus und das Krankenhaus das Gefängnis abgeben können, das Rathaus hätte eins von beiden oder beides zugleich, oder sonst was immer sein können; und all das wegen der Ungereimtheit im Baustil.

Tatsachen, Tatsachen, Tatsachen gaben sich in jedem wesentlichen Anblick der Stadt kund; und Tatsachen, Tatsachen, Tatsachen in jedem nicht wesentlichen. Die Schule von M'Choakumchild war durchgehends Tatsache; die Zeichenschule war durchgehends Tatsache, und die Beziehungen zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer waren lauter Tatsachen. Alles war auch Tatsache, von der Entbindungsanstalt bis zum Kirchhofe. Was man also nicht mit Zahlen beweisen und dartun konnte, daß es auf dem billigsten Markte zu kaufen und auf dem teuersten zu verkaufen war, das hatte keine Existenzberechtigung, das sollte niemals sein, bis zu aller Welt Ende, Amen.

Eine Stadt, die der Tatsächlichkeit so sehr geweiht und so siegreich in deren Aufrechterhaltung war, die gedieh natürlich in hohem Grade? – Nein, doch nicht, nicht besonders. Nicht? Du lieber Himmel!

Nein. Coketown ging aus seinen Schmelzöfen nicht in jeder Beziehung hervor wie Gold, das die Feuerprobe ausgehalten. Erstens waltete in dem Orte das verwirrende Geheimnis: Wer gehört zu den achtzehn Sekten? Mochte es tatsächlich Leute geben, die dazu gehörten – die Arbeiterklasse war jedenfalls nicht dabei. Es machte einen seltsamen Eindruck, wenn man am Sonntagmorgen durch die Straßen schritt. Dann sah man, wie wenige von diesen Leuten durch das barbarische Glockengeklimper, das Kranke und Nervenschwache zum Wahnsinn trieb, au»ihrem eigenen Viertel, aus ihrem eigenen engen Zimmer und von den Ecken ihrer eigenen Straße sich zum Gottesdienst gerufen fühlten. Da lungerten sie träge herum, glotzten auf den Kirchen- und Kapellengang hinüber, als auf ein Ding, mit dem sie durchaus nicht in Berührung standen.

Es war auch nicht der Fremde allein, der das wahrnahm. Es bestand nämlich eine einheimische Gesellschaft in Coketown selbst, dessen Mitglieder man bei jeder Session des Unterhauses mit Entrüstung um einen Parlamentsakt petitionieren hören konnte, damit man diese Leute mit Gewalt religiös machen könnte. Dann kam die Teetotal-Gesellschaft (einer Gesellschaft, die sich aller geistigen Getränke enthält), die sich darüber beschwerte, daß dieselben Leute sich betrinken könnten und durch tabellarische Übersichten zeigten, daß sie sich wirklich betranken. Sie bewiesen bei ihren Teesitzungen, daß keine Beweggründe, weder menschliche noch göttliche (ausgenommen ein Orden) sie dazu bewegen konnte, die Gewohnheit, sich zu betrinken, aufzugeben. Dann kam der Apotheker und Drogist mit andern tabellarischen Übersichten, durch die dargetan wurde, daß sie Opium nehmen würden, wenn sie sich nicht berauschten. Dann kam der erfahrungsreiche Kaplan des Gefängnisses, mit noch mehr tabellarischen Übersichten, die alle sonstigen tabellarischen Übersichten übertrafen. Darinnen zeigte er, daß dieselben Leute zu verrufenen, dem Auge der Welt versteckten Schlupfwinkeln ihre Zuflucht nähmen, wo sie gemeine Lieder hörten und unzüchtige Tänze sahen. Darinnen habe A. B., der nächstens seinen vierundzwanzigsten Geburtstag feiern würde, und der zu achtzehnmonatlicher, einsamer Haft verurteilt worden, sein Ruin begonnen. Das habe A. B. selbst gestanden, allerdings ohne besondere religiöse Ergriffenheit, und er sei der Überzeugung, daß er ohne solche Lasterlokale ein Musterbild der vorzüglichsten Moral geworden wäre.

Dann kamen zu dieser Reihe noch Mr. Gradgrind und Mr. Bounderby hinzu, die beide gerade Coketown durchschritten und beide ausgezeichnet praktisch waren. Sie konnten bei Gelegenheit noch mehr tabellarische Übersichten liefern, die sich auf ihre eigenen persönlichen Erfahrungen gründeten und mit Fällen, die sie sahen und kannten, belegt wurden. Aus diesen Erfahrungen ging natürlich klar hervor – kurz es war das einzig Klare in der Sache – daß eben diese Leute des arbeitenden Volkes insgesamt ein schlechtes Pack wären.

Was Sie, meine Herren, für diese Volksklasse tun würden, die betreffenden Kreise würden doch nie dafür dankbar sein, sie wären eben ein unruhiges Volk, meine Herren. Sie wüßten niemals, was ihnen eigentlich not tut. Sie müßten immer nur das Beste haben, frische Butter kaufen, auf Bohnenkaffe bestehen und nur das beste Fleisch genießen. Aber dabei wären sie doch immer und ewig unzufrieden und unlenksam.

Kurz, es war die Moral des Ammenmärchens.

Es war mal 'ne Alte, was mögt Ihr wohl denken?

Die hatte gelebt nur von Speis' und Getränken;

Nur Speis' und Getränke das hatt' sie zur Kost,

Doch nie war und nimmer die Alte bei Trost.

Ob wohl eine Ähnlichkeit zwischen dem Zustand der Bevölkerung von Coketown und dem der kleinen Gradgrinds obwaltete? Man braucht es wohl bei unserm nüchternen Verstand und bei unserer Zahlenkenntnis heutzutage uns nicht erst zu sagen, daß eins der Urelemente im Dasein der arbeitenden Klasse von Coketown mit Bedacht für viele Jahre unterdrückt wurde? – daß die belebende Freude der Phantasie in ihnen ruhte, daß sie gerne diese Phantasie gesund ausströmen und sich betätigen lassen wollten, statt sie krampfhafter Hysterie preiszugeben? Daß gerade in dem Verhältnis, wie man viel und einförmig arbeitete, das Verlangen nach einer farbig sinnhaften, körperlichen Erquickung rege ward: – Nach einer Erholung, die den Mut und gute Laune fördern sollte, um ihnen Luft zu machen – nach einem anerkannten Festtag, sei es auch nur für einen ehrsamen Tag bei einer rührigen Musikbande – nach einer einfachen Pastete, bei der selbst M'Choakumchild die Hand nicht im Spiel hatte. Solch Verlangen muß und wird Befriedigung erlangen, oder es wird unvermeidlich eine verkehrte Richtung annehmen, es sei denn, daß die Gesetze der Natur aufgehoben würden! –

»Jener Mensch hält sich in Pod's End auf, und ich weiß nicht genau, wo Pod's End ist«, sagte Mr. Gradgrind. »Wo ist es, Bounderby?«

Mr. Bounderby wußte, daß es irgendwo in dem untern Teile der Stadt liege; sonst hatte er keine Kenntnis davon. Sie standen daher eine Weile still und schauten sich um.

Währenddem kam gerade von der Straßenecke ein Mädchen mit raschen Schritten und furchtsamen Blicken herbeigelaufen, das von Mr. Gradgrind sogleich erkannt wurde.

»Hallo!« rief er. »Halt! Wohin gehst du? Halt!«

Mädchen Nummer Zwanzig blieb pochenden Herzens stehen und machte einen Knix.

»Was rennst du in den Straßen«, rief Mr. Gradgrind, »in dieser unschicklichen Weise umher?«

»Ich bin – ich bin verfolgt worden«, keuchte das Mädchen, »und ich wollte entwischen.«

»Verfolgt?« wiederholte Mr. Gradgrind. »Wer wird dich verfolgen?«

Die Frage ward durch den farblosen Knaben Bitzer rasch und unerwartet für sie beantwortet, indem er in solch' blinder Hast um die Ecke gelaufen kam und so wenig eine Hemmung auf dem Pflaster erwartete, daß er an Mr. Gradgrinds Weste anrannte und in die Straße zurückprallte.

»Was soll das heißen. Junge?« sagte Mr. Gradgrind. »Was treibst du? Wie wagst du es, gegen unsereinen in dieser Weise anzustoßen?«

Bitzer hob seine Mütze auf, die durch den Zusammenstoß auf die Erde geflogen war, trat zurück, fuhr mit den Knöcheln der Hand an die Stirn und gab als Entschuldigung an, daß dies ein Zufall sei.

»Hat dich dieser Knabe verfolgt, Jupe?« fragte Mr. Gradgrind.

»Ja, mein Herr«, sagte das Mädchen mit Sträuben.

»Nein, ich tat es nicht, mein Herr!« rief Bitzer. »Nicht ehe sie von mir weglief. Aber Kunstreiter scheren sich wenig um das, was sie sagen, mein Herr. Sie sind dafür berühmt. Du weißt, daß Kunstreiter dafür berühmt sind, sich nicht um das zu scheren, was sie sagen«, sagte er zu Cili gewendet. »Das ist so allgemein bekannt in der Stadt als – mit Erlaubnis, mein Herr – als die Multiplikationstabelle bei den Kunstreitern unbekannt ist.« Bitzer wollte Mr. Bounderby damit imponieren.

»Er erschreckte mich so sehr«, sagte das Mädchen, »mit den greulichen Fratzen, die er schnitt.«

»Oh«, rief Bitzer. »Oh! Bist nicht wie die andern? Bist nicht von den Kunstreitern? Ich habe sie nicht einmal angesehen, mein Herr. Ich fragte sie, ob sie morgen werde definieren können, was ein Pferd ist und bot mich an, es ihr nochmals zu sagen, und sie rannte davon und ich lief ihr nach, mein Herr, damit sie Bescheid wisse, wenn sie gefragt würde. Wenn du nicht zur Kunstreiterei gehörtest, so würdest du mit deiner Zunge nicht soviel Unheil anstiften.«

»Ihr Beruf scheint unter ihnen schon ziemlich bekannt zu sein«, bemerkte Mr. Bounderby. Sie werden es in einer Woche noch erleben, daß die ganze Schule scharenweise Zaungast sein wird.«

»Wahrlich, ich bin derselben Meinung«, entgegnete sein Freund. »Kehr' um, Bitzer, und pack' dich nach Hause. Jupe, bleib eine Weile hier. Laß mich noch einmal von dir hören, so davongerannt zu sein, Junge, und du wirst von mir durch den Schulmeister hören. Du verstehst, was ich meine. Marsch, fort!«

Der Knabe hielt in seinem raschen Blinzeln inne, fuhr abermals mit den Knöcheln der Hand an die Stirn, warf einen Blick auf Cili, drehte sich um und zog sich zurück.

»Nun, Mädchen«, jagte Mr. Gradgrind, »bringe mich und diesen Herrn zu deinem Vater. Wir wollen zu ihm gehen. Was hast du in der Flasche da?«

»Gin«, sagte Mr. Bounderby.

»Gott behüte, mein Herr! 's ist Neunkraftöl.«4

»Was?« rief Mr. Bounderby.

»Neunkraftöl, mein Herr. Um Vater damit einzureiben.« Drauf Mr. Bounderby nach einem kurzen, lauten Gelächter: »Weshalb, zum Teufel, reibst du deinen Vater mit Neunkraftöl ein?«

»Unsere Leute gebrauchens immer, mein Herr, wenn sie sich in der Reitbahn beschädigen«, erwiderte das Mädchen, indem sie über ihre Achsel wegsah, um sich zu vergewissern, daß ihr Verfolger fort sei, »Sie beschädigen sich zuweilen sehr stark.«

»Geschieht ihnen recht«, sagte Mr. Bounderby, »da sie Müßiggänger sind.« Das Mädchen schaute ihm ins Gesicht mit einer Mischung von Staunen und Furcht.

»Beim heiligen Georg!« rief Mr. Bounderby, »als ich noch vier oder fünf Jahre jünger als du war, hatte ich ärgere Beulen aufzuweisen, als ein Zehn-, Zwanzig- oder Vierzigkraftöl hätte heilen können. Ich erhielt sie nicht durch Artistenkunststücke, sondern weil man mich tüchtig durchbläute. Für mich gab es kein Seiltanzen; ich tanzte auf dem bloßen Boden, wobei man mir mit dem Strick aufspielte.«

Mr. Gradgrind war, obgleich ziemlich hartherzig, durchaus nicht so roh wie Mr. Bounderby. Im ganzen betrachtet war seine Natur nicht herzlos. Sie hätte in der Tat sehr herzlich sein können, wenn er nur einmal ein einfaches Versehen in der Arithmetik begangen hätte, die ihm seit Jahren das Gleichgewicht hielt. Er sagte in einem, wie er meinte, beruhigenden Tone, während sie sich nach einer engen Straße zuwandten: »Das ist Pod's End, Jupe, nicht wahr?«

»Das ist es, mein Herr – und mit Verlaub, mein Herr – das ist das Haus.«

Sie hielt in der Dämmerung vor der Tür eines armseligen, kleinen Wirtshauses, das von fahlen Lichtern erleuchtet war. Es sah so verstört und so jämmerlich aus, als ob es sich aus Mangel an Kunden selbst dem Trunk ergeben hätte, den Weg aller Trunkenbolde gegangen wäre und nun seinem Ende nahe sei.

»Brauchen nur an dem Schenktisch vorüber, mein Herr, und dann die Treppen hinauf. Bitte dann zu warten mit Verlaub, bis ich ein Licht bringe. Sollten Sie einen Hund hören, mein Herr, so wird es nur Merrylegs sein, der nur bellt.«

»Merrylegs und Neunkraftöl«, sagte Mr. Bounderby mit seinem metallenen Gelächter und trat zuletzt ein, »das klingt wunderhübsch für einen, der sich selbst aufgeschwungen!«

4 Im Original heißt es nine oils, was eine Mixtur bedeutet, die aus neun Ölgattungen besteht. Sie wurde besonders in England gegen Beulen und Quetschungen benutzt, ist aber schon längst außer Gebrauch.

Sechstes Kapitel.

Das Wirtshaus hieß »Zu den Pegasus-Arms«. Pegasusbeine wäre entsprechender gewesen. Unter dem Flügelroß prangte also auf dem Schilde die Inschrift: Pegasus-Arms in römischen Buchstaben. Und unter der Inschrift wiederum hatte der Maler in einem flatternden Streifen das Motto angebracht:

»Ein gutes Malz gibt gutes Bier,

Komm nur herein, man schenkt es hier.

Ein guter Wein gibt guten Branntwein,

Sei unser Gast, er wird zur Hand sein.«

An der Wand, hinter dem kleinen schmutzigen Ausschank, befand sich unter Glas und Rahmen ein zweiter Pegasus – ein theatralischer – mit Flügeln aus wirklicher Gaze, über und über mit goldenen Sternen beklebt und sein ätherisches Geschirr aus roter Seide gefertigt.

Da es draußen schon zu dunkel geworden war, um das Schild zu sehen, und da es drinnen noch nicht hell genug war, um das Bild zu sehen, so nahmen Mr. Gradgrind und Mr. Bounderby an diesen Idealitäten keinen Anstoß. Sie folgten dem Mädchen einige Winkeltreppen hinauf, ohne jemanden zu begegnen, und blieben im Dunkeln, während sie Licht holen ging. Sie erwarteten jeden Augenblick Merrylegs Stimme erschallen zu hören; aber der ausgezeichnet abgerichtete Hund hatte noch nicht gebellt, als das Mädchen und das Licht miteinander erschienen.

»Vater ist nicht in unserm Zimmer«, sagte sie mit einem Ausdruck tiefer Verwunderung. »Wenn Sie gefälligst eintreten wollten, so würde ich ihn sogleich holen.«

Sie traten ein: und Cili eilte, nachdem sie zwei Stühle für sie hingestellt, mit leichten, raschen Schritten davon. Es war ein schlechtes, armselig eingerichtetes Zimmer, worin ein Bett stand. An einem Nagel hing eine weiße Nachtmütze, mit zwei Pfauenfedern und einem kurzen, aufrechtstehenden Zopfe geschmückt, in der Signor Jupe an selbigem Nachmittag die mannigfachen Vorstellungen mit seinen keuschen Shakespearisierenden Stichelreden und Witzeleien belebt hatte. Sonst