Seasons of the Storm – Chronos' Krieger - Elle Cosimano - E-Book

Seasons of the Storm – Chronos' Krieger E-Book

Elle Cosimano

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Beschreibung

Ihre Liebe überwand den Sturm – setzt sie die Welt in Brand? Als unsterbliche Krieger der Jahreszeiten Winter und Frühling verfügten Jack und Fleur über mächtige Fähigkeiten. Weder Gesetze noch Magie waren in der Lage, die beiden zu trennen, und so riskierten sie alles für ihre Liebe und ihre Freiheit. Doch diese Freiheit forderte einen Preis und Jack musste seine Macht und seine Unsterblichkeit aufgeben, um ihr Überleben zu sichern. Als alte Feinde sich erheben und auf Rache sinnen, entfesseln sie eine alte, mächtige Magie, die die ganze Welt ins Chaos stürzen könnte. Jack und Fleur steht ein letzter Kampf bevor, bei dem nicht nur ihre Liebe auf dem Spiel steht. - Eine fantastische Urban Fantasy mit originellem Setting - Für Fans von Sarah J. Maas, Tracy Wolff und Cassandra Clare: die perfekte Mischung aus Spannung und Romantik Alle Bände der ›Seasons of the Storm‹-Reihe:  Band 1: Gaias Gefangene Band 2: Chronos' Krieger Die Reihe ist abgeschlossen. Die Bände sind nicht unabhängig voneinander lesbar.

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Seitenzahl: 616

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Über das Buch

Ihre Liebe überwand den Sturm – setzt sie die Welt in Brand?

 

Mit ihrer Rebellion haben Jack und Fleur die Welt der Jahreszeiten für immer verändert. Doch noch während sie ihre neue Freiheit genießen, braut sich im Observatorium bereits der nächste Sturm zusammen. Alte Feinde erheben sich und entfesseln eine alte, mächtige Magie, die die ganze Welt ins Chaos stürzen könnte. Jack und Fleur steht ein letzter Kampf bevor, bei dem nicht nur ihre Liebe auf dem Spiel steht.

 

Das fulminante Finale der mitreißenden Urban-Fantasy-Romance

 

 

Von Elle Cosimano ist bei dtv außerdem lieferbar:

Seasons of the Storm – Gaias Gefangene (Band 1)

Elle Cosimano

Seasons of the Storm

Chronos’ Krieger

Band 2

Roman

Für meine Leserinnen und Leser. Ohne euch gäbe es keine meiner Welten.

PROLOG Das Observatorium

März 2023

Doug

Nach siebzehn Monaten in Stasis aufzuwachen fühlt sich an, als müsse man sich von einem stumpfen Trauma am Kopf erholen. Die Kopfschmerzen, die Übelkeit, das Zittern, der dichte Nebel, der mir jegliches Gefühl von Ort und Zeit nimmt und nur eine vage Ahnung hinterlässt, dass ich schon einmal hier war. Nicht nur in diesem Zimmer oder an diesem Ort, sondern genau hier in diesem Augenblick.

»Douglas, geht es dir gut?« Der Professor sitzt hinter Chronos’ Schreibtisch, auf Chronos’ Thron. Der Stab der Zeit lehnt an einem Ständer neben seinem Ellbogen, als gehörte er ihm.

Daniel Lyon legt die Fingerspitzen aneinander, beobachtet mich über den Tisch hinweg mit einer Wachsamkeit, die beinahe als Besorgnis durchgehen könnte.

»Mir geht’s gut.« Ich verberge meinen Stasistremor hinter fest zusammengebissenen Zähnen. Ich möchte seinen Stuhl in Brand setzen. Möchte ihn ertränken, erfrieren lassen, ihn mit bloßen Händen erwürgen, aber jede Zelle meines Körpers fühlt sich schwach, meine Magie verausgabt. Er hat sich nicht einmal die Mühe gemacht, mich festzubinden. Eine einzige Wache – irgendein Schwachkopf, den ich noch nie zuvor gesehen habe – wartet vor der Tür.

Ein Stasisfrösteln packt mich. Mein Rücken klebt am Ledersessel, mein vom Observatorium ausgegebener Overall ist bereits durchtränkt mit kaltem Schweiß. All diese Monate in einer Kammer haben meine Sinne geschärft. Die Schreibtischlampe ist zu hell, die blauen Augen des alten Mannes zu durchdringend. Der Modergeruch der antiken Leinwände und zerfallenden Bücher im Zimmer ist so stark, dass ich daran ersticken könnte. Und unter all dem, das schwöre ich, kann ich die Fäulnis in den Katakomben unter uns schmecken. Und noch etwas … einen schwachen, übel riechenden Gestank, der von einem Gehäuse auf einem Regalbrett an der hinteren Wand ausgeht – eins von Gaias Terrarien. Die seltsame smaragdgrüne Schlange, die darin zusammengerollt liegt, ist keins ihrer üblichen Schoßtiere. Sie ist anders als jedes andere Wesen, das ich je zuvor im Observatorium gesehen habe, und ich kralle meine Nägel in die Armlehnen, frage mich, wessen Magie darin gefangen ist. Ich hoffe so sehr, dass es Jacks ist.

Die gespaltene Zunge der Schlange zuckt über das Glas, die Facetten ihrer diamantförmigen Augen, mit denen sie uns beobachtet, glitzern. Ich muss all meine Bemühungen aufbringen, um meinen Blick von dem Gefäß loszureißen.

»Warum wurde ich so lange in Stasis gehalten?«, frage ich. Drei Monate hätten gereicht zur Erholung, sogar vom gewaltsamsten Tod.

»Was ist das Letzte, woran du dich erinnerst?« Lyons Stimme ist sanft, achtsam. Als wäre ich zerbrechlich, müsste mit Vorsicht behandelt werden. Und dafür hasse ich ihn nur umso mehr.

Ich massiere meine Handfläche, blinzle gegen einen heißen Ansturm von Gefühlen an. Ich erinnere mich daran, wie Denvers Körper zu Staub zerfiel in meinen Händen. Erinnere mich daran, wie ich aschebeschmierte Finger um Fleur Attwells Hals presste, und an die Wut … an die blendende Wut, die ich in diesem Augenblick spürte. Meine Kehle schmerzt bei den Worten. »Ich erinnere mich, wie ich gerade rechtzeitig aus dem See komme, um mitanzusehen, wie mein bester Freund vor meinen Augen ermordet wird.«

»Fleur hat lediglich sich selbst verteidigt und die, die sie liebte.«

»Und was ist mit denen, die ich liebte?« Das Wort ›liebte‹ springt aus meinem Mund, bevor ich es verhindern kann. Der Raum verschwimmt hinter einem heißen, grellen Film aus Emotionen. Sie sind tot. Michael, Denver, mein Team …

»Noelle Eastman«, sagt Lyon sanft. Ihr Name zieht die Luft aus dem Zimmer. »Ich würde dir gern von ihr erzählen.«

Ich schüttle sein Mitleid mit einem gleichgültigen Schulterzucken ab. »Mir was erzählen? Dass meine Freundin sich gegen mich gewandt hat, um eurer dämlichen Sache zu dienen? Dass sie mich verraten hat, um Jack Sommers zu beschützen?« Ich spucke seinen Namen förmlich aus, heilfroh, dass er tot ist. Dankbar wenigstens für diesen kleinen Sieg.

»Noelle hat getan, was sie für richtig hielt. Sie hat dich auf die einzige Art beschützt, die sie kannte …«

»Sie hat mich nach Hause geschickt!« Ich schlage mit der Faust auf seinen Schreibtisch, sodass die Schlange vom Glas zurückzuckt. »Ich weiß, dass es Noelle war, die mich getötet und über die Ley-Linien zurückgeschickt hat! Ich habe sie gerochen.« Ich hatte den vertrauten, schwachen Vanilleduft ihrer Haut wahrgenommen. Die Wärme ihrer geflüsterten Entschuldigung in meinem Ohr, bevor sie mir die Kehle aufschlitzte.

Noch immer kann ich den Phantomsog der Ley-Linien spüren, die mich zurück nach Hause und in die Stasis zogen, den nachklingenden dumpfen Zug an meiner Seele. Ich drücke mich vom Schreibtisch weg, sehne mich nach ihr aus Gründen, die keinen Sinn ergeben. »Wo ist sie überhaupt?«, knurre ich. »Wenn sie wach ist, möchte ich ihr gerne ein paar Worte sagen.« Lyon starrt mich nur an, Mitleid in den glänzenden Augen. »Wo ist sie?«

»Sie ist mit dem Wind gegangen«, sagt er, so leise, dass ich es fast überhöre.

Ich sacke im Sessel zusammen.

Mit dem Wind. Tot. Ihre Seele verweht.

»Wer war es?«, frage ich mit erstickter Stimme. »War es Fleur? Ich schwöre bei diesem verfluchten Stab, ich werde …«

»Chronos hat den tödlichen Schlag geführt«, sagt er und bringt mich mit dem Aufblitzen weißer Zähne zum Schweigen. Der Blick aus Lyons Augen ist hart geworden. Darin sehe ich das Glitzern des Winters – die berüchtigte, grimmige Jahreszeit, die er früher einmal war, starrt mir entgegen und nicht der Professor in mittleren Jahren.

Natürlich schützt er sie. Verteidigt sie. Lügt für sie. Fleur ist eine dieser Verräterinnen, die ihn hierhergebracht hat.

»Nein!« Ich stehe auf, stoße fast meinen Stuhl um. »Noelle war eine Offizierin in meinem Team. Verräterin hin oder her, sie hätte sich vor mir verantworten müssen!«

»Und wenn sie das getan hätte? Wenn sie dir erklärt hätte, warum sie sich auf Jacks Seite gestellt hat, hättest du sie angehört?«

Ich knalle beide Handflächen auf seinen Schreibtisch, bereit, darüberzusteigen und ihm die Kehle rauszureißen. »Du scheinheiliger Scheißkerl!«

Lyons Augen werden dunkel und sein Blick huscht zum Stab, das Zucken in seiner Hand der einzige Hinweis darauf, dass er sich von mir bedroht fühlt. Eine schwarze Samtschärpe ist um den Kopf des Stabs geknotet, bedeckt das Kristallauge in der Mitte, als hätte Lyon Angst vor seiner Macht. Als wäre er ein zu verflucht großer Feigling, um hineinzublicken und seine eigene Zukunft zu sehen.

Ich beuge mich über den Tisch. »Tu es, alter Mann«, flüstere ich. »Mach schon und töte mich. Deshalb bin ich doch hier, oder nicht? Weil Jack tot ist und weil es mein Team war, das ihn getötet hat. Und du willst mich dafür leiden lassen.«

Unsere Blicke treffen sich.

»Jack hat überlebt. Er lebt, Douglas.«

Ich weiche zurück. »Nein. Du irrst dich. Auf keinen Fall ist er am Leben. Ich habe gesehen, wie er durch das Eis gebrochen ist. Ich habe zugesehen, wie er ertrunken ist!«

»Doch du hast die Loyalität derer, die ihn liebten, nicht gesehen und die Opfer, die sie erbrachten, um ihn zu retten.«

»Das ist unmöglich.« Es ist einfach nicht möglich, dass Denver und Noelle mit dem Wind gegangen sind. Dass Chronos – mein Chronos – tot ist und Jack Sommers noch atmet. »Du lügst!«

Ich taumle zurück vom Schreibtisch, meine Absätze treffen den Stuhl hinter mir, während Lyon sich erhebt und nach dem Stab greift. Die rasiermesserscharfe Klinge der Sense glänzt auf, als er sie zwischen uns senkt und die Samtschärpe von dem Auge entfernt. Es fängt das Licht ein, wirft Regenbogen auf die Tischplatte. Flüchtige Bilder meines Gesichts sind darin gefangen, flackern auf dem polierten Holz.

»Was ist das? Was machst du da?«

»Du möchtest wissen, was wirklich geschehen ist. Ich zeige es dir.« Lyon dreht den Stab Stück für Stück und jede Bewegung enthüllt neue Bilder, die sich rückwärts durch die Zeit bewegen, bis er den Augenblick findet, den er sucht. Denvers Gesicht taucht auf und plötzlich kann ich nicht mehr sprechen.

Ich sehe zu, wie er noch einmal stirbt. Sehe zu, wie Fleur ihn ermordet. Sehe zu, wie die Magie und das Leben und die Seele aus ihm herausgleiten.

»Aufhören«, presse ich hervor. »Mach, dass es aufhört.«

Das Bild rotiert, die Perspektive wechselt mit schwindelerregendem Tempo. Diese Erinnerung erkenne ich nicht. Ich bin nicht in meinem Kopf. Es ist, als würde ich mich selbst durch die Augen von jemand anderem sehen.

Durch Fleurs.

Ich sehe mich selbst, wie ich sie zu Boden zerre, um die Kontrolle über ihre Hände ringe. Ihre Gedanken abwehre, während sie Wurzeln und Ranken beschwört, um mich zu packen. Noelle ist da. Sie greift mich von hinten an und ich werde vom kurzen Aufblitzen eines Lichts geblendet – meines Lichts –, während mein eigener Tod vor mir abläuft und ich durch die Ley-Linien gezogen werde, zurück ins Observatorium.

Noelles Wangen sind nass von Tränen. Sie sieht nicht, wie Chronos hinter ihr herankommt, den Schwung seiner Sense. Ich schließe die Augen fest, als die Sense sie erfasst und ihre Magie sich mit dem Wind zerstreut.

Die Vision wechselt zum Ufer, wo Jack leblos im Schilf liegt. Seine Freunde stehen um ihn herum, brechen Pfeile ab, drücken auf seine Brust. Fleur ist wie eine Dämonin, schonungslos in ihrer Rache zieht sie mehr elementare Macht heran, als ich es je eine Jahreszeit habe tun sehen. Wie gelähmt sehe ich zu, wie sie den Boden beben lässt, einem Dutzend Bäumen und Ranken befiehlt, Chronos an Handgelenken und Fußgelenken zu Boden zu reißen. Ihr Haar ist statisch aufgeladen, ihre Augen blicken wild und sie drückt seinen Stab gegen seine Kehle. Sie ist gnadenlos und Furcht einflößend, und die Bewunderung, die ich unwillkürlich empfinde, während ich ihr zusehe, widert mich an. Sie ist eine Jahreszeit … eine von Wut getriebene Jahreszeit, die einen Gott überwältigen konnte. In der Vision zögert sogar Lyon, zu nahe an sie heranzugehen.

Bis sie ihm den Stab überreicht.

Sie fällt neben Jack auf die Knie, so wie alle anderen. Gibt alles für ihn auf. Kämpft um ihn.

Er lebt. Nicht in einem Terrarium oder in einer Urne. Nicht im Wind. Er lebt.

Ich falle auf den Stuhl, lasse den Kopf zwischen meine Knie sinken und ringe den Drang nieder, mich zu übergeben.

»Du bist nicht der Einzige, der einen Verlust erlitten hat, Douglas. Jack hat seine Prüfung überlebt und er ist nun stärker. Vielleicht nicht so, wie du es dir vorgestellt hast, aber Stärke besteht aus mehr als Macht und Magie. Es geht um Glauben und Vertrauen und Hingabe. Er hat eine Wahl getroffen. Hat sich entschieden, seine …«

Lyons Geschwätz erstirbt abrupt.

Ich hebe den Kopf. Aber Lyon sieht nicht mich an. Er sieht mit tiefem Stirnrunzeln in den Kristall. »… seine Zukunft zu akzeptieren«, endet er. Mit einem leisen Räuspern schlingt er die Samtschärpe wieder um das Auge. »Ich hoffe, du kannst ab hier genauso weitermachen wie er, Douglas. Es ist wichtig, dass du es versuchst. Die Welt dreht sich weiter, mit oder ohne uns«, sagt er und die Falten um seine Augen werden tiefer. »In einer Woche werden Gaia und ich die letzten Mitglieder von Michaels Wache dekonstruieren. Alle Verbliebenen werden geweckt und von ihren Pflichten entbunden und auch von ihrer Magie, die ihnen der vorangegangene Chronos gewährt hat.«

Der feuchte Overall klebt am Sitz und kühlt meine Haut. »Was heißt das? Was willst du damit sagen?«

»Die, die sich entschieden, unter Michael zu dienen, könnten zwischen widersprüchlichen Werten und Loyalitäten schwanken. Ich kann kein Risiko eingehen, was die Sicherheit des Observatoriums betrifft oder derer, die sich dazu entscheiden, hier zu leben.«

»Entscheiden?« Das Wort schmeckt vollkommen falsch und ich spucke es ihm wieder entgegen. »Was soll das überhaupt heißen?«

»Du könntest dich entscheiden, zurückzutreten«, fährt er fort, »in welchem Fall dir deine Magie entzogen wird und du eine freie Dienstposition hier innerhalb der Schule zugeteilt bekommst, wo du die verbleibenden Jahre deiner natürlichen Lebenszeit verbringen kannst. Aber ich möchte dich darüber informieren, dass sich unsere Methoden geändert haben. Unsere Regeln sind jetzt andere, Douglas. Unsere Jahreszeiten streben danach, in friedlicher Koexistenz zu leben, sowohl hier als auch über der Erde. Ich werde niemandem erlauben, dieses Ziel zu stören.«

Ein kaltes, trockenes Lachen entfährt mir. »Und was, wenn ich nicht zurücktreten möchte?«

»Dann resultiert diese Entscheidung in der Terminierung. So wie jedes Anzeichen einer Schädigung von Jack oder Fleur.« Lyons Blick begegnet meinem. Die unausgesprochene Drohung darin ist nicht misszuverstehen. Darum geht es hier also. Es geht nicht darum, das Observatorium zu schützen. Es geht darum, Jack zu schützen. Es geht darum, mich hier unten und machtlos zu halten, sodass ich nicht zu ihm kann.

»Dann kannst du mich genauso gut jetzt töten«, presse ich zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor.

»Es ist eine bedeutende Entscheidung …«

Trotz der Benommenheit in meinem Kopf springe ich auf. »Nein, es ist eine Bestrafung!«

»Es ist eine Wahl, Mr Lausks.« Lyon erhebt sich nicht. Greift nicht nach dem Stab.

»Vielleicht war ich nicht deutlich genug, alter Mann. Ich gebe dir meine Magie nicht. Lieber sterbe ich, als dir zu dienen. Du bist nicht mein Chronos. Das wirst du niemals sein.«

»Dein Chronos hätte dir niemals die Wahl gelassen«, sagt er ruhig. »Ich werde sie dir nicht nehmen. Du hast eine Woche, um über deine Entscheidung nachzudenken. Die Extraktion ist belastend für den Körper und du solltest diese Zeit nutzen, um dich auszuruhen und nachzudenken. Du bist müde und es gibt viele Informationen, die du verarbeiten musst.«

Eine Woche. Lange genug, um meine Stärke wiederzuerlangen, die ich brauche, um den Schmerz der Extraktion zu überleben, wenn sie mir meine Magie entreißen. Doch nicht lange genug, damit ich Kraft sammeln könnte, um mich dagegen zu wehren. »Und wenn meine Entscheidung sich nicht ändert?«

»Dann kannst du die Woche nutzen, um deine Angelegenheiten in Ordnung zu bringen. Gaia und ich werden jeden letzten Wunsch bezüglich deines persönlichen Eigentums in Erwägung ziehen.« Sein Blick begegnet meinem. »Der Tod muss nicht die einzige Wahl sein. Es gibt einen Weg nach vorn. Nimm dir Zeit«, sagt er betont und bedient sich dieses Worts, als wäre es seins.

»Ist das alles?« Ich für meinen Teil bin hier fertig.

»Douglas«, sagt er und hält mich auf, bevor ich die Tür erreiche. »Dein Verlust tut mir wirklich sehr leid.«

Verlust nennt er es. Als wäre das alles ein Spiel. Als hätte er ein paar verfluchte Schachfiguren vom Brett genommen und wir alle könnten einfach von vorn anfangen. Ich schüttle den Kopf, stürme durch die schwere Flügeltür und pralle dabei fast gegen die Gestalt, die auf der anderen Seite hockt. Kai schlingt die Arme um sich, blass und zitternd, als wäre sie gerade erst aus der Stasis erwacht. Kai Sampson, die beste Schützin der Wache. Die Meisterbogenschützin, die Jack Sommers mit Pfeilen durchlöchert hat, und wofür?

Für nichts.

»Doug?« Ihre Stimme bricht. Sie stinkt nach kaltem Schweiß und ich dränge mich an ihr vorbei. »Doug, was ist passiert? Was wollte er?«

Sie hat keine Ahnung. Keine Ahnung, dass Jack lebt. Keine Ahnung, was passiert ist, während wir alle geschlafen haben. Ich sage ihr nicht, was Lyon gesagt hat. Dass wir den Kampf verloren haben. Dass unsere Feinde die Kontrolle über unser Zuhause übernommen haben. Ich sage ihr nicht, dass wir unsere Leben verlieren und unsere Magie. Weil ich nicht vorhabe, diesen Bastard so weit kommen zu lassen.

1 Ein sonderbar schmerzendes Herz

Fleur

Ein Gitarrenriff kreischt gegen die Mauern der Villa an, übertönt das morgendliche Gezeter der Eichelhäher, und ich folge dem Klang über die Veranda. Bis ich den Fitnessraum erreiche, vibriert Jacks liebster 80s-Punk-Mix in meinen Knochen. Ich stoße die Tür auf und halte mir die Ohren zu gegen das Dröhnen des Schlagzeugs.

»Jack!« Über dem Bass kann ich mich nicht einmal selbst hören. Und er offensichtlich auch nicht. »Jack, du solltest wirklich nicht …«

Sein Rücken ruht auf der Hantelbank, die Beine sind gespreizt, die bloßen Füße flach auf den Boden gedrückt, und gerade schüttelt er sich Kreide von den Händen und verlagert den Griff um die Stange. Daran sind viel zu viele Scheiben. Ich öffne den Mund und will erneut rufen. Nichts ahnend holt er ein paar kurze Atemzüge, beißt die Zähne zusammen und drückt die Stange aus der Halterung. Jacks Muskeln straffen sich und bilden Muster, die mich ablenken, Sehnen spannen sich an seinem geröteten Hals, während er die Stange senkt und wieder nach oben drückt.

Die Augen fest geschlossen, macht er noch ein paar Wiederholungen. Ich stehe in seiner Nähe, die Hände erhoben, um die Stange abzufangen, falls sie herabfallen sollte. Sein Kiefer spannt sich, sein Atem erhitzt mein Gesicht, während ich ihm helfe, die Stange die letzten paar Zentimeter bis in die Halterung zu senken.

Seine grauen Augen öffnen sich, als die Stange mit einem nachhallenden Knall landet. Ein Lächeln zupft an seinen Lippen. Er liegt da, schweißbedeckt, grinst mich von unten herauf an und seine Lippen formen die Worte des Songs, der aus den Lautsprechern dröhnt. Ich greife nach seinem Telefon und schalte die Musik ab.

»Ich sagte, du solltest nicht so viele Gewichte ohne Spotter stemmen!« Meine Stimme ist zu laut, die Musik klingt mir immer noch in den Ohren.

»Ich brauch keinen Spotter.« Er drückt den Rücken ein paar Zentimeter von der Bank hoch und hebt sein Shirt, um sich den Schweiß vom Gesicht zu wischen. Sein schelmisches Grinsen wird breiter, entlockt mir ein Erröten, weil er mich dabei erwischt, wie ich die straffen Muskeln darunter anstarre. Seit mehr als einem Jahr leben wir zusammen, schlafen miteinander im gleichen Bett, aber sein Anblick raubt mir manchmal immer noch den Atem. Er streckt die Hand hoch und zieht an meinem rosa Pferdeschwanz, bis mein Gesicht kopfüber über seinem schwebt. Schweiß schimmert in seinem dunklen Haar und glänzt auf seiner Oberlippe, hinterlässt einen köstlichen Salzgeschmack auf meinen Lippen, als er sich einen verschwitzten Kuss von mir mopst. Unter den grellen Oberlichtern des Zimmers glitzern seine Augen voller Schalk.

Egal welche Verärgerung ich auch gerade noch verspürt habe, sie schmilzt dahin, als er sich unter der Stange hervorschiebt und mich sanft auf seinen Schoß zieht. Die rauen Stellen an seinen Handflächen verfangen sich im lockeren Stoff meines Rocks, während er seine Hände an meinen Hüften hinaufgleiten lässt und dabei schneeweiße Kreidespuren auf dem dunklen Baumwollstoff hinterlässt, bevor sie auf meinem unteren Rücken liegen bleiben.

»Wenn du nicht vorsichtig bist, tust du dir weh«, sage ich mit Sorge in der Stimme. »Dein Physiotherapeut …«

»Mein Physiotherapeut hat mir grünes Licht gegeben«, ruft er mir in Erinnerung. Fast achtzehn Monate ist es her, seit Gaia ihn von der Schwelle seines letzten Todes zurückgeholt hat, mit drei pfeilförmigen Narben auf seinem Rücken und einem Loch in seinem Herzen, wo einmal seine Magie gewesen war. Ein Loch, das sich mit der Zeit füllen würde, wie er beharrlich behauptet. Aber an manchen Tagen bin ich da nicht so sicher.

Ich runzle die Stirn und er zieht mich enger an sich.

»Der Doktor hat gesagt, du könntest langsam wieder mit leichtem Training anfangen.« Ich wische einen Schweißtropfen von seiner Wange. »Drei Stunden am Tag hier drin ist kein ›leichtes Training‹, Jack. Und Bankdrücken …«

»Wird mich nicht umbringen.« Er dreht meine Hand um und drückt einen Kuss auf meine Handfläche. Gänsehaut breitet sich auf meiner Haut aus, als seine Lippen weiterwandern in meine Armbeuge. »Mein Körper ist in Bestform«, flüstert er, während sein dunkler Bartschatten eine Spur wohliger Schauder über mein Schlüsselbein schickt. »Aber wenn du meine Ausdauer auf die Probe stellen möchtest, bin ich voll dabei.«

Lachend gebe ihm einen Schubs. »Ich habe gleich Spanisch.« Und wenn er mich weiter so küsst, schaffe ich es niemals in den Unterricht, das schwöre ich bei Gaia.

Er zieht mich an der Vorderseite meines Shirts erneut an sich. »Ich gebe dir einen sehr guten Grund, zu schwänzen.«

Ich schiebe seine Hände beiseite und stehe auf, klopfe mir die Kreide vom Rock. »Du kannst deine körperliche Fitness unter Beweis stellen, wenn ich nach Hause komme.«

»Was, wenn ich es dir jetzt beweisen will?« Seine Finger streifen meine Taille, die sich von ihm entfernt. Ich lasse meinen Blick spielerisch auf seiner Brust ruhen. Dann tiefer. Mein Grinsen wird breiter und ich nehme Kampfhaltung ein.

»Fleur«, sagt er lachend. »Das ist nicht ganz das, was ich im Sinn …«

Ich lasse mich auf die Matte fallen und fege ihm die Beine weg. Keuchend entweicht ihm beim Aufprall die Luft, und bevor er reagieren kann, bin ich über ihm.

»Fleur …«

Ich stoße seine Handgelenke auf die Matte und halte ihn mit den Knien unten. Etwas blitzt auf in seinen Augen, ungezogen und wild. »Ach, so soll es laufen?« Er bäumt sich unter mir auf, wirft mich zur Seite, achtet darauf, meinen Sturz zu kontrollieren, und ich krache auf die dicke Schaummatte. Wir ringen, atemlos und kichernd, rollen übereinander, bis er mich festhält.

»Du hältst dich zurück«, sagt er und lockert den Griff, bietet mir einen Ausweg, den ich nicht brauche. Er mag stärker sein, aber die Fenster der Villa zum Garten draußen sind vollständig geöffnet. Ich könnte Wurzeln und Ranken beschwören, um ihn von mir herunterzuziehen und ihn an den Zehen von der Decke baumeln zu lassen, wenn ich das wollte.

Ich sinke in die Matte und mein Lachen erstirbt, weil die harten Kanten seiner Hüften auf meine herabsinken und er sich gegen die weiche, warme Stelle zwischen meinen Beinen drückt.

»Vielleicht gefällst du mir so«, flüstere ich.

Da erkenne ich es, in seinem Beinahe-Zucken – was immer er auf die Stange geladen hat und allein stemmt. Sein dunkles Haar fällt ihm über die Augen.

»Hey«, sage ich und wende das Gesicht, um seinen Blick aufzufangen. Ich weiß, warum er so viel Zeit hier drin verbringt. Und obwohl ich nicht leugnen kann, dass das Endergebnis wundervoll ist, tut es mir weh zu wissen, warum er so obsessiv trainiert. »Ich liebe dich, Jack. Dich.« Ich habe mich nicht in seine Magie verliebt. Noch habe ich mich entliebt, als er sie verlor. Wenn überhaupt, habe ich mich noch mehr in ihn verliebt, liebe ihn noch mehr, für die Stärke, die es ihn gekostet haben muss, sie wegzugeben. »Ich liebe dich genau so.«

Ich verschränke unsere Finger miteinander, hebe unsere Hände über meinen Kopf, bringe unsere Gesichter nah aneinander, genauso, wie ich ihn am Ufer des Teichs bei dem Unterschlupf am Boden gehalten habe, in der Nacht, in der wir diesen ersten, erderschütternden Kuss geteilt haben. Begonnen hatte es als Schneeballschlacht, zwei Jahreszeiten, die sich zwischen Lachanfällen im sumpfigen Gras balgten, um zu sehen, wer die Oberhand gewinnen würde. Vielleicht hatte er sich von mir überwältigen lassen in dieser Nacht, aber das war egal. Oder? Irgendwo in der Mitte hatten sich unsere Lippen getroffen.

»Du kommst wegen mir zu spät.« Seine Nase streift meine und sein Mund fährt über den Rand meiner Lippen. »Du solltest dich wohl für den Unterricht fertig machen.« Die Worte gehen in dem Nebel unter, der sich um mich legt, als er mein Ohr annagt. Seine Stimme ist tief, rau vor Begehren, schickt wundervolle Schauder durch mich hindurch und ich frage mich, ob er weiß, wie viel Macht er hat. Wie er mein Blut entflammt und meinen Körper pochen lässt, auch ohne seine Wintermagie.

»Werden wir irgendwann darüber reden?«, frage ich.

Jacks Atem stockt an meinem Hals. Er zieht sich ein wenig zurück, gerade genug, um meine Miene zu mustern. Er drückt einen zu weichen Kuss auf meine Lippen, bevor er sich aus meinen Händen windet. Plötzlich ist sein warmes Gesicht weg und er streckt mir die Hand entgegen, um mir aufzuhelfen. »Ich habe meine Besprechung mit Lyon, dann gehe ich laufen.«

»Wo?«

»Im Park«, antwortet er und greift nach einem Handtuch.

Meine Hände, die mein Shirt glätten, erstarren. Mit gezwungenem Lächeln deute ich mit dem Daumen über die Schulter zu dem Laufband, das ich ihm zu Weihnachten gekauft habe. Er hat es nicht ein einziges Mal angestellt, seit ich es ausgepackt habe. Die glatte schwarze Maschine dehnt sich aus wie eine schlummernde Katze, strategisch vor dem offenen Fenster platziert. »Es wird dich nicht umbringen, es mal auszuprobieren, weißt du?«

»Allein draußen laufen auch nicht.« Er schiebt eine verirrte Haarsträhne hinter mein Ohr. Wir beide wissen, warum ich es gekauft habe. Er weiß, dass ich das Laufen hasse. Dass ich mit ihm nur jeden Morgen im Park laufen gehe, weil ich Angst habe, ihn allein losziehen zu lassen. Um mich selbst mache ich mir keine Sorgen da draußen. Die Regeln unserer Welt haben sich verändert seit der Rebellion. Die meisten der Einschränkungen, die die Jahreszeiten im Zaum hielten, sind aufgehoben, lassen uns mehr Freiheiten, als wir je zuvor hatten. Doch während die meisten Jahreszeiten dankbar zu sein scheinen für diese Veränderung, bin ich nicht dumm genug zu glauben, dass es da draußen nicht immer noch einige gibt, die Michael gegenüber loyal sind und die alten Gewohnheiten vermissen. Lyon versichert uns, dass er so viele geschnappt hat, wie er finden konnte, aber schon eine Jahreszeit würde genügen, und Jacks Gesicht ist viel zu bekannt – er könnte genauso gut Posterjunge für die gesamte Revolution sein. Und so ungern ich das zugebe, er ist verwundbar ohne seine Magie. Daniel Lyon mag Jack Unsterblichkeit gewährt haben als Teil des Vorteilspakets für die Rollen, die wir beim Sturz Michaels gespielt haben, aber nur weil unsere Körper nicht altern, heißt es nicht, dass wir nicht verletzt werden oder sterben können. Wir beide müssen wachsam bleiben, wenn wir hier sicher Wurzeln schlagen wollen. Und allein zu laufen in der Stadt ist nicht klug.

»Warum benutzt du es nicht?«, frage ich und lehne mich mit der Hüfte gegen das Laufband.

»Weil …« Er fährt sich durch das schweißnasse Haar, das daraufhin kurz hochsteht, dann fällt die fransige Krone aus schwarzen Stacheln wieder über seine Augen und er tritt von mir weg. »Ich fühle mich eingesperrt.«

»Es steht vor dem Fenster.«

»Ich kann draußen laufen. Das ist total sicher. Ich möchte nicht die ganze Zeit an Elektrogeräte angeschlossen sein.«

Ich tippe mir ans Ohr, wo mein Transmitter normalerweise ist. Der, den Jack mich jedes Mal tragen lässt, wenn ich die Villa verlasse. »Ist das nicht etwas heuchlerisch?«

Er schüttelt den Kopf, lacht stumm, kommt dann mit den Händen auf den Hüften schwungvoll wieder zu mir. Er schlingt den Arm um meine Taille. »Ich bin dein Administrator. Nicht andersrum.«

Ich lehne mich zurück, ziehe eine Augenbraue hoch. »Ach so? Na, vielleicht brauch ich ja auch keine Hilfe.«

Seine Lippen verfolgen meine, lächeln, als er sich noch einen Kuss stiehlt. »Zu blöd. Du hast deine Wahl getroffen. Jetzt hast du mich am Hals.«

Ich schlinge meine Arme um seinen Nacken. »Das werde ich niemals bereuen.«

Jack war so gut wie tot, blutete neben einem gefrorenen See aus, als ich vor die Wahl gestellt wurde, eine Person zu retten, indem ich sie zu meinem Administrator und Beschützer für den Rest meines unsterblichen Lebens ernannte. Ihn sterben zu sehen hat mich beinahe umgebracht und ich habe nicht die Absicht, ihn wieder zu verlieren. »Laufband, bitte«, sage ich und verstrubble die Spitzen seines feuchten Haars. Ich stelle mich auf die Zehenspitzen und gebe ihm einen letzten Kuss auf die Wange. »Oder warte, bis ich nach Hause komme, dann laufe ich mit.«

»Trag deinen Transmitter!«, ruft er hinter mir her.

»Ich habe mein Handy«, schreie ich über die Schulter.

»Fleur?«

»Schon gut!« Meine Stimme weht über die Veranda, während ich zu unserem Schlafzimmer gehe. Ich hasse den verdammten Tracker, vermutlich aus den gleichen Gründen, aus denen Jack das Laufband hasst – diese Dinge erinnern uns zu sehr an das Leben, das zurückzulassen wir uns so erkämpfen mussten. Doch wie Jack so oft sagt, Handys sind schwer genau zu lokalisieren und sie sind nutzlos, wenn man beide Hände für einen Kampf braucht. Und er hat recht – mein Tracker ist die einzige verlässliche Möglichkeit, mich im Auge zu behalten, während ich nicht zu Hause bin. Und deshalb, weil es ihm viel bedeutet und ich nicht gern sehe, wie er sich Sorgen macht, schiebe ich ihn ins Ohr, bevor ich meine Sandalen anziehe und die Bücher für den Unterricht einpacke. Ich werfe den Rucksack über die Schulter und da bemerke ich eine Bewegung auf der anderen Seite des Hofs.

Durch das Fenster sehe ich, wie Jack auf der anderen Seite der Veranda seine Laufschuhe nimmt und die Lichter ausmacht.

2 Falls ich jemals zurückkommen sollte

Jack

Ich trage meine Laufschuhe durch die Villa, den langen, offenen Flur an Fleurs Gemälden vorbei zu meinem Büro und halte auf dem Weg bei der Küche an. Die Eichelhäher krächzen, während ich in eine Zimtschnecke beiße, die Fleur für mich auf einen Teller gelegt hat, sie warten auf die Krümel, die sie immer über den Balkon wirft, wenn sie isst. Sogar die Zweige der Jakaranda scheinen sich der Villa zuzuneigen, Fleur und ihrer Erdmagie zu, als wäre sie ihre Sonne.

Ich lehne mit der Hüfte an der Kücheninsel, fahre mit dem Finger durch die Pfütze aus erhärtendem Zuckerguss auf dem Teller. Ein Zettel liegt darunter, ich lecke den letzten Rest Zucker von meinen Fingern, um keine Abdrücke zu hinterlassen, und ziehe die ausgerissene Seite eines Magazins unter dem Rand hervor. Es ist eine Anzeige mit einem Hochglanzfarbfoto von einer Straße in Amsterdam, mit einem verträumt blickenden Paar auf einer Brücke, und es verspricht eine Woche Romantik. Ein handgeschriebenes Datum ist mit einem Herz eingekreist – elfter März, der Tag, an dem Fleur zugestimmt hat, mit mir abzuhauen, und der Tag, den sie zu unserem offiziellen Jahrestag erklärt hat.

Ich klebe die Anzeige für die Flussschifffahrt mit einem Magneten an die Seite des Kühlschranks, neben die anderen: eine Zugreise durch die kanadischen Rockies, eine Rucksacktour durch Chile, Gourmetausflüge in Italien und Griechenland. Jetzt, da wir vom Observatorium befreit sind, möchte Fleur die Welt sehen. Sie möchte überallhin, weil ich ihr versprochen habe, dass wir das tun würden. Doch als ihr Administrator ist es meine oberste Priorität, sie zu schützen. In unserer Villa in Cuernavaca, der Stadt des Ewigen Frühlings, inmitten von Fleurs Garten und einem Sicherheitssystem, das ich über ein Jahr lang perfektioniert habe, kann ich das.

Aber da draußen?

Wir haben den Weg hierher kaum überlebt. Es hatte uns alle acht gebraucht – vier Jahreszeiten, jede mit ihrer eigenen Magie, und vier Administratoren, die uns den Rücken deckten –, nur um überhaupt so weit zu kommen. Wir haben unterwegs Freunde und Verbündete verloren, Teile unserer selbst. Am Ende waren wir alle verändert – ich mehr als jeder andere.

Ich öffne die Kühlschranktür auf der Suche nach Milch, um den hartnäckigen Kloß in meinem Hals loszuwerden. Die kalte Luft kondensiert sofort, wallt wie schattenhafte Wolken heraus und ich lehne mich vor, die Augen geschlossen, lasse die gekühlte Luft über mich strömen. Das Summen des Kühlschranks übertönt die Vögel auf der Terrasse, bis die Küche verschwindet und ich wieder am gefrorenen Teich bin mit Fleur. Meine Finger schlingen sich um den kalten Stahl des Kühlschranktürgriffs. Ich vermisse das Knistern von Frost auf meiner Haut. Vermisse, wie Fleur mich ansah, als ich Schnee für sie machte. Vermisse das Flirren der Magie, das uns durchlief, wenn wir uns berührten.

Dass sie im Trainingsraum bei unserer Rauferei so leicht nachgegeben hat, fühlte sich an wie ein Zugeständnis. Eine sanfte Erinnerung daran, dass ich keine Jahreszeit mehr bin. Nicht länger der, der ihre Magie wieder aufladen kann oder sie mit einer Berührung heilen. Ganz egal, wie viele Stunden ich mit der Hantelbank ringe, ich bin nur ihr menschlicher Admin. Und es gibt Tage – meine schlechtesten Tage –, an denen ich mich frage, ob das immer noch genug ist für sie.

Mit einem heftigen Kopfschütteln schnappe ich mir den Milchkarton und schließe die Kühlschranktür. Ich trinke direkt aus der Packung, in großen Zügen, aber es hilft nicht, die Schuld fortzuwaschen, die ich wegen der jämmerlichen, eigensüchtigen Gedanken verspüre, seit ich ihr nachgesehen habe, wie sie den Trainingsraum verließ.

Ich habe Fleur. Wir haben einander und unsere Leben. Sie kann Spanischunterricht nehmen, Romanzen mit glücklichem Ende neben dem Pool lesen und schreckliche Gemälde jeder Pflanze aus ihrem Garten zeichnen. Wir können stundenlang rummachen, dann im gleichen Bett einschlafen, ohne uns zu sorgen, weil einer von uns sterben wird.

Wir haben ein atemberaubendes Zuhause, volle Konten und den zusätzlichen Bonus meiner Unsterblichkeit, alles unsere Belohnung dafür, dass wir die Rebellion herbeigeführt haben, die Lyon an die Macht verhalf.

Wir können hier leben, zusammen in einem Paradies, das wir selbst geschaffen haben, für immer, wenn wir das wollen. Meine Magie war da ein geringer Preis.

Ich werfe den leeren Milchkarton in den Müll und wische eine Handvoll Krümel vom Tresen in meine Hand, streue sie über den Balkon für die Vögel, dann verlasse ich die Küche. Sie stürzen sich auf den Patio unten, jagen die kleine Gabe mit gierigem Chor, während ich meine Laufschuhe aufhebe und zu meinem Büro gehe.

Ich kann es Fleur nicht übel nehmen, dass sie reisen möchte. Obwohl zum Haus hektarweise freie Natur gehört, ist es manchmal schwer, sich nicht eingeengt zu fühlen. Umgeben von Sicherheitstoren und Kameras und einer Festung aus Bäumen, sind wir hier auf dem Gelände unserer Villa völlig sicher. Und meistens sind wir auch sicher in der umliegenden Region und den Städten. Daniel Lyon, der neue Chronos, und seine Partnerin, Gaia, haben eine Schutzverfügung für unser Heim hier in Cuernavaca ausgegeben, einschließlich eines Jagdverbots von einem Radius von ein paar Hundert Kilometern. Aber nur weil Regeln verfügt werden, heißt das nicht, dass jeder sich daran hält. Ich sollte es wissen, denn ich war derjenige, der die Rebellion begonnen hat, die uns hierhergeführt hat.

Als Folge dieser Rebellion müssen befreite Jahreszeiten sich wöchentlich bei einem ihnen zugewiesenen Mitarbeiter im Observatorium melden. Wir sollen jeden geplanten Ausflug außerhalb unserer Regionen melden und uns sorgsamer Überwachung unterziehen. Wollen unsere Freunde Julio und Amber zu Besuch kommen, ist das keine große Sache – nur ein paar Anrufe, ein paar zusätzliche Sicherheitsmaßnahmen und ein paar Flugtickets. Aber wenn Fleur und ich mal runterwollen vom Radar, nur wir zwei – eine Jahreszeit allein mit ihrem nichtmagischen Administrator –, wird die Planung sehr viel komplizierter. Ich weiß nicht, ob Lyon einfach nur paranoid ist wegen der Handvoll abtrünniger Jahreszeiten, die sie nicht haben finden können, oder ob er eine besondere Drohung erhalten hat, aber die letzten paar Monate schien er zunehmend nervös, und es vergeht keine Woche, in der er nicht anbietet, dass ein Team von Begleitern uns nach Hause holt.

Aber das Observatorium unter dem Greenwich Park in London ist nicht mehr unser Zuhause.

Ich biege in mein Büro ab und setze mich in meinen Stuhl. Mein hochmodernes Computer-Set-up besteht aus drei breiten Flatscreens und einem Soundsystem, das die Terrakottafliesen vom Dach des Hauses fegen könnte. Die Wände über den Monitoren zieren alte Poster von Klassikerfilmen aus den 1980ern und schrägen Punkbands. Eine alte Couch aus Knittersamt mit pinken Kissen steht an der gegenüberliegenden Wand. Ich weiß nicht, warum ich sie auf dem Flohmarkt im Stadtzentrum gekauft habe, aber das Gestell sackt an Stellen ab, die mich an die Couch erinnern, die Chill und ich in unserem Quartier im Observatorium zurückgelassen haben, auch wenn die Farbe ganz falsch ist. Darüber, zwischen den Dead Kennedys und Eine neue Hoffnung, hängt eins von Fleurs Gemälden: ein schiefer Nadelbaum, von Schnee gekrönt.

Ich wackle an der Maus, erwecke die Mauer aus Monitoren über meinem Schreibtisch zum Leben. Das Sicherheitspanel piept, weil sich die Eingangstür öffnet und wieder schließt.

Kurz darauf taucht Fleur auf einem Schwarz-Weiß-Monitor vor mir auf. Ich ziehe mein Headset an und höre, wie sie über die gepflasterte Auffahrt läuft, die niedrigen Absätze ihrer Sandalen klacken und die langen Wellen ihres rosafarbenen Haars tanzen in einer Brise. Meine Brust schmerzt jedes Mal, wenn ich sie hinausgehen sehe.

Sie dreht sich um und wirft mir eine Kusshand zu. Das rote Licht, das mit ihrem Transmitter verbunden ist, bewegt sich rasch über eine Karte auf dem nächsten Bildschirm, ihr GPS-Tracker zeigt jede Bewegung an, die sie zwischen hier und ihrem Lieblingscafé macht. Ich höre nur halb zu, wie sie den Coffeeshop betritt und ihre übliche Bestellung in geziertem Spanisch aufgibt. Ein neuer Barista arbeitet am Tresen. Ich blicke gerade noch rechtzeitig hoch zur Aufzeichnung ihrer Bodycam, um zu sehen, wie er ihr zuzwinkert und ihr ihren Cappuccino reicht. Ich kann nicht viel Spanisch, aber ich verstehe den Kern seiner Frage im hoffnungsvollen Heben seiner Braue.

»Hat er dich gerade um ein Date gebeten?«

Fleur winkt dem Barista zu und geht. »Würdest du ab und an mal mit mir zum Unterricht kommen, würdest du das vielleicht wissen.« Ich kann ihr Lächeln hören. Es in ihren beschwingten Schritten sehen, mit denen sie aus dem Laden schwebt. »Hast du kein Meeting oder was noch Wichtigeres zu tun, als mir nachzuspionieren?«

»Nichts wird je wichtiger sein als das, was ich gerade tue.« Meine Aufmerksamkeit geht zwischen ihrem GPS, ihren Vitalfunktionen und dem Material von ihrer Bodycam hin und her. Ich wende mich meinem zweiten Monitor zu, scrolle schnell durch die Satellitenwetterbilder und die neuen Headlines des Tages. Das Wetter ist in alle Richtungen auf ein paar Hundert Kilometer klar. Nichts, was darauf hinweist, dass eine andere Jahreszeit sich unserer Region zu weit nähert oder Lyons Grenzen ohne Erlaubnis übertritt.

Sie zieht die Tür zu ihrer Sprachschule auf. »Hast du gesehen, was ich dir heute Morgen in die Küche gelegt habe?«

»Die Zimtschnecke?«

»Die Grachtenfahrt durch Amsterdam«, erwidert sie und steigt eine gewundene Betontreppe hinauf. »Wirst du mit Lyon darüber reden?«

Die gesamte Idee bereitet mir Sodbrennen. »Fleur, ich weiß nicht, ob …«

»Er schuldet uns das.« Fleurs rotes Licht hört auf, sich zu bewegen. Ich hebe den Kopf und sehe zu ihrer Bodycam. Sie steht vor der Tür zum Klassenraum, ihre überkreuzten Arme in der Glasscheibe reflektiert, starrt sie mich an.

»Ich rede mit ihm«, verspreche ich.

Ihre Mundwinkel heben sich im Glas, ein leises Lächeln nur für mich, dann greift sie nach dem Türgriff. »Ich bin in ein paar Stunden wieder zu Hause.«

»Pass auf dich auf«, murmle ich.

Ich entspanne mich erst, als Fleurs rotes Licht sich auf den vierten Platz in der zweiten Reihe ihres Klassenraums niederlässt. Kurz verspüre ich Mitleid für Chill, meinen früheren Administrator. Ich frage mich, ob er sich auch jedes Mal so gefühlt hat, wenn ich aus den Türen des Observatoriums ging in den dreißig Jahren, die ich als Winter verbracht habe. Ob er Albträume hatte und graue Haar bekommen hat wegen mir, während ich allein draußen in der Welt herumlief.

Ein eingehender Videocall blitzt auf einem meiner Bildschirme auf.

»Professor«, grüße ich Lyon und streife mir den Handgelenksmonitor über. Ich habe mich immer noch nicht daran gewöhnt, ihn Chronos zu nennen, aber ich bin auch nicht sicher, ob er sich schon daran gewöhnt hat, Chronos zu sein. Ich beuge mich herab, meine Stimme gedämpft, während ich meine Laufschuhe anziehe. »Pünktlich, wie üblich.«

Ich synce meinen Handgelenksmonitor mit Fleurs Trackingprogramm, stelle sicher, dass das rote Licht blinkt. Professor Lyons wöchentliche Check-ins sind normalerweise kurz. Wenn ich mich beeile, schaffe ich es zum Park und kann ein paar Kilometer draufkriegen, bevor Fleur nach Hause kommt. Sie wird nicht einmal wissen, dass ich das Haus verlassen habe.

»So wie du, zur Abwechslung.« Lyons Humor ist trocken, sein formaler Tonfall manchmal schwer zu deuten. Es ist schwer zu sagen, ob er sarkastisch oder ehrlich ist. »Es scheint, ich habe dich auf dem Weg nach draußen erwischt. Ich halte dich nicht lange auf.«

»Sorry.« Ich passe die Videokamera an, widme ihm meine volle Aufmerksamkeit. »Alles in Ordnung?«

Lyons Gesicht ist abgespannt. Er fährt sich durch das silberne Haar an den Schläfen und reibt sich die Augen, eine menschlichere Geste, als ich es sonst von ihm gewohnt bin. Ein Lächeln tritt in seine winterblauen Augen. »Es war eine schwierige Woche hier im Observatorium.«

»Schwieriger als gewöhnlich? Ich dachte, Sie und Gaia hätten das Schlimmste bereits hinter sich.«

Nachdem sie Michael, den früheren Chronos, getötet hatten, waren Professor Lyon und Gaia ins Observatorium zurückgekehrt mit einem wohlüberlegten und klaren Plan, es zu befreien und zu reformieren – ein Plan, den sie sich jahrhundertelang im Geheimen ausgedacht hatten. Die Wachen, die Michael gegenüber loyal waren, wurden zusammengetrieben und in Stasiskammern im Observatorium festgesetzt. Aufgeweckt aus einem verlängerten Schlaf wurden sie dann über die folgenden Monate verhört, während Lyon und Gaia sie durch ein eigenes Sicherheitsteam ersetzten – eine Sammlung aus Jahreszeiten und Administratoren, die sie beobachtet und mit denen sie insgeheim seit Jahren Beziehungen gepflegt hatten.

Ohne das alte Regime konnten Lyon und Gaia die alte Ordnung niederreißen. Neue Regeln wurden festgelegt, die Gewalt zwischen Jahreszeiten verdammten und Kooperationen zwischen den zuvor getrennten Flügeln belohnten. Die eingeschränkt zugänglichen Abteilungen der Observatoriumsbibliothek wurden freigegeben und Jahreszeiten ermutigt, die Lücken in ihrem Wissen über unsere Geschichte zu schließen, die Wahrheit über unsere Magie zu erfahren – die Wahrheit, die Fleur und ich entdeckt und der Welt offenbart hatten: dass wir in Paaren außerhalb des komplexen Systems der Ley-Linien überleben können, an die Michael uns gebunden hatte.

Ideenschmieden und Aktionskomitees wurden gebildet, sie bestanden vollständig aus Freiwilligen, verschafften Jahreszeiten und Administratoren eine Stimme und ebneten nach und nach den Weg zum Frieden. Da das Rängesystem jetzt bedeutungslos war, wurden die Grenzen zwischen den Flügeln nach und nach geöffnet, Jahreszeiten bekamen die Möglichkeit, zusammen zu trainieren, zu essen und sich miteinander zu vermischen. Laut Lyon gab es ein paar Auseinandersetzungen, aber größtenteils lief der Übergang glatt. Und Jahreszeiten, die aus dem Observatorium hinauswollten, wie Fleur und ich, wurde das Recht eingeräumt, zu gehen. Nach einer Zeit der Beobachtung wurden sie in Paaren entlassen und bekamen eingeschränkte Bewegungsfreiheit, um das Gleichgewicht der Umwelt zu wahren und ihre Sicherheit zu garantieren.

Als Lyon und ich letzte Woche miteinander sprachen, schien alles gut; Lyons und Gaias Plan hatte relativ friedlich Gestalt angenommen. Nachdem alle Herausforderungen des initialen Übergangs hinter ihnen liegen, scheint es merkwürdig, dass er jetzt so ausgelaugt wirkt.

»Gaia und ich haben die letzten Mitglieder der alten Wache erweckt.«

»War an der Zeit«, sage ich bitter. Eine Bedrohung weniger, über die ich mir Gedanken machen muss. Michaels altes Regiment – eine Gruppe aus persönlichen Elitewachen, denen die Macht jeder Jahreszeit geschenkt worden war – hatte uns nur Kilometer von hier entfernt gejagt und angegriffen, und die Wachen, die am längsten in der Stasis belassen worden waren, hatten die größte Bedrohung für Fleur und mich dargestellt. Ich glaube nicht, dass ich jemals den Ausdruck in Kai Sampsons zusammengekniffenem Auge, kurz bevor sie die Pfeile in mich jagte, vergessen kann. Oder Doug Lausks’ Zähne, während er über den gefrorenen See rannte, um mich zu töten. Ich bin mehr als bereit dafür, dass Lyon ihre Bestrafungen verhängt. »Was wird mit ihnen passieren?«, frage ich und erinnere mich an die Biene, die Lyon unter seiner Schuhsohle zerquetscht hat an dem Tag, an dem er uns half, aus dem Observatorium zu entkommen – eine Biene, die früher einmal eine Jahreszeit war … oder zumindest die Seele von einer. Nach dem, was Doug und die anderen Wachen uns angetan hatten, fällt es mir schwer, Mitleid für sie aufzubringen.

Lyon seufzt, als wäre er nicht ganz sicher. »Ihnen wird ihre Magie entzogen. Wie den anderen haben wir ihnen die Wahl gegeben, weiter hier zu leben, Dienstpositionen am Observatorium anzunehmen.«

Ich ziehe eine Augenbraue hoch. Lyon hebt ebenfalls seine, billigt meine Überraschung. »Die meisten sind dankbar für diese Möglichkeit, eingedenk der Alternative.«

»Sogar Doug?«

Ein Schatten durchzieht Lyons Blick. »Ich bin nicht sicher, ob er davon überzeugt werden kann, seine Magie friedlich aufzugeben.«

»Können Sie nicht einfach in Ihrem magischen Stab nachsehen?« Der Stab der Zeit verfügt über eine irrsinnige Menge an Macht: die Macht, Unsterblichkeit zu gewähren, die Uhr anzuhalten und Blicke in die Zukunft zu enthüllen.

»Das würde ich lieber nicht tun.«

»Warum nicht? Sieht so aus, als könnte es helfen, eine Antwort auf dein Problem zu finden.«

»Kann es das?« Er neigt den Kopf. »Korrigiere mich, wenn ich falschliege, aber ich glaube nicht, dass ich der Einzige bin, der die Konsequenzen meiner eigenen Macht fürchtet. Vielleicht sind wir gut beraten, du und ich, die Risiken in solchen Entscheidungen zu erkennen.«

Ich stochere in einem Riss in der Oberfläche des Schreibtischs herum und es fällt mir schwer, die sich windende dunkle Wolke in der Glaskugel auf seinem Schreibtisch anzusehen.

»Wie auch immer«, fährt er fort, »ich hatte gehofft, den Stab nicht auf die Art und Weise meines Vorgängers zu verwenden. Allerdings fürchte ich, Doug lässt mir vielleicht keine Wahl. Nur die Zeit wird das zeigen, schätze ich.« Er schüttelt den Kopf. »Aber genug davon. Wie geht es dir und Fleur?«

»Uns geht es gut.«

Er lehnt sich in seinem Stuhl zurück, mustert mich über zusammengelegten Fingerspitzen und sein altes Büro wird hinter ihm scharf, das Poster von Cuernavaca, am gleichen Platz, seit ich ihn kenne. Das unvermittelte Gefühl des Heimwehs überrascht mich. Ich vermisse das Observatorium kein bisschen, aber Lyons Büro fühlt sich an wie eine Ley-Linie für meine Seele. All diese Jahre war es der eine Ort, an dem ich nicht sagen musste, was ich dachte, oder mein Herz ausschütten, weil Lyon immer irgendwie bereits wusste, was sich darin tat.

»Wie schläft sie?«, fragt er ernst.

»Okay. Besser.« Das ist eine Lüge. Fleur wacht die meisten Nächte immer noch in kalten Schweiß gebadet auf, schreiend. Manchmal tritt sie um sich und ruft Dougs Namen, oder Denvers, oder Noelles, als würde sie im Schlaf immer noch mit ihnen ringen. Wir bekämpfen alle unsere eigenen Dämonen. Es bringt nichts, dass Lyon sich darüber Gedanken macht. »Sie wird ein wenig kribbelig. Sie möchte eine Reise planen.«

»Ich verstehe. Es ist lange her, seit ihr eure Freunde besucht habt. Gaia und ich können gerne Maßnahmen ergreifen, damit ihr beide zu ihnen nach Kalifornien fahren könnt.«

»Tatsächlich möchte sie zu unserem Jahrestag verreisen. Sie wissen schon … vielleicht etwas Sightseeing. Nur wir zwei.« Bei diesem letzten Teil geht es mehr um mich als um Fleur. Fleur wäre vermutlich begeistert, Julio und Amber mitzunehmen auf eine Tour durch das Mittelmeer oder um Poppy und Chill in Alaska zu besuchen. Aber seit dem Kampf fällt es mir schwer, in ihrer Nähe zu sein. Ich bin keine Jahreszeit mehr. Als Julio und Amber das letzte Mal zu Besuch hier waren, hatte ich das Gefühl, ich wäre draußen und sähe zu ihnen allen hinein, meine Hände an die Fensterscheibe gedrückt. Obwohl ich direkt neben Fleur saß, hatte ich mich nie so weit entfernt gefühlt.

Lyon kratzt sich die Wange. »Bist du sicher, dass das klug ist, Jack?«

»Es wäre nur eine Woche. Das Wetter ist warm genug. Fleur wird nichts passieren.«

»Ich habe Bedenken …«

»Bedenken weshalb?«

»Es hat nichts mit dir zu tun«, versichert er mir. »Ich weiß, dass du und Fleur alles in eurer Macht Stehende tut, um aufeinander aufzupassen. Aber das Timing … Es gibt immer noch ein paar abtrünnige Jahreszeiten, die wir noch nicht aufspüren konnten, und die Nachricht über diese letzte Dekonstruktion wird ein paar Leute wütend machen. Mir wäre wohler, wenn ich euch einen Sicherheitstrupp schicken könnte, aber ich kann niemanden erübrigen …«

»Macht nichts. Sie haben recht.« Ich reibe mir das Hochglanzbild von Fleurs Magazin aus den Augen. »Es ist vermutlich eine miese Idee.«

»Nein, ist es nicht.« Er seufzt, reibt sich mit einer Hand über den Bartschatten. »Du und Fleur habt das verdient. Ich spreche mit Gaia. Vielleicht fällt uns etwas ein. Lass uns das nächste Woche bei unserem Call noch einmal besprechen.«

Ich nicke knapp, kann das Gefühl nicht abschütteln, dass er mir etwas verschweigt. »Sind Sie sicher, dass es Ihnen gut geht, Professor?«

»Bin nur müde.« Er zwingt sich zu einem Lächeln. »Mir geht es gut.«

»Unterrichten Sie noch?«, dränge ich.

»Sehr zu Gaias Entsetzen. Sie hat Angst, dass ich zu viel mache. Vielleicht zu viel sein will.«

»Vielleicht hat sie ja recht.« Mein Blick huscht zu der durchsichtigen Kugel in der Ecke des Bildschirms. Sie ruht an ihrem üblichen Ort auf einem Messingständer auf Lyons Schreibtisch. Der Schatten in dieser Kugel ist meiner, der schattengleiche Nebel beherbergt meine frühere Magie, Lyon zur sicheren Aufbewahrung anvertraut, als ich entschieden habe, mein Leben für unsere Sache zu geben. Lyons Magie war auch einmal in einer solchen Kugel gefangen – Magie, die er bereitwillig hergegeben hatte, um näher bei Gaia zu sein, und dann wieder aufgegeben, um sich einer sehr viel schwereren Aufgabe zu stellen.

Ich wende mich vom Bildschirm ab, bevor mich meine Sehnsucht verrät.

»Ich habe dir einen Eid geschworen, Jack. Ich verwahre sie sicher.« Lyon legt eine Hand auf die Wölbung des Glases. »Ich stehe tief bei dir in der Schuld. Wenn du dir deine Magie je wieder zurückwünschst, musst du es nur sagen.«

Der graue Schatten peitscht im Glas herum, begierig, hinauszugelangen. Aber meine Magie zurückzufordern würde einen Preis fordern.

Meine Magie ist nicht mehr dieselbe. Gaia hat gespürt, dass etwas damit nicht stimmte, sie ist wütend und dunkel. Sie spekulierte, dass die gepeinigten Teile meiner Seele – all meine schlimmsten Ängste und Ressentiments, die schmerzhaftesten meiner tiefsten und schrecklichsten Erinnerungen – mit hinausgelangt sind aus mir, als hätte sie gewusst, dass ich nur so überleben würde, was ich durchmachen musste. Aber ich habe mich immer gefragt, ob da noch mehr war. Ob die Dunkelheit in diesem Schatten womöglich nicht von etwas rührt, das ich durchgemacht habe, sondern von etwas, das ich getan habe. Und die Tatsache, dass ich mich immer noch danach sehne, beunruhigt mich mehr als alles andere daran.

»Es gibt eine Möglichkeit, Frieden zu schließen, Jack. Dich deinen Dämonen zu stellen, ist vielleicht der erste Schritt dazu, dir selbst zu vergeben. Gaia und ich haben gesagt, es würde schmerzhaft werden. Wir haben nie gesagt, es wäre unmöglich.«

Ich schiebe diesen Gedanken in einen tiefen Winkel meines Gehirns.

»Es ist okay, manchmal die Welt anzuhalten, dir die Zeit zu nehmen, die du brauchst, um zu heilen und nachzudenken, wenn man ein Trauma erlitten hat, so wie du und Fleur. Aber es ist nicht zu spät, Jack. Du kannst immer einen anderen Weg wählen. Gaia und ich wären für dich da, wenn du beschließt, es zu versuchen«, sagt er behutsam. »Wir lassen dich nicht allein.«

Ich beiße mir auf die Zunge. Ich habe auch einen Eid geleistet, Fleur zu schützen. Ihre Entscheidungen zu ehren. Und das werde ich ihr nicht vorhalten, um meinen Stolz zu retten. »Mir geht es gut.«

»Na gut«, sagt er. »Ich habe euch die vierteljährlichen Lebenskostenzuschüsse auf eure Konten überwiesen. Und ich habe permanente Visa für dich und Fleur besorgt, damit ihr so lange ihr wollt in Mexiko bleiben könnt. Sie werden noch diese Woche per Kurier ankommen, zusammen mit neuen Pässen für den Fall, dass ihr eure Meinung ändert, was die Rückkehr ins Observatorium betrifft …«

»Oder wenn Fleur und ich unsere Reise planen«, erinnere ich ihn.

Sein Mundwinkel zuckt nach oben und er fährt fort. »Eure neuen Papiere halten einer Routineflughafenkontrolle stand, aber ich empfehle euch beiden, jegliche rechtliche Verwicklungen zu umgehen, um eine Untersuchung eurer Identität zu vermeiden. Achtet auf die Geschwindigkeitsbegrenzungen, wenn ihr Auto fahrt, und geratet nicht in Rangeleien, bei der die Polizei mit ins Spiel kommt.« Seine klaren Augen glitzern wie der Kristall im Auge seines Stabs, reflektieren all meine vergangenen Entscheidungen und jede Möglichkeit in meiner Zukunft. Ich grinse unwillkürlich. Lyon ist das, was einer Vaterfigur für mich am nächsten kommt seit mehr als dreißig Jahren, und obwohl wir nicht immer einer Meinung sind, beruhigt es mich zu wissen, dass er auf mich aufpasst.

»Ich benehme mich.«

»Ich verlass mich nicht drauf«, sagt er trocken. »Wenn du mit Amber, Julio und den anderen redest, richte ihnen meine Grüße aus.«

»Mach ich.«

»Und Jack«, sagt er, seine Stimme mit Melancholie gefärbt, »ich weiß, dass du und Fleur nicht den Wunsch habt, hierher zurückzukehren. Nach allem, was ihr beide durchgemacht habt, habe ich wohl kein Recht, etwas anderes zu erwarten. Aber ihr werdet beide immer ein Zuhause hier haben. Zweifelt nie daran.«

Wenn ich jetzt die Augen schließen würde, könnte ich sein Büro riechen – den schweren Duft nach Kaffee und alternden Büchern, das trockene Kratzen seiner Kreide hinten in meiner Kehle. Ich nicke, schlucke die kleine, nagende Sehnsucht herunter, zurückzukehren. Meinen Schatten zu sehen. Ihn zu sehen.

»Bis zum nächsten Mal, Jack.«

»Bis dann, Professor.« Ich halte mein Lächeln fest, bis sein Bild flackernd erlischt.

3 Die Hornhaut auf seiner Seele

Doug

Ich schaffe keine zehn Schritte aus Lyons Büro, da umstellen mich vier seiner neuen Wachen. Ich beiße die Zähne zusammen und sie führen mich den hell erleuchteten Gang hinab. Einer drückt sich ein Telefon ans Ohr, bejaht zwischen ausgedehnten Pausen. Mit einem abrupten Kopfnicken deutet er einen Richtungswechsel an, lenkt uns weg von der Galerie, die uns wieder zum Aufzug im Kreuz bringen sollte. Zurück zu meinem Zimmer.

»Wohin gehen wir?«, frage ich angespannt. Der Wächter schiebt sein Handy zurück in die Tasche. Je schneller ich in mein Zimmer komme, desto schneller kann ich meine Flucht planen.

Der Wächter hält die Tür zu einem Treppenhaus auf, das ich kenne. Erdige, abgestandene Feuchtigkeit steigt aus den Gängen weiter unten auf. Meine Füße bewegen sich langsamer und ich werde von hinten angestupst.

»Du wirst verlegt.«

»Wohin?«

»In eine Zelle.« Das Team führt mich eine Treppe hinab. Die Temperatur fällt ab, ein Frösteln krallt sich in mein Rückgrat. Die Arrestzellen befinden sich in den Katakomben. Unmöglich, aus ihnen auszubrechen.

Das versetzt der ganzen Sache einen verfluchten Dämpfer.

Die weißen Wände und hellen Oberlichter weichen runden Stufen, aus Stein gehauen und von Fackeln beleuchtet. Das Team treibt mich durch die verschlungenen Tunnel unter der Schule zu einem Gang mit Zellentüren aus schweren Eisengittern. Eine Krähe – einer von Gaias Spionen – krächzt und schüttelt die Federn aus, als wir an der Stelle vorbeikommen, an der sie hockt. Man führt mich in eine Zelle, dann schnappen die Schlösser hinter mir zu.

Ich drehe mich um bei dem Geräusch, die Steinmauern schließen sich um mich herum, aber die Wachen sind weg, ihre Schritte verhallen unter dem Summen der Generatoren und dem Kratzen der Krähenkrallen auf ihrer Sitzstange.

Ich laufe in meiner Zelle im Kreis. Ich hatte mir nicht die Zeit genommen, um mir die Haare schneiden zu lassen in den Wochen, in denen ich Jack gejagt habe, und eine störrische Haarsträhne fällt mir immer wieder in die Augen, egal wie oft ich sie zurückschiebe. Für eine Schere und einen Rasierer würde ich einen Mord begehen. Aber Lyon hat mir nichts mitgegeben. Zweifellos traut er mir nicht zu, die Woche ohne Zwischenfall auszusitzen. Und aus gutem Grund. Ich würde den ganzen Laden hier niederbrennen, bevor ich freiwillig meine Magie abgebe und den Rest meines sterblichen Lebens hier diene.

Ich rüttle an den Stäben der Tür, nur um etwas von dem aufgestauten Frust loszuwerden. Die verdammten Dinger werden sich nicht rühren. Diese Zellen wurden erbaut, um Jahreszeiten festzusetzen. Die Wände sind aus Stein. Die Armaturen und Sanitäranlagen sind alle mit Durchflussreglern ausgestattet, die die Wasserversorgung kontrollieren. Nicht ein Teil in dieser Zelle ist entflammbar und keine Wurzeln können sich durch die dicken Felsplatten graben. Das weiß ich, denn ich war für kurze Zeit als neuer Rekrut damit betraut, diese Zellen zu bewachen. Damals waren sie dunkler, kälter und sehr viel ekliger als jetzt. Was nur zeigt, dass Lyon weich ist – zu schwach, um das Sagen zu haben.

Ein kleines Stück weiße Seife ist der einzige helle Fleck im Raum. Ich knöpfe das Oberteil meines Overalls auf und lasse es um meine Taille herabfallen, wasche mir den Stasisgestank und den Geruch von Lyons Büro vom Leib, so gut es geht mit dem Wasserrinnsal vom Waschbecken. Ich wirke ausgezehrt, sehe älter aus in der Spiegelung in der Stahloberfläche, und während ich mir Wasser ins Gesicht spritze, wünschte ich, ich könnte alles wegschrubben, was passiert ist, seit ich zuletzt hier war.

Der Wasserhahn schaltet sich unvermittelt ab und meine verbrauchte Wasserration wirbelt in den Ausguss. Ich hebe den Kopf, auf meiner nassen Haut bildet sich in der feuchten Kälte eine Gänsehaut. Die Hitze der Fackeln am anderen Ende des Gangs reicht nicht bis zu meiner Zelle, aber das brauche ich auch nicht. Die Kälte beruhigt meine Nerven. Sie weckt Erinnerungen an lange Tage, verbracht mit Denver und Noelle, und spricht zu meiner ältesten, mir vertrautesten Magie – bevor wir Wachen wurden, damals, als wir noch Winter waren.

Ich lasse den Overall, wie er ist, halb ausgezogen, lasse meine nassen Haarspitzen auf meine Schultern tropfen, lasse die Wintermagie sich regen nach ihrem langen Winterschlaf. Eis knackt und knirscht leise, überzieht meine Ohrmuscheln wie das Knistern eines Feuers in einem schwach erleuchteten Raum. Ich nehme einen tiefen Atemzug, ziehe die Kälte zusammen, bis sie voll in mir erwacht. Mein Atem wird weiß und Eis überzieht meine Hände wie Spitzenschleier. Die Anstrengung bringt mir Übelkeit ein und macht mich schwindlig.

Ich sinke auf das untere Stockbett und reibe mir den schmelzenden Frost von den Fingerspitzen. Eine Vision von Fleur kommt mir ungebeten in den Sinn, wie ein rauchendes Autowrack in meinem Rückspiegel, das ich lieber vergessen würde. Ich beneide sie dafür, wie die Erde sich für sie auftat, für sie bebte. Im Moment würde ich für den Bruchteil einer solchen Macht töten. Mit dieser Art Magie könnte ich diesen ganzen Laden bezwingen.

Metall kreischt über Metall und eine Klappe öffnet sich in der Zellentür. Ein Tablett erscheint, darauf eine kleine Wasserflasche und ein Pappbecher voll Vitamine.

Ich stelle das Tablett auf den Boden und starre böse die Wache auf der anderen Seite an, die die Klappe wieder zuschiebt. So viel zum Essen. Trotz der Stasisübelkeit knurrt mein Magen, aber ich weiß, dass es kein Essen gibt. Es wird noch ein paar Tage dauern, bis mein Körper wieder mehr als fade Flüssigkeiten und Nahrungsergänzung verträgt, und bis dahin wird Lyon seine Ausmerzung beendet haben.

Auf meiner Zunge lösen sich die Tabletten zu einer kreideähnlichen Paste auf, aber ich schlucke die Medizin trotzdem, entschlossen, bei Kräften zu bleiben. Dann rutsche ich an der kalten Steinwand herab und drücke mir die Wasserflasche an die Schläfe.

Mir bleibt eine Woche, um einen Weg hier herauszufinden.

Und dann … dann mache ich Jagd auf Jack.

Leise Stimmen schweben von den anderen Zellen herüber. Ich erkenne ein paar, doch das schrille Kreischen der Krähe bringt die Unterhaltungen schnell wieder zum Schweigen. Ich öffne die Augen, schüttle den schweren Mantel des Schlafs ab, der mich einhüllen will, als das Echo von Schritten lauter wird in den Tunneln. Wachen – ein ganzes Team, mindestens. Die Schlösser an meiner Zellentür klacken und ich spanne mich an, als sie aufschwingt, frage mich, ob der alte Mann zur Vernunft gekommen ist und seine Meinung darüber geändert hat, mir eine Woche zum Nachdenken zu lassen.

Ich wappne mich für einen Kampf, den ich nicht gewinnen kann. Falls die Wachen mich für die Terminierung hochschleifen wollen, kann ich den letzten Rest meiner Energie genauso gut darauf verwenden, ihnen einen Grund zu liefern, mich gleich hier und jetzt zu töten. Ich stehe auf, trete von der Tür zurück, da stolpert eine Gestalt über die Schwelle. Kai Sampson schwankt auf schwachen Beinen zum Hochbett, die Riegel schließen sich hinter ihr wieder mit einem Klacken. Sie blinzelt mich an, ihre dunklen Augen groß über hervortretenden Wangenknochen, die scharfen Züge ihres Gesichts in kränkliche Blässe eingemeißelt.

»Was machst du hier?«, frage ich.

Sie mustert mich mit ebenso misstrauischer Miene, die Arme um sich geschlungen, um den Stasistremor zu verbergen. »Ihnen sind die Zellen ausgegangen. Ich schätze, wir belegen jetzt doppelt«, krächzt sie, ihre Stimme noch rau, weil sie so lange nicht benutzt wurde. Sie weicht an den Rand der Matratze zurück und das feuerfeste Plastik knarrt, als sie sich setzt.

»Wenn du das glaubst, bist du eine größere Närrin, als ich dachte.« Es dringen nicht viele Stimmen aus den anderen Zellen. Nicht annähernd genug, um sie zu füllen.