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Wer kennt das geliebte Gartenhaus von Friedrich Schiller in Jena? Wer ist auf einen Tipp von Frank Schätzing in Köln gespannt? Oder weiß, dass Deutschlands erste Ärztin aus Quedlinburg kommt? Dieser Band nimmt Sie mit zu den Orten, an denen Dichter und Denkerinnen, große Frauen und kluge Männer gelebt und gewirkt haben. Die literarischen Reisen reichen von den Metropolen Berlin, Hamburg und München bis ins kleine Gelnhausen und vom Bodensee bis an die Ostsee.
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Seitenzahl: 223
Britta Mentzel · Silke Martin · Axel Pinck
Berühmte Menschen - unbekannte Orte
57 inspirierende Ziele
Vorwort
DER NORDEN
Große Geister
1Kiel – Carl Friedrich von Weizsäcker
2Lübeck – Willy Brandt
3Travemünde – Thomas Mann
4Greifswald – Hans Fallada
5Hamburg – Esther Bejarano
6Hamburg – Friedrich Gottlieb Klopstock
7Hamburg – Ralph Giordano
8Hamburg – Heinrich Hertz
9Bremen – Adolph von Knigge
10Osnabrück – Erich Maria Remarque
11Hannover – Caroline Herschel
12Braunschweig – Ricarda Huch
13Wolfenbüttel – Wilhelm Busch
14Neuruppin – Eva Strittmatter
15Brandenburg an der Havel – Loriot
16Berlin – Walter Benjamin
17Berlin – Alfred Döblin
18Berlin – Theodor Fontane
19Berlin – Hedwig Dohm
20Berlin – Jutta Limbach
DIE MITTE
Kluge Köpfe
21Quedlinburg – Dorothea Christiane Erxleben
22Harz – Heinrich Heine
23Wittenberg – Katharina von Bora
24Arnstadt – E. Marlitt
25Jena – Friedrich Schiller
26Dresden – Anna Constantia von Cosel
27Bad Muskau – Hermann von Pückler
28Essen – Uta Ranke-Heinemann
29Düsseldorf – Marie Juchacz
30Köln – Frank Schätzing
31Kassel – Brüder Grimm
32Marburg – Hannah Arendt
33Gelnhausen – Hans J. C. von Grimmelshausen
34Frankfurt am Main – Anne Frank
35Frankfurt am Main – Theodor W. Adorno
36Darmstadt – Georg Büchner
37Oestrich-Winkel – Bettina von Arnim
38Rheinhessen – Hildegard von Bingen
39Saarbrücken – Klara Marie Faßbinder
DER SÜDEN
Edle Federn
40Heidelberg – Joseph von Eichendorff
41Lauffen am Neckar – Friedrich Hölderlin
42Calw – Hermann Hesse
43Baiersbronn – Wilhelm Hauff
44Meßkirch – Martin Heidegger
45Wasserburg am Bodensee – Martin Walser
46Biberach an der Riß – Christoph Martin Wieland
47Bamberg – E. T. A. Hoffmann
48Würzburg – Walther von der Vogelweide
49Nürnberg – Hans Sachs
50Regensburg – Eva Demski
51Waldkirchen – Emerenz Meier
52Augsburg – Bertolt Brecht
53Ingolstadt – Mary Shelley
54München – Lion Feuchtwanger
55München – Erich Mühsam
56Bad Tölz – Erika und Klaus Mann
57Garmisch-Partenkirchen – Michael Ende
Register
Bildnachweis
Impressum
Ein Streifzug durchs ganze Land auf den Spuren von Menschen, die das Denken und die Kultur bereichert haben: Berlin war die Heimat der Frauenrechtlerin Hedwig Dohm; unter dem Gewölbe der Wendalinusbasilika in St. Wendel fand Klara Marie Faßbinder Inspiration; Heinrich Heine durchwanderte den Harz; manche Straßenzüge in Lübeck sind seit Willy Brandts Jugend unverändert; ein Darsteller in Biberach liest Christoph Martin Wieland.
Seit dem 1. Januar 1888 eine Institution in Münchens Künstlerkreisen: das Café Luitpold
Deutschland gilt als Land der Dichter und Denker, etwas weniger auch als Ort für Dichterinnen und Denkerinnen. Doch kann man ihnen heute noch an ihren Lebens- und Wirkungsstätten begegnen? Wir haben uns auf die Suche begeben.
Wie geschaffen, um über Literatur zu sprechen – der Neue Zollhof in Düsseldorfs Medienhafen.
In Oestrich-Winkel am Rhein war Johann Wolfgang von Goethe bei Bettina von Arnim zu Gast.
Dieses Buch ist – wie beinahe jedes Buch – ein kleines Wagnis: Kann es gelingen, in quer über die Landkarte verteilten deutschen Orten bedeutenden Menschen nachzuspüren, selbst wenn sie längst tot sind oder nur eine kurze Zeitspanne dort verbracht haben? Leute, die da gelebt, geliebt und vielleicht gelitten haben; die in diesen Orten zur Welt gekommen oder gestorben sind, die von ihnen inspiriert oder enttäuscht wurden.
Zugleich stellte sich die Frage: Was ist noch vorhanden von den großen Namen, lassen sich wichtige Stationen auf ihrem Lebensweg bis heute festmachen, gibt es Häuser, Wirkungsstätten und tägliche Wege, oder sind sie im Krieg und dem Lauf der Zeit verschwunden und verwischt? Natürlich weiß man von Walther von der Vogelweide und Hildegard von Bingen viel weniger als von Jutta Limbach oder Frank Schätzing – und doch machte es einen nicht kleinen Teil des Reizes auf den Recherchereisen aus, sich am jeweiligen Ort in eine ferne Zeit zu versetzen.
Interessant ist der Aspekt, wie die verschiedenen Städte mit dem Erbe ihrer Dichter und Denkerinnen umgehen. Manche geben sich ungeheure Mühe, Bamberg etwa, dessen E.T.A. Hoffmann-Gesellschaft jeden Zentimeter Lebensweg ihres unglücklichen Helden nachvollziehbar erklärt. Und dabei sich selbst nicht schont, betrachtete Hoffmann die Zeit in der fränkischen Provinz doch als seine »Lehr- und Marterjahre«.
Das Anne Frank Zentrum zeigt die jüdische Lebenswelt an den Beispielen Frankfurter Familien.
Feststellbar ist – je länger ein Autor, eine Autorin tot sind, desto fortgeschrittener ist die Verklärung. Calw zum Beispiel tat sich mit dem berühmtesten Sohn der Stadt, Hermann Hesse, zeit seines Lebens schwer. Noch vor rund 40 Jahren wollte man sein Geburtshaus lieber nicht erwerben. Heute wäre die Entscheidung im Ort, der sich selbst »Hermann-Hesse-Stadt« nennt und den die meisten Gäste aus Amerika und Fernost nur wegen des Nobelpreisträgers besuchen, sicher anders ausgefallen.
Allgemein ließ sich beobachten, dass die Spuren der Autorinnen und Autoren in den kleineren Städten meist sorgsamer bewahrt werden, da gibt es eigens ausgeschilderte Rundwege oder erklärende Tafeln – selbst wenn wohl kaum mit Besucherströmen zu rechnen ist. Berlin, Hamburg und München dagegen haben ihre großen Geister scheinbar in den mächtigen Strudel gezogen – der heute wieder die Kreativen inspiriert; auch das ein schöner Gedanke.
Die These, dass die Ehrung von lebenden Schriftstellern selbst bei bester Absicht schwierig werden kann, belegt das Martin-Walser-Denkmal in Überlingen. Es zeigt den Autor mit Schlittschuhen auf dem Rücken einer Mähre. Da ist es besser, im literarischen Denkmal zu schmökern, das Walser selbst dem Bodensee gesetzt hat. Wie natürlich generell die Zeugnisse der Autorinnen und Autoren zu ihren Lebens-, Liebes- und Leidensorten die unbestechlichsten und besten Quellen sind. Am Schluss die für dieses Buch dann wichtigste Frage: Wer lässt sich mitnehmen und begeistern, die mal sichtbareren, mal verborgenen Pfade nachzugehen? Wer möchte seinem Lieblingsdenker, seiner bevorzugten Autorin vor Ort begegnen? Wir, Axel Pinck im Norden, Silke Martin in der Mitte Deutschlands und Britta Mentzel für den Süden, nehmen Sie mit auf die Reise!
Britta Mentzel
Zwischen Ostsee und Elbe fanden viele kreative Köpfe Inspiration
In Greifswald kam Rudolf Ditzen zur Welt, der sich als Schriftsteller Hans Fallada nannte.
1. Carl Friedrich von Weizsäcker (1912–2007)
Physiker, Philosoph und ein Mahner für den Frieden – in Kiel wurde der älteste Weizsäcker-Bruder geboren.
2. Willy Brandt (1913–1992)
Ein Weltpolitiker, der aus Lübeck stammte. Im Arbeiterviertel St. Lorenz Süd wuchs er auf und entwickelte sein politisches Bewusstsein.
3. Thomas Mann (1875–1955)
Seine glücklichste Zeit habe er als Kind am Strand von Travemünde verbracht, schrieb der Träger des Literaturnobelpreises später.
Im Entree des Willy-Brandt-Hauses Lübeck steht eine kleinere Kopie der Berliner 3,40-Meter-Figur.
4. Hans Fallada (1893–1947)
In Greifswald zur Welt gekommen, schrieb Fallada bis heute gelesene Bestseller wie »Kleiner Mann, was nun?«. Und scheiterte doch am Leben.
5. Esther Bejarano (1924–2021)
Die Vorträge über ihre Zeit im Mädchenorchester von Auschwitz bewegten die Menschen – nicht nur in ihrer Wahlheimat Hamburg.
6. Friedrich Gottlieb Klopstock (1724–1803)
Viel gelesen im 18. Jahrhundert, fand der Literat die große Liebe, Ruhm und seine letzte Ruhe in Hamburg.
7. Ralph Giordano (1923–2014)
In Hamburg-Barmbek geboren und aufgewachsen, hielt es der Autor des Familienromans »Die Bertinis« zeitlebens mit den kleinen Leuten.
8. Heinrich Hertz (1857–1894)
Der geniale Physiker wies die Existenz elektromagnetischer Wellen nach und öffnete eine Tür für die Forschung. Hamburg gedenkt seiner bis heute.
9. Adolph Freiherr von Knigge (1752–1796)
Dem »Benimmpabst« ging es um echten Anstand statt um Höflichkeitsfassade. Sein Grab ist im Dom von Bremen.
10. Erich Maria Remarque (1898–1970)
Der Roman »Im Westen nichts Neues« machte den Weltkriegsteilnehmer aus Osnabrück weltweit bekannt.
Die 1572 gegründete Herzog August Bibliothek in Wolfenbüttel gilt als achtes Weltwunder.
11. Caroline Herschel (1750–1848)
Anfang und Ende ihres fast 100 Jahre währenden Lebens verbrachte die international hoch geachtete Astronomin und Musikerin in Hannover.
12. Ricarda Huch (1864–1947)
Die Schriftstellerin und Historikerin erlebte prägende Jahre, eine innige Freundschaft und das Scheitern ihrer großen Liebe in Braunschweig.
13. Wilhelm Busch (1832–1908)
In Wolfenbüttel, dem Wohnort seines Bruders Gustav, frönte der Dichter und Karikaturist einer echten Leidenschaft: der Malerei.
14. Eva Strittmatter (1930–2011)
Die in viele Sprachen übersetzte Lyrikerin und Frau des DDR-Starautoren lebte seit 1957 in Schulzenhof, nahe ihres Geburtsorts Neuruppin.
15. Loriot (1923–2011)
In Brandenburg an der Havel kam der tiefsinnige Humorist zur Welt, der Deutschland zum Lachen brachte. Seine Geschöpfe sind dort bis heute lebendig.
16. Walter Benjamin (1892–1940)
Berlin ist die Geburtsstadt des vielbegabten Philosophen und Autoren. Dort lässt er sich vom »wichtigsten Ort der Moderne in Europa« inspirieren.
17. Alfred Döblin (1878–1957)
Psychiater, Gerichtsreporter und Autor von »Berlin Alexanderplatz« – Döblin lotete die Metropole Berlin in den wilden 1920er-Jahren aus.
18. Theodor Fontane (1819–1898)
Mehr als 60 Jahre seines Lebens verbrachte der Romancier an wechselnden Orten in Berlin. Seine Grabstätte gibt bis heute Rätsel auf.
19. Hedwig Dohm (1831–1919)
Die Frauen und der Frieden waren zeitlebens die zentralen Themen der frühen Feministin – beidem verschaffte sie weit über Berlin hinaus Wirkung.
20. Jutta Limbach (1934–2016)
Sie war an vielen Stellen die erste Frau im Amt: als Präsidentin des Verfassungsgerichts und des Goethe-Instituts. Ihr letzter Wohnort: Berlin.
Lange hat sich Carl Friedrich von Weizsäcker hier nicht aufgehalten. Doch geboren wurde er in Kiel, zwei Jahre vor dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs. Sein Vater Ernst war damals als Marineoffizier an der Ostsee stationiert. Die Beschäftigung mit Fragen zu Krieg und Frieden sollte von Weizsäckers Leben bestimmen.
Beliebt zum Flanieren und um in den Cafés eine Pause einzulegen: der Alte Markt in Kiel
Kiel hatte sich ab 1865, als die preußische Marine-Station der Ostsee von Danzig hierher verlegt worden war, zu einer Großstadt mit über 200 000 Einwohnern entwickelt. Werften, Rüstungsbetriebe und diverse Marineeinrichtungen prägten das Leben im größten Industriestandort von Schleswig-Holstein. Der Vater Ernst war sieben Jahre bei der Kaiserlichen Marine an der Förde stationiert. In der Marineakademie, wenige Minuten von Carl Friedrichs Elternhaus in der Feldstraße 68 entfernt, ist heute der Schleswig-Holsteinische Landtag untergebracht. Schon im Geburtsjahr seines ersten Sohnes wurde Ernst Weizsäcker ins Kaiserliche Marinekabinett nach Berlin versetzt. Wechselnde Einsatzorte im diplomatischen Dienst ließen Carl Friedrich und seine Geschwister an verschiedenen Orten im In- und Ausland aufwachsen.
In Kopenhagen, wo die inzwischen in den Freiherrenstand beförderten von Weizsäckers seit 1925 wohnten, lernte der Schüler Werner Heisenberg kennen. Der Physiker hospitierte dort beim dänischen Nobelpreisträger Nils Bohr. Möglicherweise hat hier Carl Friedrichs Interesse, sich mit dem Verhältnis von Physik und Philosophie auseinanderzusetzen, seinen Ausgang genommen. Als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Berliner Kaiser-Wilhelm-Institut für Physik erforschte er in den 1930er-Jahren Grundlagen der Kernphysik. Dank seiner bahnbrechenden Arbeit über die Bindungsenergie von Atomkernen gehörte er zur Gruppe deutscher Wissenschaftler, von denen die Naziregierung die Entwicklung einer »Uranbombe« erwartete. Seine zweijährige Mitarbeit am »Uranprojekt« hat Weizsäcker später selbstkritisch als konformistisch bewertet. Die katastrophalen Folgen der US-amerikanischen Atombombenabwürfe 1945 in Japan ließen ihn zum grundlegenden Gegner von Kernwaffen werden. Im Jahre 1957 veröffentlichte er mit gleichgesinnten Wissenschaftlern das vielbeachtete Manifest der »Göttinger Achtzehn«. Ab 1970 bis zu seiner Emeritierung leitete er mit dem Philosophen Jürgen Habermas das neugegründete Max-Planck-Institut in Starnberg.
Bis zu seinem Tod 2007 engagierte sich von Weizsäcker mit großer gesellschaftlicher Resonanz für die ethische Verantwortung der Wissenschaft und für einen entschiedenen Pazifismus, den er auch religiös begründete. Seit 2015 erinnert eine vom Bildhauer Markus Wolf geschaffene Gedenktafel am schlichten Geburtshaus im Kieler Stadtteil Düsternbrook an den Wissenschaftler und Friedensforscher.
Blick von der Seegartenbrücke zum Neubau des Kulturzentrums Kieler Schloss
INFO
BILDER DER VERGANGENHEIT
Für das Stadtviertel Düsternbrook ist einerseits die hohe Villendichte charakteristisch und andererseits das über 20 Hektar große Waldgebiet entlang der Kieler Förde. Durch den zunächst »königliches Gehege«, dann »Gehölz« genannten Bruchwald führte seit dem 19. Jahrhundert eine Kastanienallee zum Kieler Schloss. Um die Wende zum 20. Jahrhundert wohnte Heinrich von Preußen, Großadmiral der Marine, in dem klotzigen Bau. 1944 bis auf die Grundmauern abgebrannt, steht seit den 1960er-Jahren hier der optisch ähnlich anmutende Ostflügel samt einem Anbau, heute ein Kulturzentrum. Dort ist auch die Historische Landeshalle für Schleswig-Holstein untergebracht, in der eine Dauerausstellung über die Geschichte des Landes informiert.
WEITERE INFORMATIONEN
Carl Friedrich von Weizsäcker-Zentrum für Naturwissenschaft und Friedensforschung der Universität Hamburg ZNF, znf.uni-hamburg.de Carl Friedrich von Weizsäcker Gesellschaft, cfvw.org
landeshalle.de
Drei der sieben Türme, für die Lübeck berühmt ist: die Doppelkirche St. Marien, eine der größten Backsteinkirchen Deutschlands, und die Petrikirche
Tausende DDR-Bürger gaben in Erfurt keine Ruhe beim Treffen von Kanzler Willy Brandt mit Willi Stoph, dem Ministerratsvorsitzenden der DDR. Sie skandierten so lange »Willy Brandt«, bis der sich zurückhaltend lächelnd am Hotelfenster zeigte.
Schon entlang der Bahntrasse von der deutsch-deutschen Grenze bis nach Erfurt jubelten DDR-Bürger dem Sonderzug zu. Die erste Begegnung der beiden hochrangigen Politiker im März 1970 sollte ein wichtiger Schritt zum »Wandel durch Annäherung« werden, mit dem Brandt die Konfrontation zwischen Ost und West in der Nachkriegsepoche auflösen wollte.
Die spontane Jubelszene gehörte zu den emotionalen Höhepunkten im Leben des sozialdemokratischen Politikers, der 56 Jahre zuvor in einfachen Verhältnissen als Herbert Ernst Karl Frahm in der Meierstraße 16 im Lübecker Arbeiterviertel St. Lorenz Süd geboren wurde. Seine Mutter Martha Frahm, Verkäuferin in einem Konsumladen, war unverheiratet. Der leibliche Vater, eine flüchtige Affäre, kehrte zwei Wochen nach der Geburt des Sohns in seine Heimatstadt Hamburg zurück. Auch wenn er ab und an etwas Unterhalt zahlte, zeigte er sich an dem Lübecker Sprössling nur wenig interessiert. Seine nichteheliche Geburt empfindet der Junge als Makel. Den Kontakt zu seinem 1958 verstorbenen Vater sucht er nie. Von den Fraktionen der CDU und der CSU wird ihm seine Herkunft sogar noch in den Bundestagswahlkämpfen der 1960er- und 1970er-Jahre vorgeworfen.
Das Lübeck in der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg prägt den Jungen. Doch es sind nicht die wohlhabenden Kreise in der mittelalterlichen Hansestadt mit ihren im Stil der Backsteingotik erbauten Kaufmannshäusern, sondern das proletarische Milieu der Arbeiterbewegung in den Vorstädten. Sein Großvater Ludwig Frahm kehrt verwundet aus dem Ersten Weltkrieg heim und findet bei den Lübecker Drägerwerken eine Anstellung. Den fünfjährigen Sohn seiner Stieftochter Martha nimmt er zu sich. »Papa« nennt er seinen Großvater, der als Lastwagenfahrer bei den Drägerwerken arbeitet und dort in einer Werkswohnung lebt. Er ist ein Fixpunkt in Herberts Leben.
Das aktive SPD-Mitglied Ludwig Frahm kümmert sich um die Bildung des Enkels, sorgt dafür, dass er sogar das Johanneum-Gymnasium beim St.-Johannis-Kloster besucht, und macht ihn gleichzeitig mit der Sozialdemokratie vertraut. Mit sieben Jahren wird Herbert Frahm Mitglied in der Kindergruppe des Arbeiter-Turnvereins, etwas später im Arbeiter-Mandolinenklub und bei den Roten Falken.
Als Heranwachsender tritt er der Sozialistischen Arbeiter-Jugend bei und lauscht den Veranstaltungen in der Stadthalle. Viel Zeit bleibt da nicht, die Lehrer an der Schule zeigen sich besorgt: »Die Politik wird ihn ruinieren«, warnt einer. Derweil schreibt Herbert auch noch für den »Lübecker Volksboten«, eine sozialdemokratische Zeitung in der Hansestadt. Deren Chefredakteur Julius Leber erkennt das politische Talent des umtriebigen Jugendlichen und wird zu seinem Mentor. 1930 tritt Helmut Frahm in die SPD ein und ist doch unzufrieden mit dem »schlappen und zu wenig kämpferischen Kurs«. Schon ein Jahr später schließt er sich der Sozialistischen Arbeiterpartei SAP an, einer linken Abspaltung von der Mutterpartei, auch wenn dies den Verlust eines von Julius Leber in Aussicht gestellten Stipendiums bedeutet.
Als die Nazis am 30. Januar 1933 an die Macht kommen, ist klar, dass er in Deutschland nicht mehr sicher ist. Anfang April geht er nach Norwegen ins Exil und nimmt dort den »Kampfnamen« Willy Brandt an, der ihn zukünftig begleiten wird. Er organisiert Widerstandsgruppen im europäischen Ausland, reist unter norwegischer Identität sogar nach Berlin, berichtet 1937 für norwegische Zeitungen über den Spanischen Bürgerkrieg und ab 1945 über die Nürnberger Kriegsverbrecherprozesse.
Historische Giebelhäuser aus Backstein säumen die Straßen der Hansestadt.
Eine Rede 1946 in Lübeck über »Die Welt und Deutschland« bringt ihm das spontane Angebot, Bürgermeister der Hansestadt zu werden, ein, das er allerdings nicht annimmt. Zwei Jahre später erlangt Willy Brandt die deutsche Staatsangehörigkeit zurück und kann die Mitgliedschaft in der SPD reaktivieren. Nach weiteren neun Jahren wird er zum Regierenden Bürgermeister von (West-)Berlin gewählt, wieder neun Jahre danach in einer großen Koalition mit der CDU/CSU zum Vizekanzler und Außenminister der Bundesrepublik Deutschland.
Ab Oktober 1969 ist Willy Brandt fünf Jahre lang Bundeskanzler. In diese Zeit fallen seine Neue Ostpolitik mit Staatsverträgen, die das Verhältnis zur UdSSR, zu Polen und der DDR entspannen sollen, sowie die Auszeichnung mit dem Friedensnobelpreis. Hinzu kommen Initiativen zu gesellschaftlichen Reformen, aber auch der umstrittene und später von ihm als schwerer Fehler bezeichnete »Radikalenerlass«, der vor allem Linke als Verfassungsfeinde brandmarkt und versucht, sie von der Beschäftigung im Öffentlichen Dienst auszuschließen. Von 1976 bis 1992 engagiert sich Willy Brandt als Präsident der Sozialistischen Internationale. Der Zusammenschluss sozialistischer und sozialdemokratischer Parteien besteht seit 1951.
In seine Geburtsstadt Lübeck ist Willy Brandt immer wieder zurückgekehrt. Stets lässt er hier die letzte Veranstaltung bei Wahlkampfreisen stattfinden. Im März 1992 hält er eine seiner letzten Reden vor der unweit der Salzspeicher und des Holstentors gelegenen Holstentorhalle. 15 Jahre nach seinem Tod im Oktober 1992 in Unkel am Rhein eröffnet das Willy-Brandt-Haus im Zentrum von Lübeck. Es informiert über die Lebensstationen des charismatischen Politikers. Ein Stadtrundgang in der Hansestadt führt zu den Stationen seiner Lübecker Jugendjahre.
Gotische Schildwand und Renaissance-Laube kontrastieren am Rathaus.
INFO
LEBENDIGE ERINNERUNG
Das Willy-Brandt-Haus Lübeck erinnert an den großen Sohn der Stadt, der es vom aufgeweckten Arbeiterjungen bis zum Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland und geachteten Staatsmann brachte. Eine Ausstellung setzt die Geschichte des 20. Jahrhunderts und das Leben und Wirken des jungen Sozialisten, des Nazigegners, des politischen Flüchtlings und des führenden sozialdemokratischen Politikers der Nachkriegszeit in Beziehung. Sonderausstellungen zu aktuellen Themen, Vortragsveranstaltungen, Workshops und Konzerte thematisieren die aktuelle Politik, erinnern an Jahrestage (wie etwa zum Kniefall von Warschau 1970) und laden zu Diskussionen ein. Ein besonderes Programm erläutert Schulklassen und anderen Jugendgruppen die Lebensbedingungen zu Willy Brandts Jugendzeit in Lübeck. Im heutigen Willy-Brandt-Haus, einem Patrizierhaus in der Königstraße 21, traf sich die sogenannte Zirkelgesellschaft, eine Vereinigung von Fernhandelskaufleuten. Später beherbergte es das Stadtarchiv und eine Bücherei, bevor es nach einigen Jahren des Leerstands im Dezember 2007 eröffnet wurde.
WEITERE INFORMATIONEN
Willy-Brandt-Haus Lübeck, willy-brandt.de
Freundeskreis Willy-Brandt-Haus, fkwbh.de
Nachempfundenes Arbeitszimmer des jungen Willy Brandt
Sobald der Sommer kam und die Ferien begannen, reiste die Familie Mann gegen Ende des 19. Jahrhunderts von Lübeck nach Travemünde, um entspannte Wochen im schönen Seebad zu verbringen. In seinem Roman »Buddenbrooks« setzt Thomas Mann dem Sehnsuchtsort seiner Kindheit und Jugend auch literarisch ein Denkmal.
Zur blauen Stunde verströmt die Strandpromenade ein ganz besonderes Fluidum.
Nach Travemünde geht es immer geradeaus, mit der Fähre übers Wasser und dann wieder geradeaus …« So beschreibt Thomas Mann in den »Buddenbrooks« die Anreise in das Ostseebad. Die in Luftlinie etwa 14 Kilometer lange Strecke war für den jungen Thomas erfüllt mit Vorfreude auf eine Zeit der »Wunschlosigkeit« in seinem »Kindheitsparadies«, abseits des Alltags, fern der verhassten Schule. Als die Familie Mann in den 1880er-Jahren ihre Ferien an der Ostsee verbrachte, war das zuvor als unschicklich geltende Baden im Meer längst in Mode gekommen, war aus dem einstigen Fischerdorf ein mondänes Seebad geworden. Herrschaftliche Villen für die internationale Hautevolee ersetzten mehr und mehr die einfachen Katen.
Der Ostseestrand ist, flankiert von Strand- und Travepromenade, seit eh und je der Laufsteg der Sommergäste, hier trifft man sich zum Sehen und Gesehen-Werden. Damals wie heute kehren die Berufsfischer mit ihren Kuttern im Morgengrauen von ihren nächtlichen Fangfahrten in den Hafen zurück. An der Nordermole fahren die großen Fähren auf ihrem Weg gen Norden, den Sog der großen weiten Welt im Kielwasser, ganz nah an den Zurückbleibenden vorbei. Wenn dieser Anblick Fernweh weckt, dann nichts wie hin zum Skandinavienkai im Süden der Stadt, von hier aus geht es nach Finnland, Schweden oder ins Baltikum!
In den Kopfsteinpflastergassen im Schatten der St.-Lorenz-Kirche ist das alte Travemünde noch spürbar, folgt man den Wegen des jungen Thomas vorbei an geduckten Fachwerkhäuschen und dem hoch aufragenden Backsteingiebel der Alten Vogtei, einst Sitz des Lübecker Stadtvogts. Sein Alter Ego im Roman, Hanno Buddenbrook, kann die Tränen bei der Abreise kaum zurückhalten, als die einheimischen Kinder in der »Vorderreihe« am Traveufer barfüßig die Droschke begleiten. Er neidet ihnen das Glück, hier bleiben zu dürfen. Sein letzter Blick fällt auf den Leuchtturm. 1539 erbaut, gilt er als ältester Leuchtturm in ganz Deutschland. Seine acht Etagen erreichen eine Höhe von 31 Metern, das Leuchtfeuer, zu Manns Zeit noch mit Petroleum betrieben, wies bis 1975 den Schiffen den sicheren Weg durch die Bucht. Thomas Mann kehrte 1953 noch einmal nach Travemünde zurück, um die Erinnerung an die glücklichen Zeiten seiner Kindheit an der Seite seiner Frau Katia aufleben zu lassen, seinem »Ferienparadies, wo ich die unzweifelhaft glücklichsten Tage meines Lebens verbracht habe«.
Reizvoller Kontrast am Brodtener Ufer: leuchtend gelber Raps und tiefblaue See
INFO
SPAZIERGANG AM BRODTENER STEILUFER
Am nördlichen Ende der Strandpromenade beginnt das etwa vier Kilometer lange Brodtener Steilufer. Thomas Mann schätzte die wildromantische Landschaft sehr, hier lässt er die junge Tony Buddenbrook von einem selbstbestimmten Leben träumen und ihre erste Liebe erleben. Ort des geheimen Rendezvous ist der Mövenstein, ein großer Granitfindling, welcher der Sage nach vom Riesen Möves ins Wasser geschleudert wurde. Der Stein markiert den Beginn des Brodtener Kliffs. Bis zu 20 Meter ragen die fragilen, sandig-lehmigen Steilwände auf und bieten Seevögeln einen sicheren Rast- und Brutplatz. Oben führt ein Panoramaweg mit toller Sicht auf die Lübecker Bucht an der Uferkante entlang, laden Bänke zum Verweilen mit Fernblick ein. Wer die Gischt hautnah spüren will, nimmt den unwegsameren Strandweg im Schatten des Kliffs.
WEITERE INFORMATIONEN
travemuende.de
travemuende-tourismus.de
brodtener-ufer.de
thomas-mann-gesellschaft.de
Dem Sohn einer gutbürgerlichen Richterfamilie in Greifswald scheint ein Leben in geordneten Bahnen vorbestimmt. Doch es kommt anders: zwei Weltkriege, die Nazizeit, Aufenthalte in Gefängnis und Nervenheilanstalt, rastloses Schreiben großer Romane. Dazu leidenschaftliche Liebe, Alkohol- und Morphiumsucht.
Der unter dem Pseudonym Hans Fallada bekannte Schriftsteller wird im Juli 1893 als Rudolf Ditzen in der vorpommerschen Universitäts- und Hafenstadt Greifswald geboren. Die großbürgerliche Wohnung in der Steinstraße 58 in der sogenannten Fleischervorstadt misst 150 Quadratmeter. Rudolfs Vater, ein Richter, wird 1899 nach Berlin versetzt. Doch die Juristerei ist nicht nach dem Geschmack des jungen Ditzen, das Verhältnis zum Vater ist kompliziert. Von der Literatur fühlt er sich angezogen. Der Dandy aus Oscar Wildes »Bildnis des Dorian Gray« wird ihm zum Leitstern. Schließlich, nach schweren familiären Konflikten, lernt er mit dem Schloss Harth in Bad Berka, in das ihn seine Eltern 1911 schicken, das erste von vielen Sanatorien zur Behandlung von Nervenkrankheiten kennen.
Die Heilanstalt für Nerven- und Gemütskranke im thüringischen Tannenfeld folgt schon im nächsten Jahr, nachdem bei einem als Duell getarnten Doppelselbstmordversuch sein Freund Dietrich von Necker stirbt, Rudolf aber verletzt überlebt. Alkohol- und Morphinsucht bringen ihn bis 1921 in weitere Sanatorien, auch im Greifswald benachbarten Stralsund. Zwischen seinen Klinikaufenthalten versucht er sich in verschiedenen Berufen. Bei kleineren Unterschlagungen zur Finanzierung seines Drogenkonsums wird er erwischt und muss 1924 fünf Monate im Gerichtsgefängnis von Greifwald hinter Gittern verbringen. Als Häftling fährt er Holz aus und macht einen Abstecher über die Karlstraße 18, die er für seine Geburtsadresse hält. Mit »seltsamen Gefühlen« bittet er einen Mieter um Tabak und Streichhölzer.
Später landet er für zweieinhalb Jahre im Zentralgefängnis von Neumünster. Seine Knasterfahrungen verarbeitet er in dem sozialkritischen Roman »Wer einmal aus dem Blechnapf frißt« über einen entlassenen Häftling, der vergeblich versucht, wieder ein normales Leben zu führen. Schon mit ersten Veröffentlichungen hat er sich das Pseudonym Hans Fallada zugelegt, angelehnt an zwei Figuren aus Grimmschen Märchen. Nach seiner Haftentlassung in Neumünster lernt er in Hamburg Anna Issel kennen und lieben. 1929 heiraten sie in Hamburg. In schneller Folge kommen vier Kinder zur Welt. Sein packender Roman »Bauern, Bonzen und Bomben« über die Zwangspfändungen bei in Not geratenen Bauern und über die Landvolkbewegung wird im Jahr 1931 zum Bestseller.
Der Roman »Kleiner Mann, was nun?« im Jahr darauf über einen kleinen Angestellten, der in der Weltwirtschaftskrise in Arbeitslosigkeit und Armut versinkt, bringt hohe Auflagen, weltweiten Ruhm und reichen Geldsegen. Fallada kann sich und seiner Familie 1933 ein Gut im mecklenburgischen Carwitz kaufen. Er scheint seinen Platz in der bürgerlichen Gesellschaft zu finden. Die Schilderung der ungeschönten Realität und sein schnörkelloser dokumentarischer Stil wie bei seinem dort geschriebenen Erfolgsroman »Wer einmal aus dem Blechnapf frißt« packen die Leser. Doch mit der Naziherrschaft beginnt ein neuerlicher Balanceakt. Goebbels betrachtet seine Arbeit mit Wohlwollen, als Abrechnung mit der »Systemzeit«, andere Nazis um den Chefideologen Alfred Rosenberg lehnen Fallada kategorisch ab. Auch wenn er zwischendurch banale Unterhaltungstexte verfasst oder zeitkritische Milieustudien wie »Der eiserne Gustav« nach Zensur aus dem Propagandaministerium anpasst, gehört die Zeit zwischen 1933 und 1945 zu seinen produktivsten Schaffensperioden. Als Erfolgsautor liefert er zwanzig Romane und kassiert hohe Tantiemen. Doch die literarische Karriere hat ihren Preis. Immer wieder muss er Sanatorien aufsuchen, um seine Nerven zu beruhigen und den Körper zu entgiften. Im Jahr 1943 erklärt er sich bereit, auf Einladung des Reichsarbeitsdiensts als »Sonderführer« Projekte in Frankreich und dem Sudetengau zu besuchen. Das geplante Reisetagebuch kommt nicht zustande, doch in privaten Briefen an seinen Sohn Uli verfällt er in einen Propagandajargon, der eigentlich nicht zu ihm passt.
Der gotische St.-Nikolai-Dom überragt mit seinem barocken Turm die Häuser von Greifswald.
In Mecklenburg keine Seltenheit: eine idyllische Lindenallee bei Greifswald
Die Schreibmaschine von Fallada in seinem langjährigen Wohnort in Carwitz
Ein Jahr später wird die schon länger kriselnde Ehe mit seiner Frau Anna geschieden. In einem Streit mit ihr fällt ein Schuss, er wird des Mordversuchs angeklagt und landet erneut in einer Heilanstalt für Suchtkranke. Dort lernt er 1944 die fast 30 Jahre jüngere morphinsüchtige Patientin Ursula Losch kennen. Im Frühjahr 1945 heiraten sie, übersiedeln nach Berlin und landen doch im Jahr darauf erneut in einer Entzugsklinik. Fallada war nun ebenfalls wieder vom Morphium abhängig. Entlassung, Selbstmordversuch und gleich darauf Einweisung in die Berliner Charité. Hier verfasst er, wie im Rausch, in nur vier Wochen den Roman »Jeder stirbt für sich allein«. Im Dezember 1946 schreibt er in einem Brief: »… irgendetwas in mir ist nie ganz fertig geworden, irgendetwas fehlt mir, so dass ich kein richtiger Mann bin, nur ein alt gewordener Gymnasiast, wie Erich Kästner mal von mir gesagt hat.« Kurz darauf, im Februar 1947, hört sein strapaziertes Herz auf zu schlagen.