SEELENHANDEL - Kealan Patrick Burke - E-Book

SEELENHANDEL E-Book

Kealan Patrick Burke

0,0

Beschreibung

"Bram Stoker Award-Gewinner Burke spinnt eine seltsame, beängstigende Geschichte von Verzweiflung und Erlösung mit einer geschickten Ironie." [Rocky Mountain News] "Burkes scharfkantige Prosa enthält genug unvergessliche Charakterisierungen und haufenweise makabren Witz, um ihn als eines der klügsten und originellsten Talente des zeitgenössischen Horrors anzuerkennen." [Booklist] "Seelenhandel ist ein spannender Roman, der mit gut gezeichneten Charakteren und einer wohl dosierten Portion Mystery-Horror zu überzeugen weiß. [Lesermeinung] Inhalt: Willkommen in Eddies Taverne, dem einzigen funktionieren Wasserloch in der Nähe einer toten Stadt. Und dies sind die Menschen, die Sie heute Abend hier antreffen können: Tom, der Milestone Geister-Cop, der im Schatten des Todes wandelt. Gracie, die Bardame, eine Möchtegern-Schauspielerin, dazu verdammt, ihre Lebenszeit im Fegefeuer der Bar ihres Vaters zu verbringen. Flo, eine stadtbekannte Straßenschwalbe, die ihren Mann ermordet haben könnte - oder aber auch nicht. Wen interessiert das schon? Cobb, ein Nudist, der seit langer Zeit auf eine Entschuldigung der Gemeinde wartet, die ihn aber viel lieber loswerden würde. Wintry, ein stummer Riese, dessen seltsame Geschichte man nur zwischen den Schlagzeilen der Zeitungen finden kann. Kyle, der Junge, der ständig eine geladene Waffe unterm Tisch bereit hält. Und Cadaver, der wie eine Leiche aussieht, aber immer gut riecht, und seine Zeit mit dem Stapeln und Zählen von Pennys totschlägt. Und dann gibt es da noch Reverend Hill, der täglich eine Stunde vor Mitternacht erscheint, so pünktlich wie ein Uhrwerk, um ihnen zu sagen, wer sterben wird und wer wieder gehen darf. Willkommen im Eddie's - wo heute Abend zum ersten Mal seit 3 Jahren nichts nach Plan laufen wird.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 380

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Inhalte

Titel

Copyright

Impressum

SAMSTAGABEND IN EDDIE’S TAVERN

1

2

3

4

5

6

7

8

SONNTAGMORGEN IN MILESTONE

9

10

11

12

13

14

DIE ILLUSION DER WILLENSFREIHEIT

15

16

17

18

19

20

21

22

23

24

DIE ZUKUNFT GIBT ES NICHT

25

Der Autor

Leseproben

Der LUZIFER Verlag

SEELENHANDEL

ein Roman von

Kealan Patrick Burke

aus dem Englischen übersetzt von

Nicole Lischewski

This Translation is published by arrangement with Kealan Patrick Burke

Title: CURRENCY OF SOULS. All rights reserved.

Diese Geschichte ist frei erfunden. Sämtliche Namen, Charaktere, Firmen, Einrichtungen, Orte, Ereignisse und Begebenheiten sind entweder das Produkt der Fantasie des Autors oder wurden fiktiv verwendet. Jede Ähnlichkeit mit tatsächlichen Personen, lebend oder tot, Ereignissen oder Schauplätzen ist rein zufällig.

Impressum

Deutsche Erstausgabe

Originaltitel: CURRENCY OF SOULS

Copyright Gesamtausgabe © 2015LUZIFER-Verlag

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Cover: Michael SchubertÜbersetzung: Nicole Lischewski

ISBN E-Book: 978-3-95835-046-5

Sie lesen gern spannende Bücher? Dann folgen Sie dem LUZIFER Verlag auf

FacebookTwitterPinterest

Sollte es trotz sorgfältiger Erstellung bei diesem E-Book ein technisches Problem auf Ihrem Lesegerät geben, so freuen wir uns, wenn Sie uns dies per Mail an [email protected] melden und das Problem kurz schildern. Wir kümmern uns selbstverständlich umgehend um Ihr Anliegen und senden Ihnen kostenlos einen korrigierten Titel.

Der LUZIFER Verlag verzichtet auf hartes DRM. Wir arbeiten mit einer modernen Wasserzeichen-Markierung in unseren digitalen Produkten, welche Ihnen keine technischen Hürden aufbürdet und ein bestmögliches Leseerlebnis erlaubt. Das illegale Kopieren dieses E-Books ist nicht erlaubt. Zuwiderhandlungen werden mithilfe der digitalen Signatur strafrechtlich verfolgt.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

SAMSTAGABEND IN EDDIE’S TAVERNE

1

Eddie‘s Taverne.

Hierher komme ich, um meinen Schmerz zu vergessen. Davon gibt es hier so viel, anderen Schmerz als meinen, dass es mir dadurch besser gehen sollte – aber das tut es nicht.

Und trotzdem bin ich hier, so wie üblich. Samstagabend im Eddie’s.

Draußen gibt es kein Neonschild, keine Reklame dafür, dass dies ein Ort ist, an den man geht, um seinen Kummer zu ertränken – und das macht Sinn, denn Kummer wird hier nicht ertränkt, nicht wirklich, sondern nur begossen und für eine Weile verdrängt.

Ein nikotingefärbter Fingernagel von Mond schaut zu, wie ich aus meinem Truck steige, darüber nachdenke, wie sich mein gegen den Gürtel pressender Bauch anfühlt, und die Tür hinter mir zudrücke. Ich werde fett und nehme an, dass ich wohl nicht erwarten kann, davon überrascht zu sein – ebenso wenig wie vom Tod und dem Steuerbescheid, wie man hier so sagt. Wenn ein Mann so viel Chili isst wie ich, ohne es mit ein paar Sprintrunden um die Scheune abzuarbeiten, tja … Gewicht verschwindet nicht von alleine.

Ich nehme den Weg zur Kneipentür und sehe, wie sich hinter dem rauchigen Glas bleiche Kugeln in meine Richtung drehen. Nichts entgeht diesen Typen, sei es leise oder nicht. Die Tür quietscht nicht, obwohl sie alt genug ist, um sich diesen Luxus verdient zu haben. Stattdessen seufzt sie. Ich seufze auch, aber ich teile das Bedauern der Tür nicht. Ich bin bloß froh, aus der Kälte raus und unter Freunden zu sein, auch wenn sie mich nicht so sehen. Obwohl ich sie im tiefsten Dunkel der Nacht, wenn Schlaf nur eine blasse Erinnerung ist, auch nicht wirklich als Freunde ansehe.

Die üblichen Personen sind da.

Die blasse, geschmeidige Frau mit einer Figur, die aus Seife hätte geschnitten sein können, ist Gracie. Sie hat die Kneipe von ihrem Daddy geerbt und sieht sie weniger als ein Geschenk als einen weiteren Fluch auf der langen Liste eines Mannes an, der sein Dasein dazu verschrieben hatte, ihr das Leben zur Hölle zu machen. Ihr die Bar zu hinterlassen, war seine Art sicherzustellen, dass sie genau da bleiben würde, wo er sie haben wollte: in einem heruntergekommenen Loch, ohne jegliche Zukunftsaussichten, und von Freunden umgeben, die nicht die ihren waren. Gracie hat keinerlei Liebe für andere übrig, am wenigsten für sich selbst. Sie hat immer noch ihr gutes Aussehen, auch wenn das jeden Tag etwas mehr verblasst, und sie würde sofort von hier weggehen, wenn sie glauben könnte, dass die Großstadt sie aufnehmen würde. Das würde sie wahrscheinlich, da bin ich mir sicher. Sie aufnehmen, zermürben und ausspucken, damit sie tausend Meilen von Zuhause entfernt auf irgendeinem mit Hundescheiße verkrusteten Gehweg sterben kann. Wahrscheinlich ist, dass ein hübsches Mädchen wie sie, mit so wenig Erfahrung in der Welt, schließlich als vermisst gemeldet werden oder sich im Hinterzimmer einer verkommenen Stripteasebar verkaufen würde, um sich ihr Heroin leisten zu können. Nein, ein Mädchen wie Gracie war hier besser aufgehoben, beim Polieren von Gläsern, die vor Dreck derart milchig bleiben, dass man fast erwartet, Rauch aus ihnen aufsteigen zu sehen, wenn sie sie hochhebt. Sie mag unglücklich sein, aber ich denke, das liegt an ihr. Der Einfluss ihres herrischen Vaters ist nur eine Ausrede. Schließlich ist er tot und liegt draußen begraben. Nichts hindert sie daran, diese Absteige zu verkaufen – außer vielleicht dem brennenden Bedürfnis, sich vor seinem Geist zu beweisen.

Ein nackter Mann sitzt an der Theke. Das ist Cobb. Cobb behauptet, dass er ein Nudist ist und darauf wartet, dass der Rest seiner Kolonie kommt und sich dafür entschuldigt, ihn so schlecht behandelt zu haben. Was genau sie ihm angetan haben, ist unklar, aber er wartet jetzt schon fast drei Jahre – weshalb die meisten von uns glauben, dass er das nicht mehr erleben wird. Cobb hat große Ohren, einen breiten Mund und eine Linie rauer grauer Haare, die vom Genick bis zur Spalte an seinem knochigen Arsch reicht. Er sieht aus wie ein verkaterter Werwolf, der mitten in seiner Umwandlung steckengeblieben ist, und kennt nur vier Witze. Egal, wie oft er sie erzählt – seine Begeisterung ist unvermindert.

»Sheriff …«, sagt er mit einem breiten Grinsen. Dann kommt schon der Erste: »Ein Seemann und ein Pinguin gehen in eine Bar …«

»Du wirst die Hintertür nehmen müssen«, antworte ich mit seiner eigenen Pointe.

»Mist … Hab ich dir den schon erzählt?«

»Ein oder zwei Mal.«

Zwei Barhocker weiter sitzt Wintry McCabe, ein zwei Meter großer Riese von einem Mann, der die ganze Stube mit einem Niesen vermutlich bis in den nächsten Staat blasen könnte. Aber er ist stumm, weswegen man Pech hätte, wenn man auf eine Warnung davor warten würde. Gracie hat ihn mal gefragt, wie er seine Stimme verloren hat. Da fanden wir heraus, dass er wahrscheinlich nicht viel sagen würde, selbst wenn er reden könnte. Oben, in den engen weißen Freiraum unter der Schlagzeile desMilestone Messenger(unser wöchentliches Schmierblatt), schrieb er in blauer Tinte und mit kindlicher Schrift: DIE BUCHT HAT MICH DIE WORTE GEKOSTET. Dann lächelte er, trank sein Glas aus und ging. Nachdem er weg war, spekulierten wir darüber, was diese neue und fesselnde Überschrift imMessengerbedeuten mochte. Cobb nimmt an, dass Wintry bei einem Angel- oder Bootsunfall seine Zunge verloren hat. Florence meint, dass er etwas getan hat, das gegen seinen Glauben gewesen war, weswegen er zur Buße einen Schweigeschwur ablegen musste. Kadaver glaubt, dass Wintry im Knast war, »eingebuchtet« wurde und dass ihn dort jemand seiner Zunge entledigt hat. Das ist auch die Theorie, zu der ich neige. Er sieht wie ein Mann mit Geheimnissen aus, von denen keins gut ist. Aber Wintry hat zu dem Thema nie eine Klarstellung angeboten; seitdem hat er keine Nachricht mehr geschrieben und er öffnet seinen Mund selten lange oder weit genug, als dass wir sehen könnten, ob die Zunge noch drin ist. Wenn er das, was er will, nicht mit Gesten vermitteln kann, kommt er ohne es aus. So ein Typ ist er. Aber während es ein Rätsel bleibt, warum er stumm ist, wissen wir immerhin, warum er »Wintry« genannt wird. Den Namen bekam er, weil er in einem alten Schuppen auf dem Gipfel von Grable Mountain haust, dem einzigen Berg in hundert Meilen Umkreis, der das ganze Jahr über Schnee hat. Daher ist Wintry immer in dicke Stiefel, Handschuhe und einen pelzgefütterten Parka gekleidet, aus dem sein großer schwarzer, haarloser Kopf wie der einer Schildkröte herausragt, die die Luft testet – selbst wenn hier unten im Tal eine erdrückende Hitze herrscht. Heute Abend testet er einen Scotch, unverdünnt. Und wenn er auch nicht in der Lage zu reden sein mag, so hört er doch sehr gerne zu.

Im Moment lauscht er Florence Bright. Sie sitzt seitlich auf ihrem Barhocker, mit ihrem schicken langen Rock über einem Paar Beine, von dem jeder Mann im Ort träumt. Sie hat ein passendes Trägertop an, dessen leichtes Baumwollmaterial ein weiteres Paar Attribute versteckt, von denen jeder Mann im Ort träumt. Flo ist die hübscheste Frau, die ich kenne. Erinnert mich ein wenig an Veronica Lake am Gipfel ihrer Karriere, inklusive der welligen blonden Haare und dunklen, perfekt gezupften Augenbrauen.

Florence hat in diesem Ort die dubiose Ehre, sowohl eine gefragte wie auch eine gefürchtete Frau zu sein, aber die Jungs betrinken sich genug, um zu vergessen, dass sie Angst vor ihr haben. Denn alle glauben, dass sie ihren Mann umgebracht hat, und während ich nicht mit Sicherheit weiß, ob sie’s getan hat oder nicht, reicht es doch, um mich daran zu hindern, mich in meinen traurigen kleinen, vor Liebeskummer vergehenden Stiefeln an sie ran zu schleichen. Zu der Zeit gab es hier kein effektives Rechtssystem, und ich tat, was ich im Rahmen der Untersuchung konnte, aber es gab weder inner- noch außerhalb der Stadtgrenze einen Bullen, der Flo die Schuld zuschieben konnte. Nichts ergab einen Sinn, und ich musste mich fragen, wie viele männliche – Teufel auch, vielleicht sogarweibliche– Polizisten damit keinerlei Problem hatten. Wer weiß, wie vielen sie zugeredet hat, bis sie ihre Position vergessen haben. Schließlich hatten wir hier eine Frau, die offensichtlich von ihrem Mann misshandelt wurde. Und dann findet man den gewalttätigen Ehemann nicht nur tot, sondern so tot, dass sogar der Leichenbeschauer die letzten Reste der Mahlzeit, die er sich in den Mund gestopft hatte, hochhustete, als er die Leiche sah. Etwas stimmte nicht. Entweder das, oder jemand hatte nicht das getan, was er sollte. Mehr als einmal habe ich mich selbst besonders intensiv unter die Lupe genommen, aber damit aufgehört, bevor ich zu nah an Dinge kam, die ich lieber nicht sehen wollte.

Das also ist Flo, und wenn man sie sich hier ansieht, ist Mörderin das Letzte, das man sie nennen würde. Natürlich könnte es einfach bedeuten, dass sie kaltherzig ist, aber ob sie nun Henry Bright erstochen hat oder nicht, seinen Körper mit Lampenöl übergossen und das Streichholz angezündet – ich muss doch gestehen, dass mich jedes Mal der Neid packt, wenn sie lacht und Wintrys Ellbogen berührt. Es ist lange her, seit ich eine Frau zum Lachen gebracht habe. Es ist lange her, dass ich eine Frau zu etwas anderem als zum Weinen gebracht habe.

Ich nehme mir einen Stuhl an einem der drei runden Tische, die zwischen der Theke und der Tür verteilt sind. Die große Menge Platz und der Mangel an Mobiliar lassen die Pinte leer erscheinen, egal wie viel Kundschaft da ist, obwohl die sieben Menschen, die nun hier sind (inklusive mir), so ziemlich das Höchstmaß an Betrieb darstellen. Abgesehen von Samstagabends natürlich, wo wir noch einen mehr erwarten. Die schlechte Beleuchtung durch die zwei einfachen Glühbirnen, die in grünen, gesprungenen Lampenschirmen stecken, wirft bloß ein Schlaglicht auf den Staub und bevölkert jeden Tisch mit Schatten.

Mir gegenüber schwitzt ein junger Mann im Holzfällerhemd und sieht mich finster durch seine dunklen Haare an. Die eine Hand hält eine Flasche Bier in weißknöcheliger Umklammerung, die andere liegt unterm Tisch, vermutlich auf einer Waffe. Es ist Kyle Turner, und er wünscht mich seit der Nacht tot, in der ich seine Eltern umgebracht habe. Das war letzten Sommer. Seitdem ist der Junge jeden Samstagabend hier, versucht sich dazu zu überreden, mit seiner Magnum .357 meinen Schädel zu durchlüften – aber bisher war er nicht fähig, sie unterm Tisch hervorzuziehen. Also sitzt er nur da und stiert, lässt sich von Gracie das Bier an seinen Tisch bringen, um nicht aufstehen zu müssen und die Waffe zu zeigen, von der er denkt, dass sie mir nicht bekannt ist.

Eines Tages wird er vielleicht den Mut haben, es zu tun, und dann werden sie ihn vermutlich rausschmeißen, aber nur wegen Ruhestörung und nicht, weil er mein Gehirn mit ein paar Schuss der Art durchgequirlt hat, die in Bars nicht serviert werden sollten. Ich muss aber zugeben, dass ich Spaß an ihm habe, und wenn er nicht da wäre, würde ich ihn mit Sicherheit vermissen. Durch den Hass, den er auf mich hat, komme ich mir fast wie Wild Bill Hickock vor.

Ich weiß, dass ein Nicken zur Begrüßung ihn nur noch mehr aufstacheln wird, und so schaue ich stattdessen in die andere Richtung, weg von der Theke, zurück zur Tür und dem Tisch, der rechts davon ganz an die Wand gerückt ist. Kadaver sitzt dort, ganz im Schatten versteckt, obwohl ich ihn sofort gerochen habe, als ich hereinkam. Ich habe ihn nicht begrüßt, weil man das nicht machen soll, solange er‘s nicht zuerst tut. Da es eine Tradition ist, die schon bestand, bevor ich das erste Mal herkam, halte ich mich daran, ohne zu wissen warum.

»‘n Abend, Tom«, sagt er mit dieser Stimme, die sich anhört, als ob jemand ein Gitarrenplättchen über eine Basssaite zieht. Er hat ein künstliches Metallkästchen, wo sein Kehlkopf hätte sein sollen, was wohl das Resultat von sechzig Jahren Rauchen ist, und sein Gesicht ist so tief eingefallen, dass man fast die Konturen seiner abgesplitterten Zahnfüllungen unter der Haut sehen kann. In einem Auge hat er einen Katarakt, über dem andern hängt das Lid halb herunter, und eine beeindruckend breite Narbe zerteilt sein Gesicht von der Stirn bis zum Grübchen in seinem Kinn. Er sieht wild aus und weiß es, weshalb er die Dunkelheit bevorzugt, in der er die Pennys in seiner Tasche zählt und sie in Reihen aufstapelt, wieder und wieder und wieder, bis das Geräusch vom Aufeinandertreffen der Münzen anfängt, sich wie ein Messen der Zeit anzufühlen.

Kein Zweifel, ein hässlicher Mann, aber verdammt, er riecht so gut, dass ich mich wegen meines billigen Rasierwassers schäme. Er lässt mich wünschen, dass ich daran gedacht hätte, eine Flasche Calvin Klein oder etwas Derartiges zu kaufen. Etwas Teures. Man kann viele Schlüsse aus dem Geruch von jemandem ziehen. Kadaver benützt seins, um den Geruch nach Tod zu verbergen.

»‘n Abend«, antworte ich ihm und spüre sein verzerrtes Lächeln mehr, als dass ich es sehe.

»Frag mich, wer heute Abend wohl fährt«, sagt er, und ein knackendes Schlucken trennt jedes Wort. Ich sollte das nicht sagen, aber ich wünschte mir, er würde nicht reden. Ein Mann ohne menschliche Stimme schweigt besser, und ich weiß, dass auch alle andern diese mahlende Elektrosprache unheimlich finden.

»Wenn ich das bloß wüsste«, sage ich und drehe mich zur Theke. »Gracie?«

»Komm schon.« Sie wirft den schmutzigen Lappen auf die Bar, mit dem sie den Tresen abgewischt hat. »Warm oder kalt?« Das ist ihre Art zu fragen, ob ich Bier oder Whiskey will. Eine Strähne ihres kastanienbraunen Haars fällt ihr über die Augen, als sie auf meine Antwort wartet, und sie wirft sie so gereizt zurück, dass ich plötzlich froh bin, dass sie kein Kind als Prügelknaben für ihre Unzufriedenheit hat.

»Beides«, antworte ich, denn es ist der richtige Abend dafür.

Als ob ich sie gebeten habe, mein verdammtes Auto zu waschen, seufzt sie und macht sich daran, meine Getränke zu holen.

Ich lasse meinen Blick auf den Spiegel hinter der Bar fallen und sehe, wie Wintry die Hand hebt. Sein Spiegelbild wackelt die Finger, wackelt sie wie eine Spinne, die einen Seidenfaden herunterklettert, bis die Hand außer Sichtweite ist. Dann nickt er zwei Mal und wendet sich wieder seinem Drink zu.

»Ich hab‘s gehört«, sage ich zu seinem breiten Rücken. »Wir könnten welchen gebrauchen.« Ich sehe kurz zu dem Bengel rüber, bemerke seine verwirrte Miene, bevor er mich dabei ertappt, ihn anzusehen, und schnell wieder finster dreinschaut. Sein Arm spannt sich, und für einen Moment frage ich mich, ob ich eine Kugel durch meinen Schoß oder mein Knie reißen fühlen werde. So wie die Waffe zielt, wünsche ich mir fast, dass er das verdammte Ding einfach ziehen und auf meinen Kopf zielen würde. Aber ich nehme an, dass er mich möglichst stark leiden lassen will.

»Wintry meint, dass Regen kommt«, erkläre ich, vorsichtig bemüht, es wie eine allgemeine Bemerkung klingen zu lassen, damit der Bengel nicht meint, ich versuche, ihn als Idioten bloßzustellen, indem ich andeute, dass er es nicht kapiert hat.

»Hat schon angefangen«, brummt Kadaver aus dem Schatten.

»Der Wettermann meint, dass es einen Sturm geben soll«, stimmt Cobb mit ein. Seine Hinterbacken zittern, als ihn ein Schauder durchläuft. »Hoffe, dass ich mich hier drinnen hinlegen kann, falls es einen gibt.« Die letzte Bemerkung war für Gracie gedacht, die mit einer Flasche Bud in einer Hand und einer Flasche Whiskey in der anderen um die Theke kommt.

»Ist ja wohl kein Hotel hier, Cobb«, sagt sie über ihre Schulter und bläst Luft hoch, um die verirrte Haarsträhne aus ihren Augen zu bekommen. Plötzlich überfällt mich das Bedürfnis, sie ihr aus dem Gesicht zu streichen, aber sie würde vermutlich wegzucken und mir sagen, dass ich mich um mich selbst kümmern soll – womit sie natürlich Recht hätte. Vor langer Zeit habe ich gelernt, dass die Vorstellungen von Höflichkeit bei Männern und Frauen nicht dieselben sind und es auch nie sein werden, solange wir Männer es nicht lassen können, jedes Mal unseren Schwanz zu Rate zu ziehen, wenn eine Frau den Raum betritt. »Aber an der Winter Street sind viele leerstehende Häuser. Ich bin mir sicher, dass Horace und Maggie dir was zeigen würden, wo du deine alten Knochen betten kannst. He, wenn du dich Kirk Vess an die Fersen heftest, gehe ich jede Wette ein, dass er dich zu irgendeiner Penne führt.«

Vess ist der Verrückte in unserer Stadt, eine As-Karte, die Gracie früher schon mal gezogen hat, um Cobb auf die Nerven zu gehen.

»Da bin ich mir sicher.« Dass Cobb die Idee anwidert, ist offensichtlich, doch alle hier wissen, wenn er denkt, dass er Gracie dazu bringen kann, schwach zu werden, führt er einen verlorenen Kampf. »Ich kann dir aber was dafür zahlen.«

Gracie stellt meine Drinks hin, streicht Staub von meinem Tisch und schaut mir für einen Sekundenbruchteil in die Augen – lange genug, um mich wissen zu lassen, dass dieser übermenschliche sechste Sinn, den nur Frauen haben, sie auf das aufmerksam gemacht hat, was ich gerade eben gedacht habe. Und die Botschaft ist:Nur gut, dass du’s nicht getan hast.

Sie geht zurück an die Theke, eine geschmeidige Frau in eintönigen Kleidern, die dazu gedacht sind, sie weniger attraktiv zu machen. Das werde ich nie verstehen, aber andererseits können wir Männer uns an dem Tag, an dem wir die Frauen verstehen, genauso gut schon an unsere Gräber stellen und darauf warten, dass man uns verscharrt.

Oder vielleicht bin ich einfach nicht sonderlich clever.

»Du kannst mir was bezahlen, indem du dir was anziehst«, sagt sie zu Cobb. »Wenn du was anhättest, würdest du dir vielleicht nicht solche Sorgen um den Regen machen müssen.«

»Du kannst bei mir bleiben«, bietet Kadaver in seiner Roboterstimme an, und Cobb dreht sich langsam um, wobei sein blanker Arsch auf dem Barhocker quietscht. Ich frage mich, wie viel Reinigungsmittel Gracie wohl jeden Monat allein für den Hocker verwendet. Es ist der einzige, den sie ihm zu benutzen erlaubt. Nur diesen Hocker, sonst landet sein Quietsche-Arsch auf dem Boden.

Cobbs bartbewuchertes Gesicht ist bestürzt, als er sich ganz herumdreht. Seine kleinen blauen Augen stieren zusammengekniffen ins Dunkle, als ob der Anblick von Kadaver seinen Ekel vor dem Gedanken, bei dem Mann eine Nacht zu verbringen, mindern wird. Sein Brustkorb ist eine Masse silberner Locken, am dichtesten über dem Brustbein, von wo sie über einen geschwollenen Bauch zu einer frenetischen Explosion von Schamhaaren führen, aus denen ein kleiner, stummeliger Penis herausschaut. Wir sehen Cobb in seiner ganzen Herrlichkeit nun schon seit drei Jahren. Wir sollten uns daran gewöhnt haben, und im Wesentlichen haben wir das wohl, aber jedes Mal, wenn sein Schwanz zu mir herüberspäht, möchte ich ihn fragen, ob Kastanienblätter von den herrschenden Autoritäten, die uns seine Nacktheit aufgehalst haben, auch als Kleidung angesehen werden. Aber ich halte den Mund und wende meine Augen ab, hin zu dem Bengel, der es gut schafft, so auszusehen, als ob ihm jeden Moment etwas platzen würde. Schließlich konzentriere ich mich auf meinen Drink.

Auf dem Whiskeyglas ist ein Daumenabdruck, der zu groß ist, um von mir zu stammen.

»Das ist äußerst anständig von dir«, sagt Cobb schließlich.

»Nicht der Rede wert.«

Ich kann über Kadavers Pennys hinweg fast das Hamsterrad im Kopf des Nudisten durchdrehen hören. Dann sagt er: »Aber weißt du was …? Ich ruf einfach meine Frau an. Die wird’s nicht stören, mich abzuholen. Nicht um diese Zeit. Nicht am Abend.« Er klatscht die Hände zusammen, als ob er über die Lösung für die Hungernotprobleme der Welt gestolpert ist. »Scheiße auch, die wird ja gehört haben, dass es einen Sturm geben soll, also wird sie mich abholen kommen müssen, oder? Keine Frau würde ihren Mann in so ’nem Wetter rumlaufen lassen.« Jetzt sucht er nach Unterstützung, und nicht zum ersten Mal beneide ich Wintry um seine Stummheit, weil jeder hier weiß, dass es nicht so einfach sein wird, wie er zu denken scheint, Mrs. Cobb dazu zu bringen, ihren Mann abzuholen. Der Tag, an dem er seiner Kleidung abtrünnig wurde, war der letzte, an dem irgendjemand noch Eleanor Cobb im Ort gesehen hat. Natürlich machten wir uns Sorgen, aber ich habe ein paar Wochen nach der »Enthüllung« ihres Mannes nach ihr geschaut. Ihr geht’s gut, sie ist nur mit einem Fall von Demütigung im Endstadium ans Bett gefesselt, den ich nicht enden sehe, bis Cobbs endlich anfängt, Shorts oder ein Kastanienblatt zu tragen. Warum sie überhaupt noch bei ihm bleibt, ist eins von diesen unergründlichen Rätseln.

»Du könntest natürlich schon losgehen, bevor das Schlimmste davon runterkommt«, stimmt Flo mit ein. Ihre Stimme ist rau, passt perfekt zu einer kriminellen Femme fatale. Mir stehen davon auf angenehme Weise die Haare zu Berge. »Es ist noch keiner im Regen ertrunken.«

Cobbs ignoriert sie. Er hat einen Drink vor sich und hat vor, ihn zu trinken. Er quietscht wieder andersrum, um zur Theke zu sehen. »Kann ich das Telefon benutzen?«, fragt er Gracie, und zumindest ist sie willens, das zu erlauben, obwohl es ein öffentlicher Münzapparat ist und niemand dafür eine Genehmigung brauchen sollte. Aber es ist Gracies Kneipe und hier laufen die Dinge etwas anders. Mit starrem Gesicht schnappt sie einen der Nudistendollar von der Theke, steckt ihn in die Kasse und lässt vier Quarter in seine ausgestreckte Hand fallen. Mit einem dankbaren Grinsen hüpft Cobb von seinem Hocker und geht in den kleinen Flur hinaus, der zum Telefon und den Toiletten dahinter führt.

Niemand sagt etwas.

Es ist still bis auf das Klimpern von Kadavers Pennys.

Ein paar Augenblicke später fängt Cobb an, ins Telefon zu fluchen.

Niemand ist überrascht.

Mit einem genuschelten »Auf Blue Moon« hebe ich mein Glas, dem Mann zu Ehren, der nicht hier sein kann, und nehme den ersten Schluck Whiskey. Er ätzt meine Kehle hinunter. Ich zische Luft zwischen meinen Zähnen hervor. Flo redet wieder mit Wintry, lehnt sich etwas näher zu ihm rüber, das eine Bein über das andere geschlagen, ein Schuh furchtbar nahe daran, dem großen schwarzen Mann das Fußgelenk zu streifen – und der Neid ist wieder da. Aber mir fällt ein, dass sie sich wahrscheinlich nur deshalb bei ihm einschmeichelt, weil er stumm ist und daher kaum eine Chance besteht, dass er sie jemals nach ihrer Vergangenheit fragt. Zum zweiten Mal innerhalb von ein paar Minuten trachte ich nach Wintrys Stimmproblem.

Cobb knallt den Hörer auf, flucht und stakst zurück zur Theke. Sein schlaffer Pimmel schlägt dabei gegen seinen Oberschenkel. Ich mache die Augen zu, bete, dass mein Mundwerk den Exhibitionismus des alten Mannes einen weiteren Abend lang ertragen kann und konzentriere mich darauf, wieder mein Glas zu füllen.

»War nicht zu Hause«, murmelt er und klatscht eine Hand auf die Theke. »Schenk mir nach, Gracie«, sagt er. »Und zwar dasselbe wie Tom. Das wird mich auf dem Weg warm halten.«

Fast erwarte ich, dass Kadaver Cobb an sein Angebot erinnert, aber Kadaver ist krank, nicht dumm. Er sagt nichts, fährt einfach fort, seine Pennys zu zählen.

»Du hörst dich an, als ob du hier einfach so weggehen kannst, wie du Lust hast«, sagt Gracie spöttisch. »Hast du einen über den Kopf gekriegt oder machen die vielen Drinks dich dümmer?«

»Der ist doch nicht mein Boss«, sagt Cobb und schaut finster wie ein schmollender Teenager drein. In seiner Stimme liegt keinerlei Zorn, in seinen Worten keine Wahrheit. Jeder hier weiß das, genauso wie wir wissen, dass etwas aufmüpfiges Gerede nie schadet, solange man es nur unter Freunden äußert.

»Meinst du, dass er heute kommen wird, Tom?«, fragt Flo und zwirbelt eine Locke ihres Haares um einen blutroten Fingernagel.

»Ich denk mal.«

Sie seufzt und dreht mir den Rücken zu. Flo will Hoffnung, will, dass ich sage, vielleicht wird heute Abend etwas Besonderes sein, dass vielleicht zum ersten Samstagabend in Jahren der Reverend Hill nicht um elf Uhr durch die Tür schlendern wird – aber ich kann nicht. Vor langer Zeit ist mir klargeworden, dass ich ein schlechter Lügner bin. Trotz dem goldfarbenen Abzeichen auf meinem Hemd sollte sich niemand mit Hoffnungen an mich wenden, oder mit überhaupt irgendwas.

Aus der Ecke kommt ein Geräusch wie von einem zerbrechenden toten Ast. Es ist Kadaver, der mit der Zunge schnalzt. Anscheinend ist eine Münze von einem seiner Miniaturkupfertürme gerutscht.

Gracie tut wieder so, als ob sie den Tresen abwischt.

Cobb brummelt über seinem Bier.

Hin und wieder erwische ich Wintry dabei, meine Reflektion im Spiegel zu betrachten. Was ich in seinen dunklen Augen sehe, könnte Sorge oder sogar Mitleid sein, aber wenn ich er wäre, würde ich mich nicht mit dem Spiegel beschäftigen, nicht, wenn Flo in sein Ohr haucht. Ich bin nicht auf der Suche nach Mitleid, bloß nach Lösungen, und ich nehme nicht an, dass sich an diesem Abend – oder irgendeinem andern – welche finden lassen werden.

Das Brennen des wilden Blicks, den der Bengel auf mich gerichtet hält, ist so zuverlässig wie ein Feuer in der Winternacht.

Dies sind meine Freunde.

2

Die Uhr zieht die Sekunden lang; die langsame Bewegung des schmalen schwarzen Minutenzeigers ist außerstande, den Staub eines Jahrzehnts vom Ziffernblatt zu fegen. Als er schließlich ohne irgendein Anzeichen unter uns Trinkern, dass Zeit vergangen ist, dreiundzwanzig Uhr erreicht, ertönt der Klang von auf Kies knirschenden Schuhen.

Mühsam versuchen alle, nicht zur Tür zu sehen, aber es liegt so viel Spannung in der Luft, dass man seine Wäsche daran aufhängen könnte.

Reverend Hill tritt ein, und mit ihm kommt der Regen – nicht die Spritzer, die Kadaver angekündigt hatte, sondern ein richtiger Nägel-aufs-Metalldach-geschütteter Sturzregen. Der Bastard hätte kein besseres Timing haben können, obwohl er es schwer haben wird, wen davon zu überzeugen, dass Gott dafür verantwortlich ist – sofern es ihn zu einer spontanen Predigt anregen sollte. Ebenso wenig würden wir ihm abnehmen, dass die silbrigen Fäden Regen auf seinen Schultern Schnüre sind, die zur Hand eines himmlischen Puppenspielers führen.

Für ihn knarrt die Tür, als er den Sturm wegschließt.

Er hält nicht inne, um einen nach dem anderen von uns anzusehen, wie es jeder andere Mann machen würde, um die Gesellschaft einzuschätzen, die er haben wird, oder um die Sündiger zu zählen. Stattdessen tragen diese selbstsicheren Schritte seine magere, schwarzgekleidete Gestalt bis an die Theke heran, wo Gracie aufgehört hat sauberzumachen und ihn auf ganz ähnliche Art beobachtet wie der Bengel am nächsten Tisch mich beobachtet. Außer, dass Kyle mich im Moment natürlich nicht anschaut. Alle Augen sind auf den heiligen Mann gerichtet.

Die Stadt Milestone ist von Pech besessen, ebenso die Menschen, die sie ihr Zuhause nennen – aber um ehrlich zu sein, haben wir uns mit der Zeit vielleicht zu sehr damit angefreundet, den Dingen, die wir uns selbst einbrocken, oder dem Schicksal die Schuld zuzuschieben. Wahrscheinlicher ist, dass schlechte Menschen, die mehr auf dem Kerbholz haben als ihre Heimatstädte tolerieren können, von diesem Ort angezogen werden, wo niemand Fragen stellt und man die Meinung über andere in seinen Augen, aber nie auf der Zunge trägt.

Als Reverend Hill nach Milestone kam, um einen schon seit Jahren leeren Posten zu füllen, trug er sich mit der Hoffnung, dass religiöse Belehrung die dunklen Wolken verjagen würde, die über der Bevölkerung hingen, seit Reverend Lewis seinen Gürtel, einen klapprigen alten Stuhl und einen niedrigen Balken in seinem Schlafzimmer dazu benutzt hatte, das Zusammentreffen mit seinem Schöpfer zu beschleunigen.

Aber passend zur Stadtgeschichte vom ständigen Pech oder wie auch immer man es nennen will, war, was Hill Milestone brachte, nicht Hoffnung, sondern Angst.

»Rum, mein Kind«, sagt er zu Gracie und lehnt sich genau neben Cobb an die Theke. Er bemüht sich nicht, seine Abscheu für den nackten Mann zu verbergen. Hill hat Knopfaugen, die zu konzentriert, selbstgefällig und intensiv sind, als dass sie sich die Mühe irgendeiner bestimmten Farbe geben würden. Ich bin überzeugt davon, dass diese Augen durch Wände gucken können – was auch erklären würde, warum niemand in Milestone mehr zur Beichte geht. Er hat Augenbrauen, für die eine Frau töten würde, gezupft und gebogen wie das Mittelschiff einer Kirche, eine lange dünne Nase, die sich an der Spitze verbreitert um die nötige Menge Luft, die sein Geschimpfe benötigt, inhalieren zu können, und einen dünnen, blasslippigen Mund, der wie eine Narbe über einem spitzen Kinn sitzt. Ich würde ihn auf ungefähr Sechzig schätzen, aber sein Alter scheint mit seiner Stimmung zu schwanken. Das trübe Licht meidet sein pomadiertes schwarzes Haar, das künstlich gefärbt ist. Alles an dem Typen ist künstlich, wie wir kurz, nachdem er im Ort auftauchte, herausfanden.

Manche Leute glauben, dass er der Teufel ist.

Ich nicht, aber ich bin mir sicher, dass die zwei sich kennen.

»‘n Abend, Reverend«, sagt Cobb, ohne den Mann anzusehen. Cobb hat Angst vor Hill. Die haben wir alle, aber der Nudist ist der Einzige, der ihn grüßt.

»Was sollen die kleinen Kinder von Milestone denken, wenn sie auf der Straße Ihr Sündenwerkzeug direkt vor ihren Gesichtern pendeln sehen, Cobb?«, fragt der Reverend lauter als notwendig. »Unanständigkeit ist ein Pflasterstein des Weges in die Hölle, oder laufen Sie mit der irrigen Vorstellung herum, dass die Nacktheit gleich nach der Gottesfurcht kommt? Glauben Sie, dass IhreGabeSie davon freispricht, den Anstand zu bewahren?«

Cobb läuft rot an und antwortet nicht.

Der Reverend grinst. Seine großen Klaviertastenzähne glänzen. Gracie setzt seinen Drink vor ihn hin. Sie wartet nicht darauf, dass er bezahlt.

Erschreckt merke ich mit bebendem Bauch, dass ich gleich losprusten werde und versuche, mein Lachen zu unterdrücken. »Sündenwerkzeug« ist peinlich, selbst für Hill. Es stimmt schon, dass er mich jedes Mal anwidert, wenn ich ihn sehe, aber obwohl ich das weiß, ist an dieser Situation nichts Lustiges. Nichts ist lustig an dem, was in Milestones einzig offener Kneipe jeden Samstagabend um diese Zeit passiert. Wie sich herausstellt, musste das Lachen schon auf meinem Gesicht gewesen sein, denn sein kohledunkler Blick bewegt sich von Cobbs rosa Körper zu mir, und sein Grinsen fällt ihm aus dem Gesicht, als hätte ihn jemand geohrfeigt.

»Gibt’s was Witziges, Tom?«

»Nö.«

»Sind Sie sicher?«

»Ja.«

»Ihr Lächeln sagt aber etwas Anderes.«

»Wer kann heute schon noch einem Lächeln vertrauen, Reverend? Ich zumindest würde Ihrem nicht trauen.«

Das reicht, um ihm sein Grinsen wiederzugeben. Er schnappt sich seinen Rum von der Theke und schlendert zu meinem Tisch mit dem Selbstvertrauen eines Mannes herüber, dem seine Arbeit gefällt, der seinen Spaß daran haben wird, den Sheriff des Orts von seinem hohen Ross zu holen. Er zerrt den leeren Stuhl mir gegenüber hervor, setzt sich und betrachtet mich eine Sekunde lang. Ich fühle mich wie Aas, das von einem Geier taxiert wird.

Sein Gesicht ist nur um eine Schattierung dunkler als das kleine Rechteck von Weiß an seinem Kragen.

»Sagen Sie mir mal was, Tom.«

»Schießen Sie los.«

Daraufhin sieht Hill über seine Schulter zu dem Bengel, der noch immer schwitzt, aber ich würde wetten, dass es jetzt kalter Schweiß ist. Der Reverend dreht sich wieder um und zwinkert. »Sagen Sie das besser nicht so laut. Es könnte Ihnen jemand den Gefallen tun.«

»Er ist verwirrt«, sage ich zu ihm und trinke einen Schluck Whiskey. Bier ist ein feines Getränk und braucht Geduld; Whiskey ist ein direkter Schuss ins Hirn, und das brauche ich jetzt, wenn ich mich vor dem einzigen Mann in Milestone, der mir Angst einjagt, hart geben will. »Er sollte aufSieschießen.«

Donner kracht im Gebälk; in den verräucherten Fenstern zittert Licht und beleuchtet den Regen, der über das Glas perlt.

»Vielleicht«, sagt der Reverend, »aber er weiß, dass man nicht auf einen Mann Gottes schießt. Er ist eine fromme Seele. Er will Rache ohne Verdammnis.«

»Bisschen spät dafür, oder?«

Seine Lippen kräuseln sich vor Vergnügen. »Ich bin mir nicht sicher, was Sie meinen.«

Ich entscheide mich, keine Spielchen mit ihm zu spielen. »Wer ist es heute Abend?«

Kadaver hat aufgehört, seine Pennys zu zählen.

»Keine Umschweife, was? Das gefällt mir.«

»Sparen Sie sich doch den Scheiß.«

Er schnalzt mit der Zunge. »Eine Profanität. Das Zeichen eines ungebildeten Mannes.«

Ich wünschte mir, das stimmte. Ich wäre so gern ungebildet und säße hier mit meinem Drink, um Sticheleien mit einem Geistlichen auszutauschen, der vielleicht der Teufel ist. Dann wüsste ich wenigstens nicht, was auf mich zukommt.

»Also, wer fährt?«, frage ich, und alle außer Wintry drehen sich um. Er beobachtet den Spiegel.

Der Reverend langt in seine Tasche und wirft ein paar Autoschlüssel auf den Tisch zwischen uns. »Sie«, sagt er und jedes hartverdiente Stück meines Hohns ist zerstört. Ebenso gut hätte er mir eine Granate die Kehle runterstopfen und mich in Eisen ketten können. Ich gebe einen Atemzug von mir, der am Ende zittert. Niemand in der Bar seufzt vor Erleichterung, aber ich kann sehen, wie sich Schultern entspannen, nur ein klein wenig, und höre das Klimpern von Kadavers Pennys, als er mit dem Zählen fortfährt.

Auf dem Tisch liegt ein Ring mit sechs Schlüsseln. Drei davon sind für den Fertigbau, der als mein Büro durchgeht. Zwei sind für die Eingangs- und Hintertüren des Fertigbaus, der als mein Haus durchgeht. Der Letzte ist für meinen Truck, und die Schlüssel sind so gefallen, dass dieser steil nach oben, auf den Reverend zeigt. Das ist kein Zufall.

»Sie wissen, wie es funktioniert«, sagt er und lehnt sich im Stuhl zurück. »Und wenn ich Sie wäre, würde ich nicht so überrascht tun. Sie sind eine ganze Weile davongekommen, oder?«

Sein Gesicht schwillt an vor Frohlocken. Ich denke, dass sein Kopf wie ein Ballon platzen würde, wenn ich ihm jetzt sofort eine reinhauen würde – und genau das ist es, was mir jede Zelle meines Körpers zu tun befiehlt. Aber egal wie befriedigend das wäre, es würde nichts daran ändern, dass ich heute Abend dran bin. Ich darf fahren. Hill, mag er auch ein Arschloch sein, ist immer noch bloß der Botschafter, ein Kurier. Ihm eine runterzuhauen, würde keinen Unterschied machen.

Cobb meldet sich zu Wort. »Scheiße auch Tom, ich kann für dich fahren. Das würde mich aus dem Regen halten. Und außerdem hab ich dem alten Blue Moon gesagt, dass ich ihm eine Flasche vorbeibringe. Zwei Fliegen mit einer Klappe geschlagen, oder?« Sein nervöses Grinsen blitzt auf der Suche nach Anerkennung, aber er bekommt keine. Außer mir sieht ihn noch nicht mal jemand an, und obwohl ich es nicht sage, bin ich dankbar. Ich weiß, dass Cobb nur aus einem einzigen Grund nackt umherläuft: Er will bemerkt werden, an etwas anderes als seine Gabe erinnert werden, oder vielleicht will er die Aufmerksamkeit davon ablenken. Eine Geste, wie:»He, guckt mal alle! Unter meinen Klamotten bin ich ganz genauso wie ihr!«. Es funktioniert nicht, und ich nehme wie der Rest von uns an, dass er es müde ist; müde, hier jeden Samstagabend darauf zu warten, ob er jemanden umbringen muss. Angesichts dessen, zu was er in der Lage ist und was er früher machen musste, ist es wohl schwieriger für ihn als für die meisten von uns, der Pingpongball von Gott und Teufel zu sein. Ich weiß auch, dass Cobb sich heute Abend nicht an die Regeln halten würde, selbst wenn der Reverend es erlaubt. Die Wahrscheinlichkeit ist groß, dass er meinen verbeulten alten Truck einfach von der Willow Creek Brücke runterfahren und beim Ertrinken lächeln würde, während der arme alte Blue Moon Running Bear noch eine Weile ohne seinen Whiskey auskommen müsste.

»Sehr nobel von Ihnen«, sagt Hill und klingt gelangweilt. »Aber es handelt sich nicht um einen Schichtdienst in der Sägemühle. Hier wird nicht gehandelt.« Er betrachtet Cobb von Kopf bis Fuß. »Doch keine Angst. Sie kommen noch dran. Haben Sie das Auto schon?«

»Meine Frau lässt mich nicht fahren. Nicht hier. Nicht, wenn ich getrunken habe.«

»Dann lügen Sie entweder oder hören Sie auf zu trinken. Aber besorgen Sie das Auto.«

»Na gut.«

Cobb sieht mich mitfühlend an. Ich winke ab und starre den Priester an. »Wer ist es?«

Aus der Brusttasche seiner Jacke fördert er eine Packung Sonoma Lights zutage. »Hat wer Feuer?«

Als sich niemand meldet, wirft ihm Gracie eine Streichholzschachtel zu, die er ohne hinzusehen aus der Luft schnappt – ein beeindruckender Trick, der mich innigst wünschen lässt, er hätte danebengegriffen. Er entzündet seine Zigarette und schaut mich schmaläugig durch die Wolke blauen Qualms an. »Sie wollen den Namen?«

»Nein. Ich möchte das bisschen Schlaf, das ich bekommen kann, gern behalten. Sofern Sie das nicht auch noch haben wollen.«

»Ach kommen Sie, was soll denn das jetzt? Sie hören sich ja so an, als wären Sie das Opfer!« Er bellt ein Lachen und dreht sich im Stuhl zur Bar hin. »Ist es das, was ihr alle denkt? Dass ich ein böser Bube bin, der hergekommen ist, um euer Leben zu zerstören?« Er wendet sich wieder um, diesmal zu Kadaver und dem Bengel. »Dass ihr alle ganz rein und unschuldig seid, dazu gezwungen werdet, den Willen einer bösen höheren Macht auszuführen?« Verwundert schüttelt er den Kopf. »Leute, macht euch doch nichts vor. Bis ich gekommen bin, ward ihr alle im Fegefeuer und habt drauf gewartet, dass eine Entscheidung fällt. Ihr solltet mir danken, dass ihr nicht alle im Höllenfeuer schmort.«

»Und was ist das hier?«

Er lehnt sich nahe herüber, mit dunklen Augen und Zwillingsstreifen von blauem Rauch, die aus seinen weiten Nasenlöchern strömen. »Nichts entfernt Ähnliches, Deputy Doof.«

Wir starren einander über den Tisch hinweg an. Ich versuche den Bengel telepathisch dazu zu zwingen, dass er schießt. Mir ist es sogar egal, wen er trifft. Aber der Junge bewegt sich nicht, schaut nur zu wie alle anderen. Der Regen prasselt weiter und der Donner donnert, aber in Eddie’s gibt es kein Geräusch – bis ich spreche.

»Das alles wird ein Ende haben, wissen Sie.« Es ist eine Drohung, hinter der nichts steckt. Ich will, dass es vorbei ist; ich will, dass es wieder so ist, wie es war, bevor meine Frau gestorben ist, bevor der Bengel sich ins Hirn gesetzt hat, dass mein Kopf besser aussehen würde, wenn er über die ganze Wand verschmiert wäre; bevor wir hier alle als Sklaven unserer Sünden gelandet sind. Aber es ist zu spät. Jetzt gibt es kein Zurück mehr. Es ist schon zu weit gekommen. Hill weiß das, weiß besser als alle andern, dass wir am nächsten Samstagabend wieder hier sein werden und am Samstagabend danach und dem darauffolgenden, bis wir, welche Schuld auch immer er bestimmt hat, die wir schulden, abbezahlt haben. Oder genaugenommen, bis derjenige, der ihnkontrolliertdas entschieden hat.

Aber das wird heute Abend nicht der Fall sein, und während das blaue Licht die Risse in der heruntergekommenen Bar füllt, reiche ich über den Tisch und ziehe die Schlüssel zu mir hin.

»Ich weiß, dass es ein Ende haben wird«, antwortet der Reverend und hält lange genug inne, um einen tiefen Zug von seiner Zigarette zu nehmen. »Heute hat es für Sie ein Ende.«

Ich schließe meine Faust um die Schlüssel.

»Sie bekommen einen Dieb und seine Freundin«, fährt er fort. »Er hat einem Tankstellenangestellten ins Gesicht geschossen, eine Frau ermordet und ein kleines Kind verletzt. Die Freundin ist eine Fixerin und Nutte. Niemand wird die beiden vermissen.«

»Irgendwer schon. Irgendwer vermisst sie immer.«

Der Priester lehnt sich wieder zurück und lächelt. »Es steht uns nicht zu, uns darüber Sorgen zu machen.«

»Ihnen vielleicht nicht.«

»Diese Apostelbriefe Ihres blütenreinen Gewissens werden allmählich ziemlich langweilig, Tom.«

»Und das sagt ein Priester.«

Sein Lächeln verblasst. »Sie setzen sich jetzt besser in Bewegung, Sheriff. Das Volk braucht Sie.«

Ich kippe das hinter, was vom Whiskey noch übrig ist, dann schnappe ich mir die Flasche zur Gesellschaft. Hill wird keinen Protest einlegen – ihm gefällt es, wenn wir richtig betrunken sind – und auch wenn Gracie sauer sein mag, dass sie ein paar Dollar verloren hat, wird sie ebenfalls nichts sagen. Sie weiß nur zu gut, was dreckige Arbeit ist.

Ich stehe auf und klimpere mit den Schlüsseln in meiner Hand. »Wenn es vorbei ist«, sage ich ihm, »sind Sie der Einzige, der in der Hölle landet.«

Er antwortet nicht. Stattdessen schiebt er mein Glas vor sich und hält seinen Daumen über den Fingerabdruck. Er passt haargenau. Er gluckst ein Lachen und dreht seinen Stuhl herum, sodass er zur Theke schaut. Flo weicht seinem Blick aus und legt ihre Hand über Wintrys. Alle sind wieder dabei, so zu tun, als ob alles in Ordnung wäre.

Hinter meinem Rücken knurrt Cobb vor sich hin.

Die paar Schritte zur Tür fühlen sich wie die eines verurteilten Mannes auf dem Weg zum elektrischen Stuhl an, wobei die Blitze hinter den Fenstern den Effekt nur noch verstärken.

Als ich die Tür erreiche und den Messinggriff berühre, enthüllt ein Blitz das skelettöse Profil, das danebenkauert und von den Schatten der Münztürme wie von Messern in die Brust gestochen wird. Er schaut aus dem Fenster, und Dunkelheit sammelt sich in seinen Augenhöhlen, als er in einem Tonfall, der für ihn als Flüstern durchgeht, sagt: »Es kommt wer.« Dann höre ich es. Schnelle Schritte, verwirrtes Hin- und Hertrappeln, und ich trete gerade noch rechtzeitig zur Seite, um zu vermeiden, dass mein Gesicht von massivem, verwittertem Eichenholz zertrümmert wird, als die Tür mit einer Wucht aufspringt, die sie fast aus den Angeln reißt. Regen, Wind und Schatten füllen den Türrahmen aus. Ohne zu wissen oder mir Gedanken zu machen, wer es ist, der auf der Türschwelle steht, springe ich vorwärts, klatsche meine Hand in die Mitte des Brustkorbs der Gestalt und schubse sie wieder raus in den Sturm. »Verpiss dich«, brülle ich mit der harten Stimme, die ich unter solchen Umständen habe. Hill würde begeistert sein: Mehr Rekruten für sein perverses Spiel. Aber wer auch immer es war, den ich gerade abzuwimmeln versucht habe, wirbelt auf dem Absatz herum, kracht auf der Suche nach Gleichgewicht gegen die Tür, und streckt einen Arm dahin, wo ich stehe.

Eine Pistole wird plötzlich in mein Gesicht gehalten, von deren Edelstahllauf der Regen tropft. »Beweg deinen Arsch da rein«, sagt eine Männerstimme, und dann stolpert eine Frau aus der Dunkelheit und bricht auf dem Boden zusammen. Der von ihrer durchweichten Gestalt tropfende Regen ist rosa. Sie blutet, aber im Moment ist meine ganze Aufmerksamkeit auf das schwarze Auge des Revolvers gerichtet, das sich zehn Zentimeter vor meiner Nase befindet.

»Flo, Gracie … hilf doch jemand der Frau«, rufe ich.

»Keiner fasst sie an«, sagt der Mann. Ich wünsche mir, ich könnte sein Gesicht sehen, aber bisher ist er nur eine Stimme und ein blasser Ärmel mit einem Colt Kaliber .45 am Ende.

Ich bin es wirklich leid, dass ständig Waffen auf mich zielen.

3

»Los, zurück«, sagt der Mann mit dem Revolver. »Und zwar sofort, sonst dekoriere ich diese Absteige mit deinem Hirn.«

»Weiß der Himmel, das würde dem Ambiente helfen«, fällt der Reverend ein und klingt nicht im Mindesten verärgert über die Eindringlinge.

Die Frau schaudert und das verdammte instinktive Bedürfnis zu helfen, sie zu berühren und sicherzustellen, dass sie in Ordnung ist, lodert auf, aber die Knarre hält mich in Schach.

»Wieso bist du nicht bewaffnet?«, fragt der Mann.

»Bin ich ja, aber nicht hier drinnen.«

»Sonst noch wer, der vielleicht den Helden spielen will?«

Kyle fällt mir ein. Er hat eine Waffe, und der Typ wird das vermutlich früher oder später herausfinden. Aber: »Nein«, sage ich. Es ist besser, wenn er es erst später merkt.

»Du lügst mich besser nicht an.«

»Nein.«

»Carla, lebst du noch?«

Auf dem Fußboden, mit gebeugtem Kopf und dem dunklen nassen Haar fast die Bohlen berührend, schüttelt das Mädchen langsam den Kopf. Sie blutet recht stark.

»Sie braucht Hilfe.« Das ist offensichtlich, aber angesichts der Tatsache, dass der Typ immer noch im Türrahmen steht und mit einem Revolver auf mich zielt, denke ich, dass er vielleicht daran erinnert werden muss.

»Ja, ach nee. Ich nehm‘ an, dass wohl kein Doktor hier ist?«

»Nein, aber wir können sie zumindest verbinden, die Blutung stoppen, ihr was gegen die Schmerzen geben. Sie tun ihr keinen Gefallen, wenn Sie sie da auf dem Boden lassen.«