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Die junge, erfolgreiche Ärztin Nida Janusz versteht die Welt nicht mehr: Drei Stunden ihres Lebens sind aus ihrem Gedächtnis gelöscht! Und in dieser Zeitspanne soll sie einen Flug in die Mongolei gebucht haben? Um dem Rätsel auf die Spur zu kommen, tritt sie die Reise an – eine Reise, die ihr Leben und sie selbst für immer verändern wird. Seelenwege ist die Geschichte einer Frau, die durch die Lehren einer alten Schamanin zum wahren Grund ihres Seins vordringt. Sie gewinnt erstaunliche Erkenntnisse über sich selbst, die Natur und das Wesen aller Dinge.
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Seitenzahl: 241
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INA RUSCHINSKI
Seelenwege
DIE MAGISCHE REISE
EINER FRAU ZU SICH SELBST
Über die Autorin
Ina Ruschinski ist Erzieherin und Reitpädagogin. Sie lebt in Oldenburg und arbeitet seit 1994 in einer sozialen Einrichtung mit Kindern, Jugendlichen und Pferden.
Nach ihrer pädagogischen Ausbildung kaufte sie sich ihr erstes Pferd – Jaspar. Er wurde ihr ein Freund, von dem sie eine Menge lernen durfte und auch heute noch lernen darf. Im Jahr 2001 machte Ina Ruschinski mit Jaspar eine Ausbildung zur Trainerin im Westernreiten. Ein krankes Pferd veranlasste sie, sich mit Energiearbeit und Schamanismus zu beschäftigen.
Auf einem Abenteuerspielplatz der Stadt Oldenburg begleitete sie erstmals die Entwicklung von Kindern und Jugendlichen mit vier Ponys. Von der Autorin sind bereits meherere Kinderbücher erschienen.
ISBN 978-3-8434-6088-0
www.schirner.com
1. E-Book-Auflage 2014
Alle Rechte der Verbreitung, auch durch Funk, Fernsehen und sonstige Kommunikationsmittel, fotomechanische oder vertonte Wiedergabe sowie des auszugsweisen nachdrucks vorbehalten
Inhalt
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ÜBER DIE AUTORIN
WEG
Wer sich einmal auf den Weg macht – geht,schaut zurück, vielleicht manchmal mit Sehnsucht,aber kehrt nie mehr um.Es gibt nur einen Weg – den eigenen.Er kann beschwerlich sein, Angst bereiten,doch offenbart er sich,ist er klar, hell und kraftvoll,wie eine lang vergessen geglaubte Erinnerung an sich selbst –an die Aufgabe der Seele.
INA RUSCHINSKI
magyar angyalomnak, Panni
Ich stütze mich schwer auf das Waschbecken. Mein Blick wandert in den Spiegel. Eine ganze Weile betrachte ich mich. Was ist das für ein Gesicht, das mir entgegenschaut? Wer ist diese Frau? Ihre Augen sind müde und betrachten mich leer. Ihre Augen sind mir fremd. Was ist, wenn ich mein Gesicht irgendwann nicht mehr als das meine erkenne? Ist das überhaupt noch mein Gesicht? Ist das meine Hand, die da gerade eine Haarsträhne zur Seite schiebt? Wer bin ich? Ich bin unglücklich, jeden Tag. Ich habe Kopfschmerzen.
Jeden Tag fahre ich denselben Weg mit dem Fahrrad zu meiner Arbeitsstelle, in das städtische Krankenhaus, heute zur Spätschicht. Ich fahre immer die Hauptstraße entlang, an der Einkaufsmeile vorbei, und manchmal stelle ich mein Fahrrad am Blumenladen ab und gehe noch etwas besorgen, so auch heute. Ich fahre immer denselben Weg, zu denselben Zeiten, ohne Umwege, zur Frühschicht, zur Spätschicht – nur zur Nachtschicht nehme ich das Auto und fahre über die Autobahn.
Ich muss einen Toaster umtauschen. Er hat die falsche Farbe. Er ist rot, und das passt nicht zu meinem Küchensofa. Ich schaue auf die Kirchturmuhr. Es ist halb elf. Ich habe noch eine Dreiviertelstunde Zeit, bis mein Dienst beginnt. Auch zu diesem kleinen Buchladen in der Gerbergasse muss ich noch, um ein Buch für eine Freundin abzuholen. Ist sie überhaupt eine Freundin?
Ich gehe schnellen Schrittes in das Kaufhaus. Ich habe Zeit, aber ich kann nicht langsam gehen.
Der neue Toaster gefällt mir. Er ist blau. Das passt viel besser.
Auch die Gerbergasse ist nach meinem Geschmack. Mein Schritt wird ruhiger. Ich mag das historische Pflaster und die alten Giebel. Ich stehe einen Moment vor dem Buchladen und schaue nach oben. Ich sehe ein Stück Dach und ein Stück Himmel. Die Sonne scheint zwischen ein paar Wolken hindurch, nur einen kurzen Augenblick lang. Ich lächele. Dann gehe ich die Stufen hinauf in den Buchladen.
Das Buch abzuholen geht schnell. Ich bin die einzige Kundin. Beim nächsten Mal nehme ich mir ein wenig mehr Zeit in dem Laden. Eilig lasse ich die Gerbergasse und auch das Lächeln hinter mir. Ich brauche nicht zu hetzen, und dennoch haste ich durch die Stadt, die sich mittlerweile mit Menschen gefüllt hat. Sie machen mir Platz. Sie scheinen zu merken: Hier kommt eine, die heute noch wichtige Dinge zu erledigen hat. Ich glaube, mir gefällt diese Eile. Fast kann man sie mit Flucht vergleichen. Ich haste über den Marktplatz, an der Kirche vorbei, rücke dabei meinen Mantelkragen zurecht, stoße mit einem älteren Herrn zusammen, wir entschuldigen uns beide, ich schaue zur Turmuhr. Es ist halb drei.
Ich stehe und starre zur Kirchturmuhr. Nach einer Minute springt der Zeiger einen winzigen Schritt weiter. Zwei Minuten nach halb drei. Die Uhr steht nicht. Mir wird ganz heiß im Nacken.
»Entschuldigung!«, Ich spreche die nächstbeste Frau an. »Wie spät ist es wohl?«
»Einen Moment.« Sie bleibt geduldig stehen und kramt ihr Handy aus der Handtasche. Die Frau ist schon etwas älter. Es dauert, bis sie es aufgeklappt hat und die Uhrzeit entdeckt. »Vierzehn Uhr einunddreißig.«
Ich starre wieder hoch zur Kirchturmuhr und schaffe es nicht, mich zu bedanken. Drei Minuten nach halb drei. Die Kirchturmuhr geht vor, stelle ich fest. Aber nur zwei Minuten, nicht drei Stunden. Die Frau nickt mir schweigend zu und geht weiter. Meine Knie werden weich. Drei Stunden! Mir fehlen drei Stunden meines Lebens!
Alles dreht sich. Mein Herz beginnt rasend zu klopfen. Ich kann die Schläge kaum noch zählen. Ich kann kaum noch atmen. Ich schnappe nach Luft. Auf meinem Rücken sammelt sich kalter Schweiß. Ich fasse mir an den Kopf. Er tut seltsamerweise gar nicht mehr weh. Meine Beine zittern. »Du hast gerade eine Panikattacke«, sage ich zu mir selbst. Ich bin schließlich lange genug Ärztin, um das zu wissen. »Du hast Panik«, wiederhole ich. »Zu Recht«, füge ich hinzu. Es tröstet mich ein bisschen, dass ich wenigstens das weiß.
»Elf mal elf sind hunderteinundzwanzig, zwölf mal zwölf – hundertvierundvierzig. Du kommst zu spät zum Dienst, drei Stunden zu spät.« Ich laufe los. Dann bleibe ich stehen. Und laufe wieder los. »Sechzehn mal sechzehn – zweihundertsechsundfünfzig. Entschuldigung! Wie spät ist es?«
Der Mann schaut auf seine Armbanduhr. »Gleich zwanzig vor«, sagt er.
»Vor drei?« Ich hoffe, dass ich mich täusche und er gleich verständnislos schauen und sagen wird: »Nein! Natürlich vor zwölf.«
»Ja, zwanzig vor drei«, sagt der Mann und geht weiter.
Ich schreie! Ich weiß gar nicht, schreie ich wirklich oder schreit es nur in meinem Kopf? Einige Menschen schauen mich irritiert an. Ich renne los, zum Blumenladen. Mein Fahrrad steht noch dort, genau so wie ich es vor … wie ich es abgestellt hatte. Ich weine fast vor Glück darüber. Dann setze ich mich auf den harten Fahrradständer und fange an zu heulen. Drei Stunden meines Lebens fehlen. Einfach so! Ausgelöscht. Ich begreife langsam meine Situation. Nein! Ich begreife gar nichts. Meine Hände zittern. Wieder spüre ich die Panik in mir aufsteigen. Vielleicht bin ich ohnmächtig gewesen? Irgendwann im Kaufhaus oder im Buchladen oder auf dem Weg dazwischen? Man hat mich einfach so wieder gehen lassen? Unwahrscheinlich, das macht doch niemand. Allerdings wäre auch niemand in der Lage gewesen, mich am Gehen zu hindern. Ich bin schließlich Ärztin. Und ich bin noch nie ohnmächtig geworden. Nicht mal unter den stärksten Kopfschmerzen. Aber meine Kopfschmerzen – die sind weg! Das Gefühl ist so selten, dass es mir sogar in dieser Situation auffällt.
Durch das Schaufenster des Blumenladens sehe ich eine Uhr über dem Verkaufstresen hängen. Gleich drei. Ich muss ins Krankenhaus. Mühsam stehe ich auf. Die Kollegen sind sicherlich schon in heller Aufregung. Bestimmt versuchen sie unentwegt, mich zu erreichen. Ich habe kein Handy dabei. Privat habe ich nie ein Handy bei mir. Zu viel Strahlung. Ich wanke zum Blumenladen. Ich muss schnell im Krankenhaus anrufen und sagen, dass ich gleich da bin. Und ich muss mir irgendeine Notlüge überlegen, weshalb ich unangekündigt über drei Stunden zu spät komme.
»Verdammt! Du musst deinen Kopf untersuchen lassen!«, schimpfe ich laut. Zwei Teenager schauen mich erstaunt an und kichern.
Ich nehme es verwirrt zur Kenntnis, mein Atem geht schwer. Die Menschen ziehen links und rechts an mir vorbei. »Ich werde wahnsinnig«, flüstere ich. »Ich bin schon wahnsinnig.« Ich schaue mich um wie ein gehetztes Kaninchen. Die Geräusche, die Farben, alles ist so überdeutlich und grell. »Ich muss mich einliefern lassen. Man muss mich gründlich untersuchen.« Ich gebe mir diesen Rat so sachlich, als wäre ich meine eigene Patientin. Ich wanke auf den Blumenladen zu, will dort telefonieren, um mich abholen zu lassen.
Meine Hand greift schon nach der Ladentür, da überlege ich es mir anders. Ich finde, es ist keine gute Idee, den Ärzten aus der Psychiatrie meine Situation vom Telefon des Blumenladens aus zu erklären. Der Laden ist zu voll. Ich drehe mich um und gehe wieder zurück zu meinem Fahrrad.
»Ich werde jetzt einfach nach Hause fahren, mich hinlegen und über meine Situation nachdenken. Ich werde im Krankenhaus anrufen und sagen, dass ich mir dieses Virus eingefangen habe, das gerade auf der Station umgeht, und dass ich bisher im Minutentakt die Toilette aufsuchen musste.« Ich sage diese Worte so eindringlich – und offensichtlich auch laut – zu mir, dass wieder einige Menschen stehen bleiben und mich mit prüfendem Blick mustern. Es ist mir egal. Ich nehme mein Fahrrad aus dem Ständer. Merkwürdigerweise ist es nicht abgeschlossen. Das ist ein Zeichen! Ich bin also schon vorher nicht ganz da gewesen. Das beruhigt mich. Das ist endlich mal ein Hinweis. Ich radle los.
An der roten Ampel registriere ich, dass ich registriere, dass sie rot ist. Auch das beruhigt mich. Ich merke, dass ich den Verkehr vorausschauend einschätzen kann – und reagiere schnell, als plötzlich ein anderer Fahrradfahrer aus einer Nebenstraße schießt und meinen Weg kreuzt. Freihändig fahrend überprüfe ich meinen Puls. Er entspricht dem einer gesundheitsbewussten Frau in den Dreißigern, Nichtraucherin, keine Kinder – und auch sonst nichts. Ich trete kräftig in die Pedale und nehme zur Kenntnis, dass ich mich erstaunlich gut fühle. Hellwach, ausgeruht, vital und ohne Kopfschmerzen. Fast möchte ich diesen Zustand genießen, doch mir bleibt bewusst, dass über drei Stunden meines Lebens im Dunkeln liegen. Und ich habe keinerlei Hinweis auf die verlorene Zeit – außer dem, dass ich zu Beginn dieser Lücke mein Fahrrad nicht abgeschlossen habe. Ich denke nach.
Es gibt Fälle von zeitweiliger Amnesie. Die kann sowohl organische als auch psychische Ursachen haben. Bei mir ist sie wahrscheinlich organischer Natur. Vielleicht habe ich drei Stunden träumend in irgendeinem Café gesessen. Ich prüfe meinen Magen. Er fühlt sich ziemlich leer an. Was mich nicht erstaunt, denn wenn all das real ist, habe ich seit heute morgen um neun Uhr, also seit sechs Stunden, nichts mehr gegessen. Wieder ein Hinweis auf eine mögliche Ohnmacht? Vielleicht bin ich überfallen worden? Das wäre eine logische Erklärung. Voller Hoffnung taste ich meinen Kopf ab. Nichts. Aber das muss nichts heißen. Eine Epilepsie vielleicht?
Ich erreiche mein Zuhause, einen schönen renovierten Altbau in einer ruhigen und grünen Nebenstraße. Ich bewohne das Dachgeschoss. »Sei ehrlich zu dir. Du versuchst seit fünf Jahren erfolglos, dies zu deinem Zuhause zu machen.« Ich stelle mein Fahrrad ab. Spreche ich eigentlich neuerdings häufiger mit mir selbst?
Ich bemerke, dass es mir erstaunlich gut geht und dass ich nach dieser kurzen Radfahrt meine dramatische Situation mit ziemlicher Gelassenheit betrachten kann. Dann fällt mir wieder das Krankenhaus ein, und schon beginnen meine Hände aufs Neue zu zittern.
»Ich stehe hier träumend unter dem Carport, und der Kollege hat keine Ablösung. Niemand weiß, was mit mir los ist«, schimpfe ich. »Aber ich weiß es ja selbst nicht!« Meine Stimme bricht. »Wahrscheinlich bin ich ein schwer kranker Mensch. Psychisch oder organisch schwer krank.« Ich beginne zu heulen. Mir fällt der Fahrradschlüssel aus der Hand. Er landet klimpernd auf dem Asphalt. Ich greife danach und entdecke an meinem Zeigefinger ein frisches weißes Pflaster, das heute Vormittag um halb elf noch nicht da war.
Der Telefonhörer klemmt mir zwischen Schulter und Ohr.
»Ja«, hauche ich mit schwacher Stimme und starre auf den bepflasterten Zeigefinger. »Du weißt doch, dieses Virus. Ich kann gar nichts. Aber ich denke, ich komme morgen wieder … Ja, ich schaffe das schon. Ich komme dann morgen zur Spätschicht … Ja, ich weiß, viel trinken. Du, ich muss jetzt Schluss machen. Es geht schon wieder los … Ja, danke, tschüss.«
Ohne den Blick von meinem Zeigefinger zu wenden, lege ich das Telefon beiseite. Ich beiße mir auf die Lippe und denke angestrengt nach. Was war heute Morgen? Habe ich mich bei irgendeiner nebensächlichen Handlung verletzt? Habe ich vielleicht, noch im Halbschlaf, ein Pflaster aus dem Badezimmerschrank genommen und auf den Finger geklebt? Ich durchforste meine Erinnerung. Meine morgendliche Aufstehzeremonie läuft wie ein Film vor meinem geistigen Auge ab: Der Wecker piept. Ich integriere das Piepen fest in meinen Traum, schrecke dann aber nach einer Minute doch noch auf. Ich starre ein Weilchen an die Decke, fange wieder an zu träumen und stehe dann plötzlich und abrupt auf, was für meinen Körper wie ein kleiner Schock ist. Mein Kreislauf macht nicht mehr mit, ich wanke ins Bad, gehe aufs Klo, starre an die Wand und gerate schon wieder ins Träumen. Ich quäle mich wieder hoch, wasche meine Hände, mache mich auf den Weg in die Küche, setze Teewasser auf, gehe zurück ins Bad und dusche. Soweit keine Lücke in meiner Erinnerung. Und nach dem Duschen? Ich trockne mich ab, verzichte auf das Eincremen, ziehe mich an und frühstücke. Weder habe ich mich rasiert noch an meinen Haaren herumgeschnitten. Zum Frühstück gab es Müsli. Ich hatte kein Messer in der Hand. Ich habe mir die Zähne geputzt, die Haare frisiert, meinen Mantel angezogen, nach meiner Tasche gegriffen und das Haus verlassen. Ich habe kein Pflaster benutzt.
Ich springe aus meinem Sessel und renne ins Bad. Hektisch öffne ich die Badezimmerschranktür und krame zwischen Gesichtsmasken und Wattestäbchen nach der Pflasterpackung. Meine Finger zittern schon wieder, als ich ein Pflaster aus der Packung ziehe. Es ist hautfarben mit weißen Punkten. Ich vergleiche es mit dem an meinem Finger, obwohl ich das eigentlich schon nicht mehr brauche.
Ich sacke ein wenig in mich zusammen und trotte wieder ins Wohnzimmer. Ich falle in meinen Sessel, atme tief durch und reiße mir entschlossen das Pflaster vom Finger. Eine Schnittwunde. Nicht sehr tief. Sie hat nur ganz leicht nachgeblutet. Ich seufze.
Ich habe drei Stunden meines Lebens verloren, eine geheimnisvolle Schnittwunde an meinem Finger, die offensichtlich von jemand völlig Fremdem versorgt wurde, und meinen langjährigen Kollegen angelogen.
Meine Situation wird nicht besser. Ich starre an die Wand. Mir ist nicht gut. Ich fühle mich todkrank. Mir gefiel mein Leben schon vorher nicht. Jetzt gefällt es mir noch weniger. Vorher wusste ich zumindest noch, wer ich war. Jetzt weiß ich es nicht mehr. Jetzt gibt es da etwas Dunkles in mir. Ich fühle, dass ich nicht mehr in Ordnung bin, eher in ziemlicher Unordnung, nichts ist mehr, wie es war. Es kommt mir vor, als ob mein Leben heute Morgen um halb elf zugeschlagen wurde, wie ein Buch. Und als ob ich drei Stunden später ein neues aufgeschlagen habe, wie ein völlig neues anderes Leben, nur mit einer Zeitlücke dazwischen. Und wer bin ich jetzt? Etwas in mir sträubt sich vehement dagegen, mein neues Leben gleich in einer psychiatrischen Klinik zu beginnen.
»Ich bin schon vorher nicht in Ordnung gewesen«, sage ich zu mir selbst. »Und ich hatte auch schon vorher etwas Dunkles in mir. Wer ich wirklich bin, wusste ich auch vor dieser Amnesie nicht so genau. Also hat sich an meinem Zustand eigentlich nicht viel verändert, außer dass mir drei Stunden fehlen. Und wenn ich genau überlege, gibt es in meiner Vergangenheit viele Stunden, Wochen, ja mitunter Jahre, an die ich mich nicht mehr erinnere. Lege ich diese drei Stunden doch einfach dazu und gut ist. Ich brauche wahrscheinlich nur eine Auszeit. Und die nehme ich mir jetzt. Ich werde mal wieder so richtig ausschlafen, ein Hausmittel, das jeder Arzt zuerst empfiehlt. Es hilft immer und bei allem.«
Ich beruhige mich. Etwas misstrauisch schaue ich auf die Uhr. Es ist gleich fünf.
Ich stehe auf und koche mir etwas zu essen, Spaghetti mit Austernpilzsauce. Es schmeckt mir so gut wie nie zuvor. Ich genieße mein Essen ganz in Ruhe. Ein ungewohnter Zustand für mich. Ich glaube, ich habe noch nie jeden einzelnen Bissen so bewusst gegessen wie in diesem Moment. Ich schmecke jedes Gewürz heraus, ich registriere, dass ich lange und gründlich kaue, schließlich schlucke und das Essen meine Kehle hinunterrutscht bis in den Magen, wo es, so scheint es mir, mit großer Freude aufgenommen wird. Ich brühe mir noch einen Kräutertee auf, dann lege ich mich auf das Sofa.
Ich fühle mich entspannt und geborgen. Ich fühle mich wie damals, als ich klein war, und wie ich, wenn ich krank war, von meiner Mutter mit meinem Lieblingsessen getröstet wurde. Ich durfte mich dann immer aufs Sofa im Wohnzimmer legen, eingepackt in zwei dicke Wolldecken und versorgt mit einem neuen Comic. Manchmal sogar mit einem kleinen Spielzeug, das aber nur bei besonders ernsthaften Erkrankungen wie Masern oder Ähnlichem von meiner Mutter gekauft wurde. Das war allerdings auch so ziemlich die einzig angenehme Erinnerung an meine Kindheit.
Dieses schwarze Loch – ich wage es fast gar nicht zu denken – dieses schwarze Loch verschafft mir soeben die glücklichste Stunde seit … Ich weiß gar nicht, seit wann.
Ich bin eingeschlafen. Als ich aufwache ist es halb sieben. Ich habe zwölf Stunden geschlafen. Ich zögere. Habe ich wirklich nur geschlafen oder war ich womöglich wieder …? Ja, was denn eigentlich? Auf jeden Fall hatte ich einen Traum. Ein Krankenhaus brannte, Menschen flohen schreiend ins Freie. Und ich stand nur dabei und schaute. Das Feuer wütete weiter über die ganze Stadt, überall herrschte Chaos. Ich hörte Weinen, Rufen und lautes Klagen. Zum Schluss brannte auch meine Wohnung lichterloh. Alles brannte. Das Krankenhaus, meine Wohnung, die Stadt, meine Arbeit, mein Zuhause, mein Leben. Und ich stand nur dabei und schaute zu. Und war … froh. Meine Güte!
Ich nehme eine Dusche. Die Schnittwunde brennt leicht, als sie mit dem Shampoo in Berührung kommt. Ich beschließe, nachher, bevor ich ins Krankenhaus gehe, einen befreundeten Neurologen anzurufen. Ich werde ihn erst mal ganz unverbindlich fragen, was er über zeitweilige Amnesie weiß. Vielleicht bringt mich das weiter. Ansonsten, und diese Entscheidung stimmt mich froh, werde ich mein Leben und meinen Alltag vorläufig so weitergestalten wie bisher. Einmal ist schließlich keinmal. Und zum Vergleich: Wenn ich einmal kräftig huste, renne ich auch nicht gleich los und lasse meine Lunge röntgen.
Ich koche mir einen starken Kaffee und setze mich an den Küchentisch. Es ist neun Uhr. Ich habe jede Menge Zeit für ein gemütliches Frühstück. Die kleine Auszeit hat mir wirklich gutgetan. Ich fühle mich heute Morgen unglaublich fit und vital. Diese Sache gestern … ich sollte sie nicht überbewerten. Schuld war wahrscheinlich mein beruflicher Dauerstress.
Ich beiße mit großem Appetit in mein Brötchen, da klingelt plötzlich das Telefon. Ich würge den Bissen herunter und nehme ab. »Hallo«, sage ich.
»Ja, guten Morgen Frau Janusz«, höre ich eine freundliche Frauenstimme am anderen Ende der Leitung sagen. »Sommer hier. Entschuldigen Sie bitte die frühe Störung, aber es gibt da ein kleines Problem mit Ihrer Kontonummer.«
»Mit meiner Kontonummer?« Ich bin erstaunt. »Wer ist da überhaupt?«
Die Frau am Telefon lacht etwas unsicher. »Sommer, vom Reisebüro Sommer. Sie waren doch gestern Vormittag kurz bei uns und haben offensichtlich aus Versehen einen Zahlendreher in Ihre Kontonummer eingebaut. Jedenfalls konnten wir den Betrag nicht abbuchen.«
Ich lasse den Hörer fallen, als wäre er ein glühendes Stück Metall. Er poltert zu Boden und bleibt neben meinem linken Fuß liegen. Einen Moment lange starre ich ihn nur an. Dann bücke ich mich und hebe ihn langsam wieder auf.
»Hallo«, sage ich und habe die große Hoffnung, dass das alles nur ein schrecklicher Irrtum ist.
»Hallo Frau Janusz. Ist alles in Ordnung bei Ihnen?«, fragt mich die freundliche Frau Sommer besorgt.
Für einen kurzen Augenblick überkommt mich das Verlangen, der netten Dame alles zu erzählen, doch ich reiße mich zusammen. »Ja, es ist alles in bester Ordnung«, lüge ich. »Mir ist nur gerade versehentlich der Hörer aus der Hand gefallen.« Ich muss mich mehrfach räuspern, bevor ich in der Lage bin, weiterzusprechen. »Ähem … Ähm … Ja … Ich war gestern Vormittag kurz bei Ihnen, und nun gibt es … ein Problem?«
»Ja, aber nichts Gravierendes. Vielleicht könnten Sie mir noch mal eben Ihre Kontonummer durchgeben, um sie abzugleichen.«
»Aber selbstverständlich. Ich war wahrscheinlich gestern etwas aufgeregt wegen der Buchung und habe mich deshalb vertan.« Ich nenne Frau Sommer meine Kontonummer mit völlig sicherer Stimme, während mein Herz vor Aufregung rast. Ich bin also gestern im Reisebüro gewesen. Ich habe bei Frau Sommer gesessen, mit ihr geredet – offensichtlich wie ein ganz normaler Mensch – und irgendeine Reise gebucht. Doch ich kann mich an nichts erinnern! Schweißperlen sammeln sich auf meiner Stirn. Panisch warte ich darauf, dass Frau Sommer weiterspricht.
»Da haben wir es schon«, sagt sie fröhlich. »Die letzen beiden Zahlen waren vertauscht. Das kann natürlich mal passieren. So eine Reise zu buchen ist ja auch etwas Aufregendes. Obwohl man Ihnen das gestern überhaupt nicht angemerkt hat. Es wunderte mich sogar ein wenig, wie gelassen Sie waren, wenn ich das sagen darf. Als würden Sie jedes Wochenende dorthin reisen. Das kenne ich von vielen meiner Kunden ganz anders. Die hadern mit sich, sind furchtbar hektisch und aufgeregt. Sie haben Angst, irgendetwas Wichtiges zu vergessen. Na ja.«
»Tatsächlich?«, frage ich verblüfft. Ich zögere einen Moment. »Ich bin Ihnen gestern deswegen bestimmt ein wenig … na, wie soll ich sagen … merkwürdig vorgekommen, oder?« Ich lache betont locker ins Telefon.
»Ach nein, doch nicht merkwürdig. Ich fand es eher bemerkenswert, wie zielstrebig Sie mir sofort den Ort, an den es gehen soll, genannt haben. Ehrlich gesagt hatte ich eine so schnelle Fernreisebuchung in den fünfzehn Jahren, die ich das nun schon mache, noch nie. Aber eigentlich ist das ja richtig so. Sie wissen, was Sie wollen, und als Ärztin muss man seinen Urlaub ja spontan planen, nicht wahr? So, nun will ich Sie aber nicht länger aufhalten, Frau Janusz. Sie haben sicher noch viel vorzubereiten.«
»Einen Moment noch, Frau Sommer!«, rufe ich ein wenig zu laut ins Telefon. »Warten Sie, ich hab da noch eine Frage.«
»Ja?« Frau Sommer klingt überrascht.
Wie soll ich es anstellen?
»Ähm … Wie Sie sagen war ich gestern sehr entschlossen und zielstrebig, allerdings bin ich dafür hinterher umso konfuser gewesen. Wissen Sie, ich weiß jetzt gar nicht mehr, wo ich meinen Buchungsbeleg hingesteckt habe … Deswegen fehlen mir nun die genauen Abflugzeiten … und so. Außerdem fliege ich demnächst auch noch mit einer Freundin nach Mallorca. Die Reise habe ich nicht bei Ihnen gebucht … vielmehr hat meine Freundin die Reise für uns gebucht. Nicht, dass ich da jetzt etwas durcheinanderbringe … Also, vielleicht können Sie mir noch mal eben schnell sagen, wann genau …?«
»Meine Güte, Frau Janusz, Sie haben ja was vor in nächster Zeit! Ich schaue mal schnell nach.« Ich höre, wie Frau Sommer den Hörer beiseite legt und etwas in ihren Computer eintippt. Mein Herz, das sich zwischenzeitlich wieder etwas beruhigt hatte, beginnt aufs Neue hektisch zu schlagen, wie ein Vögelchen mit seinen Flügeln, als Frau Sommer das Telefon wieder geräuschvoll zur Hand nimmt. »Also, der Direktflug von Berlin Tegel, den Sie gebucht haben, geht um 20.42 Uhr und kommt um 7.25 Uhr in Ulan Bator an.«, sagt sie.
Mir schwirrt der Kopf. Ulan Bator?
»Entschuldigen Sie bitte, Frau Sommer. Und können wir noch mal eben schnell den Tag abgleichen?«
Frau Sommer lacht herzhaft ins Telefon. »Nun machen Sie aber Scherze, Frau Janusz, oder? Sie waren wohl gestern doch abwesender als es schien. Sie wollten den nächsten freien Flug nach Ulan Bator, und den habe ich Ihnen rausgesucht, am 23. Mai. Ich wünsche Ihnen eine gute Reise.«
»Danke«, sage ich fast tonlos und lege auf. 23. Mai … das ist … morgen!
An der Haustür klingelt es. Mit schwachem Schritt schleppe ich mich hin und öffne. Ein Kurier. Ich starre den netten jungen Mann mit seinen blauen Augen und seinem Kevin-Kuranyi-Bärtchen an. Er hält mir einen Umschlag hin.
»Für Frau Janusz. Sind Sie das?«
Ich nicke, nehme den Umschlag und unterschreibe. Der junge Mann bedankt sich höflich. Ich schließe die Haustür. Dann werfe ich einen Blick auf den Absender. Visaexpress. Ich ahne Schlimmes und reiße den Brief auf. Ein Visum, ausgestellt auf meinen Namen – für die Mongolei.
Ich rase zur Garderobe, reiße meine Handtasche vom Haken und hetze im selben Tempo zurück in die Küche. Dann schütte ich den ganzen Inhalt meiner Tasche auf den Tisch. Da liegen sie und fallen mir sofort ins Auge: Flugticket, Rechnung, Reiseinformationen und – ein abgerissener Zettel: »Guai Yaga«, steht darauf. Mehr nicht. Mit meiner eigenen Handschrift geschrieben. Aber wann?
Ich sitze auf meinem Küchenstuhl und starre auf die leere weiße Wand vor mir. In meinen Händen der Zettel mit diesen Worten. Ist es ein Name?
Was habe ich gestern nur alles in diesen knapp drei Stunden getan? Und vor allem, wer war dieses Ich, das das getan hat? Bin ich besessen? Schizophren?
Eines ist klar: Ich muss das tatsächlich selbst erledigt haben, wie das Gespräch mit Frau Sommer mir gezeigt hat. Ich oder zumindest das, was nach mir aussieht. Aber ich kann nicht ganz bei mir gewesen sein. Sonst würde ich mich doch an irgendetwas erinnern, oder? Auf Frau Sommer habe ich gestern einen völlig normalen Eindruck gemacht. Oder war das vielleicht doch nicht ich? Vielleicht eine Doppelgängerin? Ein mir unbekannter Zwilling?
Ich rekapituliere: Ich bin gestern also, allem Anschein nach, direkt vom Buchladen ins Reisebüro gegangen – kurz zuvor habe ich mein Gedächtnis verloren. Dann habe ich für 1000 Euro den nächsten freien Direktflug in die Mongolei gebucht – und irgendwie (wahrscheinlich per Internet) beim Visaexpress, mit deftigem Aufpreis, ein Blitzvisum beantragt. Das kann sein. Meinen Reisepass bewahre ich immer in der Handtasche auf, damit ich ihn nicht verlege. Seit der Erneuerung meines Personalausweises fliegen auch ein paar Passfotos darin herum. Als Nächstes bin ich dann über den Marktplatz zurück zu meinem Fahrrad gegangen – kurz zuvor habe ich offensichtlich mein Gedächtnis wiedererlangt.
Aber wie komme ich zu diesem Zettel mit den merkwürdigen Worten? Guai Yaga? Und wer hat mir diesen Namen oder diese Worte genannt? Habe ich mit jemandem gesprochen? Und wenn ja, mit wem? Woher stammt die Schnittwunde an meinem Finger? Und was um Himmels willen habe ich mit der Mongolei zu tun? Ich weiß nicht mal genau, wo dieses Land liegt! Irgendwo bei China. Unter normalen Umständen hätte ich Florida gebucht oder Kanada, aber die Mongolei?
Gut. Ich schaue auf die Uhr: 9.42 Uhr. Meine Güte, allmählich beginne ich, eine Abneigung gegen die Zeit im Allgemeinen und Uhren im Speziellen zu entwickeln. Die ganze Angelegenheit ist alles in allem wirklich beängstigend. Ein einigermaßen verantwortungsbewusster Mensch würde sich spätestens jetzt in die Hände von Fachleuten begeben. So spricht die Ärztin in mir. Ich stehe auf und greife zum Telefon.
»Ja, hallo Stefan. Es tut mir leid, aber es gibt da eine schlimme familiäre Angelegenheit … Ja, ich muss zwei Wochen Urlaub nehmen. Es ist schrecklich. Mein Vater, er ist sehr krank … Ja, ganz plötzlich. Ich muss sofort nach Hause und ihn pflegen … Nein, es geht nicht anders … Nur ich … Hm, ja okay … Es tut mir wirklich leid. Ich hoffe, ihr schafft das ohne mich … Danke, ich melde mich dann wieder … Was? Welches Virus? … Ach so. Ja, das ist fast wieder weg. Davon merke ich gar nichts mehr, wegen all der Sorgen … Ja, danke, mach es gut.«
Ich lege auf und habe für zwei Sekunden ein schlechtes Gewissen. Ich habe meinen Vater seit acht Jahren nicht mehr gesehen oder gesprochen.
Ich setze mich wieder an meinen Küchentisch. Ja, die Sache ist ganz schön verworren: Reisebüro, Schnittwunde, Mongolei, Guai Yaga, Zeit verloren, mich verloren … Ich warte darauf, dass mich die Panik überfällt, dass ich restlos den Verstand verliere, aufspringe, durch die Wohnung rase, den Kopf gegen die Wand schlage – aber nichts dergleichen geschieht.
Ich nehme meine Teetasse in die Hand und leere sie in einem Zug. »So«, sage ich zu mir selbst. »Dann will ich mal packen.«