Gaias Ruf - Ina Ruschinski - E-Book

Gaias Ruf E-Book

Ina Ruschinski

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Beschreibung

Zeiten des Wandels – die alte Schamanin Guai Yaga vernimmt in einer Vision Gaias Ruf und bricht auf, lässt die vertraute Jurte hinter sich und schlägt einen Pfad ein, den nur sie kennt: den Weg zum Herzen der Erde – jeder Tag ein Ritual der Heilung, jeder Schritt ein Gebet. Aber die Schamanin ist nicht allein. Die Kraftorte der Erde vernetzen sich. Weit entfernt von der mongolischen Steppe begeben sich auch die Künstlerin Alexandra und ihre 21-jährige Tochter auf eine Reise. Während sich der einen der Auftrag zur Heilung der Mutterlinie offenbart, stellt sich die andere dem Unbekannten und findet viel mehr, als sie je zu träumen gewagt hätte. Und über allem das Geheimnis der Zeichen und Steine – stiller, wissender Energiehüter …

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Seitenzahl: 225

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ISBN 978-3-8434-1431-9

Ina Ruschinski: Gaias Ruf Eine schamanische Reise zum Herzen der Erde © 2020 Schirner Verlag, Darmstadt

Umschlag: Simone Fleck, Schirner, unter Verwendung von # 1252466536 (© Iamkaoo99), # 553686628 (© Mashkova Olena), # 1404755693 (© Holly Mazour) und # 377866597 (© Marylia), www.shutterstock.com Print-Layout: Simone Fleck, Schirner Lektorat: Natalie Köhler & Katja Hiller, Schirner E-Book-Erstellung: Zeilenwert GmbH, Rudolstadt, Germany

www.schirner.com

1. E-Book-Auflage 2020

Alle Rechte der Verbreitung, auch durch Funk, Fernsehen und sonstige Kommunikationsmittel, fotomechanische oder vertonte Wiedergabe sowie des auszugsweisen Nachdrucks vorbehalten

Für Gaia.

Für uns.

Und eine kommende Zeit im Einklang.

Inhalt

Cover

Titel

Impressum

Die Vision – Gaias Worte

Wer ich bin

Das Geheimnis der Steine

Schoß der Erde

Meral

Der Weg zum Herzen – erster Tag

Nabel der Erde

Nida

Der Weg zum Herzen – zweiter Tag

Am Feuer der Schamanin

Balance des Ichs – Glaube oder Macht

Der Weg zum Herzen – dritter Tag

Der Erde Gesang und Ausdruck im Menschen

Der Weg zum Herzen – vierter Tag

Der Weg zum Herzen – fünfter Tag

Der Weg zum Herzen – sechster Tag

Wo Vater Himmel die Erde küsst

Der Weg zum Herzen – siebter Tag

Der Ort

Tausende auf dem Weg zum Herzen

Am Herzen der Erde – achter Tag

Epilog

Nachwort der Autorin

Über die Autorin

Nidas Geschichte

Machen auch Sie sich auf Ihren Seelenweg

In der mongolischen Steppe

Die Vision – Gaias Worte

Sie stand allein in weiter Steppe, kleine Gestalt in rotem Deel, weise, alte Frau, große Schamanin.

Über ihr die sternenklare Nacht, das schwarze Zelt, und der Mond, großer, weißer Mond. Das Feuer sprühte Funken in den Himmel, stieg wie eine Säule empor.

Die alte Schamanin sang: »Schoß der Erde, aus dir stieg alles Leben, alles Sein, sprudelnd, spuckend, mit lichten Funken und rotem Blut. Das, was war – ist – und sein wird – alles Fließende, Kriechende, Gehende … wir.«

Sie sang die Worte erneut, die Hände zum Gebet erhoben. Lange Wochen hatte sie auf diese Nacht gewartet. Auf diesen Mond. Er war so nah, wie es nur selten geschah. Als küsste er das nahe Bergplateau und ruhte still auf ihm, schlafend, wachend. In solchen Nächten war es leicht zu reisen. Der Geist konnte wandern, die Seele fliegen. Alles war durchschienen, trennte sich ab, löste sich auf.

Sie sang ein drittes Mal.

Das Feuer loderte. Das Kraut brannte und verströmte seinen beißenden Duft. Die Schamanin hüllte sich darin ein, singend, die Ahnen herbeirufend, das Unten beschwörend, das Oben bittend, und sie dazwischen, bis ihr Ich vollends in den Hintergrund trat und sich auflöste – zu reinem Sein, Seelenkraft, eingebettet in das ewige Ganze. Klang der Welt, Herzschlag der Erdenmutter.

Sie lud sie herbei, rief sie mit ihrem Gesang. Nie wusste die Schamanin, wie ihr Gaia erschien. Mal als ein Ton, mal als ein eindringlicher Gedanke, ein Beben, ein Tier, ein Zeichen der Elemente, ein Seelen streichelndes Empfinden in ihren Zellen, ihrem lichten Körper. Jedem, der Gaia von Herzen rief, erschien sie anders, und jeder machte sich sein eigenes Bild von ihr. Gaia, ihre Gestalt in uns.

Schwankender Boden, Funken sprühend das Feuer, Formen bildend im Rauch und aus dem Rauch, ein langer, dunkler Ton. Die alte Schamanin nahm ihn in sich auf, ihre heisere Kehle beugte sich dem Klang, stimmte sich auf ihn ein, wieder und wieder, vor ihr das höher tanzende Feuer – singend, flüsternd hörte sie die Stimme. Und wusste, zu wem sie gehörte. Die Schamanin sank zu Boden, langsam, auf die alten Knie, mit geschlossenen Augen schauend – Stille – da war sie!

Sie, in einen Leib gehüllt. Nicht alt, nicht jung.

Die Schamanin war nicht länger allein. Gaia war erschienen. Ihr.

Und Guai Yaga weitete ihr Herz und fühlte unter all der Liebe, wie sich Gaias Leid in ihr ausbreitete und zu ihrem eigenen wurde.

Die alte Schamanin ließ den Kopf auf die Brust sinken. Wund war ihr Herz, versehrt. Sie wusste, was sie in diesem Moment zusammen mit Gaia verspürte: Es war das, was kommen würde. Für sie, für jeden Einzelnen auf dieser Erde – Wandlung, Transformation. Schmerz.

Und Gaia sprach:

»Ich spüre jedes einzelne eurer Herzen, jedes,

das auf und in mir schlägt. Ich spüre, wie es schlägt,

ich spüre seine Angst, seine Wut, seine Qual,

sein beginnendes Leben und auch sein Sterben.

Jedes einzelne Herz fließt in mein Blut, in mein Herz.

Ich bin Gaia, die euch schöpft, jeden Tag,

und wieder aufnimmt am Ende eures Lebens.

Ihr wart einst Hüter des Lichts, geschaffen,

um mit mir im Einklang ein ganzes Wesen zu sein,

zu Hause in der Dimension des großen Ganzen.

Ihr habt euch entfernt von mir und dadurch vor

allem von euch selbst, von eurem Ursprung, eurer Kraft.

Es ist euer Weg. So lasse ich euch gehen …«

Die Schamanin hielt den Blick gesenkt, nickte. Sie wusste, dass nur das Herz, die bedingungslose Liebe, das Licht der Menschen erhöhte und damit auch die Schwingung – der Menschen, der Erde.

Gaias Energie spiegelte sich in jedem einzelnen Menschen wider. Und der einzige Weg, sich in dieser und in den folgenden Zeiten Heilung zu bewahren, war, sich mit Gaia zu synchronisieren. Die Schamaninnen wussten es. Heilerinnen und Weise wussten es, Menschen, die Gaia im Herzen trugen, tief verbunden mit der Schöpfung, wussten es. Doch was war mit all jenen, die diesen Prozess nicht mitgingen? Die leugneten und sich taub stellten gegen alle Zeichen? Was war mit all jenen?

Gaia sprach:

»Wir sind nicht zu trennen – das Kleine lebt im Großen,

das große Ganze lebt im Kleinen. Ihr seid mein Spiegel –

Spiegel der Erde.«

Im Garten, zwischen Skulpturen und Wald

Wer ich bin

Zeitenwechsel. In mir. Ich taumelte zwischen zwei Polen, in der Mitte meines Lebens oder wenig darüber. Ein stiller Funken Kraft in meinem Innersten wollte entfacht werden, vielleicht auch erlöschen. Etwas in dieser Art. Ich wusste es nicht. Ich rang mit mir, mit dem, was an mir zerrte, neuerdings. Es war nicht plötzlich gekommen, nicht über Nacht. Sondern langsam, schleichend, wie etwas Dunkles, das sich seit Monaten immer näher an mich herangetastet hatte. Etwas Vergangenes, eine Erinnerung an eine frühere Zeit? Oder etwas Neues, eine Aufforderung, den nächsten Schritt in meinem Leben zu tun? Ich wusste es nicht.

Ich stand auf meiner Arbeitsterrasse, dem kleinen gepflasterten Platz draußen vor der Hintertür zu meinem Atelier, und ließ die müden Arme sinken, Hammer und Beitel in den Händen. Gedankenverloren schaute ich auf meine Skulptur, die Liebenden, eng umschlungen, aus altem Quittenholz.

Das war meine Arbeit, meine Gabe. Seit Jahrzehnten formte ich Holz und Stein, und die harte Arbeit formte mich, Hände, Rücken, inneres Bild – Alleinsein. Ich hatte nie damit gehadert, das war meins, war ich. Immer gewesen, bislang.

Doch nun …

Die Dinge waren mir nicht mehr wichtig. Ich hinterfragte, was mich ausmachte. Und das war beileibe nicht viel. Ich hinterfragte mich.

Veränderung, ein naheliegender Gedanke. Doch machte er mir Angst. Mich verändern müssen? Mir war, als löste sich langsam etwas Altvertrautes in mir auf. Und ich sah mir selbst dabei zu – von außen. Was mich zutiefst beunruhigte. Als würde das, was mich bislang durchs Leben getragen hatte, zerbröseln und im Hintergrund verschwinden – ich. Dieses Gefühl ängstigte mich. Und nachdem ich irgendwann aufgehört hatte, mich darüber zu sorgen, und erfolgreich den Gedanken verdrängt hatte, dass es sich wie Sterben anfühlen könnte, glaubte ich zu erkennen, dass diesem Prozess etwas Bestimmtes zugrunde lag. Eine alte, nie geschlossene Wunde, eine verdrängte Erinnerung, deren Zeit nun gekommen war? Oder eine Energie im Außen, die auf mich einwirkte? Eine allgegenwärtige Schwingung, die möglicherweise nicht nur mich, sondern viele Menschen betraf? Ich war ausgesprochen empfänglich, überempfänglich für aller Art Schwingungen. Es war ein Segen für meine Arbeit, für höchste Inspiration, und ein Fluch für meine Beziehungen, zwischenmenschlich gesehen.

Doch dieser Funken in meinem Herzen … Ich wollte ihm nachspüren und ihm Raum geben. Nur so konnte ich diesen Prozess durchstehen oder zum Guten wenden. Zeitenwechsel in mir. Oder wo auch immer.

Ich ließ langsam meinen Kopf kreisen, um meinen Nacken zu entspannen, und setzte dann den Beitel erneut ans Holz. Späne flogen durch den Raum, die Schläge hallten wider im gewohnten Takt, tock, tock, tock.

Ich hatte immer versucht, meiner Seele Ausdruck zu geben. Mit meiner Kunst, meiner Empfindsamkeit, meinem Sosein – Anderssein. Ohne dass ich benennen konnte, woher dieses Gefühl des Andersseins eigentlich kam. Worin es begründet lag oder wurzelte. Denn auch meine Wurzeln fühlten sich fremd an, als wären sie nicht meine – brüchig.

Ich hatte gelernt, damit zu leben. Hatte gelernt, meine Angst im Zaum zu halten, sie zu beschwichtigen – indem ich das Leben lebte, das ich leben konnte. Ich war für manches in dieser Welt nicht gemacht und hatte mich oft gefragt, ob Angst mich daran hinderte, anders zu leben. Ob sie mir Erfahrungen und Schätze vorenthielt. Sie war wie eine Wegweiserin, sagte mir: Nur so kannst du du selbst sein – hier ist dein Leben, hier ist Sicherheit.

Ich hatte eine Tochter, Meral, sie war gerade erwachsen geworden. Mein Kind, ich hatte sie allein großgezogen, und ich war stolz auf sie, auf uns. Wir hatten das gut zusammen gemeistert, damals, nachdem ich mich von ihrem Vater gelöst hatte. Ich war gegangen – mit nichts – außer der mutigen Entscheidung, es allein zu schaffen. Das war nun schon sehr viele Jahre her, und seitdem lebten und überlebten wir mit meiner Kunst zu bildhauern – und gut zu wirtschaften.

Meral war vor über einem Jahr ausgezogen, und seitdem war die Beziehung schwieriger geworden. Sie wandte sich von mir ab, und ich hatte das traurige Gefühl, dass mir meine Tochter allmählich ebenso abhanden kam wie ich mir selbst. Ohne die Gründe zu erkennen. Was hatte sich zwischen uns verändert? War es ihr Erwachsenwerden? War es mein Sosein, das sie, mit Abstand betrachtet, plötzlich nicht mehr ertragen konnte? Oder war es einfach ein natürlicher Abnabelungsprozess, der nur so vonstattenging? Sie war nicht mehr so fröhlich, nicht mehr so unbeschwert wie als Kind. Welche Last trug sie mit sich, in ihren noch so jungen Jahren? Ich würde einiges dafür geben, sie ihr abnehmen zu können. Geist der Zeit, Zeitenwechsel. Vulnerable Welt.

Nun war ich also allein mit meinen beiden in mir zerrenden Polen, dem Funken in meinem Herzen, der so viel mehr noch wollte, und der Angst. Veränderung. Sollte ich nach etwas Neuem suchen, in einer Zeit, in der ich kaum die Kraft für das bereits Bestehende hatte? An manchen Tagen fühlte ich mich außergewöhnlich stark und glaubte, dass ich etwas in dieser Welt bewirken könnte. Und an anderen wiederum mühte ich mich ab, erstaunt darüber, wie ich noch tags zuvor diese wahnwitzigen Ideen gehabt haben konnte. Dann fühlte ich mich klein, und meine menschlichen Fehler zermürbten mich. Ich war sie so leid, meine Schwächen, meine Schmerzen und meine Angst vor dem Altwerden.

Die Erde, der Wald – dort fand ich Ruhe und Kraft. Ich brauchte nur von meinem Garten aus über das weite Feld zu gehen. Mein kleines gemietetes Haus mit meinem unbeheizten Atelier lag abseits der Stadt zwischen weit versprengten Höfen und Häusern, Kuhweiden und Feldern.

Ich ging jeden Tag in den Wald, suchte den Duft der Erde, nasses Holz, das Licht tanzend zwischen den Zweigen. Oft saß ich für einige Zeit auf einem Stein unter der alten Zeder und ließ mir die Sonne ins Gesicht scheinen. Dann war ich heil und verbunden – mit mir selbst und der Erde. Ein Teil von allem. Das gab mir Kraft und Inspiration. Und vor allem Vertrauen.

In diesen Momenten fragte ich mich, den Wald, den Stein, auf dem ich saß, den Himmel und die Erde, was eigentlich los war. Und dann kam mir der immer selbe Gedanke – etwas Neues wurde geboren. Wurde geboren – und war noch nicht da. Alles im Werden. Und im Vergehen. So musste ich Geduld haben, mit beiden Füßen fest auf der Erde stehend. Halt suchend. Und darauf warten, dass sich zeigte, was noch im Verborgenen lag und geheilt werden wollte.

Der Arm gelang mir nicht. Ich versuchte es erneut. Ich nahm den Schlägel und den kleinsten Rundbeitel und schnitzte vorsichtig Holzspan für Holzspan weg, um die Konturen besser herauszuarbeiten. Tick, tick, tick, die kleinen Späne flogen mir um den Kopf, verfingen sich in meinen Haaren. Lange Strähnen hatten sich aus dem Knoten gelöst, tick, tick, tick. Ich wischte mir mit dem Handrücken schnell einen Holzsplitter von der Augenbraue, verschwendete einen kurzen Gedanken an meine Schutzbrille, die drinnen auf dem Tisch lag, und meißelte dann dessen ungeachtet weiter.

Nach einer Weile trat ich zurück und besah mein Werk. Plump sah der Arm aus, viel zu groß. Plump, die ganze Skulptur. Mann, Frau, Liebende, eng umschlungen, eine Auftragsarbeit, ein Hochzeitsgeschenk, ein halber Monat Auskommen. Vielleicht auch etwas mehr, wenn ich sparsam war. Am liebsten wollte ich die ganze Skulptur nehmen, zerhacken und ins Feuer des Ofens werfen. Aber ich konnte mich gerade noch beherrschen. Eine komplette Woche Arbeit steckte darin, und in zwei Tagen war Abgabetermin. Wahrscheinlich würde der Käufer nicht mal bemerken, wie akribisch ich mit meiner Arbeit war. Er würde um das über einen Meter hohe Werk vermeintlich fachmännisch herumgehen, es betrachten, es schließlich toll finden und bezahlen.

Ich riss mich zusammen, suchte einen größeren Beitel aus meiner Werkzeugtasche heraus und begann, den misslungenen Arm weiter zu behauen, unzufrieden, mürrisch und mit wieder einmal plötzlich auftretenden Ohrenschmerzen. Dieses scheinbar aus dem Nichts einsetzende Stechen hatte ich seit Monaten. Ich hielt mitten im Schlag inne und ließ langsam den Schlägel sinken, während ich mit schmerzverzerrtem Gesicht darauf wartete, dass das Stechen wieder aufhören möge. Manchmal hatte ich Glück, und es verschwand so schnell, wie es gekommen war. Doch ein anderes Mal quälte es mich auch eine ganze Nacht lang, verbunden mit einem andauernden tiefen Ton in einem Ohr oder meinem Kopf. Wo genau der Ton herkam, wusste ich nicht. Ich schob es auf meine arbeitsbedingten Nackenverspannungen. Vielleicht nur ein vorübergehender Tinnitus. Doch ganz wohl war mir dabei nicht. Mein Körper wollte mir etwas sagen, und ich verstand ihn nicht. Ich hatte etwas Angst, dass sich meine Ignoranz dem Schmerz gegenüber irgendwann rächen könnte. Ich atmete tief ein und wieder aus und versuchte, mich zu entspannen. Der Schmerz stach noch ein paarmal unbarmherzig zu, wurde dann schwächer und ebbte schließlich vollends ab.

Dieses Mal hatte ich Glück gehabt, aufmerksam horchte ich in mich hinein.

Ich wusste, dass ich besser daran tat, mir eine Pause zu gönnen, aber ich konnte jetzt nicht mit der Arbeit aufhören. Ich wollte zuerst ein zufriedenstellendes Ergebnis. Ich hasste es, abzubrechen, solange ich den Schlägel noch nicht mit einem guten Gefühl beiseitelegen konnte. Auch nicht für eine Teepause. Also weiter, ein bisschen wärmende Aprilsonne schob sich durch die Bäume und wärmte meinen Nacken.

Irgendwann später fegte ich mit dem Ärmel die Holzspäne vom Tisch und ging prüfend um die Skulptur herum. Sie war noch nicht gut. Ich verzweifelte. Doch anstatt nun endlich in die Küche zu gehen und mir etwas zu essen zu machen, allein, um den Kopf und den Blick wieder frei zu kriegen, setzte ich mich auf meinen Holzschemel und schnitzte nun an den Füßen der Liebenden herum. Zarte Schläge auf den Beitel, Span um Span flog durch die Luft, wenigstens der Fuß wurde schön. Dann ein unbedachter Schlag, das Metall geriet zu tief ins Holz, Kerbe wieder ausgleichen und gereizt von vorn. Meine Handgelenke taten mir weh, die Finger waren wund und der Rücken steif. Ich konnte nicht mehr, ich hatte meine Grenze schon vor Stunden überschritten.

Immer noch Aprilsonne im Nacken. Schön wärmend, streichelnd, den schmerzenden Rücken hinunter.

Ich legte meine Arme auf den Tisch, bettete meinen schwer gewordenen Kopf darauf und schloss die Augen.

Als ich erwachte, war ich verwirrt. Holzspäne klebten an meiner Wange. Hatte ich geschlafen, hier auf meinem Arbeitstisch? Das war mir noch nie passiert. Ich schaute in den Himmel, die Sonne stand fast unverändert an selber Stelle, nur wenig westwärts gewandert. Ihr Licht wurde gebrochen durch das Laub der hohen alten Eichen. Offensichtlich war ich nur sehr kurz weg gewesen. Ich bewegte sanft meinen steifen Nacken und reckte die Arme. Leises Miauen von der Seite her. Ich wandte mich um, und mein Blick traf die leuchtend gelben Augen meiner Katze. Sie saß auf einem Haufen Sandsteinplatten, die ich vor einigen Wochen aus dem Steinbruch geholt hatte, und beobachtete mich. Wir sahen uns eine Weile lang an, ich lächelte, was sie meistens mit einem hohen Gicks erwiderte. Doch dieses Mal sprang sie mit einem eleganten hohen Satz von dem Stapel herunter, umkreiste die Platten zwei Mal, schnüffelte daran und schaute wieder zu mir, Gicks. Dann schritt sie gemessen zur Seite und setzte sich erwartungsvoll, wie mir schien, auf eine sonnenbeschienene Ecke am Rand der Terrasse.

Mein Blick wanderte von den Platten zu meiner Katze und wieder zurück zu den Platten.

Ich stand auf. Die Sonne schien auf den gelben Sandstein und ließ ihn fast leuchten. Ich strich mit der Hand über die oberste Platte. Rauer Stein, aus dem Fels gebrochen, kaum fünf Zentimeter dick. Leuchtend gelb, orange, mit fast schon kupfergoldenen Einschlüssen. Ich ging ins Atelier und kehrte mit meinem Steinmetzwerkzeug zurück. Ich strich wieder über die raue Ebene der Platte. Dann ergriff ich sie beherzt an den Rändern, ging etwas in die Hocke und hob sie entschlossen hoch. Schleppenden Schrittes wuchtete ich die wohl dreißig Kilogramm schwere Sandsteinplatte auf meinen großen Arbeitstisch, sodass die Liebenden daneben bedenklich zitterten. Ich nahm mein Steinmetzwerkzeug zur Hand und setzte es, ohne weiter nachzudenken, an. Ting, ting, ting, ting, ting, begann ich zu meißeln, ting, ting, ting, ting, ting. Die kleinen Schläge hallten wider von den Wänden des Hauses, vom Waldrand, ting, ting, ting, ting, ting, in meinem Kopf und in meinen Knochen, ting, ting, ting, ting, ting. Das war es, was ich tun wollte – tun musste. Wie in Trance arbeitete ich Linien heraus, Formen, gleichmäßig, Sandkiesel spritzten, ich trug wieder mal keine Schutzbrille, vergessen, ting, ting, ting, ting, ting. Ich war sofort in meinem Gefühl, Arbeitstrance nannte ich das, selbstvergessen, das war ich. Danke, Katze, ting, ting, ting, ting, ting – ting, ting, ting, ting, ting. Immer wieder. Bis es dämmerte, dunkel wurde.

In dieser Nacht hatte ich endlich mal wieder gut geschlafen. Überhaupt geschlafen. Tief und fest. Ich war am Abend zuvor müde ins Bett gewankt, mit schmerzenden Händen und steifem Rücken. Die geschlafenen Stunden waren mir wie eine kurze Unterbrechung zwischen den Tagen vorgekommen.

Es war noch früh am Morgen. Ich schlurfte durch die Küche und ließ dabei dehnend meine Rückenwirbel und meinen Nacken knacken. Ich öffnete die Hintertür zum Garten, und schon lief mir Katze laut miauend entgegen. Zuerst ihr Frühstück, vorher brauchte ich an gar nichts anderes zu denken. Ich füllte ihren Napf vor der Tür, während sie mir unablässig mit dem Kopf gegen die Hand boxte. Es ging ihr nicht schnell genug. Ich versuchte, das Futter nicht danebenzuschütten, was bei Katzes Vehemenz nicht einfach war. Als sie endlich fraß und ich sie noch ein wenig dabei kraulte, ganz so, wie sie es gerne hatte, fiel mein Blick auf den Sandstein. Er lag ruhig auf dem Arbeitstisch. Natürlich lag ein Stein ruhig. Wie sollte er auch sonst liegen? Aber da war etwas anderes darin, was mich jetzt gefangen nahm. Vielleicht lag er nicht nur ruhig da, sondern zufrieden. Zufrieden? Ich rieb mir die Stirn, die Augen, den Nacken. Das wurde ja immer abstruser mit mir. Ich hatte wohl doch etwas zu lange gearbeitet gestern Abend. Bis weit nach Einbruch der Dunkelheit, wenn ich mich recht erinnerte, hatte ich den Stein gemeißelt. Im Grunde blind. Doch mit einer gewissen Sucht, nicht aufhören könnend. Ich hatte gewollt, dass er fertig würde, wie aus einem Guss, ohne Unterbrechung. Nun war ich gespannt, ob es mir tatsächlich gelungen war. Solch wunderbare Schaffensprozesse, in denen ich tranceartig an einer Skulptur arbeitete und mich dabei völlig selbst vergaß, waren selten.

Ich ging hinaus. Katze strich mir um die Beine, freudig erregt brachte sie mich fast zum Stolpern. Der Stein lag da, im Morgenlicht, und schien auf mich zu warten – sieh her, schaue mich an.

Was ich dann auch tat.

Das Geheimnis der Steine

Die alte Schamanin wog den Stein in ihrer Hand.Gaias Geist ruhte in ihm, ruhte in jedem Stein, in allem. Doch Steine waren besonders. So alt wie Gaia selbst. Jede Zeit war in ihnen gespeichert. Jede Schwingung überdauerte in den Steinen. Sie waren und sie würden sein, alle Zeiten hindurch. Sie prägten die Orte und wurden selbst durch sie geprägt. Jeden Gedanken, jeden Wunsch, jede Absicht, jeden Schmerz nahmen sie auf. Wenn man um ihr geheimes Wesen wusste – und die alte Schamanin tat es –, konnten sie eine große Kraft entfalten – Schwingungsmedizin.

Steine würden ihre Reise begleiten – den Weg zum Herzen der Erde. Sie würden helfen, um ihrer selbst willen. Helfen zu heilen – Herzheilen.

Guai Yaga legte den Stein zurück an seinen Platz gleich neben der Feuerstelle. Sie hatte dort im Laufe der Jahre einen Haufen von vielen Steinen angesammelt, in deren Mitte ein großer Findling lag. Er war der Hüter aller und trug eine ganz besondere Heilenergie in sich. Er war schon da gewesen, lange bevor Guai Yaga diesen Platz für sich und ihre Arbeit gewählt hatte. Und wenn es für ihre Heilzeremonie erforderlich war, wählte sie einen der Steine aus – oder vielmehr: Sie fragte sie, welcher bereit war, die Arbeit für den jeweiligen Menschen zu tun. Und Guai Yaga konnte sicher sein, dass sich der richtige Stein in den Vordergrund drängte, als würde er sie rufen. Die Schamanin hörte es, sah es und spürte seine Energie – wusste, er würde helfen. Dann speicherte sie die für den jeweiligen Menschen und Zeitraum benötigten Intentionen im Stein ab, segnete ihn und sprach ein dankendes Gebet.

So halfen ihr die Steine, und nun würden sie auch Gaia helfen. Die alte Schamanin dachte zurück an die Zeit, als ihr das Geheimnis der Steine übertragen worden war …

Ich starrte auf den Stein. Lange Zeit. Was um Himmels willen …? Er lag einfach so da, vor mir, ruhig und zufrieden. Schon wieder dieser absurde Gedanke. Zufrieden. Aber anders konnte ich es nicht bezeichnen – doch, da war noch viel mehr als das. Mich durchlief ein erregter Schauer. Was hatte ich da nur getan? Und wie hatte ich das in der Dunkelheit ganz ohne Vorplanung und Skizze so perfekt hinbekommen? Ich hatte mit nahezu geschlossenen Augen gearbeitet, fast schon im Schlafzustand. Und nun lag das Ergebnis vor mir. Das. Es. Und brannte sich in meine Augen, in mein Hirn, nahm mich vollständig gefangen.

Eigentlich konnte das nicht sein. Es war schier unmöglich, dass ich das gemacht hatte. Aber jemand anderes kam nun mal nicht infrage. Ich musste schlucken. Schauer, Kribbeln, fast schon Ehrfurcht überkamen mich. Dieser Stein, oder vielmehr das, was ich da in allerfeinster Steinmetzkunst hineingemeißelt hatte, breitete sich vor mir aus und verströmte eine Energie, die mich bis ins Herz traf. Aber was war es?

Katze sprang hoch und landete ganz und gar nicht ehrfürchtig auf der von mir bestaunten Steinplatte. Ich zuckte vor Schreck zusammen, als sei es der Stein gewesen, der mir da entgegengesprungen war. Schnurrend setzte sich meine Katze hin und verdeckte nun einen großen Bereich des Werkes, während ihr Schwanz vor Wohlbehagen zitternd über den noch sichtbaren Teil glitt. Katze sah mich an, ich sah sie an. »Was ist das?«, flüsterte ich. Sie gab ein hohes Gicks von sich und legte sich dann sich rekelnd über die gesamte Steinplatte, um gekrault zu werden.

Doch ich war wie paralysiert. Geradezu bewegungsunfähig.

Das, was ich da in abendlicher Ekstase in den Stein gemeißelt hatte, hatte ich noch nie zuvor irgendwo gesehen. Wie also sollte ich es gemacht haben? Ohne Idee, ohne Vision, ohne Plan. Und dennoch war es so. Ich hatte es gestaltet, einfach so, automatisch, in blinder Dunkelheit. Und es war rundherum perfekt.

Ich saß da und tippte aufgeregt mit meinen Fingern auf die Tischplatte. Der Stein lehnte nun aufgestellt an einem Findling in meinem Garten. Ins Sonnenlicht getaucht, wirkte er noch mystischer. Ich war skeptisch geworden. Zu viele Fragezeichen schwirrten mir durch den Kopf, als dass ich mich an diesem Kunstwerk wirklich erfreuen konnte. War es denn ein Kunstwerk? Eher etwas anderes. Aber was? Ich hatte es gestaltet, zweifellos. Aber mit welcher Absicht? Woher war die Inspiration dazu gekommen? Und wie hatte es mir bei fast völliger Dunkelheit in solcher Perfektion gelingen können? Unter normalen Umständen hätte ich selbst bei bestem Tageslicht viel Mühe darauf verwenden müssen, solch schön geschwungene Linien, ungewöhnlich und miteinander verflochten, in den harten Stein zu schlagen. Ohne vorzuzeichnen im Grunde ein Ding der Unmöglichkeit. Ich kannte diese Linien und Formen nicht – diese Zeichen, die ineinanderfließend miteinander verwoben ein harmonisches Ganzes bildeten. War es eine Schrift? Waren es Symbole? Und wenn, so waren sie stark. Das spürte ich deutlich, obwohl ich gut fünfzehn Meter von dem Stein entfernt saß.

Durch meine Kunst hatte ich durchaus eine Verbindung zu Formen und Symbolen. Sie gehörten sozusagen zu meinem Repertoire. Auch Runen und keltische Zeichen hatte ich schon des Öfteren gemeißelt, als Auftragsarbeiten, Geschenke zum Einzug, zur Eröffnung, für Häuser und Grundstücke – ich kannte das – konnte das. Aber dieses – ja, was war es denn nun – konnte ich mit nichts vergleichen, was ich je zuvor gesehen, geschweige denn gestaltet hatte.

Ich stand auf und ging ins Haus. Systematisch begann ich, meine Fachbücher durchzuschauen.

Dass sie mir nicht weiterhelfen würden, war mir im Grunde schon vorher klar gewesen.

Ich suchte im Netz. Verfranzte und verlor mich in einem Wust aus Schriftzeichen, Sanskrit, Reikisymbolen, Verschwörungstheorien, Runen, Keltenmystik und was es noch so alles gab. Doch weder fühlte ich mich hinterher schlauer, noch fand ich meinen Stein – meine Zeichen darin.

Genervt über die verschwendeten Stunden, stand ich auf und versuchte, den Liebenden einen endgültig letzten Schliff zu verpassen. Um wenigstens noch irgendetwas Sinnvolles an diesem Tag zu Ende zu bringen.

Ich setzte mir eine Staubmaske und die Schutzbrille auf, dann betätigte ich leidenschaftslos die Schleifmaschine – die Skulptur wirkte banal auf mich. Ich fuhr über das schöne Quittenholz, das zu Körpern und ineinander verschlungenen Gliedmaßen sowie verliebt versunkenen Gesichtsausdrücken geworden war.

Abfegen, Einölen, fertig.

Ich verschwendete kaum mehr einen Blick auf das Werk. Es gab nur noch eines, das meine gesamte Aufmerksamkeit auf sich zog.

Ich ging nach draußen und setzte mich in das Gras vor dem Stein. Mein Körper vibrierte noch etwas vom Motor der Schleifmaschine, die Erdung tat gut.

Ich nahm eine entspannte Meditationshaltung ein, der Stein mir gegenüber war schon ins Dunkel des Abends getaucht. Das Zeichen ließ den Stein für mich lebendig wirken, und ich war bereit, ihm zuzuhören.

Eilig überquerte ich die viel befahrene Straße. Fast wäre ich an der gesuchten Adresse vorbeigegangen, in dieser Gegend war ich nicht allzu oft.

Mitten im belebten Wohnviertel aus renovierten Altbauten gab es einige kleine Lädchen. Unter anderem auch jenen, zu dem ich wollte.