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In Henryk Sienkiewicz's Werk 'Seemanns-Legende und andere Erzählungen' wird der Leser in eine Welt voller maritimer Abenteuer und faszinierender Geschichten entführt. Der Autor präsentiert uns eine Sammlung von Erzählungen, die von Seefahrern, Legenden und dem Leben auf hoher See handeln. Sienkiewicz' literarischer Stil zeichnet sich durch seine detaillierte Beschreibung von Meereslandschaften und die Darstellung der menschlichen Psyche in Extremsituationen aus. Diese Erzählungen stehen im Kontext des 19. Jahrhunderts und reflektieren die Romantik und Sehnsucht nach Abenteuer dieser Zeit.
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Seitenzahl: 399
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Books
Vor fünf oder sechs Jahren wurden in der Grafschaft Maryposa in einer gewissen Ortschaft Naphtaquellen entdeckt. Bei dem immensen Gewinn, den derartige Gruben in den amerikanischen Staaten abwerfen, gründete gleich ein Unternehmer eine Gesellschaft, um die neuentdeckten Quellen zu verwerten. Es wurden verschiedene Maschinen, Pumpen, Bohrer und andere Gerätschaften angekauft, Arbeiterhäuser wurden erbaut, und die Ortschaft Struck Oil getauft. Nach einer geraumen Zeit erhob sich in einer öden, unbewohnten Gegend eine Ansiedlung, die aus einigen Dutzend Häusern mit einer Bevölkerung von mehreren hundert Arbeitern bestand. Zwei Jahre später hieß Struck Oil schon Struck Oil City, und es war tatsächlich schon eine City im vollen Sinne des Wortes entstanden. Es lebten bereits ein Schuster, ein Schneider, ein Zimmermann, ein Schmied, ein Fleischer und ein Doktor in der Stadt, ein Franzose, der seinerzeit in Frankreich die Bärte rasierte, im übrigen aber ein »gelehrter« und unschädlicher Mensch war, was bei einem amerikanischen Doktor schon viel sagen will. Wie das in kleinen Städten häufig der Fall ist, unterhielt der Doktor zugleich die Apotheke und die Post; und so hatte er eine dreifache Praxis. Er war als Apotheker ebenso unschädlich wie als Doktor, denn in seiner Apotheke waren nur zwei Arzneien erhältlich: Zuckersirup und Canol. Dieser stille und sanfte Greis pflegte seinen Patienten gewöhnlich zu sagen: »Habt vor meinen Arzneien keine Angst. Ich habe die Gewohnheit, wenn ich einem Kranken eine Arznei gebe, immer eine gleiche Dosis selbst einzunehmen, denn wenn sie mir Gesundem nicht schadet, wird sie auch den Kranken nichts schaden. Nicht wahr?«
»Ganz richtig,« antworteten die befriedigten Bürger, denen es gar nicht einfiel, daß es die Pflicht eines Arztes sei, nicht nur dem Kranken nicht zu schaden, sondern zu helfen.
Herr Dasouville – so hieß der Doktor – glaubte aber besonders an die wunderbaren Folgen des Canol. Auf Volksversammlungen zog er zum Beispiel den Hut vom Haupte, und sich zum Publikum wendend, sagte er: »Meine Herren und Damen! Überzeugt Euch von der Wirkung meines Mittels. Ich bin siebzig Jahre alt. Seit vierzig Jahren nehme ich täglich Canol ein, und schaut, ich habe kein einziges graues Haar auf dem Kopf.«
Die Damen und Herren aber bemerkten, daß der Doktor nicht nur kein einziges graues Haar, sondern überhaupt keins hatte, denn sein Kopf war kahl wie ein Lampenschirm. Da aber derartige Bemerkungen zu Struck Oil Citys Gedeihen in gar keiner Weise beitrugen, wurden sie auch nicht weiter beachtet.
Unterdessen wuchs und gedieh Struck Oil City.
Nach Ablauf von zwei Jahren wurde eine Zweigbahn errichtet. Die Stadt hatte schon ihre eigenen Beamten; der Doktor, der allgemein beliebt war, wurde als Repräsentant der Intelligenz zum Richter eingesetzt, der Schuster, ein Jude aus Polen, Mister Devis, zum Sheriff, das heißt, Chef der Polizei, die nur aus dem Sheriff und sonst niemand bestand. Es wurde eine Schule errichtet, deren Leitung man einer uralten, kränklichen Jungfrau übertrug. Schließlich wurde auch das erste Hotel unter der Firma »United States Hotel« eröffnet.
Die Geschäfte nahmen auch einen ungewöhnlichen Aufschwung. Der Naphtaexport warf einen guten Profit ab. Man sah, daß Mister Devis vor seinem Laden ein Schaufenster errichten ließ, ähnlich wie die, die in San Francisco die Schuhhandlungen schmücken. Dafür wurde dem Herrn Devis von den Bürgern für diese neue Zierde der Stadt öffentlicher Dank gesagt, worauf Mister Devis mit der Bescheidenheit eines großen Bürgers antwortete: »Danke Euch, danke Euch sehr!«
Wo es einen Sheriff und Richter gibt, dort kommen auch Prozeßsachen vor, das erheischt Schreibwaren und Papier, und so entstand an der Ecke der Long-Street ein Papiergeschäft, in dem man politische Journale und Karikaturen verkaufte und sich über die Vereinigten Staaten lustig machte. Die Pflichten eines Sheriffs erheischten es ganz und gar nicht, den Verkauf derartiger Illustrationen zu verbieten, denn das gehört nicht zur Polizei.
Aber das genügte nicht. Eine amerikanische Stadt kann ohne eine Zeitung nicht leben und so entstand im zweiten Jahr eine Zeitschrift unter dem Titel: »Samstags-Wochen-Rundschau«, die so viel Abonnenten wie Struck Oil City Einwohner zählte. Der Redakteur dieser Zeitung war gleichzeitig deren Herausgeber, Drucker, Verwalter und Austräger. Die letztere Obliegenheit war freilich um so leichter, da er sich außerdem Kühe hielt und jeden Morgen die Milch austragen mußte. Das hinderte ihn aber ganz und gar nicht, die politischen Leitartikel mit den Worten zu beginnen: »Wenn unser infamer Präsident der Vereinigten Staaten den Rat, den wir ihm in unserer vorigen Nummer erteilten, befolgt hätte …« und so weiter.
Wie man sieht, fehlte also nichts im gesegneten Struck Oil City. Da sich außerdem die Grubenarbeiter, die sich mit Petroleumgewinnung beschäftigten, weder durch Gewalttätigkeit noch durch rüde Sitten, wie die Goldsucher, auszeichneten, war es in der Stadt ruhig. Es kamen keine Raufereien vor und von einer Lynchjustiz hörte man niemals. Das Leben floß ruhig dahin und ein Tag war wie der andere. In der Frühe ging jeder seinen Geschäften nach, abends verbrannten die Bürger den Kehricht auf den Gassen, und wenn es kein Treffen gab, gingen sie schlafen.
Der einzige Kummer des Sheriffs war, daß er den Bürgern nicht abgewöhnen konnte, des Abends mit Flinten auf die wilden Gänse zu schießen, die über die Stadt dahinflogen. Die Stadtgesetze verbieten das Schießen in den Straßen. »Wenn dies irgendein obskures Städtchen wäre,« pflegte der Sheriff zu sagen, »nun, da hätte ich geschwiegen; aber in solch einer großen Stadt piff, paff! piff, paff! das ist nicht erlaubt.«
Die Bürger hörten zu, schüttelten die Häupter und antworteten. »O yes!« Wenn aber abends am geröteten Himmel wieder die Schwärme weißer und grauer Wildgänse auftauchten, vergaß jeder sein Versprechen, griff nach der Büchse – und die Schießerei ging von neuem los.
Herr Devis konnte zwar jeden Schurken beim Richter anzeigen, und der Richter konnte ihn mit einer Geldbuße bestrafen, man durfte aber nicht vergessen, daß die Schuldigen im Falle einer Krankheit gleichzeitig die Patienten des Doktors, und wenn ihre Schuhe rissen, die Gäste des Sheriffs waren, und da eine Hand die andere wäscht, tat auch eine Hand der anderen kein Unrecht.
Und so war es in Struck Oil City so friedlich wie im Himmel; aber diese schönen Tage nahmen jäh ein Ende. Der Besitzer des einen Warenhauses entbrannte im tödlichen Hasse zur Inhaberin des anderen, und sie zu ihm. In ihrem Laden kann man alles haben: Mehl, Hüte, Zigarren; Besen, Knöpfe, Reis, Sardinen, Hemden, Speck; Sämereien, Blusen, Hosen, Lampengläser, Beile, Zwieback, Teller, Papierkragen, gedörrte Fische – mit einem Worte alles, was der Mensch gebrauchen kann.
Zu Anfang gab es in Struck Oil City nur ein solches Warenhaus. Der Eigentümer, ein Deutscher, Hans Kasche mit Namen, war ein phlegmatischer Mensch; er stammte aus Preußen, war fünfunddreißig Jahre alt, hatte Glotzaugen, sah ziemlich fesch aus und ging immer ohne Rock einher, die Pfeife kam nie aus seinem Munde. Englisch konnte er soviel, wie unumgänglich notwendig war, aber kein Wort mehr. Das Geschäft führte er gut, so daß man schon nach einem Jahre in Struck Oil City sagte, es sei einige tausend Dollar wert.
Aber plötzlich tauchte ein zweites Geschäft auf. Und sonderbar, das erste hielt ein Deutscher und das zweite machte eine Deutsche auf. Zwischen beiden Parteien entbrannte sofort ein Krieg, der damit seinen Anfang nahm, daß Fräulein Naumann zum Begrüßungslunch Plätzchen aus Mehl herstellen ließ, das mit Soda und Alaun vermischt war. Damit hätte sie sich in der öffentlichen Meinung geschadet, wenn sie nicht dabei betont hätte und auch Zeugen stellte, daß sie ihr Mehl noch nicht ausgepackt habe und dieses inzwischen bei Hans Kasche gekauft hätte. Es stellte sich also heraus, daß Hans Kasche ein Neidhammel und niederträchtiger Mensch sei, der gleich zu Beginn seine Konkurrentin in der öffentlichen Meinung zugrunde richten wollte.
Es war übrigens vorauszusehen, daß zwei gleiche Handlungen miteinander rivalisieren würden, aber niemand sah voraus, daß die Konkurrenz in einen furchtbaren persönlichen Haß übergehen würde. Dieser Haß erreichte bald einen solchen Grad, daß Hans nur dann den Kehricht verbrannte, wenn der Wind den Rauch davon nach dem Laden seiner Gegnerin wehte und sie nannte Hans nicht anders als »Deutscher«, was er als Beschimpfung auffaßte.
Anfänglich lachten die Einwohner über beide um so mehr, als sie nicht Englisch konnten. Allmählich aber bildeten sich zwei Parteien, die sich mit scheelen Augen anzusehen begannen, was der Wohlfahrt und dem Frieden des Gemeinwohles schadete und für die Zukunft unheilvolle Verwickelung heraufbeschwören konnte. Devis wollte das Übel gleich an der Quelle heilen und so bemühte er sich, den Deutschen mit der Deutschen zu versöhnen. Manchmal pflegte er inmitten der Straße Posto zu fassen und zu ihnen in ihrer Muttersprache zu sprechen: »Nun, warum wollt Ihr Euch zanken. Kauft Ihr denn nicht bei einem Schuster Schuhe? Ich habe solche, die selbst in San Francisco nicht besser zu haben sind.«
»Es ist vergebens, dem, der bald ohne Stiefel gehen wird, Schuhe anzupreisen,« unterbrach Fräulein Naumann ihn mürrisch.
»Ich verschaffe mir mit den Füßen keinen Kredit.« antwortete Hans phlegmatisch.
Nun mußte man wissen, daß Fräulein Naumann tatsächlich schöne Füße hatte, und so erfüllten solche Sticheleien ihr Herz mit einem tödlichen Zorn.
In der Stadt begannen schon die beiden Parteien auch auf den Meetings die Angelegenheit zwischen Hans Kasche und Fräulein Naumann zu berühren. Da in Amerika aber in einer Angelegenheit mit einer Frau niemand Gerechtigkeit findet, so war die Majorität auf Fräulein Naumanns Seite.
Hans machte bald die Wahrnehmung, daß sein Geschäft sich kaum noch rentiere. Aber auch Fräulein Naumann machte nicht allzu glänzende Geschäfte, denn alle Frauen der Stadt ergriffen Hans’ Partei. Sie bemerkten nämlich, daß ihre Männer allzu häufig bei der schönen Deutschen Lieferungen hatten und bei jedem Einkauf allzu lange sitzen blieben.
Wenn beide Geschäfte ganz ohne Kunden waren, standen Hans Kasche und Fräulein Naumann in der Tür, einer dem anderen giftige Blicke zuschleudernd, und Fräulein Naumann sang nach der Melodie »Ach, du lieber Augustin«: »Deutscher, Deutscher, Deutscher!« Herr Hans betrachtete dann sein Gegenüber mit einem Ausdruck, wie er wohl ein erlegtes Wild betrachtet hätte, und brach in ein höllisches Lachen aus.
Der Haß in diesem sonst so phlegmatischen Menschen wurde immer größer, so daß er, wenn er des Morgens Fräulein Naumann sah, schon in Wut geriet. Es wäre schon lange zwischen ihnen zu Handgreiflichkeiten gekommen, wenn er nicht gewußt hätte, daß er in jedem Prozeßfalle den kürzeren ziehen würde, um so mehr, als Fräulein Naumann den Redakteur der Samstag-Wochen-Rundschau auf ihrer Seite hatte. Hans überzeugte sich davon, als er das Gerücht aussprengte, Fräulein Naumann trage eine künstliche Büste. Es war sehr wahrscheinlich, denn in Amerika ist dies ein allgemeiner Brauch.
In der folgenden Woche erschien in der Samstag-Wochen-Rundschau ein niederschmetternder Artikel, in welchem der Redakteur, von den Verleumdungen im allgemeinen sprechend, mit der feierlichen Versicherung eines gut Informierten schloß, daß die Büste einer gewissen verleumdeten Lady echt sei. Von da an trank Herr Hans jeden Morgen statt weißen, nur schwarzen Kaffee, denn er wollte von diesem Redakteur keine Milch mehr beziehen, dafür aber nahm Fräulein Naumann beständig zwei Portionen. Außerdem ließ sie sich vom Schneider ein Kleid anfertigen, dessen Taillenform alle endgültig überzeugen mußte, daß Hans ein Verleumder sei.
Der weiblichen Schlauheit gegenüber fühlte Hans sich wehrlos.
Unterdessen aber sang sie jeden Morgen, sich vor den Laden stellend, immer lauter: »Deutscher, Deutscher, Deutscher!«
»Was könnte ich ihr antun?« dachte Hans. »Ich habe Rattengift, soll ich ihre Hühner vergiften? Nein, ich würde sie ersetzen müssen. Ich weiß aber, was ich tun werde.«
Und abends bemerkte Fräulein Naumann zu ihrer großen Verwunderung, wie Herr Hans Bündel wilder Sonnenblumen herbeitrug und sie vor dem vergitterten Kellerfensterchen wie einen Steg aufschüttete.
»Ich bin neugierig, was das werden wird,« dachte sie bei sich, »wahrscheinlich etwas gegen mich.«
Unterdessen brach die Nacht herein. Herr Hans ordnete die Sonnenblumen in zwei Linien, so daß nur in der Mitte ein Durchgang zum Kellerfensterchen frei blieb, dann brachte er einen mit einer Leinwand bedeckten Gegenstand, wendete sich mit dem Rücken gegen Fräulein Naumann, entfernte die Leinwand von dem geheimnisvollen Gegenstand und bedeckte ihn mit Sonnenblumenblättern. Dann näherte er sich der Mauer und begann darauf Buchstaben zu zeichnen.
Fräulein Naumann kam vor Neugierde schier um. »Er schreibt wahrscheinlich etwas gegen mich an,« dachte sie, »aber wenn alle schlafen gegangen sind, werde ich hingehen, um nachzuschauen, selbst wenn ich es mit dem Leben büßen sollte.«
Nachdem Hans mit seiner Arbeit fertig war. ging er hinauf in seine Wohnung, und bald darauf löschte er das Licht aus.
Da hüllte sich Fräulein Naumann hastig in einen Schlafrock, zog auf die nackten Füße Pantoffel und ging hinaus über die Gasse. Sie erreichte die Sonnenblumen und ging auf den Steg zum Fensterchen, um die Aufschrift an der Wand zu lesen. Plötzlich quollen ihre Augen hervor, sie warf ihren Oberkörper zurück und ihren Lippen entrang sich ein schmerzliches »ach, ach!« dann ein verzweifelter Aufschrei: »Zu Hilfe, zu Hilfe!«
Oben wurde ein Fenster aufgemacht. »Was ist das?« erscholl ruhig Hans’ Stimme. »Was ist das?«
»Verfluchter Deutscher.« brüllte das Mädchen. »Du hast mich ermordet und zugrunde gerichtet! Morgen wirft Du gehängt. Hilfe! Hilfe!«
»Ich komme gleich herunter.« sagte Hans.
Bald darauf erschien er wirklich mit einer Kerze in der Hand. Er blickte Fräulein Naumann, die wie an den Boden angenagelt dastand, an, dann stemmte er die Hände in die Hüften und begann zu lachen. »Was ist das Fräulein Naumann? Hahaha! Fräulein, guten Abend. Hahaha! Ich habe ein Fangeisen auf Skunks aufgestellt und hab’ Sie gefangen. Wozu sind Sie hergekommen, um in meinen Keller hineinzuschauen. Ich habe absichtlich an die Wand eine Warnung geschrieben, daß man sich nicht nähere. Jetzt schreien Sie; es sollen die Leute gelaufen kommen, sie sollen alle sehen, daß Sie hergekommen sind, um in den Keller des Deutschen hineinzuschauen. O mein Gott, schreien Sie bis zum Morgen. Gute Nacht, Fräulein, gute Nacht!«
Fräulein Naumanns Lage war schrecklich. Sollte sie schreien? Wenn die Leute gelaufen kommen, ist es eine Kompromittierung. Nicht schreien und die ganze Nacht im Fangeisen stehen und tags darauf ein Schaustück abgeben? Und dazu schmerzt der Fuß immer mehr … Im Kopfe ward es ihr schwindlig, die Sterne mengten sich untereinander und der Mond hatte das unheilverkündende Gesicht des Herrn Hans. Sie wurde ohnmächtig.
»Herrje!« schrie Hans zu sich selbst, »wenn sie stirbt, werde ich morgen ohne Urteilsspruch gelyncht.« Und vor Schreck sträubten sich seine Haare auf dem Kopf. Es war kein anderer Ausweg. – Hans brachte so schnell wie möglich den Schlüssel, um das Fangeisen zu öffnen. Das ging aber nicht so leicht, denn der Schlafrock des Fräulein Naumann war hinderlich. Man mußte ihn ein wenig emporschürzen und trotz des Hasses und des Schreckens, konnte Hans sich nicht enthalten, seine Blicke auf die schönen, wie aus Marmor gemeißelten, vom roten Mondlicht beschienenen Füßchen seiner Widersacherin zu werfen.
Man hätte sagen können, daß sein Haß jetzt mit Mitleid gepaart sei. Er öffnete rasch das Eisen, und da sie sich noch nicht rührte, nahm er sie auf die Arme und trug sie schnell nach ihrer Wohnung. Dann kehrte er zurück und vermochte die ganze Nacht kein Auge zu schließen.
Am folgenden Tage kam Fräulein Naumann aus ihrem Laden nicht zum Vorschein. Sie schämte sich vielleicht oder schmiedete schweigend Rache. Und so war es.
Noch am Abend desselben Tages forderte der Redakteur der »Samstag-Wochen-Rundschau« Hans zum Boxerkampfe heraus und gleich bei Beginn schlug er ihm ein Auge grün und blau. Aber Hans, zur Verzweiflung gebracht, versetzte ihm schreckliche Schläge, daß nach einer kurzen vergeblichen Gegenwehr der Redakteur der Länge nach hinstürzte, indem er rief: »Genug! genug!«
Es ist unbekannt, auf welche Weise die ganze Stadt von dem nächtlichen Abenteuer des Fräulein Naumann erfuhr.
Nach dem Faustkampfe mit dem Redakteur verschwand wiederum in Hans’ Herzen das Mitleid für die Feindin und der Haß blieb zurück.
Hans ahnte, daß ihn nun ein unverhoffter Schlag von gehässiger Hand treffen wird, und er sollte auch nicht lange darauf warten. Die Eigentümer von Gemischtwaren-Handlungen hängen häufig vor ihren Läden Bekanntmachungen über verschiedene Waren auf, die gewöhnlich »Notice« betitelt sind. Anderseits muß man wissen, daß die Kaufleute gewöhnlich den Schankwirten Eis verkaufen, ohne welches ein Amerikaner weder Whisky noch Bier trinkt.
Mit einem Male machte Hans die Wahrnehmung, daß man ganz aufhörte, von ihm Eis zu beziehen. Die großen Eisschollen, die er per Bahn bekommen und eingekellert hatte, schmolzen. Der Schaden war beträchtlich. Warum? Weshalb? Hans sah, daß seine Anhänger jetzt täglich bei Fräulein Naumann Eis kauften. Er begriff nicht, was das bedeute, um so weniger, als er sich mit keinem Schankwirt gezankt hatte.
Er beschloß, sich über die Sache Aufklärung zu verschaffen. »Warum nehmt Ihr kein Eis mehr von mir?« fragte er in gebrochenem Englisch den Schankwirt Peters, der an seinem Laden vorbeiging.
»Weil Ihr keins habt.«
»Wie denn, ich habe keins?«
»Nun ich weiß es ja.«
»Aber ich habe ja Eis auf Lager.«
»Und was ist das?« fragte der Schankwirt, mit dem Finger auf die am Hause angebrachte Bekanntmachung weisend.
Hans blickte hin und wurde grün vor Wut. Jemand hatte in seiner Anzeige in dem Worte »Notice« das »t« aus der Mitte weggekratzt, infolgedessen aus dem Wort »No ice« wurde. Dies bedeutet im Englischen: Kein Eis.
»Donnerwetter!« schrie Hans auf und stürzte wutschnaubend in den Laden des Fräulein Naumann. »Das ist eine Gemeinheit.« schrie er. »Warum haben Sie mir einen Buchstaben aus der Mitte ausgekratzt?«
»Was habe ich Ihnen aus der Mitte ausgekratzt? Was habe ich Ihnen aus der Mitte ausgekratzt?« sagte Fräulein Naumann, die Einfältige spielend.
»Ich sage einen Buchstaben, ein ›t‹. Sie haben mir ein ›t‹ ausgekratzt. Aber, goddam, das lasse ich mir nicht gefallen. Sie müssen mir dafür zahlen, goddam! goddam!« Und seine gewöhnliche Kaltblütigkeit verlierend, begann er wie besessen zu brüllen.
Daraufhin schlug Fräulein Naumann Lärm. Die Leute kamen gerannt.
»Zu Hilfe!« rief Fräulein Naumann aus. »Der Deutsche ist verrückt geworden. Er sagt, ich habe ihm etwas ausgekratzt. Was hätte ich ihm auskratzen sollen? Ich habe nichts ausgekratzt! O, bei Gott, wenn ich könnte, würde ich ihm die Augen auskratzen! Ich arme, verlassene Frau, er wird mich totschlagen, ermorden!«
So schreiend, vergoß sie bittere Tränen. Die Amerikaner verstanden zwar nicht, um was es sich handelte, aber sie können Frauentränen nicht ertragen und so wurde Hans am Kragen gepackt und zur Tür hinausspediert. Er wollte Widerstand leisten, flog aber über die Gasse hinüber in seine eigene Ladentür und fiel dort der Länge nach hin.
Eine Woche später hing über seinem Laden ein riesiges malerisches Schild. Es stellte einen mit einem karierten Kleide und weißer Schürze mit Achselbändern bekleideten Affen dar, ganz so wie Fräulein Naumann. Darunter befand sich eine Aufschrift mit großen gelben Lettern: »Kaufladen zum Affen«.
Die Leute strömten herbei, um sich die Sache anzusehen. Das Lachen lockte Fräulein Naumann vor die Tür. Sie kam, sah es und erblaßte, aber die Geistesgegenwart nicht verlierend, rief sie aus: »Kaufladen zum Affen? Kein Wunder, denn Herr Kasche wohnt oberhalb des Ladens, ha, ha!«
Aber der Stich traf sie ins Herz. Um die Mittagszeit sah sie, wie die Kinderscharen, die aus der Schule kamen, an dem Laden vor dem Schilde stehen blieben und riefen: »O das ist Miß Naumann. Guten Abend, Miß Naumann!«
Das war zu stark. Als der Redakteur abends zu ihr kam, sagte sie: »Dieser Affe, das soll ich sein, ich weiß, daß ich es sein soll. Das soll ihm aber nicht geschenkt werden. Er muß diesen Affen in meinem Beisein herunternehmen und mit seiner eigenen Zunge ablecken.«
»Was wollen Sie tun?«
»Ich gehe sofort zum Richter.«
Frühmorgens ging sie zu Hans herüber und sagte sie: »Hören Sie, Herr Deutscher, ich weiß, daß ich dieser Affe sein soll, aber kommen Sie nur mit mir zum Richter. Wir wollen sehen, was der dazu sagen wird.«
»Er wird sagen, daß ich über meinen Laden malen darf, was mir beliebt.«
»Das werden wir gleich sehen.« Fräulein Naumann vermochte kaum zu atmen.
»Und woher wissen Sie, daß Sie dieser Affe sein sollen?«
»Weil Sie meine Tracht nachgeahmt haben. Kommen Sie zum Richter, und wenn nicht, wird Sie der Sheriff holen.«
»Gut, ich werde mitgehen,« sagte Hans, seiner Sache sicher.
Sie sperrten die Geschäftsläden zu und gingen zum Richter. Erst knapp vor der Tür erinnerten sie sich, daß sie beide nicht genug Englisch konnten, um die Sache zu erklären. Was also tun? Aber der Sheriff als polnischer Jude kann Deutsch und Englisch. »Also versuchen wir es.«
Aber der Sheriff war eben im Begriff wegzufahren. »Geht zum Teufel!« schrie er. »Die ganze Stadt ist durch Euch beunruhigt. Ich fahre zum Lumber. Good bye.« Und er fuhr davon.
Hans griff sich an den Kopf. »Sie müssen bis morgen warten,« sagte er phlegmatisch.
»Ich soll warten? Lieber sterben! Außer, wenn Sie den Affen herunternehmen.«
»Den Affen werde ich nicht entfernen.«
»So werden Sie baumeln, Deutscher. Sie werden gehenkt werden! Es wird auch ohne Sheriff gehen. Der Richter weiß auch, um was es sich handelt.«
»Nun, so gehen wir ohne Sheriff,« sagte er.
Aber Fräulein Naumann befand sich in einem Irrtum. In der ganzen Stadt wußte allein der Richter nichts von ihrer Befehdung. Der wackere Greis war nur mit seinen »Arzeneien« beschäftigt und glaubte damit die Welt zu erlösen. Er empfing sie höflich und freundlich, wie er gewöhnlich jeden empfing.
»Kinder, zeigt Eure Zungen,« sagte er. »Ich werde Euch gleich was verschreiben.«
Beide begannen zum Zeichen, daß sie keine Arzeneien mögen, mit den Händen zu fuchteln.
Fräulein Naumann wiederholte: »Das brauchen wir nicht, das nicht.«
»Also was?«
Sie redeten durcheinander. Auf ein Wort von Hans fielen zehn des Mädchens. Schließlich verfiel sie auf die Idee, aufs Herz zu weisen, zum Zeichen, daß Herr Hans es mit sieben Schwertern durchbohrt habe.
»Ich verstehe! Jetzt verstehe ich.« sagte der Doktor.
Darauf schlug er ein Buch auf und begann zu schreiben. Er fragte Hans, wie alt er sei.
»Fünfunddreißig Jahre.«
Dann fragte er Fräulein Naumann; sie wußte sich nicht genau zu erinnern, so ungefähr fünfundzwanzig.
»All rigth! Wie sind Ihre Vornamen? Hans, Lora? Allright! Beschäftigung? Sie haben Kaufläden? All right!« Dann noch einige Fragen.
Beide verstanden sie nicht, antworteten aber »yes«.
Der Doktor winkte mit dem Haupte. »Alles erledigt.«
Als er mit der Schreiberei fertig war, erhob er sich plötzlich zu Loras Verwunderung und küßte sie. Sie faßte das als günstiges Omen auf und ging voll rosiger Hoffnungen nach Haus.
Am folgenden Morgen kam der Sheriff vor die Geschäftsläden. Beide standen vor den Türen. Hans schmauchte seine Pfeife, Lora sang ihr Spottlied.
»Wollt Ihr zum Richter gehen?« fragte der Sheriff.
»Wir waren schon dort.« »Nun und wie steht es?«
»Mein lieber Sheriff, mein bester Herr Devis,« rief das Mädchen, gehen Sie hin, um zu erfahren, was er gesagt hat, und legen Sie für mich beim Richter ein gutes Wörtchen ein. Sie sehen, ich bin ein armes, alleinstehendes Mädchen.«
Der Sheriff ging und kehrte nach einer Viertelstunde zurück. Man wußte aber nicht, warum er von einer Menschenmenge umringt zurückkehrte.
»Nun, was ist? Wie steht’s?« begannen beide ihn auszufragen.
»Alles ist gut.« sagte der Sheriff.
»Na, was hat der Richter gemacht?«
»Na, was hätte er Böses machen sollen, er hat Euch verheiratet.«
»Verheiratet?!!!«
Wenn ein Blitz jäh eingeschlagen hätte, wären Hans und das Mädchen nicht in diesem Grade bestürzt gewesen. Hans riß weit die Augen auf, öffnete den Mund, streckte die Zunge heraus und schaute Fräulein Naumann wie blöde an, und sie tat ganz dasselbe. Beide waren erstarrt, versteinert, dann erhoben sie ein großes Geschrei.
»Ich soll seine Frau sein?« »Ich soll ihr Mann sein?« »Zu Hilfe! Zu Hilfe! Nie!« »Gleich eine Scheidung! Ich will nicht!« »Nein, ich will nicht!« »Lieber sterben! Scheidung, Scheidung! Was geht denn da vor?«
»Meine Lieben!« sagte der Sheriff ruhig, »hier hilft kein Schreien, der Richter traut, aber eine Scheidung kann er nicht vornehmen. Warum schreit Ihr? Ich habe schöne Kinderschuhe, ich verkaufe billig. Good bye!« Dies sagend, ging er von dannen.
Die Leute begannen ebenfalls lachend auseinander zu gehen. Die Neuvermählten blieben allein zurück.
»Dieser Franzose,« schrie das Fräulein-Frau, »er hat uns das absichtlich getan, weil wir Deutsche sind!«
»Richtig,« antwortete Hans. »Wir werden aber zur Scheidung gehen! Ich werde sagen: Sie haben mir ein ›t‹ aus der Mitte ausgekratzt.«
»Nein, ich werde sagen, Sie haben mich in die Eisenfalle gelockt!«
»Ich kann Sie nicht ausstehen!«
Sie gingen auseinander und schlossen die Läden. Sie saß in ihrer Wohnung, den ganzen Tag nachsinnend, er in der seinigen.
Die Nacht brach an. Die Nacht bringt Ruhe, aber beide vermochten nicht an Schlaf zu denken. Sie legten sich nieder, konnten aber die Augen nicht schließen. Er dachte: »Dort schläft meine Frau.« Sie dachte: »Dort schläft mein Mann.« Und seltsame Empfindungen entstanden in ihren Herzen. Es war Haß und Zorn mit einem Gefühl der Einsamkeit gepaart.
Hans dachte außerdem an seinen Affen oberhalb des Geschäftsladens. Wie konnte er ihn weiter behalten, wenn dies jetzt eine Karikatur seiner Frau ist. Und es kam ihm vor, als habe er etwas sehr Garstiges getan, als er diesen Affen malen ließ. Aber wiederum haßte er dieses Fräulein Naumann doch, denn durch sie ist sein Eis geschmolzen und er hat sie doch bei Mondschein in die Eisenfalle gelockt.
Da kamen ihm wiederum jene beim Mondlicht gesehenen Formen in den Sinn. »Nun, wahr ist es, sie ist ein fesches Mädchen,« dachte er, »aber sie kann mich nicht leiden und ich sie nicht.«
Das ist eine Situation! Ach, Herr Gott! Er hat geheiratet. Und wen? Fräulein Naumann! Und eine Scheidung kostet so viel! Das ganze Geschäft wird dazu nicht reichen. –
»Ich bin die Frau dieses Deutschen.« sagte sich Fräulein Naumann. »Ich bin kein Mädchen mehr, das heißt, ich wollte sagen, ein Mädchen, aber vermählt. Mit wem? Mit Kasche, der mich in der Eisenfalle erwischte. Es ist zwar wahr, daß er mich in die Arme nahm und hinauftrug, und wie stark er ist. – Was ist das? Da ist ein Geräusch!«
Es war gar kein Geräusch, aber Fräulein Naumann begann sich zu fürchten, obwohl sie sich früher nie fürchtete.
»Aber wenn er sich jetzt erdreisten sollte, Gott!« Dann aber fügte sie mit einer Stimme, in welcher ein seltsamer Tonfall der Enttäuschung klang, hinzu: »Er wird es aber nicht wagen, er …«
Bei alldem steigerte sich ihre Furcht. »Einer alleinstehenden Frau ergeht es immer so,« dachte sie weiter. »Wenn ein Mann da wäre, wäre es sicherer. Ich habe von Mordtaten in der Umgegend gehört« – sie hatte nichts gehört – »ich schwöre, man wird mich noch einmal totschlagen. Ach, dieser Kasche! dieser Kasche! Er hat mir den Weg versperrt. Man muß aber wegen einer Scheidung Rat schaffen.«
So spintisierend wälzte sie sich schlaflos im breiten amerikanischen Bette und fühlte sich wirklich vereinsamt.
Plötzlich schnellte sie empor. Diesmal hatte ihr Schreck einen realen Grund. In der nächtlichen Stille war deutlich das Klopfen eines Hammers zu vernehmen.
»Jesus,« schrie sie auf, »man schleicht sich in mein Geschäft ein!« Dies sagend, sprang sie aus dem Bette und eilte ans Fenster. Aber hinausblickend, beruhigte sie sich gleich. Beim Mondschein sah sie eine Leiter und auf derselben stand Hans. Er entfernte die Nägel, die das Affenschild festhielten. Fräulein Naumann machte leise das Fenster auf.
»Er entfernt den Affen, das ist von seiner Seite anständig.« dachte sie. Und sie fühlte plötzlich, als taue etwas in ihrer Herzgegend auf.
Hans zog langsam die Nägel heraus. Das Blechschild fiel klirrend zu Boden. Er stieg hinunter, löste den Rahmen, rollte das Blech in seinen sehnigen Händen zusammen und trug die Leiter fort.
Das Mädchen verfolgte ihn mit den Augen. Es war eine stille, warme Nacht. »Herr Hans,« lispelte sie.
»Sie schlafen nicht?« erwiderte Hans gleichfalls flüsternd.
»Nein! Guten Abend!«
»Guten Abend!«
»Was machen Sie denn?«
»Ich entferne den Affen.«
»Herr Hans, ich danke Ihnen.«
Kurzes Schweigen.
»Herr Hans,« flüsterte wieder die Mädchenstimme.
»Was wünschen Sie, Fräulein Lora?«
»Wir müssen betreffs der Scheidung beratschlagen.«
»Ja, Fräulein Lora.«
»Morgen?«
»Morgen.« Kurzes Schweigen, der Mond lachte, alles war still.
»Herr Hans!«
»Was, Fräulein?«
»Ich habe es eilig, mich scheiden zu lassen.«
Ihre Stimme hatte einen melancholischen Klang.
»Auch ich, Fräulein Lora.« Hans’ Stimme klang traurig. »Wir wollen es nicht verzögern.«
»Je früher man darüber berät, desto besser.«
»Desto besser, Fräulein Lora.«
»So können wir gleich beratschlagen.«
»Wenn Sie erlauben, so komme ich zu Ihnen. Ich will mich nur ankleiden.«
»Es sind keine Umstände nötig.«
Unten tat sich die Tür auf, Herr Hans verschwand in der Dunkelheit und bald darauf befand er sich in einem stillen, warmen, sauberen Mädchenzimmer. Fräulein Lora hatte einen weißen Schlafrock an und war entzückend.
»Ich höre,« sagte Hans mit gebrochener, weicher Stimme.
»Denn sehen Sie, ich möchte mich gern scheiden lassen, aber – ich fürchte, daß uns jemand von der Straße erblickt.«
»In den Fenstern ist es doch dunkel,« sagte Hans.
»Ach, richtig!« erwiderte das Mädchen.
Dann begann die Beratung wegen der Scheidung, die aber nicht mehr zur Geschichte gehört …
In Struck Oil City zog der Friede wieder ein.
Das deutsche Segelschiff »Blücher« hatte seine Reise von Hamburg nach New-York angetreten und wiegte sich stolz auf den Wellen des Ozeans.
Es war seit vier Tagen unterwegs, hatte vor zwei Tagen die irländische Küste verlassen und befand sich nun auf offenem Meere. So weit das Auge reichte, sah man vom Verdeck aus nichts weiter, als die graublaue Wasserfläche, welche in langgestreckten Furchen heftig hin und her wogte und in der Entfernung immer dunkler zu werden und mit dem Horizont in Eins zu verschwimmen schien. Hier und da zogen Schaumflocken auf den Wogenkämmen daher, tief unten am Horizont schwebten leichte weiße Wolken, die sich im Wasser spiegelten und da, wo ihr Schein hinfiel, demselben die Farbe der Perlmutter verliehen. In dieser Färbung spiegelte sich der Rumpf des Schiffes mit seinem nach Westen gerichteten Bug so deutlich ab, daß man genau sehen konnte, wie das Vorderteil desselben von den Wellen bald hoch emporgehoben, bald tief hinabgesenkt wurde. Er trennte die ihm entgegenströmenden Fluten, und ihm nach zog, wie eine sich wälzende Riesenschlange eine mächtige weiße Schaummasse. Einige Möven umflatterten das Steuer und stießen, in der Luft sich überschlagend, fröhliche Locktöne aus.
Seit der Abfahrt des »Blücher« aus Hamburg war das Wetter hell, zwar windig, aber nicht stürmisch. Der Wind kam von Osten und nur in einzelnen Stößen; zuweilen herrschte völlige Stille. Das schöne Wetter hatte die Passagiere auf das Verdeck gelockt. Auf dem hinteren Teile desselben sah man die schwarzen Paletots und Hüte der Kajüten-Passagiere erster Klasse, während auf dem Vorderdeck diejenigen des Zwischendecks in buntem Gewimmel sich tummelten. Einige saßen auf Bänken, aus kurzen Pfeifen rauchend, andere hatten sich gelagert, während ein großer Teil der Passagiere an der Brüstung lehnte und hinab auf das Wasser sah. Es befanden sich auch etliche Frauen mit Kindern an Bord, welche Blechgeschirre am Gürtel befestigt trugen und einige junge Männer, die im Auf- und Abschreiten, mühsam das Gleichgewicht haltend, deutsche Lieder sangen.
Ein wenig abseits von der großen Menge saßen ganz allein zwei Menschen, denen man ansehen konnte, wie vereinsamt sie sich vorkamen. Auf den ersten Blick mußte man erkennen, daß die beiden, ein älterer Mann und ein junges Mädchen, niemand anderes sein konnten, als polnische Bauern. Sie waren thatsächlich vereinsamt, denn sie verstanden kein Wort Deutsch.
Der Mann hieß Lorenz Toporek; das Mädchen, Maryscha mit Namen, war seine Tochter. Sie reisten nach Amerika und waren eben zum ersten Male auf das Verdeck gekommen. Auf ihren von der Seekrankheit bleichen Gesichtern malte sich Erstaunen und Furcht zugleich. Sie ließen die erschrockenen Blicke über die Reisegefährten, die Matrosen und das ganze Deck schweifen, betrachteten angstvoll den schwer ächzenden, großen Schornstein und die mächtigen schaumgekrönten Wellen, welche bis zu Maryscha über Bord des Schiffes spritzten. Maryscha hielt sich am Arme des Vaters und klammerte sich bei jeder Schwankung des Schiffes fester an ihn. Beide verharrten schweigend. Endlich unterbrach der Vater das Schweigen indem er rief:
»Maryscha!«
»Was soll es, Vater,« frug das Mädchen.
»Siehst Du?« sagte der Alte.
»Freilich sehe ich,« war die Antwort.
»Und wunderst Du Dich?«
»Freilich wundere ich mich,« sagte Maryscha.
Sie fürchtete sich aber mehr, als sie sich wunderte und der alte Toporek ebenfalls. Glücklicherweise beruhigte sich jetzt der Wellenschlag etwas, der Wind hörte auf zu wehen und die Sonne brach durch die Wolken.
Als die beiden die »geliebte Sonne« erblickten, wurde ihnen leichter um's Herz, denn sie dachten, daß sie hier genau so scheine wie ihn Lipiniez. Alles um sie her war ihnen ja fremd, neu und unbekannt, nur sie nicht, diese Strahlen, die ihnen plötzlich wie ein treuer Freund, wie ein Beschützer erschienen.
Immer mehr glättete sich das Meer, die Segel hingen schlaff herab und vom anderen Ende des Schiffes her ertönte die Signalpfeife des Kapitäns. Sofort eilten die Matrosen herzu, sie zu befestigen. Der Anblick dieser in der Luft schwebenden, über dem Abgrund hängenden Menschen, versetzte den Alten und seine Tochter wiederum in Staunen.
»Unsere Jungen würden das nicht fertig bringen,« sagte Toporek.
»Wenn die es hier fertig gebracht haben, klettert der Jaschu auch hinauf,« entgegnete Maryscha.
»Welcher Jaschu? Der Jaschu Sobek?« frug der Vater.
»Ach woher denn. Ich meine den Jaschu Smolak, den Bereiter,« versetzte die Tochter.
»Er ist ein netter Bursche,« meinte der Alte, »aber schlage ihn Dir aus dem Sinn. Er ist nicht für Dich und Du nicht für ihn. Du fährst nach Amerika, um eine Dame zu werden, er bleibt Bereiter in Lipiniez, da mag nur die ganze Sache auch bleiben wie sie ist.«
»Er hat doch aber auch einen kleinen Hof,« warf Maryscha ein.
»Ja, aber einen in Lipiniez.«
Maryscha antwortete nicht mehr, aber sie dachte: »was Einem bestimmt ist, dem entgeht man nicht.«
Das Schiff zog jetzt ganz ruhig auf der glatten Fläche dahin. Immer neue Gestalten fanden sich auf dem Verdeck ein, Arbeiter, deutsche Bauern, Müßiggänger aus allen Weltteilen. Es entstand ein dichtes Gedränge. Lorenz und seine Tochter drückten sich, um niemandem im Wege zu sein, in eine Ecke, wo sie sich auf einer Rolle Schiffstaue niederließen.
»Müssen wir noch lange auf dem Wasser fahren, Väterchen?« frug Maryscha nach einer Weile.
»Wenn ich das wüßte!« war die Antwort. »Hier kann ja keiner polnisch antworten.«
»Wie werden wir uns da in Amerika verständigen?« fuhr das Mädchen fort zu fragen.
»Hast Du nicht gehört, wie man uns sagte, daß in Amerika eine ganze Menge der Unserigen sich befinden?« entgegnete der Alte.
»Väterchen?«
»Was gibt es?«
»Man muß sich hier über Vieles wundern und staunen, das ist wahr, aber – die Wahrheit zu sagen – in Lipiniez war es besser.«
»Lästere nicht!« rief der Vater ärgerlich.
Nach einer Weile aber setzte er sanfter, wie im Selbstgespräch hinzu:
»Gottes Wille geschehe! ...«
Dem Mädchen füllten sich die Augen mit Thränen. Beide verfielen gleich darauf in tiefes Sinnen. Lorenz Toporek dachte darüber nach, warum er auf der Reise nach Amerika sei, und wie das so gekommen war. Wie war es gekommen? Vor rund einem halben Jahre, im Sommer, hatte man ihm die Kuh gepfändet, weil sie auf fremdem Acker in's Futter gegangen. Der Nachbar, welcher sie gepfändet, verlangte drei Mark Schadenersatz. Toporek hatte nicht zahlen wollen, die Kuh blieb als Pfand. Man war in's Gericht gegangen, die Angelegenheit blieb schweben bis zur Fällung des Urteils, die Kosten wuchsen schnell von Tag zu Tag. Lorenz glaubte sich im Recht; ihn dauerte das viele Geld, er wollte das Recht erzwingen.
Aber es ließ sich nicht zwingen; er verlor den Prozeß. Die Prozeßkosten hatten sein Bargeld aufgezehrt, die Unterhaltungskosten der Kuh mußten durch Pfändung seines Inventars gedeckt werden. Man nahm ihm das Pferd, und da gerade die Ernte begonnen hatte, so konnte er sein Getreide nicht rechtzeitig einbringen, Regengüsse kamen, es war bald ausgewachsen. Toporek sah sich im Elend, noch ehe dasselbe wirklich da war; er verlor die Besinnung um so mehr, da er bisher ein wohlhabender Mann gewesen, und um die Gedanken an kommende Not zu bannen, griff er zu dem gebräuchlichsten Mittel, – er fing an zu trinken.
Im Wirtshause lernte er einen Agenten kennen, welcher unter dem Vorwande Flachskäufe abzuschließen, Menschen zur Auswanderung nach Amerika warb. Er versprach jedem Einzelnen dort so viel Land und Wald, als ganz Lipiniez zusammen nicht umfaßte. Zuerst glaubte Toporek nicht recht an die Erfüllung solcher Versprechungen, als aber der alte Jude, welcher Inhaber der Gastwirtschaft war, beistimmte und erzählte, er wisse von seinem Enkelsohn, daß man in Amerika Land geschenkt bekomme so viel man wolle, da leuchteten die Augen Toporeks begehrlich auf, er verkaufte seine ganze Habe und beschloß nach Amerika auszuwandern. Was sollte er denn noch hier? Die Not kam auf ihn zu, wie ein drohendes Ungewitter. Der Prozeß hatte ihn so viel Geld gekostet, daß er kaum noch einen Knecht würde halten können. Oder sollte er vielleicht betteln gehen hier, wo jedermann ihn kannte? Er ordnete bis Michaeli alle seine Angelegenheiten, dann hatte er den Rest seines Geldes und seine Tochter genommen und – nun war er auf dem Wege nach Amerika.
Die Reise hatte nicht zum besten angefangen. In Hamburg war ein großer Teil seines Geldes daraufgegangen. Er reiste mit seiner Tochter als Zwischendeck-Passagier, die Unendlichkeit des Meeres, das Schaukeln des Schiffes erschreckte ihn. Niemand verstand seine Sprache, er verstand die anderen nicht, man spottete über ihn und Maryscha.
Wenn zur Mittagszeit alles nach der Küche drängte, um sich vom Koch die Rationen verteilen zu lassen, da stieß man sie und drängte sie zurück, so daß oft nichts für sie übrig blieb und sie mit leerem Magen schlafen gehen mußten. Er fühlte sich einsam und verlassen mit seinem Kinde unter den fremden Menschen und nur Gottes Schutz über sich. Vor seiner Tochter verbarg er sorgfältig, was er dachte und fühlte; er frug nur immer, ob sie alle die neuen Dinge, welche sie zu Gesicht bekommen, nicht mit Staunen erfüllten. Er selbst traute niemanden, und zuweilen überfiel ihn eine Angst, daß diese »Heidenvölker«, wie er still für sich seine Reisegenossen nannte, sie beide eines Tages in's Wasser werfen, oder irgend einen Pakt mit dem Bösen zu unterschreiben zwingen könnten.
Das Schiff selbst, welches sich vom Dampfe getrieben, so von selbst fortbewegte und wie ein Drache pfauchte, erschien ihm verdächtig – eine unreine, gefährdende Gewalt. Eine kindische Furcht bemächtigte sich seiner beim Anblick so vieler Dinge, die sein Verstand nicht zu fassen vermochte. Thatsächlich befand sich dieser polnische Bauer, losgetrennt von der heimatlichen Scholle, wie er es war, in der gleichen Lage mit einem hilfs- und schutzbedürftigen Kinde.
Es war daher nicht zu verwundern, wenn jetzt der Kopf des auf der Rolle Schiffstaue sitzenden Mannes tief auf seine Brust herabsank unter der Last der Ungewißheit und der Sorgen. Seine Lippen murmelten leise den Namen seines Heimatdorfes »Lipiniez«; ihm war, als bringe die Sonne, die auch jenes Dorf beschien und der Luftzug, der über das Wasser zog, ihm Grüße von dort zu und die Frage der Nachbaren: »Wie geht es Dir Lorenz?«
Es waren Gedanken ganz anderer Art, welche Maryscha inzwischen beschäftigten, nur die gleiche Sehnsucht hatten sie mit denen des Vaters gemein. Sie flossen rückwärts mit dem Kielwasser des Schiffes, mit den Möven flogen sie den östlichen Gestaden zu. Kurz zuvor ehe sie abgereist waren, hatte sie in Lipiniez am Brunnen gestanden, daran mußte sie denken. Es war im Herbst, sie wollte Wasser schöpfen, die ersten Sterne blinkten eben am Himmelszelt. Sie zog am Schwengel den vollen Eimer herauf und sang dabei: »Jasiek will die Pferde tränken – Kasia gießt das Wasser aus« – (ihr wurde sehr wehmütig bei dieser Erinnerung). – Da tönte ein Pfiff vom Walde herüber, langgezogen, wie der Ton einer Saftpfeife. Jaschu Smolak wollte ihr damit sagen, daß er den Brunnenschwengel in die Höhe steigen gesehen und daß er sogleich von den Wiesen herkommen werde. Bald darauf ertönte Pferdegetrappel, die Erde dröhnte unter dem Galopp der Tiere, jetzt hielt er sie mit einem Ruck an, sprang vom Braunen herab und schüttelte seine Flachsmähne. Was Jaschu ihr damals gesagt, klang ihr noch jetzt wie Musik in den Ohren. Sie schloß die Augen und träumte, Jaschu stehe neben ihr und flüstere wie damals mit vor Aufregung bebender Stimme:
»Wenn Dein Vater sich durchaus nicht von der Auswanderung abbringen lassen will, so werde ich das Angeld auf den Jahreslohn bei Hofe zurückgeben, mein Anwesen verkaufen und Euch nachkommen ... Marysch mein«, – hatte er gesagt – »Dir nach fliege ich mit den Kranichen, mit den Enten durchschwimme ich die Wasser und als goldener Reif will ich die Landstraßen durchrollen. Wo Du auch seist; ich finde Dich, Einzige! Ist denn ohne Dich ein Glück zu denken? Wo Du bist, will ich sein, was Dir geschieht, soll mir geschehen. Wir zweie sind eins im Leben und Sterben, und wie ich Dir hier bei diesem reinen Wasser schwöre, so möge Gott mich verlassen, wenn ich Dich je verlasse, Marysch, meine einzige!«
Während sie diese Worte zu hören glaubte, sah sie jenen Brunnen, den Vollmond über dem Walde und Jaschku leibhaftig vor sich. Das gewährte ihr einigen Trost. Jaschku war ein resoluter Bursche! er wird halten, was er versprochen. O wäre er jetzt hier, es wäre viel fröhlicher, zusammen mit ihm dem Brausen des Meeres zu lauschen. Was mochte er jetzt in Liziniez machen? Gewiß lag dort schon hoher Schnee! Ob er wohl mit der Axt in den Wald zu den Holzfällern geht, oder ob er die herrschaftlichen Pferde besorgt? Wo mochte er sein, der Herzgeliebte? Dem Mädchen stand plötzlich das ganze Dorf vor Augen, so wie es jetzt aussehen mußte. Der Schnee knarrt unter den Füßen der Menschen aus der Dorfstraße, das Abendrot leuchtet durch die blätterlosen, vom Rauhreif bedeckten Baumäste, ein Flug Krähen zieht krächzend vom Walde her dem Dorfe zu, Rauchwölkchen steigen aus den Schornsteinen der strohgedeckten Hütten, der Brunnenschwengel ruht angefroren am Geländer des Brunnens und in der Ferne schimmert der mit Schnee überstreute Wald, von der Abendröte warm angehaucht, rosig herüber.
Ach und wo war sie jetzt! Wohin hatte ihres Vaters Wille sie geführt! Ueberall, wohin das Auge auch suchend schweift, nichts als Wasser grünlich durchfurcht, mit Schaumkämmen, und in dieser unermeßlichen nassen Wüste nichts, als das Schiff, auf dem sie waren, eine verirrte Möve, darüber das Himmelsgewölbe, ringsum das unaufhörliche Tosen und Brausen der Wasser, bald pfeifend, gurgelnd, bald kläglich wie das Weinen eines Kindes und vor sich die unbekannte grausige Ferne.
Armer Jaschu, wie wirst du sie finden, wohin ihr folgen? Wirst du deiner Maryscha wie die Ente nachschwimmen, oder wie die Kraniche fliegen, oder wie der Reif rollen? Denkst du wohl ihrer in Lipiniez jetzt auch?
Allmählich war die Sonne unter die Fluten des Meeres getaucht. Ein breiter Lichtstrom, der letzte Schein der Scheidenden, lag auf den Wellen, und als nun das Schiff in diesem schillernden, leuchtenden Glutstrom seinen Weg fortsetzte, sah es aus, als jage es der sinkenden Sonne nach. Die dem Schornstein entsteigende Rauchwolke war rot, die Leinen, die Taue, die feuchten Segel in rosiges Licht getaucht, die Matrosen sangen, während der Lichtkreis immer kleiner wurde, bis er endlich nur noch einen lichten Streifen bildete, da, wo die Sonne untergegangen. Man konnte kaum noch unterscheiden, wo das Meer sich von der Luft abgrenzte; es verschwamm alles in diesem Lichtstreifen. Das Meer murmelte leise, als spreche es sein Abendgebet.
In solchen Augenblicken fühlt der Mensch sich gehoben. Die Seele bekommt Flügel und was Liebes in der Ferne ihr weilt, dem fliegt sie auf sehnsüchtigen Schwingen zu.
Lorenz und Maryscha fühlten das jetzt auch. Sie erkannten in dieser Stunde, daß nicht das Land ihre Heimat werden würde, welchem der feuchte Wind sie zutrieb, sondern, daß der Baum ihres Lebens tief wurzelte in jenem Erdstrich, den sie verlassen, in dem Stück heimatlicher Erde, wo die goldenen Aehren im Sommer wogen, die Wiesen bunt blühen und Luft und Wasser von lustigen Vögelscharen wimmeln, wo in den Dörfern die strohgedeckten Hütten stehen, stattliche Herrensitze sich bereiten und wo der Mensch den Menschen mit dem Gruße anspricht: »Gelobt sei Jesus Christus,« welchen der Andere erwidert mit dem Gegengruß: »In alle Ewigkeit, Amen!« Alle die Gefühle, welche bisher den beiden einfachen Menschen unbekannt geblieben waren, stürmten in dieser Stunde gewaltig auf sie ein. Der alte Toporek nahm die Mütze ab. Das Abendrot beleuchtete seine grau melierten Haare, in seinem Gesicht arbeitete es heftig, man sah, daß es ihm schwer wurde, einen Ausdruck für das zu finden, was er seiner Tochter gern sagen wollte. Endlich stammelte er:
»Mir ist so, Marysch, als hätten wir dort etwas zurückgelassen.« Bei diesen Worten wies er mit der Hand rückwärts nach Osten zu.
»Unser Glück, unser Lieben ist dort zurückgeblieben,« antwortete das Mädchen, während sie die Augen wie zum Gebet nach Oben richtete.
Es war unterdessen finster geworden; die Passagiere begannen das Verdeck zu verlassen. Trotzdem herrschte auf dem Schiffe ein ungewöhnlich reges Leben. Oftmals pflegt einem so schönen Sonnenuntergange ein Unwetter zu folgen, deshalb ertönten die Signalpfeifen der Offiziere unablässig und die Matrosen arbeiteten unablässig am Takelwerk. Ein dichter Nebel stieg am Horizont auf, welcher von Minute zu Minute sich weiter über das Wasser verbreitete und bald den ganzen Gesichtskreis, ja sogar das Schiff umhüllte. Eine Stunde später sah man die Matrosen in der dicken Luft nur noch wie Schatten und noch etwas später auch sie nicht mehr, noch den Schornstein, noch die brennende Schiffslaterne. Alles war in einen weißlichen Dunst gehüllt.
Das Schiff lag unbeweglich still; die Nacht sank lautlos und finster herab. Plötzlich ertönte vom Horizont her ein seltsames Geräusch. Es klang wie das schwere Atmen aus gepreßter Brust. Dann schien es, als töne ein Ruf durch die Finsternis, dann wie ein Rufen und Stöhnen verschiedener Stimmen durcheinander, welche aus der grenzenlosen Weite auf das Schiff zukamen, näher und näher. Der Kapitän stand, in einen Gummimantel gehüllt, am Vordersteven, der Leutnant auf seinem Platze. Außer Toporek und seiner Tochter befand sich niemand mehr von den Passagieren auf Deck. Nun verließen auch sie es, um in den gemeinschaftlichen Schlafsaal im Zwischendeck hinunterzugehen.
Derselbe war groß, aber düster. Das Licht der Lampen, welche von der niedrigen Decke herabhingen, erhellte den Raum und die in Häufchen um ihre Betten zusammensitzenden Auswanderer nur spärlich. Die Luft darin war gesättigt von dem Geruch geteerter Leinwand, der Feuchtigkeit ausströmenden Schiffstaue und des Seetang. Gewöhnlich wirkt die zweiwöchentliche Ueberfahrt, verbunden mit dem Aufenthalt in diesem Räume, äußerst schädlich auf die Lungen der Reisenden. Auch Lorenz und Maryscha spürten die Folgen davon schon, obgleich sie erst wenige Tage unterwegs waren. Die Seekrankheit und die schlechte Luft hatten ihre Wangen gebleicht und ihre Konstitution geschwächt, umso mehr, als sie bis heute nicht gewagt hatten, den Saal zu verlassen im Glauben, das sei nicht erlaubt. Auch hatten sie ihre Sachen hüten wollen. So setzten sie sich gleich den anderen Reisegenossen auch wieder zu den ihrigen. Das Reisegepäck der Auswanderer lag in Bündeln im ganzen Saale umher. Betten, Kleidungsstücke, Mundvorräte, verschiedenes Kochgeschirr lag in buntem Durcheinander auf der Diele, während die Menschen teils auf ihnen, teils um sie herum saßen. Die einen kauten Tabak, andere rauchten. Der Qualm aus den Tabakspfeifen stieg empor zu der niedrigen Decke, stieß sich dort ab und zog in langen Streifen daran hin, das Lampenlicht verschleiernd. Ein paar Kinder weinten in den Winkeln, sonst herrschte tiefe Stille, denn der Nebel draußen hatte alle Gemüter traurig und ängstlich gemacht. Die Erfahreneren unter den Auswanderern wußten, daß er der Vorläufer eines Sturmes sei, niemand verhehlte sich mehr, daß eine Gefahr, möglicherweise der Tod nahe. Lorenz und Maryscha, welche sich mit Niemanden verständigen konnten, wußten von alledem nichts. Aber die eigentümlichen Töne, die zu ihnen drangen, sobald jemand die Thüre öffnete, erfüllten auch sie mit heimlichem Grausen.
Man hatte sie, wie das schüchternen, in der Fremde ratlosen Menschen oft geschieht, in den schmälsten Teil des Saales, zunächst des Vorderteiles gedrängt, wo die Schwankungen des Schiffes am meisten sich bemerklich machten. Der Alte stillte seinen Hunger an einem Stück Brot, welches er aus Lipiniez mitgenommen, und das Mädchen, welchem der Müßiggang ein Greuel war, flocht sich die Zöpfe zur Nacht.
Sie wunderte sich zuletzt doch über die unheimliche Stille, die den sonst so lauten Raum erfüllte.