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Wilton Smithfield, Dritter Offizier der "Glorious", und sechs Männer hatten den Untergang ihrer Galeone überlebt und waren im Stützpunkt der Korsaren freundlich versorgt worden. Zum Dank stahlen sie die "Empress of Sea II." des Old O´Flynn und ließen einundzwanzig Schatzkisten mitgehen. Und dann verrieten sie die Position des Stützpunktes auf der Insel Great Abaco an die Spanier - in der Hoffnung, von den Schätzen der Korsaren noch mehr zu erraffen und das Kopfgeld zu kassieren, das von der spanischen Krone auf die Ergreifung des Philip Hasard Killigrew ausgesetzt worden war. Ja, die Spanier versprachen dem Milton Smithfield eine "biblische Belohnung", und als er sie empfing, wurde er weiß vor Wut, denn es war nur ein Ledersäckchen mit dreißig Silbermünzen. Der Judaslohn, wie der Spanier verächtlich sagte, die "biblische Belohnung", wie sie auch Judas Ischariot erhalten hatte...
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Seitenzahl: 2523
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Impressum© 1976/2021 Pabel-Moewig Verlag KG,Pabel ebook, Rastatt.eISBN: 978-3-96688-110-4Internet: www.vpm.de und E-Mail: [email protected]
Nr. 701
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Nr. 702
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Nr. 703
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Nr. 704
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Nr. 705
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Nr. 706
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Nr. 707
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Nr. 708
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Nr. 709
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Nr. 710
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Nr. 711
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Nr. 712
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Nr. 713
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Nr. 714
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Nr. 715
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Nr. 716
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Nr. 717
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Nr. 718
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Nr. 719
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Nr. 720
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Der Wikinger Thorfin Njal stand mit untergeschlagenen Armen am Strand der Cherokee-Bucht und sah ergrimmt zu, wie sein Schwarzer Segler „Eiliger Drache über den Wassern“ von Wein- und Bierfässern gelöscht wurde, alles das Zeugs, das er aus Tortuga mitgebracht hatte.
Die Fässer verschwanden zum größten Teil in Old Donegals „Rutsche“, der Strandkneipe mit dem Spezialeffekt.
Thorfin wandte den Blick zum Wrack der „Nuestra Señora de la Compostela“. Das Schiff war völlig ausgebrannt, seit es angeblich vom Blitz getroffen worden war. Den Rest konnten sie bestenfalls noch als Brennholz verwenden.
Zornig spie der in rauchgraue Felle gekleidete Nordmann in den hellen Sand der Bucht. Seine rechte Sandale hieb in den Sand und ließ ihn aufwirbeln.
Neben ihm standen der Stör, wegen seines langen Gesichtes Stör genannt, die Rote Korsarin Siri-Tong und der Boston-Mann mit seinem goldenen Ring im Ohr.
Sehr weit davon entfernt, und ein bißchen in stiller Demut versunken, hielt sich ein anderes Individuum auf, bei dessen Anblick dem Wikinger jedes Mal der Kupferhelm in Flammen aufzugehen drohte.
Der Kerl, den er nicht leiden konnte, war der ehemalige Gouverneur von Havanna, Don Antonio de Quintanilla. Damals war er ein korrupter, vollgefressener und hinterhältiger Halunke gewesen, ein fetter Frosch mit dem Wanst einer großen Trommel.
Jetzt hatte er so gut wie keine Speckfalten mehr, war von der Sonne gebräunt und erstarkt. Aber seine heimliche Angst vor dem Wikinger, der ihn damals hatte aufknüpfen wollen, wurde er nicht los, und so stand er verlegen herum und knetete seine Finger. Aus diesem Nordmann und seinen rauhen Gesellen war er noch nie so richtig schlau geworden.
Zum Glück aber schenkte ihm der finstere Nordmann keine Bedeutung, und so half Don Antonio fleißig mit, als die Fässer in die „Rutsche“ gebracht wurden.
„Dann habe ich also doch richtig gesehen“, schnaubte der Wikinger, „als ich sagte, die ‚Empress‘ segele zwischen zwei Nebelbänken gerade an uns vorbei.“
Er drehte sich um und blickte jetzt dem Stör in die Augen. Dessen Adamsapfel wanderte langsam nach oben, denn er kannte diesen Blick, der nichts Gutes verhieß.
„Aber was sagtest du großspurig, du halbgereffter Heringsarsch? ‚Wirst dich wohl getäuscht haben, Kapitän. Wer soll denn ausgerechnet jetzt mit der ‚Empress’ hier rumgurken!‘ Genau das waren deine Worte, du grinsende Beutelratte.“
Der Stör schluckte abermals, wobei sein Gesicht noch länger wurde. Thorfin war für seine drastischen Ausdrücke ebenso bekannt wie der Profos Edwin Carberry, und er nahm nie ein Blatt vor den Mund.
Jetzt konnte der Stör nur kleinlaut und beipflichtend nicken.
„Laß ihn“, sagte Siri-Tong sanft. „Jeder kann sich mal irren. Aber es steht fest, daß die sieben Kerle die ‚Empress‘ genommen haben und bei Morgengrauen verschwunden sind.“
„Welche Richtung?“ brüllte der Nordmann, außer sich vor Wut.
„Unbekannt. Keiner kennt den Kurs. Niemand hat die Halunken gesehen. Sie haben unsere Gutmütigkeit ausgenutzt, das Schiff gestohlen und sind auf Nimmerwiedersehen verschwunden.“
„Vielleicht sind sie ja nur mal so hinausgesegelt“, wagte der eingeschüchterte Stör zu bemerken.
„Na klar, um Seegurken zu jagen oder Prielwürmer zu angeln“, höhnte der Wikinger. „Geht das in deine verdammte Dampfglocke“, dabei hieb er dem Stör zweimal kräftig die Faust auf den Schädel, „nicht hinein, oder bist du so dämlich?“
„Ich dachte ja nur, kann ja sein, äh, oder so“, murmelte der Stör, der an den beiden Kopfnüssen zu kauen hatte. Einen anderen hätten die freundlichen Klapse schlagartig in den Sand gestreckt. Aber der Stör vertrug schon einiges.
„Diese Bastarde!“ fluchte Thorfin. „Sobald der Schwarze Segler entladen ist, jage ich den Kerlen nach, die unsere Gastfreundschaft ausgenutzt und uns auch noch beklaut haben. Und wenn ich sie erwische, werden sie an den Rahen zappeln, alle sieben.“
„Jean Ribault ist schon unterwegs und versucht, sie zu finden. Aber in diesem Inselgewirr ist das nicht einfach.“
„Weiß ich“, sagte Thorfin grollend. „Hier gibt es mehr als tausend Verstecke. Aber jetzt steht unsere Existenz auf dem Spiel, denn den verdammten Schnapphähnen ist die Lage des Stützpunktes bekannt. Eines Tages tauchen sie hier überraschend mit einer Übermacht auf. Und dann?“
„Warum sollten sie?“ fragte der Boston-Mann ruhig. „Sie haben ein Schiff geklaut und sich damit abgesetzt. In der Zeit, in der sie hier waren, haben sie nichts über den Seewolf erfahren. Und die Schatzhöhlen kennen sie auch nicht.“
„Da bin ich mir nicht ganz so sicher“, meinte Siri-Tong. „Die Ansammlung der Schätze mögen sie vielleicht nicht entdeckt haben, aber als Engländer wissen sie längst, wer sich hier aufhält. Ich bin mir jetzt auch fast sicher, daß die beiden Schiffe nicht zufällig durch einen Blitzschlag bei dem Unwetter in Brand gerieten. Jetzt gibt mir doch einiges sehr zu denken.“
„Du glaubst, die Kerle haben die günstige Gelegenheit bei dem Gewitter genutzt und die Galeonen in Brand gesteckt?“ fragte Thorfin Njal fassungslos.
„Hat jemals auf Great Abaco ein Blitz eins unserer Schiffe getroffen, obwohl hier häufig viel schlimmere Gewitter toben?“ entgegnete die Rote Korsarin. „Ich werde den Eindruck nicht los, als seien die Kerle ziemlich planvoll Vorgegangen.“
„Und die englische Galeone, die im Sturm gesunken ist?“
„Das war natürlich ein Unglück, eine Katastrophe, ein reiner Zufall. Erst als sie hier an Land waren, haben die Engländer vermutlich etwas gemerkt und sind dann zielstrebig vorgegangen. Es gab auch zwei Tote unter Hesekiels Männern, ein Vorfall, der rätselhaft erschien und nie ganz aufgeklärt wurde.“
Der Boston-Mann, ein Korsar wie aus dem Bilderbuch, schüttelte nachdenklich den Kopf.
„Was wollten sie damit bezwecken?“
„Schwächung der Kampfkraft“, erwiderte die Eurasierin. Ihre dunklen Mandelaugen blieben kühl und beherrscht, obwohl sie sich der ganzen Tragweite des Geschehens bewußt war. „Kleine Nadelstiche, eine Taktik, die wir ja auch immer wieder bei den Spaniern anwenden, und die schließlich zu großen und tödlichen Wunden führt. Wir haben jetzt zwei Schiffe weniger.“
„Drei“, knurrte Thorfin, „denn die ‚Empress‘ haben die triefäugigen Kanalläuse ja ebenfalls geklaut.“
Der Wikinger sah jetzt aus wie der nordische Gott Thor, wenn er voller Wut seinen Hammer schleuderte. Sein Gesicht war so grimmig und verzogen, daß es nur noch aus drohenden Augen und einem rötlichgrauen Bart zu bestehen schien.
Er wandte den Kopf und sah Don Antonio, der sich eins der Fässer auf die Schulter gewuchtet hatte und damit über die Stelling zum Strand gehen wollte.
Der Blick des Wikingers wurde jetzt sehr wachsam und mißtrauisch.
„Steckt dieser Schmachtlappen vielleicht dahinter?“ fragte er leise und drohend. „Dem Kerl habe ich noch nie getraut, damals nicht und heute auch nicht. Vielleicht sollte man ihn doch ein bißchen aufhängen, um zu erfahren, ob er nicht doch noch etwas zu beichten hat.“
„Verrenne dich nur nicht wieder in diese verrückte Idee“, sagte die Rote Korsarin. „Aus dem Saulus ist längst ein Paulus geworden.“
„Saulus – Paulus?“ fragte der Wikinger mißtrauisch. „Ich denke, der Schmachtlappen heißt Antonio.“
„Das war nur ein biblischer Vergleich, Thorfin. Ihn kannst du getrost ausklammern, er hat sich immer sehr zurückgehalten. Die sieben Kerle haben das alles allein bewerkstelligt und ganz sicher niemanden in ihre Pläne eingeweiht.“
Der Wikinger war bekannt für seine Sturheit und seinen Eigensinn. Daher schüttelte er zweifelnd den Kopf, auf dem der gewaltige und blankpolierte Kupferhelm saß, von dem Carberry immer behauptete, der Nordmann züchte darunter eine besondere Art von Riesenläusen.
„Dem Kerl traue ich alles zu, alles, bei Odin und seinen Raben! Der kriegt es fertig und beklaut noch einen toten Priester.“
„Er hat nichts damit zu tun“, versicherte auch der Boston-Mann. „Du kannst dein Mißtrauen ihm gegenüber vergessen.“
Der Stör, der immer gern die letzten Worte nachquatschte, wenn er sie für wichtig hielt, wollte gerade den Mund auftun, doch er schloß ihn schnell wieder, als er den grimmigen Blick sah. Zwei Kopfnüsse hatte er heute schon weg, und auf die dritte wollte er gern verzichten.
Während der Schwarze Segler weiter entladen wurde, faßten sie noch einmal kurz die Geschehnisse zusammen.
Sieben Engländer hatten die Strandung überlebt und waren aufgenommen worden, weil sie absolut hilflos gewesen waren. Gedankt hatten sie es den Korsaren, indem sie eine Menge Ärger verursacht hatten – Schiffe in Brand gesteckt und wahrscheinlich zwei Männer ermordet.
Siri-Tong vermutete, daß die beiden Männer unliebsame Zeugen bei irgendeiner nächtlichen Aktion gewesen und deshalb umgebracht worden waren.
Die Engländer hatten es allerdings so geschickt eingefädelt, daß es aussah, als wären die beiden mit Messern übereinander hergefallen und hätten sich gegenseitig umgebracht.
Einen Haken hatte die Sache allerdings, denn ausgerechnet die beiden waren dicke Freunde gewesen, die sich nie gestritten hatten.
„Da haben wir uns sieben dicke Läuse in den Pelz gesetzt“, sagte Thorfin etwas bekommen. „Eines Tages werden sie hier wieder aufkreuzen, wenn wir sie nicht bald schnappen. Ich könnte mir selbst in den Hintern treten, daß ich sie gesehen und nicht sofort verfolgt habe.“
Dabei traf den Stör wieder ein eisiger Blick, der ihn erschauern ließ.
„Immer ich“, murrte er. „Ich bin an allem schuld, egal ob es Schnapphähne waren oder ehrliche Männer. Ich bin auch schuld, wenn dein Helm nicht richtig poliert ist.“
„Einer muß die Schuld haben“, knurrte der Wikinger. „Ich als Kapitän habe die Verantwortung, und wenn etwas schiefgeht, dann bist du daran schuld. Das war schon seit allen Zeiten so.“
Siri-Tong ließ den wunderlichen Kauz von Nordmann brummeln und grummeln. Sie kannte ihn ja zur Genüge. Der nordische Poltermann, der selbst in der Hitze der Karibik nie seine rauchgrauen Felle ablegte und herumlatschte wie ein Relikt aus grauer Vorzeit, würde noch eine Weile herummeckern und dann mit seinem Viermaster zur Suche nach den Kerlen aufbrechen.
„Gehen wir zum Schwarzen Segler hinüber“, schlug sie vor. „Wenn wir mithelfen beim Löschen, sind wir schneller fertig.“
Thorfin Njal überhörte das glatt.
Ohne ein Wort zu verlieren, drehte er sich um und ging mit großen Schritten dorthin, wo einst an der kleinen Holzpier die „Empress of Sea II.“ gelegen hatte.
Jetzt lag da nur noch ein Nachen, und auf dem Holzsteg hockte Martin Correa, der Steuermann der „Empress“, der mit wahrer Engelsgeduld die Marotten des Old O’Flynn über sich hatte ergehen lassen. Martin war der Bootsmann und Navigator der „Empress“ gewesen.
„Ist dir eigentlich nicht aufgefallen“, polterte der Wikinger los, „daß man dir den Kahn direkt unter dem Hintern weggeklaut hat?“
Martin, dunkelblond und grauäugig, schreckte hoch. Er war ein ruhiger und besonnener Mann mit einer Geduld, die sogar Old Donegal manchmal erschüttert hatte.
„Ja, das ist mir schon aufgefallen“, sagte er.
„Und jetzt hockst du da und pennst vor dich hin. Davon kehrt das Schiffchen aber auch nicht zurück.“
„Ich denke scharf nach.“
„Aha, er denkt scharf nach“, höhnte Thorfin. „Willst du vielleicht warten, bis Odins Raben hier aufkreuzen und dir den Kurs der ‚Empress‘ zeigen?“
„Odins Raben sind fort“, sagte Martin seelenruhig. „Und Odin selbst ist längst untergegangen. Hugin und Munin sind davongeflogen, weil dein beknackter Odin sie falsch behandelt hat.“
„Beknackter Odin“, fragte der Wikinger entgeistert. „Du willst dich wohl versündigen, was?“
Martin grinste den Wikinger an.
„Munin war die Erinnerung und Hugin der Gedanke“, sagte er. „Und genau das vollziehe ich jetzt im Geiste nach. Ich versuche mich in die Lage der Kerle zu versetzen. Sie haben die ‚Empress‘ bei Nacht und Nebel geklaut, als ich nicht an Bord war, und sind losgesegelt. Ich weiß nur nicht, ob sie sich in dieser Gegend auskennen. Wenn sie sich auskennen, dann sind sie nach Andros gesegelt, wo man sich vorzüglich verstecken kann. So würde ich das jedenfalls tun, denn dort sind Mangrovensümpfe mit prächtigen Verstecken.“
„Und wenn sie sich nicht auskennen?“
„Dann decken sie sich mit Wasser und Proviant irgendwo ein und gehen auf nordöstlichen Kurs Richtung England. Dort können sie dann wie die Made im Speck bis ins hohe Alter leben.“
„Das verstehe ich nicht“, brummte Thorfin. „Wenn sie den Kahn verkaufen, kriegen sie bestimmt nicht so viel dafür, daß es etliche Jahrzehnte reicht.“
„Wenn ich von hier verschwinden wollte und ein ausgekochter Bastard wäre“, entgegnete Martin, „dann hätte ich nicht nur das Schiff genommen.“
„Sondern?“
„Ein paar Schätze vielleicht.“
Dem Wikinger gefror das Blut in den Adern. Er kniff die Augen zusammen, strich über seinen rötlichgrauen Bart und musterte Martin Correa.
„Du willst doch damit nicht etwa sagen, daß sie sich auch noch an unseren Schätzen vergriffen haben“, flüsterte er.
„Das wollte ich damit allerdings sagen.“
„Und das sagst du so ruhig?“ brüllte Thorfin.
„Ändert es etwas, wenn ich es in die Welt brülle – so wie du? Es ist ja nur eine Vermutung. Ich denke eben. Du solltest mal deinen Helm abnehmen, damit sich die Gedanken freier entfalten können. Denken bringt viel mehr ein, als herumzupoltern und zu brüllen.“
„Verdammt, bei Odins Geiern!“ röhrte der Wikinger. „Da soll mich doch gleich ein Eisbär am Hintern kratzen.“
„Hier gibt’s keine Eisbären“, sagte Martin und stand auf. „Los, wir sollten mal nachsehen.“
Der Wikinger rannte los wie ein Büffel. Erstaunte Blicke folgten ihm, wie er in Richtung der unterirdischen Schatzhöhlen davonstürmte.
Mary O’Flynn, geborene Snugglemouse, und Edwin Shane, der jüngste O’Flynn-Ableger, sahen dem Büffel nach, wie er tobend seinen Weg am Strand entlang nahm.
„Hat den Nordpolaffen was gestochen?“ fragte Edwin Shane. „Warum rennt der so?“
Mary O’Flynn seufzte ein bißchen und gab dem Bengel einen leichten Klaps.
„Du sollst nicht immer Nordpolaffe zu ihm sagen“, tadelte sie mit ihrer rauchigen Reibeisenstimme. „Er hört es lieber, wenn man ihn Wikinger oder Nordmann nennt.“
„Daddy sagt aber auch immer Nordpolaffe“, krähte das Söhnchen.
Martin Correa und die Rote Korsarin folgten dem Wikinger zu den labyrinthartigen Hohlen. Karl von Hutten, der hochgewachsene Sohn einer indianischen Häuptlingstochter und Sohn des Generalkapitäns vom deutschen Walser-Handelshaus Venezuelas, schloß sich ihnen an.
Vor den gut getarnten und nicht sichtbaren Höhlen blieben sie alle vier stehen.
„Ich kann mir schon denken, was passiert ist“, sagte Karl von Hutten. „Die Kerle haben sich an unserem Gold vergriffen, bevor sie von hier verschwanden. Also sehen wir nach.“
„Woher willst du das wissen?“ fragte Thorfin.
„Eine logische Vermutung. Ich wollte vorhin schon mal nachsehen.“
„Na klar“, tönte Thorfin. „Das war gleich mein allererster Gedanke. Gehen wir mal hinunter.“
Das Labyrinth, eine gigantische Tropfsteinhöhle, die einen riesigen Teil der Insel unterirdisch durchzog, nahm sie auf.
Diese Höhlen hatte Old O’Flynn durch einen reinen Zufall entdeckt, nämlich damals, als er mit Mary O’Flynn Streit gehabt und sie ihm kurzerhand eine Bratpfanne auf den sturen Schädel geschlagen hatte. Daraufhin war der „Admiral“ wütend und zugleich dösig über die Insel getaumelt und ganz plötzlich im Boden versunken. Dieser Zufall hatte ihnen die Höhlen beschert und Old O’Flynn eine alptraumhafte Nacht, denn hier unten gab es fürchterliche Gestalten aus Stalagmiten und Stalaktiten, die Geister und Gnomen, Riesen und Trollen ähnelten.
In der letzten Zeit war ein Weg in die Tiefe aus dem Gestein angelegt worden. Man sauste jetzt nicht mehr hinunter wie damals, sondern konnte über zwei lange Windungen nach unten gehen.
Kurze Zeit später standen sie in der riesigen Haupthöhle, einem Dom, in dem Kristalle in allen Farben glänzten und künstliche Seen und eine Himmelskuppe vorgaukelten.
Karl von Hutten entzündete eine Fackel.
In dem Labyrinth waren überall Halterungen für Fackeln angebracht worden. Eine weitere Höhle war zu einem Versteck umfunktioniert, falls Great Abaco ganz überraschend angegriffen werden sollte. Dann konnten sich hier vorerst einmal die Frauen und Kinder verstecken.
Als die Fackel brannte, sahen sie sich um.
„Genau das habe ich mir gedacht“, sagte Martin Correa in die Stille hinein. „Die Kerle haben kräftig abgeräumt.“
Er sagte es leidenschaftslos und ohne sich aufzuregen, aber den nordischen Oberschrat regte es mächtig auf, daß man nicht nur ihr Vertrauen mißbraucht, sondern sie auch noch so heimtückisch beklaut hatte.
„Diese Mistkerle“, ächzte er und hob drohend die Faust. „Diese Bande werde ich bis zum Jüngsten Tag jagen. Wir werden noch mehr Schiffe losschicken und alles absuchen.“
„Jean ist unterwegs“, sagte von Hutten ruhig. „Jerry Reeves geht ebenfalls auf Suche. Mit dir sind das drei Schiffe. Mehr können wir nicht abstellen, ohne unsere Kampfkraft zu schwächen. Zwei segeln Patrouille, und den Rest brauchen wir auf der Insel.“
Thorfin wollte das natürlich wieder nicht einsehen, doch schließlich gab er nach, als von Huttens Blick etwas kühler wurde. Der blonde und dunkeläugige Mann mit dem exotischen Aussehen hatte so eine Art, den Wikinger anzublicken, daß der ständig das Gefühl hatte, seine rauchgrauen Felle würden in Salzwasser schwimmen.
„Na gut“, knurrte er, „aber mich hält keiner auf. Ich werde …“
„Das wissen wir bereits“, sagte Siri-Tong knapp. „Du wirst sie bis zum Jüngsten Tag jagen. Jetzt wollen wir mal feststellen, was die Halunken mitgenommen haben.“
Kein Geringerer als ausgerechnet Don Antonio de Quintanilla, an dessen klebrigen Fingern früher viel Geld und Gold hängengeblieben war, hatte eine Aufstellung über die Schätze angelegt. Peinlich genau hatte er jede Kiste, Truhe oder Faß aufgeführt, und das alles noch einmal für die einzelnen Höhlen aufgegliedert.
Der Korsarin fiel es nicht schwer, genau festzustellen, was insgesamt fehlte. Die Kerle hatten in Eile gehandelt und sich daher in der großen Haupthöhle bedient.
Ein paar Minuten schwiegen sie, bis Siri-Tong alles verglichen hatte.
„Na, was fehlt nun?“ fragte Thorfin ungeduldig.
Das Gesicht der Roten Korsarin war ernst. Nicht aus dem Grund, weil etliche Truhen oder Kisten fehlten. Sie dachte viel weiter, behielt diese Gedanken aber vorerst noch für sich.
„Es fehlen sechs eisenbeschlagene Truhen. Drei davon waren mit indischem Schmuck aus Südamerika gefüllt, drei andere enthielten Silberbarren. Vierzehn Kisten, gefüllt mit Gold- und Silbermünzen, sind ebenfalls verschwunden. Und ein Fäßchen voller erlesener Perlen haben die Schnapphähne außerdem mitgenommen.“
„Ist das alles?“ fragte Thorfin.
„Ist das etwa nichts?“ entgegnete Siri-Tong.
„Einundzwanzig Kisten, Truhen und Fässer insgesamt“, zählte Thorfin auf. „Das ist nur ein Bruchteil, obwohl mich das mächtig ärgert.“
Siri-Tong sah sich noch einmal um, konnte aber nicht feststellen, daß noch mehr fehlte. In die hinteren Höhlen, wo ebenso kostbare Dinge lagerten, waren die Engländer jedenfalls nicht vorgedrungen. Das wäre viel zu zeitraubend gewesen. Also hatten sie sich beeilt und sich mit dem begnügt, was sie in der großen Höhle in aller Eile zusammenraffen konnten.
„Es geht nicht allein um ein paar Kisten mit Münzen“, erklärte die Rote Korsarin. „Es geht darum, daß diese Kerle Blut geleckt haben. Sie haben sich hier gründlich umgesehen, und jetzt, da sie einen Teil der Beute haben, wird ihre Gier die Oberhand gewinnen, wie das leider so üblich ist. Man gibt sich nicht mit ein paar Goldstücken zufrieden, wenn man weitere tonnenweise haben kann. Das ist es, was ich befürchte: Irgendwann, vielleicht schon bald, werden sie wieder aufkreuzen, geblendet von den Schätzen, unberechenbar, alles aufs Spiel setzend, auch ihr Leben.“
„Was wollen sieben Kerlchen gegen uns ausrichten?“ fragte Thorfin und schnippte mit den Fingern. „Nicht so viel!“
„Sie haben bereits eine ganze Menge gegen uns ausgerichtet“, sagte Karl von Hutten ernst. „Sie haben zwei Schiffe versenkt, zwei Männer getötet, uns bestohlen und sich die Lage des Stützpunktes gemerkt. Das sind sehr empfindliche Nadelstiche. Wir werden Mühe haben, diese Kerle zu erwischen, die längst über alle Wellen sind. Du vergißt, Thorfin, daß die Dreimast-Karavelle ein ungewöhnlich schnelles Schiff ist. Das holen wir mit den Galeonen oder deinem Viermaster niemals ein.“
„Der Meinung bin ich auch“, sagte Siri-Tong. „Diese Männer werden andere aufhetzen oder um sich scharen, seit sie wissen, was hier verborgen ist. Möglicherweise tun sie sich sogar mit den Spaniern zusammen, wenn das Erfolg verspricht.“
Wie recht die Rote Korsarin mit ihrer Vermutung hatte, ahnte zu diesem Zeitpunkt noch niemand. Ihre Besorgnis war daher echt, und auch der Poltermann wurde immer nachdenklicher.
„Martin vermutete, daß sie sich auf Andros verstecken oder aber direkt nach England zurücksegeln“, meinte Thorfin schwach. „Ist die ‚Empress‘ denn gut verproviantiert?“
Martin Correa nickte düster. „Leider, leider. Sie ist, wie immer bei unserer Genauigkeit, mit Trinkwasser und Proviant für mindestens einen Monat ausgerüstet. Und das für mindestens ein halbes Dutzend Männer. Die Kerle werden also für eine lange Zeit keine Not leiden.“
„Sie könnten, falls sie zurücksegeln, ihren Proviant auch für ein paar Goldmünzen auf Kuba ergänzen“, sagte Siri-Tong. „Aber das wissen wir eben nicht.“
„Was können wir denn tun?“ Thorfin Njal war merklich kleinlauter geworden, denn er sah wohl ein, wie aussichtslos es in Wirklichkeit war, die Kerle zu jagen, wenn ihnen nicht gerade ein Zufall half.
„Wir können nicht viel tun“, beantwortete Karl von Hutten die Frage des Nordmannes. „Genaugenommen können wir nicht mehr tun, als abzuwarten. Natürlich werden auch ein paar Schiffe alles absuchen, doch ob das Erfolg verspricht, steht auf einem anderen Blatt. Du hast aber doch die ‚Empress‘ noch gesehen, wie du sagtest. Welchen Kurs segelte sie da? Vielleicht erhalten wir so einen kleinen Anhaltspunkt.“
„Selbst wenn ich den Kurs wüßte, muß das nichts zu bedeuten haben. Ich habe den Schlorren ja auch nur im Morgennebel ganz flüchtig als Schatten gesehen, und da war er auch gleich wieder verschwunden. Schließlich hielt ich es für eine Sinnestäuschung.“
Thorfin ließ einen ellenlangen Fluch vom Stapel, den die anderen geduldig über sich ergehen ließen.
Sie betraten etwas niedergeschlagen noch ein paar weitere Höhlen, um sich dort umzusehen.
Aber die Schiffbrüchigen von der „Glorious“, wie die im Sturm gesunkene Galeone hieß, waren nicht weiter in das Höhlensystem vorgedrungen und hatten sich mit dem begnügt, was sie gleich am Eingang gefunden hatten. Immerhin war das auch eine ganze Menge.
Bedrückt darüber, daß die Lage des Stützpunktes jetzt ein paar absolut unberechenbaren Kerlen bekannt war, verließen sie die Grotte wieder.
An den aufgehäuften Schätzen hatte keiner mehr Freude. Außerdem war es nur ein Mittel zum Zweck, das sie den Spaniern abgenommen hatten, um deren Kampfkraft zu schwächen.
Jetzt hatten ein paar Kerle den Spieß einfach umgedreht.
Fast alles, was der Wikinger bei Diego auf Tortuga eingekauft hatte, war jetzt gelöscht. Ein riesiger Teil der Getränke, Bier, Wein, Rum und andere Köstlichkeiten, wurde in Old Donegals Kneipe verstaut.
Diese Kneipe hieß schlicht und einfach „Rutsche“, weil es in ihrem Innern einen versteckten Mechanismus gab. Wurde dieser ausgelöst, dann öffnete sich eine Art Falltür, die über eine Rutsche direkt ins Meer führte.
Diese Rutsche war für renitente Burschen vorgesehen, die kampflustig wurden, sobald sie einen über den Durst getrunken hatten. Die Rutsche brachte ihnen dann die nötige Abkühlung.
Natürlich kannte jeder dieses tückische Ding – aber nur solange er noch nüchtern war. In angetrunkenem Zustand dachte niemand mehr daran, und so passierte es sehr oft, daß einer der Zecher – großspurig und kampfeslustig – sich unversehens im Wasser befand.
„Alles verstaut, Mary?“ fragte der Wikinger.
„Alles bestens verstaut“, versicherte Mary O’Flynn. „Du mußt mir nur noch sagen, was du bei Diego ausgelegt hast.“
„Nicht der Rede wert. Darüber reden wir später. Erst will ich nach den verdammten Bastarden suchen. Gib mir bitte ein Bier!“
„Ein kleines?“
Diese Frage war eigentlich überflüssig, denn der Nordmann hatte von Diego einen ganz speziellen Humpen gekauft, und der faßte genau eine halbe Gallone. Dementsprechend groß war auch der Humpen.
Der Wikinger sah sie fast empört an.
„Ein großes natürlich, aber dafür nicht so einen kleinen Rum.“
In der Kneipe rannten die Zwillinge des Wikingers herum, das Söhnchen, das auf den Namen Thurgil hörte, und das blonde Mädchen Thyra. Sie spielten mit Smokys Sohn David und mit Edwin Shane, der sich als echter O’Flynn entpuppte und gern Streiche ausheckte.
Nach und nach fanden sich noch ein paar Leute in der Rutsche ein.
Hesekiel Ramsgate erschien, Hasards Vetter Arne von Manteuffel, Oliver O’Brien, Hein Ropers und der schwergewichtige Barba, Siri-Tongs Steuermann, der einem narbigen Ungeheuer glich und bei Schlägereien immer „die Kuh fliegen ließ.“
Jeder trank ein frisch gezapftes Bier. Das war immer so üblich, sobald frische Ware aus Tortuga gebracht wurde. Dann saßen die Männer bei einem kleinen Schnack zusammen, ehe sie wieder an die Arbeit gingen.
Heute war die Stimmung allerdings nicht gerade fröhlich.
„Martin vermutet, daß die Kerle Andros anlaufen werden, falls sie sich hier auskennen“, sagte der Wikinger nach einem langen Schluck. „Das bietet sich als gutes Versteck an.“ Thorfin setzte den Humpen ab und starrte auf den kümmerlichen Rest. Etwas Schaum bedeckte noch den Boden. „Aber der Vorstoß kann genausogut ins Leere gehen. Verdammt noch mal, wo sollen wir die Bastarde nur suchen?“
„Gezielt können wir nicht suchen“, sagte Arne von Manteuffel. „Um uns herum gibt es mehr als siebenhundert Inseln und Inselchen, abgesehen von den mehr als tausend Korallenbänken und Felsklippen, die wir selbst alle nicht kennen. Die Kerle können praktisch in alle Himmelsrichtungen gesegelt sein. Great Abaco können wir getrost ausklammern, denn sie nehmen sicher an, daß wir ihnen auf den Fersen bleiben und werden so schnell wie möglich eine größere Strecke zurücklegen.“
„Wo würdest du denn suchen?“ fragte der Wikinger und ließ sich noch einmal seinen Humpen füllen.
„Südlich des Nordost-Kanals“, erwiderte Arne. „Aber da gibt es allein im Exuma Sound zahllose Inseln. Andros würde ich natürlich auch nicht ausklammern. Aber das sind alles nur Vermutungen. Etwas Konkretes haben wir nicht in der Hand.“
„Ich werde es versuchen. Sollte ich die Kerle erwischen, habt ihr sicher Verständnis dafür, daß ich sie nicht zurückbringe.“
Alle nickten spontan. Sie wußten, was der Nordmann damit sagen wollte. Keiner würde seinen Zugriff überleben, denn da kannte Thorfin keinen Pardon, wenn es um die Existenz des Schlupfwinkels ging. Noch nie war die Bedrohung so groß gewesen.
Der Wikinger spendierte noch eine letzte Runde.
Von dem Stör ließ er sich danach sein „Messerchen“ bringen, ein mehr als yardlanges Schwert von beachtlichem Gewicht, und hängte es um.
Thorfin liebte Verharmlosungen, denn an Bord des Schwarzen Seglers hatte er auch noch ein „Sesselchen“ eine Art Thron, der fest in den Planken des Schiffes verbolzt war, und in dem er wie ein Gott im Walhall saß und per Handzeichen Ruderanweisungen gab.
„Barba nehme ich noch mit“, sagte er und zählte ein paar weitere Männer auf. Arne überstellte ihm noch Hein Ropers und Hanno Harms. Mehr konnte er nicht abgeben. Die anderen, ausnehmend eine deutsche Crew, mußten zur Bewachung auf der „Wappen von Kolberg“ bleiben.
Thorfin hatte jetzt eine Gallone Bier und eine Viertelgallone Rum getrunken, ohne daß er auch nur glasige Augen hatte. Das war einfach für ihn die Mindestmenge, die erforderlich war, um einen kleinen Durst zu löschen.
Aber er war jetzt in der richtigen Stimmung und hätte etwas darum gegeben, das Versteck der englischen Bastarde zu erfahren.
Alle guten Wünsche begleiteten ihn, als sich der Schwarze Segler von der Pier löste und Kurs auf die offene See nahm.
Was die anderen dann hörten, waren gebrüllte Kommandos mit einer Donnerstimme, die sogar Thor zur Ehre gereicht hätte.
An den vier Masten des Schwarzen Seglers „Eiliger Drache über den Wassern“ entfaltete sich immer mehr Tuch, das sich im Wind blähte.
Auf Backbordbug liegend entschwand das Schiff schließlich den Blicken der Zurückgebliebenen.
Auf der „Empress“ lachten sie gedämpft und höhnisch.
Backbord voraus war ein Schatten im Morgennebel aufgetaucht, aber sofort wieder zwischen zwei Nebelbänken verschwunden.
„Habt ihr den gesehen?“ fragte Richard Tooley grinsend. Doch in seinem Gesicht stand gleichzeitig auch Angst, und das Grinsen wurde mehr eine verzerrte Grimasse. „Das war der Schwarze Segler mit dem behelmten Kerl an Bord. Glaube nicht, daß er uns gesehen hat. Es ging alles viel zu schnell.“
„Du quasselst entschieden zu viel, Baby“, sagte der Mann, der wie selbstverständlich die Ruderpinne der kleinen und wendigen Dreimast-Karavelle übernommen hatte. „Wahrscheinlich ist es Angst, die dich ständig quatschen läßt. Halt jetzt deine große Klappe!“
Der Mann an der Ruderpinne war groß, dürr und dunkelhaarig. Er war Anfang der Vierzig und wirkte oft düster und grimmig. Noch vor ein paar Wochen war er als Dritter Offizier auf der englischen Galeone „Glorious“ gefahren. Er und sechs andere hatten überlebt, und so nahm sich Milton Smithfield selbstverständlich heraus, daß er jetzt das Kommando über die anderen hatte, die vormals nur gemeines Schiffsvolk gewesen waren.
Er glaubte, auch heute noch über die erforderliche Autorität zu verfügen.
Doch darin hatte er sich getäuscht, seit sie wieder mit einem Schiff unterwegs waren. Da war noch Hosea Ashburn, einst Kaufmann in London, reich und unabhängig, später pleite und nur noch von dem Gedanken beseelt, sich so schnell wie möglich abzusetzen, um sich irgendwo in der Neuen Welt eine zweite Existenz aufzubauen.
Auch dieser Mann glaubte, gewisse Führungsansprüche erheben zu können, und so war es schon auf Great Abaco zwischen ihm und Smithfield zu Reibereien gekommen.
Mit den Führungsansprüchen der beiden war es allerdings vorbei, seit sie Gold, Silber und Perlen an Bord hatten.
Keiner ließ sich jetzt mehr das Maul verbieten, und Smithfield konnte seine Stellung nur aus dem Grund behaupten, weil er der einzige war, der sich in der Karibischen See auskannte. Er verstand sich auf Navigation, kannte die Bahamas einigermaßen und nutzte das dementsprechend aus. Ohne ihn waren sie aufgeschmissen, und das gab ihm eine gewisse Überlegenheit.
Richard Tooley, den er mit „Baby“ angeredet hatte, ärgerte sich darüber. Er war der Jüngste der sieben Männer, gerade zwanzig Jahre alt und von Abenteuerlust erfüllt. „Baby“ nannten sie ihn nur wegen seiner großen Kulleraugen.
„Ich rede, wann ich will“, sagte er etwas von oben herab und respektlos. „Du warst früher zwar Offizier, Smithfield, aber das ist lange vorbei. Du bist so gut und so schlecht wie jeder andere von uns. Ich lasse mich nicht bevormunden, klar?“
„Nur keinen Streit“, sagte Hosea Ashburn. „Wir sitzen in einem Boot und müssen zusammenhalten. Smithfield kennt die Gewässer hier, und ihm müssen wir vorerst vertrauen.“
„Was heißt hier vorerst?“ schnappte Smithfield. „Ihr seid auf mich angewiesen. Ohne mich fangen sie euch gleich wieder ein. Ihr könnt nicht mal einen Kompaß ablesen.“
Die Worte klangen grimmig-arrogant, und genauso waren sie auch gemeint. „Oder glaubt ihr etwa, die Kerle auf der Insel geben sich damit zufrieden, daß wir verschwunden sind? Wir haben immerhin den Stützpunkt des Seewolfs und seiner Korsaren entdeckt. Das wird den lieben Landsleuten gar nicht recht sein, zumal wir sie noch um einen beträchtlichen Anteil ihrer Beute erleichtert haben.“
Jetzt grinsten sie alle niederträchtig, und damit war von der entstandenen Spannung etwas genommen.
Ashburn gab sich sogar leutselig und lachte leise.
„Was wollt ihr? Wir haben doch alles. Ein schönes Schiff, das wir gleich mal inspizieren werden, und Gold in Hülle und Fülle.“
„Könnte noch mehr sein!“ rief ein Bursche mit einer verschlagenen und verderbten Visage. Er hieß Jerry Plott. Seine langen Haare hingen strähnig vom Schädel und ringelten sich wie Rattenschwänze hinter den Ohren. Er war nur etwas älter als Tooley, aber wesentlich ausgefuchster. Außerdem war er unberechenbar, das hatten sie schon auf der „Glorious“ erlebt.
„Gold kann man nie genug haben“, setzte er eifrig und mit glänzenden Augen hinzu. „Man müßte die ganze Höhle ausräumen. Hinter der großen gab es noch weitere, und da stapelten sich ebenfalls überall Kisten, Truhen und Fässer. Ich wette, die sind alle mit Gold, Schmuck und Perlen gefüllt.“
„Die Wette hast du gewonnen“, sagte Smithfield. „Aber vorerst begnügen wir uns mit dem, was wir haben. Unsere Sicherheit geht vor. Sie werden uns jagen, erbarmungslos, ohne Gnade. Und wenn sie uns erwischen, hängen wir mit dem Hals im Wind. Darauf könnt ihr ebenfalls alles wetten, was ihr habt.“
„Welchen Kurs segeln wir denn?“ fragte ein anderer kleinlaut. Er hieß Jim Webber und war vormals Koch auf der englischen Galeone gewesen.
Sein dünnes Haar war hellblond, seine Augen wässerig, und sein Kopf wuchs halslos direkt aus dem Rumpf.
„Zunächst nach Süden“, erwiderte Smithfield vage.
„Und später?“
„In eine andere Richtung.“
„Die man vielleicht etwas genauer definieren könnte“, warf Ashburn ein. „Schließlich ist es gut zu wissen, wo es langgeht.“
„Noch besser und beruhigender ist es, zu wissen, daß man seinen Verfolgern entkommt“, sagte Smithfield überheblich. „Ich muß mir das selbst noch überlegen.“
„Verstecken wir uns denn irgendwo?“ fragte der Koch verwirrt.
„Ganz bestimmt. Zufrieden, Köchlein?“
„Ja, S…“
Der Koch wollte „Sir“ sagen, ganz automatisch, aber er verschluckte es gerade noch. Fehlte noch, daß er diesen Kerl jetzt mit Sir anredete, zumal er nichts weiter war als ein Gauner, ein Halsabschneider wie die anderen auch.
No, Sir, da ist kein Sir mehr drin, dachte der Koch. Das würde ja auf Unterwürfigkeit hindeuten und den Kerl wieder auf die Wogen der Überheblichkeit und des Stolzes tragen.
Smithfield überging das, obwohl er es gemerkt hatte und dabei feststellen mußte, daß seine Autorität abgeblättert war. Nun, er würde es dem Köchlein bei Gelegenheit schon heimzahlen. Sie hatten ja vorerst jede Menge Zeit.
Der Ex-Dritte hielt die Pinne fest und starrte achteraus. Vor der Küste der Insel herrschte noch immer dichter Frühnebel, wie er hier üblich war. Verfolger konnte er jedoch keine entdecken.
„Jonny, du übernimmst ab sofort den Ausguck. Hier hängt ein Spektiv, ein sehr gutes, wie mir scheint. Damit wirst du ständig die Insel im Auge behalten. Du kennst dich ja aus, warst ja auf der seligen ‚Glorious‘ Fockmastgast.“
Der hochgewachsene Mann mit dem Oberlippenbart nickte eifrig. Er war Ende Zwanzig, und, wenn man so wollte, noch ein einigermaßen anständiger Kerl. Jetzt aber hatten die Schätze an Bord ebenfalls seinen Charakter verändert. Er dachte pausenlos an seinen neuerworbenen Reichtum, und was er damit anfangen konnte.
Er ging nach achtern und nahm das Spektiv.
Von der Cherokee-Bucht war nichts zu sehen. Eine immer dichter werdende Nebelwand schob sich vor sie. Auch davor waberte dichter Nebel über dem Wasser.
„Siehst du was?“ fragte Smithfield.
„Nein, nur Nebel und an Backbord blanke See. In spätestens einer Stunde dürfte sich der Nebel auflösen.“
„Sehr gut. Weiter beobachten. Jetzt werden sie wahrscheinlich schon bemerkt haben, daß wir von der Fahne gegangen sind.“
„Und die Verfolgung aufnehmen“, sagte Jonny Warwick etwas nervös.
Sie segelten mit gutem Wind fast raumschots und legten eine Meile nach der anderen zurück, ohne daß sich ein Verfolger zeigte.
Schließlich war der Nebel achteraus nur noch als dünner Strich auf dem Wasser zu sehen.
„Bald sind wir hinter der Kimm verschwunden“, sagte Smithfield. „Da werden die Kerle dann einige Mühe habe, uns zu folgen. Sobald wir nichts mehr sehen, inspizieren wir das Schiff. Es scheint mit allem gut ausgerüstet zu sein. Webber wird später die Kombüse übernehmen und als Koch fungieren wie früher.“
„Ich kann mich ja schon gleich mal umsehen“, sagte der Koch eifrig. „Dann weiß man, woran man ist.“
„Das erledigen wir später zusammen, Webber.“
„Ich heiße Jim“, versuchte sich der Koch anzubiedern. „Du kannst ruhig Jim zu mir sagen, Mister.“
Smithfield überhörte das geflissentlich.
„Ich meine nur, wir sind ja schließlich Kumpels – äh, jetzt.“
Smithfield überhörte auch das. Sein Blick war kühl und sah durch das Köchlein hindurch, als sei es nicht vorhanden.
Den siebenten Kerl an Bord, Bob Cardogan, störte das Gerede nicht. Er hörte auch kaum zu. In seinem bulligen Glatzkopf kreisten die Gedanken ausschließlich um die erbeuteten Truhen und Kisten. Und natürlich darum, ob es hier an Bord auch Wein, Rum oder Bier gab.
Sein aufgedunsenes Gesicht zeugte davon, daß er gern dem Suff huldigte. Er war ein ziemlich einfältiger Kerl, bullig von Gestalt, doch so dümmlich, daß die anderen ihn immer ausnutzten oder betrogen. Auch diesmal würden sie ihn wieder kräftig barbieren.
Als die Sonne etwas höher über dem Meer stand, atmeten sie alle erleichtert auf, auch jene, die vorgaben, keine Angst zu haben.
Die „Empress“ stand, von der Cherokee-Bucht aus gesehen – weit unter der Kimm und war selbst mit einem Spektiv nicht mehr zu erkennen.
Außerdem – so stellte Smithfield fest – besaß sie hervorragende Segeleigenschaften, konnte sehr hoch an den Wind gehen, war wendig, rank und vor allem schnell. Sie würde fast allen Verfolgern davonlaufen.
Er ließ nochmals eine gute Stunde verstreichen, bis er sicher war, daß ihnen tatsächlich niemand folgte.
„Trimmt die Segel etwas nach!“ rief er. „Wir gehen auf südwestlichen Kurs.“
Die Kerle taten sich noch etwas schwer mit der Besegelung. Den Umgang mit einer schnellen und wendigen Karavelle waren sie noch nicht gewohnt, aber es klappte alles.
An Steuerbord blieb Great Abaco zurück, und so konnten sie jetzt die Südspitze runden.
Erst als die Karavelle auf dem neuen Kurs lag, verließ Smithfield die Ruderpinne und übergab sie an Jonny Warwick.
Richard Tooley, der jüngste Mann an Bord, übernahm den Ausguck.
„Sieh dir jetzt dein neues Reich an, Webber!“ rief Smithfield.
Das Köchlein war im Nu auf den Beinen und hatte es furchtbar eilig, die Pantry zu inspizieren.
Natürlich kannten sie die Karavelle von ihrem Aufenthalt auf der Insel, aber sie waren nie im Innern des Schiffes gewesen, das ein gewisser Martin Correa eifersüchtig gehütet hatte.
Jetzt konnten sie sich alles ansehen.
Smithfield war von der Ausstattung mehr als überrascht.
Zunächst einmal inspizierten sie die Kombüse. Sie war nur klein, aber gediegen und mit allem eingerichtet. Alles blitzte nur so vor Sauberkeit.
Da hingen blankgescheuerte Töpfe und Tiegel, Pfannen und Kellen.
Das Köchlein kriegte Stielaugen und faßte neugierig alles an. Seine wässerigen Augen wurden richtig gierig, als er all die Herrlichkeit ausgiebig musterte.
„Ich hoffe, das bleibt auch so sauber“, sagte Smithfield warnend. „Das Schiff gehört jetzt nämlich uns. Wenn du hier alles versaust und verkommen läßt wie auf der Galeone, bist du die längste Zeit an Bord Koch gewesen. Nimm dir ein Beispiel an diesen Korsaren. Harte Brocken, aber immer sauber und adrett.“
„Ich werde alles wie meinen Augapfel behüten“, versicherte der halslose Koch. „Du wirst zufrieden sein, Mister.“
„Will ich auch hoffen.“
Die Proviantlast wurde geöffnet, und da stieß der Koch einen Schrei der Überraschung aus.
„Meine Güte, hier ist ja alles knüppeldick vorhanden! Würste, Speck, Schinken! Mir läuft das Wasser im Maul zusammen.“
Von der Decke baumelten riesige Hartwürste, Speck- und Schinkenseiten. Da waren Säcke voller Mehl, sogar frische Eier und frisches Fleisch. Das Köchlein fing schon an zu sabbern.
In einem Sack waren Zwiebeln, im anderen Knoblauch, im dritten linsenartige Früchte, im vierten gedörrtes Obst, und so ging es weiter.
„Scheint so, als hätten die einen längeren Törn vorgehabt“, ließ sich Ashburn vernehmen, der alles mit äußerstem Wohlgefallen betrachtete. „Na, uns kann das nur recht sein.“
In Gedanken überschlug er, wie lange das alles wohl für sieben Mann reichen würde.
„Einen Monat lang brauchen wir uns nicht zu sorgen“, sagte er staunend. „Auch das soll uns nur recht sein.“
Sie verließen das Reich und sahen sich die anderen Räumlichkeiten an. Die Kammern waren aufgeklart und sauber. Bettzeug war in den Kojen vorhanden, auch Kissen, und in den Schapps hingen Klamotten.
„Ganz ehrlich“, sagte Jerry Plott grinsend. „So was habe ich noch nie gesehen. Die Kerle müssen sehr pingelig sein. Bei denen herrschen Zucht und Ordnung. Die schmeißen nichts hin.“
Auch Trinkwasser in Fässern fanden sie. In einigen befand sich dickes Öl, in zwei anderen Essig.
Es sah tatsächlich so aus, als hätten sie mit der Karavelle eine längere Reise geplant.
Ganz zum Schluß, das hatte sich Smithfield aufgehoben bis zuletzt, wurden die Ladeluken geöffnet, in denen sie auch die Goldkisten und Truhen verstaut hatten.
Jetzt schluckten sie abermals.
In dem kleinen Stauraum befanden sich weitere Fässer. Einige ließ Smithfield gleich öffnen.
Herber Geruch schlug ihnen entgegen, aber lieblicher Geruch.
Bob Cardogan begann erregt zu schnüffeln.
„Wein!“ schrie er. „Rotwein! Rum Bier!“ Er schlug sich vor Freude auf die Schenkel und wischte sich anschließend mit der Hand über den Mund.
„Das sind ja Mordskerle“, tönte er. „Diese Korsaren haben aber auch an alles gedacht. Nur ein paar Weiberchen hätten sie noch an Bord verstecken sollen.“
„Sonst noch was?“ fragte Milton Smithfield eisig.
In einer Halterung der Bordwand steckte ein Kuhfuß, den er mit einem heftigen Ruck herausriß.
„Verschließt die Fässer wieder“, sagte er, „damit von dem kostbaren Zeug nichts ausläuft. Jetzt werden wir uns erst mal das ansehen, was wir erbeutet haben.“
Auf Great Abaco hatten sie bereits einen flüchtigen Blick in ein paar Kisten geworfen, sich aber aus Zeitmangel nichts genauer ansehen können, weil die Gefahr bestand, von den Korsaren überrascht zu werden.
Jetzt hebelte Milton die erste Kiste auf, bis der Deckel mit einem lauten Krach zur Seite flog.
Diesmal brüllte keiner. Sie waren von dem Anblick so überwältigt, daß sie lange Zeit keinen Ton herausbrachten.
Die Kiste war fast bis zum Rand mit Goldmünzen gefüllt, und die starrten sie jetzt schweigend an.
Schließlich griff Milton zögernd hinein. Das Klirren von Goldmünzen, das einen ganz eigenen Ton hatte, war zu hören.
Er ließ ein paar davon durch die Hände gleiten, warf andere hoch, fing sie wieder auf und legte sie zurück. Eine behielt er in der Hand und betrachtete sie ausgiebig im hellen Sonnenlicht, das durch die geöffnete Luke fiel.
„Spanische Reales“, sagte er so andächtig und leise, daß ihn kaum jemand verstand. „Wahrhaftig spanische Reales. Die Kerle müssen eine sagenhafte Beute gerissen haben.“
Die Kiste wurde wieder geschlossen, die nächste geöffnet.
Sie enthielt Dublonen und kleine Goldbarren.
Das Staunen nahm kein Ende. Jeder von ihnen wollte wenigstens einmal im Gold wühlen.
Milton Smithfield war so klug, sie nicht davon abzuhalten. Er ließ sie gewähren und lachte dabei leise.
Von oben blickten auch noch zwei Kerle in den Laderaum, standen da und rieben sich die Hände. Am liebsten wären sie hinuntergesprungen, um ebenfalls im Gold zu wühlen.
„Scharf aufpassen!“ schrie Milton nach oben. „Achtet genau auf die Kimm, ob uns jemand folgt!“
Die Gesichter verschwanden schlagartig.
Das Fäßchen, das sie mitgenommen hatten, war noch nicht geöffnet worden. Daher begann Milton, es aufzuhebeln. Obwohl es klein war, hatte es doch ein enormes Gewicht.
Es dauerte nicht lange, bis er es geöffnet hatte.
Das Fäßchen war randvoll mit Perlen aller Sorten Größen und Schattierungen gefüllt.
Zuerst konnten sie es gar nicht fassen, so überrascht waren sie.
Perlen, die mitunter die Größe von Taubeneiern erreichten, lagen vor ihren staunenden Blicken.
„Ich habe mal eine besessen“, sagte Cardogan verträumt. „Eine kleine, schwarze, aber leider nicht lange.“
„Klar, dann hast du sie gegen Fusel eingetauscht“, erklärte Ashburn feixend. „Für ein paar dieser Perlen kannst du dich totsaufen.“
Auch in den mattschimmernden Perlen wurde gewühlt. Dabei stand die Gier jedem einzelnen von ihnen überdeutlich im Gesicht. Selbst der dürre Smithfield konnte sich kaum noch bezähmen, und er entschloß sich nur schweren Herzens, das Faß wieder zu verschließen.
„Halt!“ sagte Ashburn. „Jeder soll sich drei oder vier Perlen nehmen, damit er das Gefühl hat, reich zu sein. Nur so mit sich herumtragen. Ich denke, das dürfte unsere Laune ganz erheblich steigern.“
Milton sah das Glitzern und Verlangen in den Augen der anderen und nickte beklommen.
Wenn er jetzt abgelehnt hätte, wären die Kerle wahrscheinlich über ihn hergefallen.
„Ich teile aus, auch für die anderen“, sagte er heiser.
Großzügig verteilte er an jeden Mann fünf Perlen von etwa der gleichen Größe.
„Mann, ist das ein Gefühl“, stöhnte Webber, der die Perlen zwischen seinen Fingern drehte und wendete. „Wann teilen wir denn den Rest auf?“
„Wenn wir in Sicherheit sind“, sagte Milton. „Sicherheit für uns bedeutet aber auch, daß wir uns mal um die Kanonen an Deck kümmern, denn in der Karibik wimmelt es nur so von Piraten und lichtscheuem Gesindel. Wenn die unser schmuckes Schiffchen sehen, sind wir erledigt und die Beute für alle Zeiten los.“
„Ein paar Kisten öffnen wir aber noch“, schlug Ashburn gierig vor. „Ich kann mich an dem Zeug nicht satt genug sehen.“
Damit war Milton einverstanden. Schließlich wollte er selbst ja auch wissen, was sie erbeutet hatten.
Der Inhalt der einen Truhe haute sie bald um. Sie hatten nie in ihrem Leben auch nur den Bruchteil derartiger Schätze jemals gesehen.
Außer Hosea Ashburn, der früher wohlhabender Kaufmann gewesen war, hatten die meisten in ihrem Leben allerhöchstens mal zwei Goldmünzen besessen, und selbst die hatten sie nicht ehrlich verdient, sondern gestohlen. Jetzt konnten sie in Gold buchstäblich baden.
Die Truhe enthielt, schlicht und einfach gesagt, Gold- und Silberschmuck in Form von Goldketten, Armreifen, Halsbändern, Diademen und kostbaren Figuren.
Dem dicken Koch bereitete es schon wieder heimliche Sorge, wie man dieses Zeug so gerecht aufteilen konnte, daß sich keiner übervorteilt fühlte.
Er griff gierig nach einem kleinen goldenen Elefanten, dessen Augen aus roten Rubinen bestanden. Es war ein Meisterwerk der Goldschmiedekunst wie auch alles andere, was sich in den Truhen befand.
„Ich bin überwältigt“, sagte Milton schluckend. „Dabei ist das nur ein winziger Teil von dem, was noch auf der Insel liegt. Es müssen, wenn ich ganz vorsichtig schätze, etliche Schiffsladungen voll sein. Ein Schatz, den man sich in seinen ganzen Ausmaßen gar nicht richtig vorstellen kann.“
Hosea Ashburns Gesicht wurde kantig. Seine Finger begannen zu zittern, als auch er sich etwas herausklaubte und betrachtete.
Er hielt eine goldene Götterstatue in der Hand, die mit Edelsteinen besetzt war. Allein von dieser Statue konnte man sich ein Schiff kaufen, überlegte er.
Aber zu was noch ein Schiff, das mit Arbeit und Plage verbunden war?
Er lachte laut und stoßartig auf, bevor er die Statue wieder in die Truhe zurücklegte.
„Wir holen uns auch noch das andere, den Rest“, sagte er mit heiserer und versagender Stimme. „Dort liegt das alles nur nutzlos herum. Die Korsaren sind so dämlich und lagern es, statt sich in alle Winde zu zerstreuen und den Rest ihres Lebens als reiche Männer zu verbringen. Sie bauen an, kultivieren Land, bauen Werften und schuften wie die Irren. Ist das noch normal?“
„Nein, die sind verrückt, die spinnen“, gab Milton zu. In seinen harten Augen lag ein Lauern. „Du sagtest, wir holen uns auch noch das andere, den Rest. Wie willst du das anstellen? Glaubst du, die Kerle warten darauf, bis wir wieder aufkreuzen, und rücken ihre Beute dann freiwillig heraus?“
„Nein, das glaube ich ganz bestimmt nicht. Aber es gibt Mittel und Wege, um an das Zeug zu gelangen. Man muß nur gründlich überlegen und in anderen Dimensionen denken.“
„In welchen?“
„Man muß es vom kaufmännischen Gesichtspunkt aus sehen“, erklärte Hosea nüchtern.
„Das verstehe ich nicht.“
„Man muß bereit sein, einen gewissen Anteil rauszurücken, um damit einen noch größeren Anteil zu ergattern. Man investiert sozusagen, damit sich das Kapital vermehrt.“
„Du willst doch nicht etwa diese Schätze investieren? Das lasse ich niemals zu – und die anderen sicher auch nicht.“
Die anderen redeten gleichfalls Tacheles mit Ashburn, aber der winkte nur grinsend ab.
„Unsere Schätze behalten wir selbstverständlich. Regt euch nur nicht auf und seid nicht so mißtrauisch. Schließlich war ich Kaufmann und verstehe etwas von dem Geschäft.“
„Ein verkrachter Kaufmann, dem der Boden in London zu heiß wurde“, sagte der Koch hämisch. „Der seinen Gläubigern davonlief und sie vorher noch mit klugen Sprüchen um den Finger wickelte.“
„Quatsch, ich wurde betrogen, du Dummkopf! Man hat mich übers Ohr gehauen, deshalb mußte ich verschwinden.“
„Du brauchst dich nicht zu entschuldigen“, unterbrach Milton. „Erkläre mir lieber, wie du dir das vorstellst.“
„Später, ich muß darüber genauer nachdenken. Mit sieben Mann und einem kleinen Schiff können wir gegen die Insel absolut nichts ausrichten. Wir brauchen Schiffe und Leute, die ein Risiko eingehen, um sich eine goldene Nase zu verdienen. Sie werden mit kleinen Anteilen bedacht und holen dafür die Kastanien aus dem Feuer.“
„Und dann bescheißen sie uns um den Rest“, sagte Jerry Plott. „Das kennt man ja. Erst sind sie Feuer und Flamme, und später booten sie die eigenen Leute aus.“
„Blödsinn. Man muß es nur richtig anfangen. Ich werde euch das später genau erklären.“
„Da bin ich aber gespannt.“
Die letzten Truhen wurden geöffnet. Drei davon waren mit Schmuck und kostbarem Geschmeide gefüllt.
Als alles wieder verschlossen war, hatten sie vor Aufregung grünliche Gesichter und kehrten an Deck zurück.
Sie hockten auf einem Goldschatz, der so unermeßlich groß war, daß sich der Wert auch nicht annähernd abschätzen ließ.
Smithfield sah sich zunächst die Kanonen an und wunderte sich nicht, daß auch sie in einem hervorragenden Zustand waren. Die Drehbassen steckten unter Planen in den Halterungen, und einige andere befanden sich noch unter Deck. Bei einem bevorstehenden Gefecht konnten sie innerhalb kürzester Zeit eingebaut werden.
Sehr zufrieden mit sich selbst und der Welt ging er in die Kammer, die einst Old O’Flynn bewohnt hatte. Er wollte sich dort ebenfalls gründlich umsehen.
Hosea Ashburn war ihm gefolgt, Smithfield paßte das zwar nicht, aber er sagte nichts. So, als sei der andere nicht vorhanden, begann er die Kammer gründlich zu durchstöbern.
Als er ein Schapp öffnete, pfiff er leise durch die Zähne und nahm einen größeren zusammengebundenen Packen heraus, den er auf das kleine Stehpult legte.
Er öffnete die Verschnürung und starrte auf ein paar gebundene Blätter. Sie enthielten Seekarten.
Mit seinen navigatorischen Kenntnissen brauchte er nur kurze Zeit, bis er wußte, was er da gefunden hatte.
Es waren Seekarten, die fast das gesamte Gebiet der Bahamas zeigten. Auch Great Abaco war eingezeichnet, allerdings gab es keinen Hinweis auf den Stützpunkt der Korsaren, aber das wunderte Smithfield nicht.
Ashburn trat unaufgefordert näher.
„Sieh an, Seekarten“, sagte er nach einem kurzen Blick. „Welches Gebiet zeigen sie denn?“
Smithfield blätterte sie rasch durch, zeigte sich aber völlig desinteressiert an dem Schatz, der ihm in die Hände gefallen war. Wenn die Kerle merkten, um was es sich handelte, war er vielleicht überflüssig. Mit ein bißchen Verstand konnten sie nach den Karten selbst navigieren und brauchten ihn nicht mehr.
„Kannst du Seekarten lesen?“ fragte er.
„Nein“, gab Ashburn zu. „Leider nicht. Aber vielleicht kannst du mir das etwas näher erklären.“
„Von mir aus. Scheint sich um markierte Punkte der Korsaren zu handeln, wo sie Beute gerissen oder noch versteckt haben“, sagte er.
Er deutete auf die Insel Andros, südlich von Great Abaco.
„Das ist Puerto Rico. Und daneben verläuft ein Bogen bis tief nach Süden. Das obere sind die Leeward-, das untere die Windward-Inseln.“
„Aha! Und das Land darunter im Süden?“
„Das ist Kuba“, log Smithfield. „Die kubanische Nordküste.“
„Und wo sind wir?“
„Wir sind nicht mehr drauf, auch auf den anderen Karten nicht. Ist ja auch logisch. Die Kerle fertigen doch keine Karten von der Ecke an, die sie genau kennen. Sie müssen sie den Spaniern abgenommen haben.“
„Ja das ist möglich.“
Ashburn beugte sich sehr interessiert darüber, doch mit den Aufzeichnungen kam er nicht klar. Seekarten waren für ihn Bücher mit sieben Siegeln, und so mußte er das glauben, was Smithfield ihm sagte.
„Können wir nichts damit anfangen?“ fragte der Ex-Kaufmann.
„Vorläufig nicht.“
„Dann wirf den Krempel doch über Bord.“
„Nur ein Idiot wirft Seekarten über Bord, mein Lieber. Wer weiß, möglicherweise führt uns der Weg in jene Richtung, und dann sind wir bestens gerüstet. Nein, die bewahren wir auf, fressen ja kein Brot, die Dinger.“
Ashburn, von Beruf aus mißtrauisch, schaute sich die Karten noch einmal genau an, konnte aber keine Unstimmigkeiten entdecken. Zudem sah Smithfield so gleichgültig und gelangweilt drein, daß er ihm glaubte.
Schließlich packte der Ex-Dritte die Blätter wieder zusammen und verstaute sie im Schapp.
Er ging hinaus und hielt das Schott einladend geöffnet, damit Ashburn nicht hierblieb.
„Ich wollte mich eigentlich noch ein bißchen umsehen“, sagte der ehemalige Kaufmann harmlos. „Man muß das Schiff schließlich genau kennenlernen.“
„Das ist meine Kammer, Mister“, sagte Smithfield unfreundlich. „Du kannst dir ja ebenfalls eine suchen. Gibt ja noch mehr hier an Bord. Jetzt gehen wir erst mal nach oben, denn noch ist die Gefahr nicht endgültig vorbei.“
„Du willst hier den Kapitän spielen, wie?“ Ashburn lächelte bei seinen Worten, aber die Frage klang lauernd.
„Wenn du willst, kannst du ihn auch spielen. Ich setze dann allerdings voraus, daß du uns zu einem vorzüglichen Versteck führst und dich hier gut auskennst.“
„Ich finde, wir beide sollten gleichberechtigt sein.“
„Das sind wir aber nicht. Du bist Kaufmann, ich bin Seemann.“
„Das eine ergänzt das andere in unserem Fall.“
„Davon bin ich nicht überzeugt. Du hast keine Ahnung von der Navigation, die bei der Seefahrt nun mal die wichtigste Voraussetzung ist. Aber ich besitze jetzt ebensoviel Gold, Schmuck und Silber wie du. Also brauche ich keinen Kaufmann, aber du brauchst einen Navigator.“
Ashburn schluckte hart. Gegen das Argument hatte er nicht viel vorzubringen.
„Viel wird auch einmal wenig“, orakelte er. „Ich habe die Idee, wie wir auch noch an den Rest des Schatzes gelangen.“
„Vorerst geht es um unsere Sicherheit. Über das andere können wir uns später unterhalten.“
Wieder an Deck, sah sich Smithfield sorgfältig nach allen Seiten um.
Ashburn stapfte ziemlich verbiestert hinter ihm her. Er strich mit der Hand durch seinen angegrauten Vollbart und überlegte ernsthaft, wie der Dritte auf elegante Art und Weise auszubooten sei.
Dazu fiel ihm aber nicht viel ein. Durch seine Position war Smithfield mächtig, mächtiger als er. Er konnte ein Schiff segeln, er kannte sich aus, und er konnte sie auch sicher zurückführen.
Er, Ashburn dagegen, konnte weder das eine noch das andere. Vom Segeln verstand er nichts. Er konnte nur an den Tampen ziehen, die man ihm zeigte, ohne daß er genau wußte, was mit der Tampenzieherei eigentlich bewirkt wurde. Er würde auch allein nie nach England zurückfinden. Nicht mal die Insel, die jetzt nicht mehr zu sehen war, würde er wiederfinden.
Auf See war er ein Nichts, eine Null ohne Wert, die hinter dem Komma stand.
Und die anderen? Die Kerle konnte er vergessen. Der eine war zu dämlich, der andere soff sich die Hucke voll, der dritte war ein hinterhältiger Bursche, ein weiterer labil und einer hatte nur das große Maul.
Sie waren allesamt Nieten, unfähig, sich auf See allein zu bewegen.
Das war Ashburns nüchterne Bilanz.
Also hieß die Devise, auch weiterhin freundlich zu bleiben und sich zu arrangieren, bis sich eine günstige Gelegenheit bot.
Er wußte nicht, daß Smithfield ähnlich dachte.
Dem erwuchs hier eine ernstzunehmende Konkurrenz, denn Ashburn verstand es, andere um den Finger zu wickeln, zu belatschern und gelehrsame Reden zu schwingen.
Mehr konnte er aber nach Smithfields Ansicht nicht. Also war der Kaufmann, genaugenommen, überflüssig und beanspruchte nur einen Teil der Beute, für den er so gut wie nichts getan hatte.
Andererseits, so überlegte Smithfield auch ganz richtig, war er ebenfalls auf jeden Mann angewiesen, um die Karavelle zu segeln. Er beschloß daher, vorläufig alles so zu belassen, wie es war, und später nach einer günstigen Gelegenheit zu suchen, um Ashburn loszuwerden.
Lange vor Mittag verschwand das Köchlein in der Pantry und wühlte dort in den Vorräten herum. Er konnte aus dem vollen schöpfen und tat das auch lustvoll. Natürlich versorgte er sich zuerst mit den besten Bissen.
Er stand vor dem Herd und nuckelte als erstes genüßlich ein paar rohe Eier aus, bevor er an die Arbeit ging.
Er schnitt Speckwürfel, Zwiebeln, nahm von den Tomaten und dem Knoblauch, tat etwas Fleisch in den großen Topf und rührte das alles ziemlich wahllos zusammen, wie er das von der Galeone her gewohnt war.
Dort war man mit dem Essen keineswegs pingelig gewesen.
Bob Cardogan besuchte ihn etwas später gerade im richtigen Augenblick, denn da hatte das Köchlein eine Buddel gefunden und hing hingebungsvoll an dem Inhalt.
Den Rest teilten sie sich und begannen in der Pantry ein paar wilde Lieder zu grölen.
Inzwischen übernahm Smithfield wieder die Pinne und änderte nach einer Weile den Kurs.
Verfolger waren keine zu sehen. Die hatten sich längst in alle Winde zerstreut und würden jetzt ziellos die vielen kleinen Inseln absuchen.
Weit voraus, auf Südsüdwest-Kurs, tauchten vor dem Mittagessen auf der See winzige Punkte auf.
Es waren viele kleine Inseln, zu einem Halbkreis angeordnet, bewachsen mit Kokospalmen, einsam und verlassen, vielleicht noch von keinem Menschen betreten.
Immer mehr tauchten auf. Manche erinnerten an große Bienenkörbe. Da wuchs ein Felsen aus dem Meer, an dessen Fuß sich nur eine kleine flache Landzunge befand. Auf der Landzunge standen ein paar Palmen, einsam, verloren, ebenfalls unberührt. Darüber erhob sich der Fels, nur mit ein paar Büschen bewachsen.
Es sah sehr malerisch aus, aber dafür hatten die Engländer keinen Blick übrig.
„Wollen wir uns dort etwa verstecken?“ fragte Ashburn.
„So dämlich kann nur ein Kaufmann fragen“, knurrte Smithfield. „Natürlich nicht.“
Unter dem Vorwand begab sich Smithfield schließlich in „seine“ Kammer, kramte dort die Karten hervor und betrachtete sie ausgiebig.
Andros war die beste Insel zum Verstecken, die es weit und breit gab. Sie war in vielen Details beschrieben und offenbar sehr genau gezeichnet worden.
Als er sich genau orientiert hatte, kehrte er wieder an Deck zurück.
Die Karavelle lief weiter. Der Wind drehte unmerklich und fiel von Backbord ein. Über Steuerbordbug segelten sie schnell auf dem alten Kurs weiter.
Die kleinen Inseln blieben zurück und verschwanden als winzige Punkte achteraus im schäumenden Kielwasser.
„Wir werden uns jetzt im Laufe des Tages an einem Ort verstecken, den außer mir kaum jemand kennt“, sagte Smithfield. „Es ist eine Insel, die ich früher mal Mangrove-Island getauft habe.“
Niemand merkte, daß er sie bewußt belog. Die Insel, die er anzulaufen gedachte, hieß Andros, während ihr südlicher Zipfel Mangrove Cay genannt wurde. Aber das sollten die Kerle nicht unbedingt wissen. Es war immer besser, wenn man einiges für sich behielt und nicht den anderen preisgab.
„Ist die unbewohnt?“ fragte der Koch, der in einer großen Kumme gerade das Essen brachte.
Smithfield grinste überheblich.
„So gut wie unbewohnt“, sagte er. „Es wird sich auch kaum jemand dorthin wagen, denn die Insel hat ein Geheimnis.“
Er verkniff sich diesmal das Grinsen, wenn er an die handschriftlichen Aufzeichnungen eines gewissen Donegal Daniel O’Flynn dachte, die er eben gerade gelesen und studiert hatte.
„Was für ein Geheimnis?“ fragte Richard Tooley begierig.
„Gespenster“, sagte Smithfield geheimnisvoll.
Für ein paar Augenblicke herrschte verblüfftes Schweigen. Ein paar Kerle schluckten unmerklich.
Der Koch zuckte zusammen und hatte Mühe, die Kumme zu halten. Vor Schreck wäre sie ihm beinahe aus den Händen gefallen.
„Was für Gespenster?“ fragte er entsetzt.
„Im Innern der Insel gibt es eine längst verloren geglaubte Welt“, berichtete Smithfield. „Diese Welt ist das Zuhause bahamischer Elfen, die sich Chickcharnies nennen. Es sind ziemlich böse Gespenster, die mit den Menschen gern Schabernack treiben.“
„Wie sehen sie denn aus?“ fragte der Koch mit rauher und verzerrt klingender Stimme. „Hast du sie denn schon mal gesehen?“
„Natürlich, ich war ja schon dort. Wie sie aussehen? Ihr würdet wahrhaftig erschrecken, aber zum Glück zeigen sie sich nicht immer. Sie haben drei Finger und drei Zehen und fürchterliche rote Augen. Ihre Gesichter sind mit Federn und Bärten bedeckt. Wenn ihr sie seht, dürft ihr nicht lachen, denn jedem, der die Chickcharnies auslacht, drehen sie auf der Stelle den Hals um.“
„Das ist ja furchtbar“, ächzte der Koch. Die Angst in seinem Gesicht war jetzt unverkennbar. Aber auch die anderen waren äußerst beunruhigt.
Sogar Ashburn, den Smithfield für aufgeschlossener als die anderen hielt, schien bestürzt zu sein.
„Müssen wir unbedingt dorthin?“ fragte er unbehaglich. „Ich meine, es gibt doch sicher noch genügend andere Verstecke für uns.“