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Konfuzius sagt: Bei Herzweh hilft Ostsee! Bestseller-Autorin Alice Pantermüller (»Mein Lotta-Leben«) setzt in diesem humorvollen Wohlfühlroman die Segel – das kann nur heiter werden! Ups, wie konnte das nur passieren? Die frisch getrennte Krimi-Autorin Juliane findet sich auf einem Segelboot mitten auf der Ostsee wieder, dabei hat sie weder Ahnung vom Segeln noch kennt sie eines der fünf anderen Crewmitglieder. Doch sie hofft, dass die Bootsüberführung von Schweden nach Flensburg sie auf andere Gedanken bringt – und außerdem lockt das Abenteuer! Schnell muss sie allerdings feststellen, dass die Enge an Bord und ihr neuer Single-Status für jede Menge Verwicklungen sorgen – reichlich Stoff für ihren neuen Krimi! Wenn sich nur ihr Herz ans Drehbuch halten würde … Mit norddeutschem Humor und dem Herz am rechten Fleck meistert Juliane nicht nur rauen Seegang und seltsame Segel-Gefährten: Der lustige Wohlfühlroman von Alice Pantermüller bringt Sommer-Feeling und eine frische Ostsee-Brise ins Wohnzimmer.
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Seitenzahl: 527
Alice Pantermüller
Roman
Knaur eBooks
Konfuzius sagt: Bei Herzweh hilft Ostsee!
Bestseller-Autorin Alice Pantermüller (»Mein Lotta-Leben«) setzt in diesem humorvollen Wohlfühlroman die Segel – das kann nur heiter werden!
Ups, wie konnte das nur passieren? Die frisch getrennte Krimi-Autorin Juliane findet sich auf einem Segelboot mitten auf der Ostsee wieder, dabei hat sie weder Ahnung vom Segeln noch kennt sie eines der fünf anderen Crewmitglieder. Doch sie hofft, dass die Bootsüberführung von Schweden nach Flensburg sie auf andere Gedanken bringt – und außerdem lockt das Abenteuer! Schnell muss sie allerdings feststellen, dass die Enge an Bord und ihr neuer Single-Status für jede Menge Verwicklungen sorgen – reichlich Stoff für ihren neuen Krimi! Wenn sich nur ihr Herz ans Drehbuch halten würde …
Mit norddeutschem Humor und dem Herz am rechten Fleck meistert Juliane nicht nur rauen Seegang und seltsame Segel-Gefährten: Der lustige Wohlfühlroman von Alice Pantermüller bringt Sommer-Feeling und eine frische Ostsee-Brise ins Wohnzimmer.
Widmung
Prolog
1. Kapitel
2. Kapitel
3. Kapitel
4. Kapitel
5. Kapitel
6. Kapitel
7. Kapitel
8. Kapitel
9. Kapitel
10. Kapitel
11. Kapitel
12. Kapitel
13. Kapitel
14. Kapitel
15. Kapitel
16. Kapitel
17. Kapitel
18. Kapitel
19. Kapitel
20. Kapitel
21. Kapitel
22. Kapitel
Epilog.
Epi-Epilog
Für Thomas, Vati und Fiete – die tapferen Anwärter auf den Gefrierfleisch-Orden
Als Erstes sah Juliane die Bootsmasten, die dünn wie Streichhölzer über den Horizont ragten, bevor sie nach der nächsten Rechtskurve schon wieder hinter Bäumen und niedrigen Häusern verschwunden waren. Als die Masten dann das nächste Mal vor der Kühlerhaube ihres Bullis auftauchten, waren sie bereits sehr nah, Bleistifte, die silbrig und mit gestreckten Rücken in den blauen Himmel wuchsen, als wollten sie dort von Abenteuer und Freiheit erzählen. Von Wind und Wetter, von Mast- und Schotbruch.
In Julianes Bauch kribbelte es. Rechts vom Yachthafen lagen Fischerboote an der Mole. Rote und schwarze Fähnchen flatterten an Stangen – alle in dieselbe Richtung, in die sich auch die dürren Bäume auf der linken Straßenseite neigten, an denen der Westwind beharrlich zerrte. Ein paar Gebäude in Schwedenrot duckten sich an den Rand des Parkplatzes, auf den Juliane jetzt abbog. Nur wenige Autos standen rechts und links verteilt, und die meisten von ihnen schienen Volvos zu sein. Auch der einzige Wagen mit deutschem Kennzeichen war ein Volvo.
Juliane fuhr bis ans Ende, so dicht ans Wasser heran wie möglich, bevor sie das Lenkrad einschlug und dann zum Stehen kam. Sie drehte den Zündschlüssel um und zog ihn mit einem Klack aus dem Schloss.
»Mädels, wir haben es geschafft. Wir sind da.« Sie atmete tief durch, als wollte sie bereits im Wagen die gute Seeluft in ihre Lungen saugen, dann drehte sie sich strahlend zu ihren Mitreisenden um: Neben ihr auf dem Beifahrersitz saß Marit, auf der Rückbank begannen jetzt Nina und Leonard, ihre nach der langen Fahrt steifen Gliedmaßen zu räkeln.
»Cool, Muddern«, sagte Leo. »Obwohl ich es echt erstaunlich finde, wie schnell man doch in Schweden ist. Hätte ich gar nicht gedacht.« Julianes Sohn war als Fahrer mitgekommen, denn irgendjemand musste den Kleinbus ja wieder nach Hause steuern.
Nina und Marit hingegen würden in wenigen Minuten zusammen mit Juliane die Livia betreten, eine Vierunddreißig-Fuß-Segelyacht, um sie durch die dänische Südsee bis nach Flensburg zu segeln. Nicht zum ersten Mal fragte sich Juliane, wie es hatte passieren können, dass sie bei diesem Törn mit dabei war. Sie musterte Marit von der Seite, als diese die Beifahrertür öffnete und mit einem etwas unbeholfenen Satz aus dem Wagen sprang.
Wie Juliane selbst hatte Marit ihr Haar zu einem nachlässigen Zopf geflochten, der am Rücken über einen grob gestrickten Wollpullover hing. An dieser Stelle endeten die Gemeinsamkeiten allerdings schon: Marit war eher klein und dunkelhaarig, und meistens stand ihr Mund offen. Vielleicht war in ihrem Gesicht irgendetwas zu kurz geraten, die Oberlippe zum Beispiel oder der Gaumen … aber leider verlieh diese Eigenschaft Marit nur allzu häufig ein etwas einfältiges Aussehen. Doch das war es nicht allein … Nachdem die Frauen gerade viereinhalb Stunden zusammen im Auto verbracht hatten und über vierhundert Kilometer weit gefahren waren, konnte sich Juliane nur schwerlich vorstellen, dass Marit in diesem Leben noch einmal ihre Freundin werden würde …
… im Gegensatz zu Nina, die kurze blonde Haare, einen breiten Mund und eine erfrischend unkomplizierte Art hatte. Juliane hatte sie sofort gemocht. Mehr noch: Auf ihrem Weg durch Dänemark, quer über die Inseln Fünen und Seeland hinweg, vorbei an Kopenhagen, über die Öresundbrücke nach Schweden und dann in Richtung Norden bis nach Höganäs hinauf hatte Juliane sehr deutlich gespürt, dass auch Nina und Marit sich nicht besonders gut leiden konnten.
Sie selbst hatte beide vor dem Start der gemeinsamen Reise nicht einmal gekannt. Und dabei würden sie ab heute ein oder zwei Wochen lang auf engstem Raum miteinander unterwegs sein, je nachdem, in welchem Tempo der Wind sie über die Ostsee pusten würde.
Juliane war wirklich gespannt!
Sie schloss die Wagentür ab, faltete ihren Körper auseinander und reckte sich. Obwohl Nina und Marit hinter ihr standen, spürte sie deren Blicke auf sich ruhen: Ja, Juliane war groß gewachsen und dazu auch noch ziemlich weiblich gerundet, was sie schnell zum Hingucker machte. Sie war nicht zur Unauffälligkeit geschaffen … und das war auch gut so.
Mit einem Gefühl der Erleichterung sah sie aufs Wasser hinaus. Die Sonne glitzerte in unzähligen Reflexionen auf der gekräuselten Oberfläche, und die vielen weißen Segelboote an den Stegen blendeten fast im Sonnenlicht. Dann wandte Juliane sich ab und überquerte mit den beiden anderen Frauen und ihrem Sohn den Parkplatz.
»Unsere Männer sind schon da«, stellte sie dabei fest und nickte in Richtung des anthrazitfarbenen Volvo Kombi mit Flensburger Kennzeichen, der ihrem Bulli gegenüber parkte.
»Unsere Männer«, wiederholte Marit kichernd. »Hast du dir etwa schon einen von ihnen ausgesucht?«
»Ich kenne sie doch gar nicht.« Juliane zuckte mit den Schultern.
»Dann nur zu eurer Information: Gunnar ist verheiratet, Lennart nicht … und Sascha«, brummelte Nina und zog eine Augenbraue hoch, »den möchtet ihr nicht geschenkt haben.« Sie warf Marit einen vielsagenden Blick zu.
Die verzog ihren Mund. »Du brauchst mich gar nicht so anzugucken. Ich bin an keinem von denen interessiert.«
»Na, dann ist ja gut.«
Sie blieben auf dem Weg zwischen dem kleinen, fast quadratischen Becken des Binnenhafens und dem größeren Yachthafen stehen und ließen ihre Blicke über die weitläufigen Reihen der Segelboote schweifen. Marits Mund stand offen, Juliane schirmte ihre Augen mit der Hand ab.
»Und welche von denen ist jetzt eure Livia?«, stellte Leonard schließlich die Frage, die sich gerade alle stellten. Er hatte seine Hände tief in den Hosentaschen vergraben und reckte sein Gesicht in die Sonne.
»Hm«, machte Juliane. »Ich weiß, ehrlich gesagt, nicht einmal genau, wonach ich Ausschau halten soll. Die Boote sehen für mich alle gleich aus …«
Nina lachte auf. »Alle gleich – von wegen! Du Landratte! Dir werden wir noch Seemannsbeine machen!« Dann streckte sie ihren Arm aus und deutete mit dem Finger irgendwo zwischen die hohen Masten. »Schaut mal, da vorne … gleich am nächsten Steg. Das Boot mit dem blauen Streifen am Rumpf. Im Cockpit … das ist doch Gunnar, oder?« Ein wenig kurzsichtig blinzelte sie ins Licht.
»Keine Ahnung«, gab Juliane zu und spähte hinüber. »Ich habe Gunnar überhaupt erst einmal gesehen. Ich könnte ihn nicht von meinem neuen Postboten unterscheiden.« Eine leichte Brise strich ihr das Haar aus der Stirn. Es war Mitte Juni und angenehm warm.
Nina drehte sich ihr zu und zog die Nase kraus. »Echt? Als Autorin müsstest du doch eigentlich ein phänomenales Personengedächtnis haben, oder? Wenn nicht sogar so ein fotografisches Gedächtnis wie deine Kommissarin.«
»Nee, wieso?« Juliane grinste zu ihr hinunter, denn sie war einen halben Kopf größer als die drahtige Nina. »Ich kann mir leider keine Gesichter merken. Bringt mich immer wieder in peinliche Situationen, aber was soll ich tun?«
»Ach so, ich dachte …« Nina beendete den Satz nicht. Sie wirkte etwas überrascht.
Ja, sie dachte. So wie immer alle dachten. Juliane wusste nicht, woran es lag, dass jeder ihrer Leser grundsätzlich davon ausging, ihre Protagonistin Lilli-Mai Hansen sei ihr Alter Ego. Dabei war Lilli-Mai klein und zierlich, schwarzhaarig und halb asiatisch sowie Linkshänderin, sie spielte Handball und löste Kriminalfälle. Und sie hatte ein fotografisches Gedächtnis. Also alles Dinge, die nicht auf ihre Schöpferin Juliane Jessen zutrafen.
»Herrlich!«, rief Marit in diesem Augenblick, riss ihre Arme hoch und blinzelte in die Sonne. »Der frische Seewind und dann diese Geräusche … Genau so muss sich ein Hafen anhören!«
Juliane lauschte dem rhythmischen Kling-kling-kling und dem Wind, der in den Masten heulte und pfiff. »Hört sich ein bisschen nach singender Säge an, oder?«
»Das wär doch ein prima Buchtitel für dich.« Leonard grinste, während er seine Sonnenbrille mit einem Zipfel seines Hemds putzte. »Das Sirren der singenden Säge.«
»Schweig still, wenn süß die singende Säge sirrt …« Für solche Spielchen war Juliane immer zu haben.
Nina allerdings ging nicht darauf ein, sondern wandte sich an Marit. »Von wegen, genau so muss sich ein Hafen anhören. Glaub mir, du kriegst kein Auge zu, wenn du das die ganze Nacht lang hören musst. Leider gibt es immer genug Pappnasen, die es nicht schaffen, ihre Fallen so wegzubinden, dass sie nicht gegen die Masten schlagen.« Sie schüttelte nachdrücklich den Kopf.
»Ihre … Fallen?« Vor ihrem geistigen Auge sah Juliane sofort Mausefallen und riesige Schiffsratten, die sich hungrig auf die Vorräte an Dörrfleisch und fauligem Wasser stürzten, nachts aber auch gern mal die Zehen der Seemannschaft anknabberten.
»Das sind die Leinen, die man braucht, um die Segel hochzuziehen«, erklärte Nina. »Und man kann sie zum Glück auch so befestigen, dass sie bei Wind nicht ständig klappern.« Sie warf Marit noch einen kurzen Blick zu, den Juliane nicht deuten konnte, dann betrat sie den Steg.
Auch Juliane, Marit und Leonard setzten sich wieder in Bewegung.
Die Livia war gleich das dritte oder vierte Boot auf der rechten Seite und das einzige in der Nähe, das auch ohne die Neuankömmlinge bereits leicht überfüllt wirkte. Drei Männer zählte Juliane im Cockpit, und übers Deck kamen ihnen jetzt zwei weitere Personen entgegen: die neuen Besitzer der Livia, Gunnar und Anne Rasmussen.
»Hei!«, rief Nina fröhlich, bevor sie mit größter Selbstverständlichkeit über den Bugkorb an Bord schlüpfte. Es war deutlich zu erkennen, dass sie das schon unzählige Male zuvor gemacht hatte. Sie umarmte Anne, dann Gunnar, und schließlich sah sie sich um und nickte anerkennend. »Was für eine Schönheit, euer neues Mädchen. So ein gepflegtes Teakdeck, alles sieht aus wie neu … Ein großes Schiff – aber für sechs Leute wird es trotzdem ganz schön eng, oder?«
»Mit Sicherheit.« Anne grinste und strich sich eine Haarsträhne hinters Ohr. »Ich beneide euch nicht.«
»Ach, es ist so schade, dass du nicht mitkommst, Anne!«, rief nun Marit, die noch immer neben Juliane und Leonard auf dem Steg stand. »Ich habe mich so auf unsere Mädelsrunde gefreut!« Sie warf Gunnar einen kurzen, fast grimmigen Blick zu, dann sah sie wieder bekümmert zu der zierlichen, dunkelhaarigen Frau hinüber.
Die zuckte bedauernd mit den Schultern. »Es tut mir ja auch leid, Marit. Wir hatten alles so schön geplant … aber nun muss ich doch arbeiten, dafür hat Gunnar freibekommen. Es geht nun mal nicht anders.«
»Hört mal«, mischte sich jetzt Gunnar ein und legte einen Arm um die Schultern seiner Frau, während er sich mit der anderen Hand im Nacken kratzte. Er war erheblich größer als Anne, ein blonder Hüne mit gewinnendem Lächeln, der offensichtlich um seine Ausstrahlung wusste. »Niklas, der Ex-Eigner der Livia, ist gerade an Bord unddabei, uns alles zu zeigen und zu erklären. Schon jetzt befinden sich deutlich zu viele Leute auf diesem Schiff. Daher möchte ich alle außer Nina, und dich natürlich, mein Schatz, bitten, erst mal einen kleinen Spaziergang zu machen …«
»… oder ihr setzt euch auf einen Kaffee ins Bryggan, dort hinten«, fiel Anne ihm ins Wort und wies auf eine Reihe moderner Häuser, die nur ein kleines Stück entfernt schwedisch rot die Hafenkante säumten.
»Genau, geht einen Kaffee trinken«, stimmte Gunnar ihr zu. »Und wenn ihr dann in ungefähr einer Dreiviertelstunde wieder hier seid, dann fangen wir damit an, all unsere Sachen an Bord zu bringen. Okay?«
»Okay.« Juliane nickte. Was sollte sie sonst auch dazu sagen. Im Augenblick fühlte sie sich noch wie ein Fremdkörper in diesem schwedischen Yachthafen. Ihre Reisegruppe kannte sie kaum, und vom Segeln hatte sie schon mal gar keine Ahnung. Was also machte sie gleich noch hier?
Sie schaute Gunnar und Nina hinterher, die sich an den Wanten vorbei nach hinten ins Cockpit hangelten, während Anne jetzt zu ihnen auf den Steg trat und alle reihum begrüßte. »Es tut mir wirklich leid, dass aus unserer geplanten Mädelsrunde nun doch nichts geworden ist«, erklärte sie noch einmal bedauernd, »zumal es zu sechst wirklich ziemlich eng an Bord wird … aber mit Lennart werdet ihr sicherlich gut klarkommen, zumal er euch fabelhaft bekochen wird. Ich weiß allerdings nicht, was sich Gunnar dabei gedacht hat, als er zusätzlich auch noch Sascha zu dem Törn eingeladen hat.«
»Wahrscheinlich gar nichts«, zischte Marit, und ihre Stimme klang etwas giftig. »Männer haben es ja nicht so mit Denken.«
»Na, na.« Anne legte ihr beschwichtigend eine Hand auf den Arm. »Nicht gleich von einem Exemplar auf alle anderen schließen.«
Im selben Augenblick sah Juliane zwei Männer übers Deck auf sie zukommen. Auch sie hangelten sich um die Wanten herum, der vordere schweigend, den Blick konzentriert auf seine Füße gerichtet, während sich der hintere schon von Weitem bei Anne beschwerte. »Hallo? Warum schickt Gunnar mich jetzt von Bord? Das soll ein Witz sein, oder? Das hast du ihm doch eingeflüstert, Anne … Wie wäre es, wenn ihr stattdessen Nina zu eurem Kaffeekränzchen mitnehmen würdet? Ich werde hier gebraucht! Glaubt Gunnar vielleicht, er kann das Schiff allein nach Flensburg steuern?«
Irgendwoher kannte Juliane ihn. Sie hatte nur keine Ahnung, wo sie ihm schon mal über den Weg gelaufen war.
Anne grinste spöttisch. »Tja, vielleicht ist es dir noch nicht aufgefallen, Sascha, aber Nina ist die Einzige von uns, die wirklich Ahnung vom Segeln hat.«
»Ahnung vom Segeln!« Sascha schnaubte. »Weißt du eigentlich, wie viele Jahre ich schon segele?«
»Mit-segele«, korrigierte Anne ihn. Es schien ihr Spaß zu machen, ihn auf die Schippe zu nehmen. »Du bist doch in erster Linie Experte für die richtige Mischung von Cola-Rum.« Sie wandte sich an Juliane. »Nina ist vor zwei Jahren mit einer Vier-Frau-Crew über den Atlantik gesegelt.«
Juliane wusste davon, Nina hatte auf dem Hinweg von ihrem Abenteuer erzählt. »Also, ich finde es sehr beruhigend, solch eine Fachfrau mit an Bord zu haben«, grinste sie in Saschas Richtung. Sie selbst fand es schon ausgesprochen spannend, nur einen kleinen Teil der Ostsee zu überqueren. Und zwar einen von der Sorte, bei dem man immer Land in Sicht hatte und abends sicher in einem Hafen lag.
Die beiden Männer waren inzwischen auf den Steg übergestiegen.
»Und?«, fragte Sascha Juliane statt einer Begrüßung, reichte ihr dabei aber die Hand. »Schon eine Wohnung gefunden?«
»Ähm … Wie meinen?« Verflixt, wenn Juliane nur nicht so ein schlechtes Personengedächtnis gehabt hätte! Wenn ihr eingefallen wäre, woher sie den Kerl kannte, dann hätte sie sicherlich auch gewusst, wovon er sprach.
Jetzt lächelte Sascha charmant. Er war ein gut aussehender Mann mit dunklen Locken, vielleicht etwas pausbäckig und zudem ein paar Zentimeter kleiner als Juliane, aber lächeln, das konnte er. »Sascha Stapelfeld, Immobilienmakler«, stellte er sich dann vor. »Vor ein paar Wochen habe ich dir eine Wohnung in Sonwik gezeigt.«
»Oooh, natürlich!« Juliane verdrehte die Augen und schlug sich mit der Hand an die Stirn. »Entschuldige bitte … Na klar! Es tut mir leid, aber wenn ich einen Flensburger Immobilienmakler in einem schwedischen Hafen wiedertreffe, dann ist mein Gehirn leider nicht dazu in der Lage, eine Verknüpfung herzustellen. Mein Fehler.«
»Du meinst, ich muss es nicht persönlich nehmen?«
»Auf gar keinen Fall!« Juliane lachte herzlich.
Auch Sascha lachte, wenn auch ein wenig verhaltener. Dabei sah er sie eine Spur zu lange an, und seine Augen waren haselnussbraun. Anschließend begrüßte er Marit, die er offensichtlich auch nicht näher kannte.
Jetzt endlich geriet auch der zweite Mann in Julianes Blickfeld, der bislang noch keinen Ton von sich gegeben hatte. »Hei«, sagte sie zu ihm. »Dann bist du also Lennart, der fast so heißt wie mein Sohn. Ich bin Juliane.« Er war hochgewachsen, blond und wirkte irgendwie struppig. Ja, struppig war das richtige Wort, gerade im Vergleich zu Sascha, den Juliane als ein bisschen zu glatt empfand. In jeder Hinsicht. »Du bist der Bruder von Anne, nicht wahr?« Sie sah zwischen Lennart und Anne hin und her, konnte allerdings keinerlei Ähnlichkeiten zwischen den beiden entdecken.
Anne lachte belustigt auf und schüttelte dann den Kopf.
Auch Lennart wirkte überrascht, bevor er das Gesicht zu einem schiefen Grinsen verzog. Seine Augen jedoch verrieten eine Nervosität, die er offensichtlich zu überspielen versuchte. »Auch wenn Anne und ich aussehen wie eineiige Zwillinge … nein. Ich bin Gunnars Bruder.« Er sprach etwas zu schnell, fast verhaspelte er sich bei den wenigen Worten.
Juliane lachte, dann schenkte sie ihm noch ein freundliches Lächeln, weil sie das Gefühl hatte, er könnte vielleicht gerade eins gebrauchen – dieser blasse und unrasierte Mann mit den dunklen Augenringen. Der auch dem flotten Gunnar nicht besonders ähnlich sah.
Bevor sie ihm jedoch antworten konnte, wandte sich Lennart an Marit, um sie ebenfalls zu begrüßen.
Er kam allerdings nicht mehr dazu, denn im selben Augenblick ploppte es, als würde jemand das Bügelschloss einer Bierflasche öffnen. Mit einer fahrigen Bewegung zog Lennart sein Handy aus der Hosentasche, das offensichtlich dieses Geräusch von sich gegeben hatte. »Entschuldigung.« Anschließend drehte er sich um und bewegte sich ein paar Schritte von ihnen weg, den Steg hinauf.
Marit sah ihm geringschätzig hinterher. »Eine Bierflasche. War ja klar, oder?«, fragte sie dann spitz. »Warum sind bloß alle Männer gleich?«
»Ich muss wieder an Bord«, erklärte Anne, ohne auf Marits Worte einzugehen. »Sonst bekomme ich gar nichts von dem mit, was Niklas erzählt. Und dann stehe ich beim ersten Segeltörn da wie der Ochs vorm Berg und weiß nicht mal, wie die Toilettenspülung funktioniert.« Sie lachte, dann wies sie auf die Giebel der roten Häuser am Hafen. »Trinkt für mich einen Kaffee mit. Ich glaube, es ist sogar warm genug, um auf der Sonnenterrasse zu sitzen.« Schon war sie wieder auf der Livia verschwunden.
Juliane tauschte einen Blick mit ihrem Sohn, dann setzte sich die Gruppe schweigend in Bewegung. Allein Sascha Stapelfeld versuchte, ein Gespräch mit Leonard anzufangen, als sie das kleine Becken des Binnenhafens umrundeten und das erste der ungefähr fünf unterschiedlich großen Häuser ansteuerten, in dem sich das Restaurant befand. Die silbernen Blechdächer der Gebäude gleißten in der Sonne, und metallische Balkone ruhten auf filigranen Pfeilern vor den Giebeln, von denen aus jeweils ein Bullauge gelassen aufs Wasser schaute. Fenster- und Türrahmen waren selbstverständlich weiß gestrichen, so wie es sich für Schwedenhäuser gehörte.
Auf der großen Terrasse direkt am Hafen standen Tische und Stühle, doch nur ein einzelnes Paar saß dort vor einem Aperol Spritz in der Sonne.
Die von der Livia Vertriebenen suchten sich ebenfalls einen Tisch im Freien. Nur wenige Meter von ihnen entfernt lagen ein paar Motorboote ganz vornan im Wasser, hinter der Uferbefestigung aus großen Steinen.
»Bryggan heißt Brücke«, erklärte Marit dann. »Das weiß ich, weil ich ja Dänisch spreche. Schließlich hatte ich ein paar Jahre lang einen Freund in Dänemark.« Sie verzog missmutig das Gesicht. »Svend aus Svendborg.«
»Die Brücke, oder?«, fragte Juliane etwas gedankenlos.
»Was?«
»Na ja, mit Artikel, meine ich.«
Marit starrte sie misstrauisch an. »Kannst du etwa Schwedisch?«
Und da regte sich die vage Information in Julianes Kopf, dass Marit überhaupt nur an dem Törn teilnahm, weil sie Dänisch sprach. Wer hatte ihr das noch gleich erzählt? Sie wusste es nicht mehr, aber sie wollte ihrer Mitseglerin auch nicht gleich deren Kernkompetenz streitig machen. »Ach was, kein Stück«, sagte sie deshalb leichthin. »Und auch kein Dänisch. Aber in den skandinavischen Sprachen werden die bestimmten Artikel ja immer hinten ans Wort gehängt, nicht wahr?«
Jetzt starrte nicht nur Marit sie an, sondern auch Sascha, während Lennart noch immer mit seinem Handy beschäftigt war und bislang nicht zur Gruppe aufgeschlossen hatte. Leonard starrte auch nicht, da er seine Mutter und ihre merkwürdigen Gedankengänge zur Genüge kannte.
Okay, dachte Juliane. Grammatikalische Klugscheißerei ist wohl nicht das geeignete Thema, um ein lebhaftes Kennenlerngespräch zu eröffnen. »Ich habe einen Anfängerkurs Isländisch besucht«, versuchte sie also, die Situation zu retten. »An der Volkshochschule. Außerdem interessiere ich mich nun mal für Sprache und Sprachen.«
Noch immer lag Unverständnis auf Saschas Gesicht, während Marit eher verärgert aussah.
Dann näherte sich eine Bedienung ihrem Tisch. Ohne zu fragen, bestellte Sascha vier Aperol Spritz. Juliane zählte stumm fünf Personen, auch wenn Lennart noch immer von seinem Handy in Anspruch genommen wurde und ein Stück abseits von ihnen stand.
Anschließend schob Sascha seine Sonnenbrille in die Haare und beugte sich vor. »Ich würde sagen, wir stellen uns alle erst mal richtig vor. Schließlich werden wir ab morgen zusammen über die Ostsee schippern, da sollten wir uns ein bisschen näher kennen. Was ist mit dir, Juliane? Woher kennst du Anne?«
»Ach, eigentlich kenne ich sie überhaupt nicht.«
»Dann bist du eher eine Freundin von Gunnar?«
»Nein. Ich kenne weder Anne noch Gunnar. Und vom Segeln habe ich auch keine Ahnung.« Juliane grinste Sascha breit an, während der versuchte, seine Verwirrung hinter einem amüsiert hochgezogenen Mundwinkel zu verbergen.
»Ah, okay. Und wieso … Wieso bist du dann hier? Warum bist du mit dabei auf diesem Törn?«
Ja, warum war Juliane mit dabei?
Natürlich gab es einen Grund. Einen, den sie auf der Fahrt nach Höganäs mit mehr oder weniger Erfolg zu verdrängen versucht hatte, der aber jetzt wieder in ihr hochschwappte wie Sodbrennen.
Juliane seufzte und rieb sich die Schläfe, bevor sie kurz und knapp erzählte, warum Anne ihr angeboten hatte, an der Bootsüberführung teilzunehmen. Ein paar wenige Sätze und ein so deutlicher Punkt dahinter, dass niemand auf die Idee kam, weiter nachzufragen.
Und doch hatte Sascha mit seiner Frage wieder ihr Kopfkino in Gang gesetzt. Den Film der letzten Monate, die sie hoffte, bald hinter sich lassen zu können.
Bis vor wenigen Monaten war alles noch ganz normal gewesen. Noch Anfang April hatte Juliane das stinknormale Leben einer erfolgreichen Bestsellerautorin mit Familie geführt – auch wenn ihre Familie gerade stark im Schrumpfen begriffen war, weil nach Leonard jetzt auch Lisbeth das Haus verließ, um in Bonn zu studieren. Anglistik, Amerikanistik und Keltologie. Lisbeth, ihre Kleine, ihr Küken, ihr Mädchen.
»Warum ausgerechnet Bonn?« Diese eher rhetorisch gemeinte Frage stellte Juliane ihrem Mann Ralf, schniefend und schluchzend und ungefähr zehn Sekunden, nachdem Lisbeth mit ihrem Freund Jonas und seinem Auto um die Straßenecke gebogen war. »Ich habe noch nie von jemandem gehört, der nach Bonn gezogen ist.«
Bonn. Hauptstadt der Bundesrepublik von 1949 bis 1990. Wenn Juliane an Bonn dachte, sah sie schwarze Staatskarossen voller dicker Politiker an imposanten weißen Gebäuden vorbeigleiten … Franz-Josef Strauß, Helmut Kohl, Martin Bangemann … Bundespostminister Christian Schwarz-Schilling. Rita Süssmuth. Welches Amt hatte die eigentlich innegehabt? Und warum, zum Kuckuck, ging irgendjemand zum Studieren nach Bonn?
»Ich war immer davon ausgegangen, dass Bonn nach 1990 verrottet ist, zur Geisterstadt verfallen, durch die nur noch die verdammten Seelen übergewichtiger Ex-Politiker huschen …«, jammerte sie, unterbrochen von kleinen Schluchzern, während sie noch immer auf die Straßenecke starrte, um die der Wagen mit ihrer Tochter verschwunden war. Dann spürte sie Ralfs Blick voller Unverständnis auf ihrem Gesicht und sah ihn an. »Was?«
»Das ist nicht dein Ernst.«
»Nein, Ralf. Du hast recht. Das ist nicht mein Ernst.« Jetzt musste Juliane sich bemühen, in all ihrem Kummer nicht ärgerlich zu klingen. Vierundzwanzig gemeinsame Jahre – und er kannte sie noch immer nicht. »Da ich erst vor wenigen Wochen mit Lisbeth in Bonn war, um ihre kleine Wohnung einzurichten, ist mir durchaus bewusst, dass Bonn eine ziemlich hübsche und schnuckelige Stadt ist.«
»Dann sag doch nicht so etwas … Unsinniges.«
Eigentlich wollte sich Juliane zurückhalten, gaaanz ruhig bleiben, es war doch sowieso sinnlos, aber schon platzte es aus ihr heraus: »Darf ich dich daran erinnern, dass ich mit meinen unsinnigen Ideen ziemlich erfolgreich bin?«
»Ja, ist schon gut«, grollte Ralf und sah sie verärgert an. »Ich habe mitbekommen, was für eine berühmte Autorin du bist. Wenn du mich suchst, ich bin in der Küche, Kaffee kochen.« Er drehte sich um und ging zurück zum Haus. Vorbei an der kahlen und grauen Hecke zwischen Carport und Rasen, der noch winterlich struppig war und aussah wie gerupft.
Juliane sah ihm hinterher, die Fäuste geballt. Ihr Mann war noch immer groß und schlank, sein Gang sehr aufrecht. Zwar war sein Haar grau geworden, aber der Haarschnitt war noch exakt derselbe wie vor zwanzig Jahren.
Ein Mann, der keine Veränderungen mochte. Der sich und sein Leben niemals infrage gestellt und sich daher auch niemals weiterentwickelt hatte.
In Momenten wie diesen stellte Juliane hingegen alles Mögliche infrage. Ihre Ehe mit Ralf zum Beispiel.
Nachdem er im Haus verschwunden war, blieb Julianes Blick an der Tür hängen, dann ließ sie ihn über das ganze Gebäude schweifen. Erst vor zwei Jahren hatte es einen neuen Anstrich bekommen. Obwohl es kein Holzhaus war, leuchtete es seitdem in Schwedenrot mit weißen Sprossenfenstern und einer weißen Haustür. Ralf war keineswegs von der Farbe überzeugt gewesen. Er fand sie albern. Aufgesetzt. Julianes Bullerbü. Warum hatte der Putz nicht einfach weiß bleiben können, wie vorher.
Juliane konnte zwar nicht gerade behaupten, dass seine Reaktion sie kaltgelassen hatte, aber wenn sie sich immer nur nach den Wünschen ihres Mannes richten würde, dann würde sich in ihrem gemeinsamen Leben gar nichts mehr bewegen.
Also leuchtete die Fassade jetzt rot. Und auch wenn der Vorgarten noch ziemlich kümmerlich aussah: Der Garten an der Rückseite des Hauses war schön eingewachsen und ging hinaus ins Grüne. Direkt dahinter begannen Felder, begann Angeln, die Halbinsel, die sich zwischen Flensburg im Norden und Schleswig im Süden in die Ostsee erstreckte.
Doch das Haus war zu groß, genau an diesem Samstag Anfang April war es zu groß geworden für sie. Es war ein Familienhaus, nicht gebaut für zwei Personen.
Endlich folgte Juliane ihrem Mann ins Warme, allerdings ließ sie die Küche links liegen, bevor sie die weiß gestrichene Treppe hoch in den ersten Stock stieg. Ihr Arbeitszimmer am Ende des Flurs war vor drei Jahren noch Leonards Zimmer gewesen. Doch ihr Sohn, der in Hamburg Medieninformatik studierte, obwohl es den Studiengang auch in Flensburg gab, kam nur noch selten zu Besuch. Leider.
Obwohl es Juliane nicht leichtgefallen war, ihre Kinder in die große, weite Welt ziehen zu lassen, hatte sie das Zimmer ihres Sohnes schon sehr bald nach seinem Auszug zu einem Arbeitszimmer umfunktioniert. Zu ihrem Zimmer, ihrem Refugium, dem Ort, an dem ihre Figuren geboren wurden, liebten, lachten, litten und ihre Leben aushauchten.
Leo war das recht gewesen, solange ihm ein Schlafplatz in seinem Elternhaus erhalten blieb.
Ralf hingegen hatte es nicht verstanden. Wozu brauchte seine Frau ihr eigenes Zimmer? Er hatte bis zum heutigen Tag nicht erkannt, wie sehr Julianes Leben in den letzten Jahren in Bewegung geraten war: Ihre Kinder wurden langsam flügge, und sie hatte zunehmend Erfolg mit ihren Büchern … doch er sah die Woge nicht, die sie emporgehoben hatte und nun mit sich forttrug … weg von ihm, der an ein und derselben Stelle stehen geblieben war.
Und Juliane hatte es zugelassen. Sie hatte keinen Versuch unternommen, ihn auf die Reise mitzunehmen.
Der PC stand auf dem Tisch am Fenster gegenüber der Tür, eingeschaltet und wie ein Fels aus einem Meer an Büchern, Stiften, Papierkram ragend. Rechts von ihr und an der Rückseite des Raums reckten sich Bücherregale bis unter die Decke, links an der Wand stand das rote Schlafsofa, auf dem Leonard übernachtete, wenn er doch mal nach Hause kam, mit oder ohne Freundin. Auch Juliane schlief manchmal dort, wenn die Stimmung im Haus mal wieder auf dem Grund des Nordmeeres angelangt war.
Über dem Sofa hingen drei ziemlich ähnliche Plakate. Auf jedem von ihnen war der schwarze Schattenriss einer schlanken weiblichen Figur zu sehen, einer davon auf grünem, einer auf blauem und der dritte auf pinkem Hintergrund:
»Feuchtes Grab – Lilli-Mai Hansens zweiter Fall«, »Fiese Flensburger – Lilli-Mai Hansens dritter Fall« und »Fischfutter – Lilli-Mai Hansens vierter Fall«. Zum ersten Fall Fördetod hatte es noch kein Plakat gegeben.
Juliane ließ kurz ihren Blick darüber schweifen. Das Pink des neusten Plakats biss sich etwas mit dem Rot des Sofas, was allerdings nur auffiel, wenn die Sonne zum Fenster hineinschien, was an diesem Samstagvormittag nicht der Fall war. Gerade hatte es sogar angefangen zu regnen.
Fischfutter war erst vor zwei Wochen erschienen, aber die bisherigen Verkaufszahlen ließen Juliane hoffen, dass ihr neuer Krimi seine Vorgänger sogar noch übertreffen würde.
Als der erste Band vor drei Jahren veröffentlicht wurde, hatte Juliane noch nicht geahnt, dass man mit Regionalkrimis einen solchen Erfolg haben konnte. Aber die Fälle um ihre Flensburger Kommissarin wurden sogar in Österreich und der Schweiz gelesen. Jeder neue Band schoss mittlerweile zuverlässig auf die Bestsellerlisten, wo er sich dann hartnäckig hielt, inzwischen sogar schon über Monate. Es war ein Wunder, ein Phänomen, sechs Richtige im Lotto. Seit ungefähr einem Jahr erhielt Juliane so viele Fan-Mails, Briefe und Lesungsanfragen, dass sie sich jedes Wochenende diszipliniert an den Schreibtisch setzen musste, um sie zu beantworten, in der Regel mehrere Stunden lang.
Und genau das würde sie jetzt tun, um sich davon abzulenken, dass gerade ihr zweites Kind das Haus verlassen hatte und nur noch ihr Mann unten in der Küche seinen wie immer viel zu starken Kaffee kochte.
Doch zunächst einmal schaute sie nach, ob beim großen Online-Bücherdealer neue Rezensionen hinzugekommen waren. Ja, tatsächlich … drei Stück sogar. Zwei Mal begeisterte fünf Sterne, einmal nur ein einziger. Waaas? Unverschämtheit!
Finger weg!, hatte marmelinchen82 geschrieben.
Das Buch ist grauenvoll schlecht. Lili mai Hansen ist vom Charackter her total unsympathisch keine Ahnung warum eine Haubtfigur so unsympatisch und agressiv sein muss. Und immer so viel Schimpf Wörter benutzen muss. zum Glück war es ein Geschenk sonst hätte ich mich über das rausgeschmissene geld geärgert. Zu schlehct um es weiter verschenken. Bei mir ist es direkt im Papiermüll gelandet mein letztes Buch von Juliane Jessen. Ein Stern ist noch zu viel für so ein Schund.
»Na, dann lies doch Rosamunde Pichler, du dämliche Trulla!«, motzte Juliane ihren Bildschirm an.
Doch bevor sie den Satz beendet hatte, war bereits Lilli-Mai zur Stelle, vor Wut schnaubend. »Ich begreife einfach nicht, wie du immer noch so freundlich mit solchen Arschgesichtern reden kannst«, fauchte sie. »Willst du ihr vielleicht auch noch einen Keks anbieten?« Sie holte tief Luft, bevor sie losbölkte: »Marmelinchen82, möge dich der Blitz beim Scheißen treffen, du vollkommen verblödete V^#&§$%?@!«
»Nun krieg dich mal wieder ein.« Juliane verbiss sich ein Grinsen.
»Einen Scheißdreck werde ich«, knurrte Lilli-Mai. »Du bist viel zu brav. Wegen solch eines gequirlten Durchfalls hast du plötzlich nur noch viereinhalb Sterne. Pass mal auf: Du meldest die Rezension auf der Stelle …«
»Och nö.«
»… und lässt dieses dämliche Marmelinchen sperren.«
Juliane stöhnte. »Findest du nicht, dass du jetzt ein bisschen übertreibst?«
»Keinesfalls.« Lilli-Mais Stimme klang sehr scharf. »Es geht um den Verkauf deiner Bücher. Außerdem hat die blöde Kuh mich beleidigt.«
Doch Juliane beschloss, die Vorschläge ihrer Protagonistin zu ignorieren und marmelinchen82 einfach zu vergessen. Stattdessen öffnete sie ihre Mailbox und begann damit, Mails zu beantworten und Autogrammkarten in Briefumschläge zu stecken.
Als Lisbeth ihr einige Stunden später eine vergnügte WhatsApp schrieb, dass Jonas und sie gut angekommen waren, hatte sich bereits ein Hauch von Dämmerung unter den Regen gemischt. Zwischen Flensburg und Bonn lagen sechshundert Kilometer, es ging schon auf Abend zu.
Juliane seufzte und beschloss, die monatliche Buchführung auf morgen zu verschieben.
Der Sonntag hielt allerdings noch etwas ganz anderes für sie bereit als Buchführung. Ralf hatte entgegen seinen Gewohnheiten Frühstück gemacht. Er hatte Eier gekocht, und in Julianes Tasse dampfte bereits der Kaffee, als sie in die Küche kam. »Oooh, das sieht ja appetitlich aus.« Sie schenkte ihrem Mann ein freundliches Lächeln. Offensichtlich war er darum bemüht, wieder für gute Stimmung zu sorgen, und gegen gute Stimmung hatte sie nichts einzuwenden.
Sofort hielt Ralf ihr den Brotkorb hin. »Welches Brötchen möchtest du? Vollkorn, Mohn, Dinkel … Kürbiskern?«
»Warum hast du denn sechs Brötchen aufgebacken?« Juliane blinkerte verwirrt mit den Augen.
»Wir backen doch immer sechs Brötchen auf.«
Fragend sah Juliane ihren Mann an. Vermisste er Leonard und Lisbeth ebenfalls so sehr, dass er weiterhin tat, als wären sie noch im Haus, oben auf ihren Zimmern … und man müsste sie nur mit ein paar Brötchen locken, um sie sehen zu können? Überraschte Ralf sie etwa gerade mit irrationalem, ja fast unsinnigem Verhalten?
Fast schon empfand Juliane ein wenig Rührung … doch im selben Augenblick wusste sie, dass sie sich gerade etwas vormachte. Denn so war Ralf nicht. Schon spürte Juliane wieder etwas im Magen aufwallen, was sie unterdrücken musste, damit es nicht hochkam und sich ganz schnell in laute Worte verwandelte. Das passierte in letzter Zeit immer öfter, dabei wollte sie es doch gar nicht. »Wir sind nur noch zu zweit, Ralf«, erklärte sie daher möglichst ruhig das Offensichtliche. »Wer soll denn die alle essen?«
»Och, die schaffen wir schon im Laufe des Tages.«
Juliane antwortete nicht, aber sie verdrehte die Augen.
»Und du brauchst gar nicht die Augen zu verdrehen.«
»Ich wollte aber nicht den ganzen Sonntag nur Brötchen essen.« Juliane griff nach ihrer Kaffeetasse. »Und warum hast du die Tasse so voll gemacht? Da passt überhaupt keine Milch mehr rein.« Sie biss sich auf die Lippe. Ihre Stimme hatte schon wieder aggressiver geklungen als beabsichtigt. Sicherlich hätte sie im Hinblick auf ein friedliches Frühstück einfach nur einen Schluck Kaffee abtrinken können …
»Sag mal, suchst du schon wieder Streit? Man kann Kaffee auch schwarz trinken.«
»Kann man nicht«, motzte Juliane erneut los. »Von deinem Kaffee bekommt man Muskelzittern und Gesichtslähmung dritten Grades.« Oje. Das war’s dann wohl mit dem friedlichen Frühstück.
Ralf sah sie an, halb vorwurfsvoll, halb beleidigt. »Sag doch einfach, wenn du keinen Kaffee willst.«
»Ich möchte gern einen Kaffee trinken, Ralf. Aber …« Sie wies mit der Hand auf das pechschwarze Heißgetränk vor sich, das fast von allein in der Tasse stand. Musste sie ihm das jetzt wirklich erklären? Zum tausendsten Mal?
Ralf hob die Schultern und ließ sie wieder fallen. Plötzlich sah er sehr, sehr müde aus. Mit schwermütigem Gesichtsausdruck griff er nach seinem Kaffee. »Eigentlich wollte ich ja etwas mit dir besprechen«, sagte er, und sein Tonfall klang wehleidig. »Etwas, was unsere gemeinsame Zukunft betrifft. Aber du bist ja mal wieder in Stänkerlaune.«
»Ich bin … was?« In Stänkerlaune? Man konnte doch gar nicht anders, als auf diesen Mann aggressiv zu reagieren, oder? Am liebsten wäre Juliane aufgesprungen und türenknallend aus der Küche gerannt. Aber irgendetwas hielt sie zurück. Und zwar etwas, das sich in ihrem Magen ausbreitete, dort herumschwappte wie geschmolzenes Blei und sich nicht gut anfühlte. Das sie nach unten zog und an ihrem Stuhl kleben ließ. »Unsere gemeinsame Zukunft? Was meinst du damit?«
»Was soll ich denn wohl meinen? Unsere Kinder sind aus dem Haus, und wir beide können unser Leben jetzt endlich so gestalten, wie wir wollen«, erklärte Ralf leichthin und biss herzhaft in das Leberwurstbrötchen, das er sich in der Zwischenzeit geschmiert hatte. Dann kaute er und sah aus, als hätte er Juliane einen Ball zugespielt, den sie nun parieren musste. Seine Müdigkeit hatte er offensichtlich schon wieder überwunden.
Sie starrte ihn an. »Wir … beide? Jetzt … endlich? Unsere Tochter ist gestern erst ausgezogen … Du scheinst ja nur darauf gewartet zu haben.«
»Unsinn!« Das war eins von Ralfs Lieblingsworten. »Aber das ist nun mal der normale Lauf der Dinge. Erst sind die Kinder klein, dann werden sie groß, und dann ziehen sie aus.«
»Dann erklär mir bitte, wie du dir unsere gemeinsame Zukunft vorstellst.« Plötzlich hatte Juliane einen trockenen Mund. Sie stand auf und schenkte sich ein Glas Orangensaft ein, das sie hastig austrank.
Gemeinsame Zukunft – in ihrem Kopf schrillte es. Woher wollte Ralf plötzlich eine Gemeinsamkeit zaubern? Wenn sie in ihre Zukunft blickte, dann sah sie alles Mögliche, aber sehr wenig, woran er beteiligt war. Sie hatte einen tollen Beruf, in dem sie viel herumreiste. Sie hatte Freunde, mit denen sie mehr Zeit verbrachte als mit ihrem Mann … vor allem bessere Zeit.
Eigentlich war ihre Ehe nur noch eine Zweckgemeinschaft. Auch, wenn Juliane in diesem Moment nicht einmal mehr den Zweck erkennen konnte. Aber irgendwann war da ja doch mal was gewesen … irgendwas mit Kindern, mit Familie … mit einem guten Gefühl an seiner Seite …
Sie setzte sich wieder an ihren Platz und begann, mit dem Teelöffel auf ihr Ei zu klopfen, um dann die Schale abzupflücken.
»Eier köpft man«, erklärte Ralf ihr zum ungefähr sechshundertdreiundachtzigsten Mal.
Juliane warf ihm einen tödlichen Blick zu, dann pellte sie weiter.
Ralf köpfte sein Ei. Es war zu weich, und der Glibber lief ihm über die Finger. Doch entgegen seinen üblichen Gewohnheiten gab er sich nicht die Blöße, das Ei dafür verantwortlich zu machen und auf die Eier produzierende Landwirtschaft im Allgemeinen zu schimpfen. Stattdessen blieb er beim Thema. »Wir könnten zum Beispiel darüber nachdenken, ob wir in Flensburg bleiben oder vielleicht mal einen Wohnortwechsel wagen.« Nach diesem Vorschlag wischte sich Ralf die Finger an seiner Serviette ab.
»Was?«
Ralf biss erneut in sein Brötchen. »Na ja«, nuschelte er dann. »Ich würde eigentlich gern wieder zurück ins Sauerland ziehen.«
Juliane starrte ihn mit offenem Mund an. »…?«
»Überleg doch mal, wir haben jetzt fast fünfundzwanzig Jahre in Flensburg gelebt, und irgendwie … irgendwie haben wir uns hier festgefahren. Findest du nicht auch?«
Juliane schluckte trocken und blinkerte verwirrt mit den Augen. »Wie meinst du das?«
Ralf erwiderte ihren Blick nur kurz, dann fixierte er wieder sein Ei. Er schien jetzt ebenfalls etwas nervös zu sein. »Was ich meine, ist … also, ich finde, dass sich der Zustand unserer Ehe in den letzten Jahren verschlechtert hat. Deshalb schlage ich vor, etwas daran zu ändern. Oder möchtest du vielleicht immer so weitermachen?«
Juliane schüttelte den Kopf. »Nein«, wisperte sie fast tonlos, bevor sie sich räusperte. Sie wusste noch immer nicht genau, worauf er hinauswollte. »Und du möchtest … also möchtest du dort … allein hinziehen?«
Jetzt sah Ralf sie fast erschrocken an. »Nein, natürlich plane ich den Umzug mit dir zusammen! Warum fragst du so etwas?«
Ja, warum, Ralf? Juliane spürte, dass ihr gerade der Mut fehlte, näher auf diese Frage einzugehen. Weil die einfach zu groß war, um sie hier zwischen Kaffee und Ei zu erörtern.
»Juliane, so kann es doch nicht immer weitergehen, oder? Wir reden kaum noch miteinander, und wenn, dann streiten wir uns. Es herrscht nur noch Unfrieden zwischen uns … Das ist doch kein Zustand. Und deshalb müssen wir etwas ändern. Um unserer Ehe wieder auf die Sprünge zu helfen.« Ralf atmete tief durch. »Wann haben wir eigentlich das letzte Mal miteinander geschlafen?« Er klang weder vorwurfsvoll noch jammernd.
Juliane sah ihn an, doch sie antwortete nicht. Was hätte sie auch sagen sollen? Dass sie es nicht wusste? In diesem Jahr jedenfalls noch nicht … Oder vielleicht, dass es kaum etwas gab, was sie im Moment weniger interessierte? Weil Ralfs Vorschlag, ihrer Ehe auf die Sprünge zu helfen, auf welche Art auch immer, nichts Positives in ihr auslöste … sondern vielmehr eine leichte Übelkeit?
»Ralf«, sagte sie jedoch nur leise. »Ich will nicht ins Sauerland ziehen.«
»Ach, Juliane.« Er seufzte. »Sei doch nicht so unbeweglich. Du lebst schon dein ganzes Leben lang in deiner Heimatstadt … Meinst du nicht, dass uns ein Neustart an einem ganz anderen Ort guttun könnte?«
Jetzt riss Juliane die Augen auf. »Ich bin unbeweglich?«
»Ja, das bist du«, sagte Ralf. »Und um etwas zu ändern, muss man sich auch mal bewegen.«
Juliane schnappte nach Luft, während ihr ganz plötzlich die Wut ungefiltert durch den Körper schoss. »Wie kannst du so etwas behaupten?«, fauchte sie ihn an. »Ausgerechnet du, der sich schon seit Jahren kaum noch von der Stelle rührt?«
»Ach, Juliane …«
»Und hör auf mit deinem Ach, Juliane!« Sie wünschte sich, sie würde nicht schreien. Aber sie schrie ihn an, bevor es ihr wieder gelang, sich zur Ruhe zu zwingen. »Ich möchte nicht ins Sauerland ziehen«, erklärte sie dann beherrscht, obwohl es in ihrem Magen noch immer heftig brodelte. »Weil das nichts an unserer Ehe ändern würde. Ich wäre immer noch allein – und darüber hinaus hätte ich nicht einmal mehr meine Freunde in der Nähe. Ich würde vor Einsamkeit eingehen.«
Jetzt wirkte Ralf irritiert. »Aber du wärst doch nicht allein«, erklärte er dann kopfschüttelnd. »Schließlich hättest du mich.«
»Eben nicht.« Juliane senkte den Blick und stierte auf ihr Ei. »Du hast dich doch schon vor Jahren aus meinem Leben verabschiedet.«
»Aber … aber das liegt doch nicht nur an mir!« Ralfs Stimme klang verärgert. Er rang nach Worten. »Ich bin immer für dich da gewesen! Aber vielleicht schaust du auch mal auf dich selbst. Wie wenig du dich in den letzten Jahren noch an unserer Ehe beteiligt hast, vor allem, seitdem du so eine berühmte Autorin bist.«
Juliane hatte schon den Mund geöffnet, um zurückzuschießen, als sie begriff, dass dieses Gespräch sinnlos war. Dass sie eigentlich ein ganz anderes Gespräch hätten führen müssen.
Sie holte tief Luft. Doch dann wiederholte sie nur: »Ich möchte nicht ins Sauerland ziehen«, bevor sie aufstand, sich umdrehte und die Küche verließ.
Sie wich dem Gespräch aus; sie lief weg, und das war nicht besonders erwachsen. Aber hinter ihren Augen brannten Tränen, die über ihre Wangen zu laufen begannen, als sie die Treppe in den ersten Stock hochstieg. Weil sie nicht ins Sauerland ziehen wollte und weil sie dieses Gespräch nicht führen wollte und auch kein anderes mehr. Weil sie ihrer Ehe nicht auf die Sprünge helfen wollte. Weil sie solch ein Frühstück nicht mehr wollte.
Weil sie ihren Mann nicht mehr wollte.
Und ihr seid sicher, dass ihr den ganzen Kram und euch selbst im Boot untergebracht kriegt?« Leonard grinste in die Runde, die im Cockpit saß, die Füße auf ihren Reisetaschen, zum Warten verurteilt. Julianes Sohn hockte ganz hinten neben der hochgeklappten Ruderpinne, den Rücken an den Heckanker gelehnt, die Beine angezogen. Auf den beiden Pfählen, die hinter ihm aus dem Wasser ragten und an denen die Livia festgemacht war, saß jeweils eine Möwe. Links eine Lachmöwe, rechts eine Silbermöwe. Möwen hatte Juliane bereits ausgiebig für ihre Bücher gegoogelt, daher kannte sie die in der Ostsee heimischen Arten.
Sie blinzelte hoch zu ihrem Sohn, der Himmel war gleißend hell. »So ganz weiß ich auch noch nicht, wie das funktionieren soll.« Ihre Tasche war groß und schwer. Sie hatte wirklich versucht, sparsam zu packen, aber dennoch musste sie natürlich für jedes Wetter gerüstet sein. Vom Badeanzug bis zur Regenjacke hatte sie alles dabei. Mütze, Handschuhe, Gummihose. Handtuch, Ringelkleid, Badelatschen. Schlafsack und Kopfkissen. Die Grundausstattung für alle Eventualitäten.
Nina untersuchte das Steuerelement für den Autopiloten, das neben ihr in der Bordwand eingelassen war, während sie antwortete. »Drinnen ist mehr Platz, als ihr denkt. Das komplette Boot ist sehr gut durchdacht gebaut.« Dann beugte sie sich nach vorn und warf einen Blick durch den Einstieg in die Kajüte. »Na? Kommt ihr klar?«
Unten waren Gunnar, Anne und Lennart damit beschäftigt, das Boot mit all den Dingen einzurichten, die die Gruppe eine Viertelstunde zuvor an Bord geschleppt hatte. Auch wenn Niklas die Livia aufgeriggt und gut ausgestattet übergeben hatte, fehlte es doch noch an allem, was man fürs tägliche Leben an Bord brauchte: Geschirr und Besteck, Lebensmittel und Getränke, Seekarten und Bücher. Spüli, Abwaschbürste, Wischtücher, Klopapier. Wäscheklammern, Schwimmwesten, Kabeltrommel, Kissen … die komplette Software, die die drei jetzt im Bauch des Schiffes verstauten, während der Rest der Crew im Cockpit darauf wartete, sich häuslich einrichten zu dürfen.
Gunnar trat auf die unterste Stufe der Treppe, die von der Kajüte ins Cockpit hinaufführte, während er sich rechts und links an Griffen festhielt und sich lässig zurücklehnte. »Kein Problem«, beruhigte er dann seine Mitsegler, die draußen ausharren mussten. »Wir kriegen alles untergebracht.«
»Und wenn nicht, dann mache ich es mir nachts eben im Cockpit gemütlich. Auf den ganzen Taschen.« Juliane grinste. »Aber tretet bitte nicht auf mich, wenn ihr morgens lossegelt. Und seid leise, ich brauche meinen Schönheitsschlaf.«
Die anderen lachten.
»Habt ihr eigentlich eine Kuchenbude?«, fragte Nina dann Gunnar.
»Eine … was?« Der schöne Gunnar machte ein ratloses Gesicht.
»So ein Cockpitzelt, das man nachts aufbauen kann. Das vergrößert den Wohnbereich ungemein.«
Jetzt grinste Gunnar. »Kuchenbude. Das ist gut. Ja, da ist eine, in der Backskiste.« Gunnar wies auf die Klappe in der Sitzbank, auf der Juliane neben Marit saß. »Wenn es warm genug sein sollte, könnte tatsächlich jemand im Cockpit schlafen. Es ist drinnen nämlich, ähm, ein bisschen sehr eng für sechs Personen.«
»Ach was!«, tönte Annes spöttische Stimme aus dem Inneren des Boots hervor.
»Wer schnarcht, schläft draußen«, schlug Juliane feixend vor.
»Das sind bestimmt alle Männer.« Marit verzog abfällig das Gesicht, in dem keine Spur von Ironie lag. Juliane betrachtete sie verstohlen von der Seite. Offensichtlich schleppte auch Marit gerade einen ganzen Sack voller Probleme mit an Bord.
»Ich schnarche höchstens, wenn ich erkältet bin«, erklärte Sascha fast würdevoll. Dann beugte er sich ebenfalls vor und rief an Gunnar vorbei in die Kajüte: »He, Smutje! Ist eigentlich Bier an Bord?«
»Ja«, gab Lennart zurück.
»Und? Bringst du mir eins hoch?«
»Nein.«
Sascha beugte sich zurück, verschränkte die Arme und schaute kopfschüttelnd in die Runde. »Die Kommunikation mit dem Schiffskoch muss noch deutlich besser werden«, stellte er fest.
»Wieso? Klappt doch prima«, fand Nina. »An Bord sind klare Ansagen wichtig, damit es keine Missverständnisse gibt. Das hat Lennart doch schon gut drauf.« Sie grinste, und Juliane und Leonard lachten.
Dann war ein leises Quaken hinter der Livia zu hören, und alle drehten sich um und schauten auf das leicht gekräuselte Wasser hinunter. Mehrere Enten kamen interessiert herangeschwommen und reckten ihre Köpfe. Wieder quakte die Vordere von ihnen, auffordernd, wie es Juliane schien.
»Och, wie süß!« Marit war begeistert. »Haben wir nicht ein bisschen Brot für die?«
Niemand antwortete, alle beobachteten die Enten.
Marit verzog missmutig das Gesicht. Dann wandte sie sich ebenfalls dem Niedergang zur Kajüte zu. »Lennart!«, rief sie nach unten. »Hast du mal Brot für die Enten da?«
»Nein!«, rief Lennart ein zweites Mal aus dem Bauch des Schiffes hoch.
Juliane musste lachen, und Marit schaute sie böse an. Doch bevor Juliane irgendwas sagen konnte, schaltete sich Sascha wieder ein.
»Apropos Lennart«, sagte er und schien schon wieder das Interesse an den Enten verloren zu haben, »stimmt es wirklich, dass er uns nicht nur an Bord mit Essen versorgt, sondern auch in seinem wahren Leben Koch ist?«
Nina nickte, ohne zu antworten.
»Irgendwie merkwürdig, oder?« Sascha warf einen nachdenklichen Blick hinunter in die Kajüte.
»Warum?« Das waren Juliane und Nina wie aus einem Mund.
»Na ja, Gunnar ist Arzt … und sein Bruder nur Koch. Das ist doch ungewöhnlich, oder?«
Juliane zog ihre Stirn kraus. »Was meinst du mit nur?«, fragte sie Sascha, ihre Stimme klang scharf.
Auch Nina sah aus, als wollte sie etwas zu Lennarts Verteidigung sagen; bevor sie jedoch antworten konnte, steckte er selbst sein blasses Gesicht mit den struppigen Haaren aus der Eingangsluke hervor. »Ja, eigentlich hatten wir es ursprünglich auch andersrum geplant«, erklärte er. Seine Stimme klang spöttelnd, aber rau. »Dass Gunnar Koch wird und ich Arzt. Aber leider kann ich kein Blut sehen, während er sogar das Teewasser anbrennen lässt … und daher bin ich derjenige, der euch an Bord verköstigen wird.« Einen Moment lang lächelte er Nina an, und sie lächelte zurück, dann wandte er sich wieder an Sascha. »Dass ich koche, heißt übrigens nicht, dass ich auch den Abwasch mache. Und zu guter Letzt: Ich koche nur vegetarisch. Wer etwas anderes essen möchte, kann schon mal nach dänischen Hotdog-Buden googeln.«
Damit war er schon wieder in der Kochnische gleich links hinter dem Eingang verschwunden, um Lebensmittel in Schränke zu sortieren.
Juliane sah ihm hinterher. Bislang war ihr Lennart nur als struppig und eher abweisend aufgefallen. Aber er schien durchaus Humor zu haben. Und er war offensichtlich Vegetarier. So wie sie selbst auch.
Sascha hingegen schien nicht sonderlich angetan von Lennarts Auskunft zu sein. Entsetzt riss er die Augen auf. »Vegetarisch? Ernsthaft?« Fast schon wirkte er verzweifelt, als er sich jetzt an Juliane und Marit wandte, die ihm gegenübersaßen. »Euch Frauen schmeckt das wahrscheinlich sogar noch, oder?«
Juliane verzog breit grinsend das Gesicht. »Jepp«, sagte sie.
»Die armen Tiere«, fügte Marit hinzu.
Sascha drehte sich genervt weg.
Juliane tauschte einen einvernehmlichen Blick mit Marit, bevor sie sich zurücklehnte und ihr Gesicht in die Sonne hielt.
Und wie so häufig, wenn sie die Augen schloss, sah sie Ralf vor sich. Sie sah auf seinen Rücken, denn er entfernte sich von ihr. Allerdings nicht freiwillig. Sie hatte ihn weggeschickt.
Juliane hätte es wissen müssen.
Ralf war nicht nur von seiner Idee eines Ortswechsels überzeugt, sondern auch davon, dass er im Recht war. Dass ihm ein Lebensabend im Sauerland zustand. Und zwar zusammen mit seiner Frau! Schließlich hatte er über Jahrzehnte hinweg seine Familie versorgt. Als verantwortungsvoller Ehemann und Vater hatte er Geld für Windeln, neue Autos und Urlaube herangeschafft … hatte Juliane den Rücken freigehalten für ihr merkwürdiges Hobby – Schreiben! –, und jetzt versuchte er auch noch, ihre Ehe wieder in Gang zu bringen.
Dafür sollte sie ihm doch wohl dankbar sein, oder?
Nachdem er zwei Tage lang geschmollt hatte, rief er Juliane am Dienstag kurz vor der Abendbrotzeit an den Rechner in seinem Arbeitszimmer, das sich gleich rechts hinter der Eingangstür befand. Es war der einzige Raum im Haus, der stets picobello aufgeräumt war und darüber hinaus völlig frei von überflüssigem Schnickschnack wie etwa Wandschmuck oder Blumen in der Fensterbank, abgesehen von drei Ölschinken, die über einer Kommode an der Rückwand des Zimmers hingen, und auf denen Ralfs Urahnen abgebildet waren.
Ralf war in beschwingter Stimmung, was Juliane sofort misstrauisch machte, und als er einen Arm um ihre Schultern legte und freudestrahlend verkündete: »Guck dir mal das schöne Haus an. Das wär doch was für uns!«, da fror sie auf der Stelle ein und wurde starr wie ein Eiszapfen.
»Ja, ich weiß«, fuhr Ralf etwas übereilt fort, »es macht von außen nicht sehr viel her, ist aber von innen top saniert. Und das zu einem unschlagbaren Preis. Nun guck doch mal!«
Juliane guckte. »Stimmt«, sagte sie dann steif. »Es sieht aus wie Stulle.« Ein grauer Fünfzigerjahre-Klotz an einer Straßenbiegung in einem kleinen, öden Durchgangsdorf im Sauerland. Von innen war es wirklich schön, hell, offen und großzügig … aber Juliane wollte es nicht.
»Ralf«, sagte sie. »Wir wohnen bereits in einem schönen Haus. In toller Lage. Das Einzige, was das noch toppen könnte, wäre der Blick auf die Flensburger Förde. Aber da …«, sie wies auf das Haus im Internet, »… möchte ich nicht hinziehen.«
»Es gibt noch weitere interessante Angebote.« Sofort griff Ralf nach der Computermaus, um noch weitere interessante Angebote anzuklicken.
»Ralf, nein.«
»Verflixt noch mal, Juliane.« Jetzt knallte Ralf die Maus auf den Tisch und begann, im Kreis zu rennen, wobei er sich die Haare raufte. »Nun versuch doch einmal, auch meine Seite zu sehen! Ein einziges Mal! Es kann doch nicht alles immer nur so laufen, wie du es willst. Seit fünfundzwanzig Jahren lebe ich dein Leben!«
»Du lebst … was?« Juliane keuchte. Ihre tägliche Minute Frieden war offensichtlich schon wieder krachend gescheitert. »Mein Leben? Wovon redest du? Du machst doch ausschließlich dein Ding, was auch immer das ist! Egal, was ich mache, ich mache es immer allein!«
»Und du? Teilst du etwa mein Leben mit mir?«
»Was für ein Leben?«, schnauzte Juliane. »Meinst du, ich soll Abend für Abend mit dir vor dem Fernseher und am Wochenende mit dem Tablet auf dem Sofa sitzen? Oder wovon redest du?«
Dann war es still, nur der Computer rauschte vor sich hin. Dunkelheit breitete sich im Zimmer aus. Eine schwarze Wolke hatte sich vor die Sonne geschoben, und von einer Sekunde zur anderen prasselte Regen gegen die Fenster und verhüllte die Welt außerhalb ihrer vier Wände mit einem grauen Vorhang.
Die Tropfen, die gegen die Scheiben peitschten, übertönten das Rauschen des Rechners; der Regen schrie und brüllte, und das war gut so, denn in Juliane schrie und brüllte auch alles.
»Du tust gerade so«, sagte Ralf dann eisig, »als wollten wir nach Kanada oder so auswandern. Dabei sprechen wir nur über Plettenberg.« Er hatte ein unnachahmliches Talent dafür, immer wieder zu seinem Anliegen zurückzukehren, ohne dabei auf die Einwände seiner Frau einzugehen.
Juliane drehte sich zu ihm um. »Nein, Ralf«, sagte sie seufzend. »Ich spreche nicht über Plettenberg. Ich hab noch nie über Plettenberg gespr…«
»Dieser verdammte Köter!« Juliane hatte noch nicht ausgeredet, da war Ralf schon am Fenster, bollerte gegen die Scheibe. »Was hat der schon wieder in unserem Garten verloren? Diesmal leg ich wirklich Rattengift aus! Wenn der noch mal in unseren Garten sch…«
»Flocke hat noch nie in unseren Garten gemacht«, sagte Juliane, und ihre Stimme klang dünn, weil sich ihr Hals gerade schmerzhaft zusammenzog. Draußen tollte der große, weiße Hund der Nachbarn fröhlich durch den Regen, bis er wieder davonsprang, durch die Einfahrt hinaus auf die wenig befahrene Straße.
»Genau solche Leute wie die Schmidts mit ihrem Köter sind schuld daran«, jetzt drehte sich Ralf wieder zu Juliane um und streckte einen Arm in Richtung des Nachbarhauses aus, »dass ich hier nicht mehr leben will! Muss ich mir von anderen Leuten das Leben zur Hölle machen lassen? Diese Rücksichtslosigkeit, dieses ständige Gekläffe – muss ich das wirklich auf meinem eigenen Grundstück ertragen? Muss ich das, Juliane? Das ist doch der reinste Psychoterror!«
»Nein, Ralf«, sagte Juliane leise. »Genau solche Leute wie du sind es, die niemand zum Nachbarn haben möchte.« Dann drehte sie sich um und verließ den Raum.
In der folgenden Nacht träumte Juliane von dem gruseligen grauen Haus. Es regnete in Strömen, und das Wasser lief wie flüssiger Beton von den Wänden hinunter und breitete sich wie ein Teppich aus Klärschlamm in der ganzen Umgebung aus. Juliane wich zurück, denn der grauen Masse schienen giftige Dämpfe zu entweichen. Doch statt zu fliehen, trieb irgendeine unsichtbare Kraft sie dazu, das Haus zu umrunden … um auf seiner Rückseite einen blühenden Garten vorzufinden mit einem roten Schuppen, der aussah wie ein kleines Schwedenhaus. Davor stand ein Strandkorb … und über ihr kreisten Möwen, durchschnitten elegant den blauen Himmel, über den weiße Schäfchenwolken huschten, und schrien heiser … Der Wind strich durch Julianes Haar, Wasser plätscherte um ihre nackten Knöchel, und als sie aufsah, erblickte sie die Ochseninseln drüben vor der dänischen Küste und die weißen Segel der vielen Boote, die in flottem Tempo das Wasser durchschnitten.
Nein, Juliane würde nicht ins Sauerland ziehen. Nie. Mit oder ohne Klärschlamm: Das war nicht ihr Weg.
Den nächsten Vormittag verbrachte Juliane damit, Online-Überweisungen zu tätigen und ein paar Lesungsanfragen zu prüfen. Sie beantwortete die E-Mail einer Regisseurin, die an der Verfilmung von Fördetod interessiert war – bislang steckte das Projekt allerdings noch in den Kinderschuhen, weswegen es viel zu früh war, um euphorisch zu werden. Sie legte ein paar Bücher für eine Spende zugunsten des Frauenhauses heraus und googelte anschließend danach, wie tief das Wasser zwischen den beiden Ochseninseln war und ob es eventuell Strömungen gab. Schließlich wartete Lilli-Mai Hansen auf ihren fünften Fall.
Anschließend fand sie eine neue E-Mail in ihrem Ordner: eine Einladung in die Talkshow Hafenschnack mit Mareike Lenz. In Hamburg. Für Samstag.
Juliane schaute aus dem Fenster in den Garten und zwischen den Büschen hindurch über die noch winterlich kahlen Felder hinterm Haus.
Hm. So kurzfristig? Irgendwas war da faul. Wahrscheinlich war irgend so ein Promi abgesprungen, und nun sollte sie als Ersatz herhalten. Da in der E-Mail um eine zeitnahe Rückmeldung gebeten wurde, verschob sie die Antwort auf später und widmete sich erst einmal ausführlich ihren Fans auf Facebook.
Später am Tag fuhr sie zu Doktor Horsts. Sie wartete nicht ab, bis Ralf da war, im Gegenteil, sie verließ das Haus zeitig, um ihm nicht begegnen zu müssen. Und das machte sie wütend. Sie wollte nicht aus ihrem eigenen Heim flüchten.
Aber genau das tat sie, und sie hatte heute nicht viel geschafft, und sie war wütend auf ihren Mann. Und wahrscheinlich auch auf sich selbst. Wütend und aufgewühlt.
Es war trocken und gar nicht so kalt – eigentlich hätte sie auch das Fahrrad für die vier Kilometer nach Solitüde nehmen können. Aber noch war vom Frühling nicht viel zu spüren, und sie war schlecht drauf, weil sie natürlich genau wusste, dass ein klärendes Gespräch mit Ralf unausweichlich war. Übers Sauerland … sowie über alles andere. Ein Gespräch, das wie ein Eisberg auf ihrer Route durchs Leben lag. Und leider war die Kollision unvermeidlich.
Wie sollte sie Ralf erklären, dass er herzlich gern in seine alte Heimat zurückkehren durfte? Dass ihr dieser Schritt fast schon wie die Lösung aller Probleme erschien … zumindest, solange er ihn allein tat. Ohne sie.
Wie sollte sie ihm das beibringen?
Sie stieg ins Auto.
Knappe zehn Minuten später parkte sie ihren Wagen dann vor dem schmucken weißen Einfamilienhaus von Doktor Horsts, die eigentlich Inken und Christoph hießen. Entlang der Straße standen einige schmucke Villen auf großen Grundstücken, denn die Wohnlage nahe der Flensburger Förde war begehrt unter denen, die das nötige Kleingeld besaßen. Und Dr. Christoph Horst, der Arzt, dem die Frauen vertrauen, war ein gefragter Gynäkologe in der Gemeinschaftspraxis am Twedter Plack, während seine Frau Inken halbtags als Allgemeinärztin im Krankenhaus arbeitete.
Die Haustür wurde bereits aufgerissen, bevor Juliane geklingelt hatte, dann flogen ihr auch schon Florentine und Emmalina in die Arme. »Jaaaaani!«
»Ja, moin, ihr Strandkrabben! Seid ihr denn noch gar nicht im Bett?« Mit jeweils einer Hand zauste Juliane die blonden Schöpfe der Mädchen, bis sich deren Zöpfe ebenso aufgelöst hatten, wie es ihr eigener Zopf ständig von allein tat. Danach kitzelte sie die beiden am Hals, bis sie sich quietschend wanden.
»Naaain!«, gluckste Florentine, mit acht Jahren die Ältere der beiden Schwestern. »Jetzt doch noch nicht. Es ist noch nicht mal dunkel!« Dabei entblößte sie ein abenteuerliches Gebiss, bei dem mehr Zähne zu fehlen schienen, als vorhanden waren.
»Holla, die Waldfee … Flori, was ist denn mit dir passiert? Hat dich deine Schwester schon wieder geschlagen? Du hast ja gar keine Zähne mehr. Durch die Lücken kann man bestimmt einen ganzen Hering schieben!«
Florentine und Emmalina schütteten sich aus vor Lachen.
»Und bei dir, Emmi? Schon einen Wackelzahn, oder ist die Zahnfee noch zu sehr mit deiner Schwester beschäftigt?«
Die Sechsjährige kicherte vergnügt und grinste Juliane mit ihrem perfekten Milchgebiss an. »Alle noch da!«, erklärte sie stolz, obwohl sie häufig genug todunglücklich darüber war, noch nicht einen einzigen losen Zahn zu haben. Dann hängte sie sich an Julianes Arm und grinste sie schelmisch von unten an. »Hast du uns was mitgebracht?«
»Ja, klar.« Juliane hielt jetzt ihrerseits Emmalinas Arm fest. »Duuu bekommst einen … schmatzigen Knutscher!« Ohne Umschweife drückte sie ihr einen so saftigen Kuss auf die Wange, dass Emmi schon wieder in den höchsten Tönen quiekte. »… und du, Flori, was habe ich für dich? …« Mit übertriebener Nachdenklichkeit schaute sie die Ältere an, die vor lauter Aufregung schon fast platzte und aussah, als wollte sie gleichzeitig fliehen und sich auf Juliane stürzen.
»Wie wäre es mit einem feuchten Fuzzi?« Schon hatte Juliane ihren Zeigefinger abgeleckt, um ihn in Florentines Ohr zu stecken, aber da hatte das Mädchen bereits schreiend Reißaus genommen, war durch den großzügig geschnittenen Flur an ihrem Vater vorbeigestürmt, der mit verschränkten Armen in der Tür zum Wohnzimmer stand und grinste. »Hallo, Jani.«
Die Familie Horst waren die einzigen Menschen, die Juliane so nannten. Sie wischte ihren feuchten Zeigefinger an der Hose ab und begrüßte Christoph mit einer herzlichen Umarmung.
»Wie geht es dir?«, fragte Christoph. »Alles im grünen Bereich?«
»Ach was, kein bisschen«, platzte Juliane heraus. Dabei hatte sie doch gar nicht gleich mit der Tür ins Haus fallen wollen. »Bei mir ist Alarmstufe Rot. Land unter. Super-GAU.«
»Was?« Inkens erschrockene Stimme kam von der Treppe, die in den ersten Stock führte. Mit wenigen Schritten war sie unten bei den anderen. »Was ist denn los? Irgendwas mit Lisbeth?«
»Nein, keine Angst. Nur Ralf mal wieder. Der dreht gerade völlig frei.«