7,99 €
Bastelmuttihölle, Erledigungen, die vier Stunden mit Kind statt eine Stunde ohne dauern, die Fensterbank voller Raupenkacke und das Wort "Arschbombe" 100-mal am Tag - das Leben mit Kindern kann ganz schön anstrengend oder nervig sein. Wie man trotz allem den Humor nicht verliert und eine entspannte Haltung im Leben mit Kindern behält, verrät Patricia Cammarata warmherzig mit viel Selbstironie in diesem Buch.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 258
BASTEI ENTERTAINMENT
Vollständige E-Book-Ausgabe
des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes
Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG
Originalausgabe
Copyright © 2015 by Bastei Lübbe AG, Köln
Illustrationen Innenteil: Johannes Kretschmer, http://blog.beetlebum.de
Illustrationen S. 66, 67 und Fotos S. 212, 213: Patricia Cammarata
Lektorat: Tina Spiegel, Frankfurt
Titelillustration: © shutterstock.com/shockfactor.de
Umschlaggestaltung: FAVORITBUERO, München
Autorenfoto: © Eva Stolz
Datenkonvertierung E-Book:
hanseatenSatz-bremen, Bremen
ISBN 978-3-7325-1525-7
www.bastei-entertainment.de
www.lesejury.de
ist die Autorin, wurde 1975 geboren und lebt seit bald fünfzehn Jahren in Berlin. Sie arbeitet als IT-Projektleiterin, was sehr gut zu ihrem Psychologie-Diplom passt. Seit 2004 führt sie ein sogenanntes Blog. Das ist eine Internetseite mit chronologisch geordneten Einträgen. Viele sagen dazu auch »Online-Tagebuch«. Dort schreibt sie über alles, was sie bewegt. Seit einigen Jahren ist ihre Familie ein großes Thema.
Laut Lohnsteuerkarte ist Patricia die Mutter von 2,5 Kindern. Ein halbes Kind hat man, wenn der Ehemann ein eigenes Kind (Kind 1) mit in die Ehe bringt. Geheiratet hat Patricia erst nach der Geburt des ersten gemeinsamen Kindes (Kind 2). Deswegen ist im Text je nach Zeitpunkt mal vom Freund und mal vom Mann die Rede. Patricia möchte ein glückliches Leben führen. Deswegen vergisst sie alles, was anstrengend ist, oder schreibt Geschichten darüber, sodass wenigstens die Erinnerung an die Ereignisse lustig ist. Patricia hat sich in ihrem Leben ohne Kinder oft gelangweilt. Das ist jetzt zum Glück vorbei.
kam im Kindergartenalter in die Familie und war sozusagen der Grundstein für alle weiteren Familienmitglieder. Kind 1 war (ist!) so bezaubernd, dass man nicht anders konnte, als mehr Kinder zu wollen. In der Zwischenzeit ist es das, was man als präpubertär bezeichnen würde. Kind 1 hat eine Gelassenheit, die ihresgleichen sucht. Für andere Kinder ist Kind 1 ein Magnet. Wenn es irgendwo auftaucht, dauert es nicht lange, und mindestens sechs andere Kinder kleben an ihm. Im Kindergartenalter war Kind 1 das, was man als willensstark bezeichnen würde. Es verbrachte eine nicht unbeträchtliche Zeit bäuchlings auf Berliner Böden. Kind 1 hat eine großartige Fantasie, und im internetfähigen Alter angekommen, wird es bestimmt bald einen YouTube-Kanal eröffnen und dort amüsante Geschichten über Erwachsene zum Besten geben.
ist jetzt im Schulalter. Schon mit wenigen Monaten beherrschte es mehrere Dutzend Babyzeichen, mit denen es kommunizieren konnte. Mit etwas über zwei Jahren konnte es bereits Sätze sagen, die jeden Erwachsenen erschaudern ließen. Kind 2 ist ein extrem geordnetes Kind. Fast könnte man meinen, es sei ein Computer. Schon im Kindergarten kannte es alle Termine und musste die Eltern nicht selten um deren Beachtung bitten. Kind 2 hat aber nicht nur ein phänomenales Gedächtnis und einen großen Drang, alles allein zu machen. Wenn etwas nicht klappt, atmet es leise durch die Nase aus. Das ist, was man bei Kind 2 unter »Ausflippen« subsumieren kann. Der Humor von Kind 2 ist so trocken, dass Erwachsenen regelmäßig das Gesicht entgleist und sie erst lachen können, wenn es sagt: Ich habe einen Witz gemacht.
ist aktuell im Kindergartenalter. Kind 3 war lange schweigsam. Als es mit dem Sprechen anfing, hörte sich das Kölsch an. Warum, weiß niemand so genau. Kind 3 weiß zu allen Tages- und Nachtzeiten viel zu berichten. Es ist ein faszinierender Energieumwandlungsgenerator. Es saugt Energie aus seiner Umgebung und gibt diese in Schalldruck wieder ab. Wenn es läuft, erinnert es an Jack Sparrow, den einige vielleicht aus dem Hollywoodfilm Fluch der Karibik kennen. Es wankt und schwankt, fuchtelt und zappelt. Kind 3 hat von allem viel. Viel Humor, viel Liebe und genauso viel Wut und Verzweiflung, wenn sich die Dinge nicht so darstellen, wie es sich das selbst vorher ausgedacht hat.
Die menschliche Blase kann je nach Körpergröße zwischen 600 und 1500 ml Flüssigkeit halten, bevor ein starkes Bedürfnis entsteht, sie zu leeren. Sollte man diesem Drang nicht nachgeben, riskiert man einen Riss der Harnblase. Jeden Morgen, wenn ich aufwache, muss ich an Tycho Brahe denken. Tycho Brahe war ein dänischer Adeliger und einer der bedeutendsten Astronomen seiner Zeit. Am 13. Oktober 1601 war er zu Gast bei Kaiser Rudolf II. Die Etikette verlangte, dass man sitzen bliebe, solange der Kaiser sitzen bleibt. Rudolf II. war 23 cm größer als Tycho Brahe. Seine Harnblase konnte deswegen vermutlich 230 ml mehr Urin fassen. Brahe fügte sich den Konventionen, stand trotz starken Harndrangs nicht auf und erlitt einen Blasenriss. Er verstarb zehn Tage später unter großen Schmerzen, weil sich der Riss entzündet hatte, an einer Blutvergiftung.
Ich denke jeden Tag an Tycho Brahe, weil ich jeden Tag wie ein kleines Uhrwerk um Punkt 5.20 Uhr erwache und meine Blase wie bei Frau Holle ruft: »Leere mich! Leere mich! Ich bin schon voll!« Na und?, könnte man jetzt denken, dann geh doch auf Toilette. Doch leider liegt um diese Zeit mindestens eines unserer Kinder bei uns quer im ehelichen Bett. Und dieses Kind hat, wie alle anderen Kinder dieser Welt auch, ein ausgeklügeltes Bewegungsmeldungssystem. Dazu steckt es die Füße unter den Nacken des Vaters und legt seinen Kopf auf meinen Kopf. Sobald ich mich auch nur einen Millimeter bewege, setzt es sich aufrecht ins Bett und fragt hellwach: »Ist jetzt Aufstehenszeit?« Zumindest am Wochenende möchte ich aber nicht um 5.20 Uhr aufstehen und Frühstück machen. Deswegen habe ich eine Technik entwickelt, die Bettdecke mit den Füßen so zu falten, dass sie ungefähr den Ausmaßen meines Körpers entspricht. Ich schiebe sie ganz langsam Zentimeter um Zentimeter Richtung Kopf. Dann tausche ich Kopf gegen Deckenknödel aus und ziehe meinen Restleib langsam Richtung Bettende weg. Ich fließe dabei über die Bettkante wie diese zerfließenden Uhren auf Salvador Dalís Bild Die Beständigkeit der Erinnerung. In acht von zehn Fällen bin ich erfolgreich. Doch das Kind im Bett ist nur die erste Hürde. Zwischen Bett und Toilette liegt leider das Kinderzimmer, wo weitere geräuschempfindliche Kinder schlummern. Wir haben dort Holzboden, und genau vor dem Kinderbett ist eine Diele locker, die knarzt, wenn man auf sie tritt. Man könnte die Stelle mit einem großen Sprung überwinden. Allerdings ist das Springen weder den Nachbarn zuzumuten, noch könnte ich so leise aufkommen, dass das Kind im Zimmer nicht erwacht. Also lege ich mich auf den Bauch und ziehe mich mit den Armen leise am Kinderbett vorbei. Lediglich das Überwinden der Türschwelle vom Kinderzimmer zum Flur ist etwas schmerzhaft (vor allem mit prall gefüllter Blase). Wenn alles gut läuft, erreiche ich um 5.40 Uhr das Badezimmer. Ich schließe leise die Tür, versuche sehr leise und langsam meine Blase zu entleeren und spüle. Wenn ich mich dann umdrehe, um mir die Hände zu waschen, stolpere ich meist über zwei Kinder, die in der Zwischenzeit doch aufgestanden und mir lautlos in die sanitären Anlagen gefolgt sind. Die Uhr zeigt 5.50 Uhr. Alle Hoffnung auszuschlafen ist zerbrochen.
Alternativ kann ich natürlich mit gefüllter Blase im Bett liegen bleiben und weiter an Tycho Brahe denken. Spätestens um 5.56 Uhr ist meine Angst vor einer Blasenruptur aber so groß, dass ich doch aufstehe.
So oder so. Spätestens 6 Uhr sind alle wach.
Kind 3 ist noch im Kindergarten, und trotzdem hatte es neulich bereits seinen ersten Rausch.
Im Auftrag von Kind 2 haben wir Kuchen gebacken. Nicht so was Gesundes, lautete die Anweisung. In der Schule gab es nämlich nur gesunde Kuchen. Das wurde mal auf einem Elternabend beschlossen, und ob das den Kindern nun gefiel oder nicht – die Kuchen für die Schule enthielten jetzt weder Zucker noch Butter noch Weizenmehl noch Eier oder irgendwas anderes, was den Kuchen irgendwie schmackhaft machen könnte. Also haben wir jetzt ein Kuchenrezept mit ordentlich Zucker rausgesucht. Kind 2 ist ziemlich streng, und ich hatte keine Lust, ausgeschimpft zu werden.
Kind 3 hat beim Backen fleißig unterstützt. Butter zermatscht. Reichlich Zucker eingearbeitet. Mehl aus zwei Meter Entfernung dazugeworfen. Kleine Kinder machen das alle auf dieselbe Art und Weise. Auf einen Stuhl stellen und ein Kilo Mehl mit ausgestrecktem Arm von ganz oben in einem Schwall in die Schüssel schütten. Dann die Eier, die es teilweise sogar aufgeschlagen hat. Noch das Backpulver mit einem großen »Hatschi« zerstäuben, und schon ist der Kuchenteig fast fertig.
Bereits vom ersten Arbeitsschritt an fragte Kind 3, ob es nicht probieren könne. Kind 3 kennt da nichts. Es leckt auch gerne Butter einfach so von den Fingern ab. Als Mutter, die Wert auf Erziehung legt, habe ich das Ablecken allerdings erst erlaubt, als der Teig fertig angerührt und in die Kuchenform gefüllt war. Erst dann durfte Kind 3 die Teigreste schlecken.
Als das Einverständnis einmal erteilt war, leckte und leckte es, als ginge es um sein Leben. Erst die Rührhaken, dann die Schüssel und ganz am Ende sogar die Arbeitsplatte, auf die einige Teigreste getropft waren.
Ich verließ kurz die Küche, um mit dem größeren Kind Hausaufgaben zu machen, und war doch sehr erstaunt, als ich in den blitzblank geschleckten Raum zurückkam. Im Grunde war es wirklich nicht mehr nötig, sauberzumachen. Ich erwischte mich beim Betrachten der perfekt abgeleckten Küche bei dem Gedanken, zukünftig benutzte Kochtöpfe (die ich besonders ungern von Hand spüle) sowie das gesamte Geschirr mit Teigresten zu beschmieren und die Spülmaschine abzuschaffen. Das lästige Ein- und Ausräumen wäre damit unnötig. Man könnte einfach alles stehen lassen und, nachdem Kind 3 wieder alles sauber geleckt hätte, erneut benutzen.
Kind 3 war nach der Teigvernichtungsaktion zunächst etwas zittrig. Es tanzte und sang laut durch die Wohnung, drehte sich wie ein Brummkreisel, sprang ein paar Mal vom Hochbett und verkündete dann lauthals Wurstbrothunger.
Ich schmierte einige Stullen für die ganze Familie, und wir machten Abendbrot. Kind 3 biss genau einmal vom Brot ab, um dann erschöpft auf den Teller zu sinken. Man könnte fast behaupten, es klappte regelrecht zusammen. Es stöhnte: »Isch kann nisch mehr. Isch glaub, isch muss misch breschen.« Es röchelte schwach und schleppte sich dann ins Bett. Wenige Sekunden später war es eingeschlafen. Es schlief bis zum nächsten Morgen um 7 Uhr.
Als es gut gelaunt am Frühstückstisch erschien und ich darauf hinwies, dass es jetzt gerne ein Stück Kuchen nehmen könne, winkte es nur müde ab: »Für misch kein Kuchen, Mama.«
Ein Teil meiner Familie kommt aus Italien. Italiener sind sehr kinderfreundlich, und ich war selbst etwas verwundert zu sehen, wie aus meinem ehemals strengen Papa der weichherzigste Opa der Welt wurde. Mein Vater ist in Italien aufgewachsen und dort entsprechend sozialisiert.
Während man in Deutschland gerne ökologisch korrektes Holzspielzeug verschenkt, gilt in Italien die Devise: greller, lauter, bunter! Ich kann mich nicht erinnern, dass ich in einem Kinderzimmer meiner Verwandten jemals auch nur ein Spielzeug gesehen hätte, das sich nicht irgendwie bewegt, leuchtet oder dudelt. Die italienische Wirtschaft muss im Wesentlichen von dem Verkauf von Batterien getragen sein.
Wenn man liest, man habe Gefangene mit Popsongs von Britney Spears und Metallica gefoltert, dann ist es leicht vorstellbar, dass ursprünglich italienisches Spielzeug eingesetzt wurde, man sich aber dann entschied, dass die dauerhafte Verwendung doch zu grausam sei.
Jedenfalls war kürzlich unsere italienische Verwandtschaft zu Besuch, und es dauerte keine zehn Minuten, bis all unsere Kinder mit einem leuchtenden, blinkenden und melodienleiernden Spielzeug ausgestattet waren.
Die älteren Kinder hatten singende Plastikhandys und einen Kindercomputer mit zahlreichen LEDs bekommen. Das Baby der Familie bekam ein DING. Ich weiß ehrlich gesagt nicht mal, was das eigentlich ist, dieses DING. Es ist komplementärfarben gemustert, und wenn ich länger draufschaue, formen sich 3-D-Bilder vor meinen Augen – ganz ähnlich wie diese 3-D-Bilderbücher, die in den frühen Neunzigern mal so beliebt waren. Das DING hat zwei Achsen und vier Räder und an der höchsten Stelle – es könnte eine Art Käfer auf Rollen sein – eine Blink-Armada. Es macht Geräusche und spielt sehr eingängige Melodien und Lieder, die schon sechs Monate alte Babys problemlos nachahmen können. Die sprechfähigen und schulpflichtigen Kinder können die italienischen Texte auch mitsingen, und so kann man sich als Eltern am Ende sogar noch einen pädagogischen Nutzen von diesen Spielzeugen einreden.
Der Besuch ging, das DING blieb. Es dudelt und rollt fröhlich durch die Wohnung. Wenn die Kinder da sind, verhält es sich ganz normal. Aber wenn die Kinder in Kindergarten und Schule sind, macht es seltsame Dinge, und ich gebe zu, es gruselt mich ein bisschen. Denn kaum sind die Kinder außer Haus, stellt es seinen Ton ab, versteckt sich hinter dem Wäschekorb oder in der Spülmaschine und fährt dann unerwartet aus seinem Versteck hervor und versetzt mich so in Angst und Schrecken.
Einmal saß es sogar in der Kloschüssel und griff beim morgendlichen Toilettengang jäh an, als ich den Klodeckel hochklappte.
Sobald die Kinder dann wieder da sind, fährt und tutet es wieder wie von Geisterhand gesteuert durch die Wohnung. Die Kinder können gar nicht anders und laufen fröhlich singend hinterher. Der Melodienzug fährt durch den Flur, durchs Wohnzimmer und zurück ins Bad, und die Kinder klatschen dazu im Takt. Ich dachte, wenn die Batterien erst mal leer sind und das DING keine Töne mehr von sich gibt, würde es auch seine Anziehungskraft auf die Kinder verlieren. Ich wartete Wochen und Monate, aber die Batterien verloren nicht an Kraft, sodass ich das DING genauestens untersuchte, ob irgendwas Besonderes an ihm war – ein Solarpanel oder eine sonstige Energiequelle, die man auf den ersten Blick nicht sieht. Doch trotz akribischer Suche wurde ich nicht fündig. Gerade als ich mich entschlossen hatte, das DING einfach heimlich zu entsorgen, hatte ich in der darauffolgenden Nacht einen seltsamen Traum:
Ich laufe durch nächtliche, menschenleere Straßen, als ich plötzlich die mir bekannte Melodie des Spielzeugs aus der Ferne höre. Im fahlen Licht der Laternen erblicke ich ein grell blinkendes Gefährt, das langsam dudelnd durch Berlin fährt. Ich denke an den Rattenfänger von Hameln, als ich sehe, wie die 7976 Kinder unseres Bezirks dem kleinen Blinkdings wie hypnotisiert folgen, leise die Tonfolge murmelnd. Ich will aufschreien, kann aber nicht. Plötzlich stehe ich vor unserem Haus, als sich die Eingangstür öffnet und unser Baby langsam Richtung Kinderschar krabbelt. Ich will zu dem Baby laufen, komme aber nicht von der Stelle. Meine Stimme ist ebenfalls weg, ich kann das Baby nicht zurückhalten. Dann wache ich mit einem stummen Schrei im Hals auf. Die Sonne ist bereits aufgegangen, und ich gehe als Erstes in das Kinderzimmer. Die Kinder sind Gott sei Dank noch da und spielen wieder mit hölzern klingenden Bauklötzchen. Das Spielzeug ist jedoch auf wundersame Weise verschwunden.
Wer seine schicke Designerwohnung in eine Messi-Bude verwandeln möchte, sollte entweder trinkfreudige Studenten beherbergen oder sich ein paar Kinder anschaffen.
Allein schon die Anzahl der Dinge, auf die man täglich tritt und die man sich anschließend aus den Zehenzwischenräumen pult, ist enorm. Es ist daher dringend notwendig, dreißig Prozent des Haushaltes in Halbjahreszyklen zu versteigern oder auf Flohmärkten feilzubieten.
Versteigern erschien mir aufwändig. Jedes einzelne Stück inszenieren, fotografieren, wortreich beschreiben. Das dauert im Schnitt jeweils zwanzig Minuten. Und das ist noch nicht das Schlimmste. Kaum hat man die Artikel eingestellt, trudeln die Bieterfragen ein. Wie viele Zentimeter misst der Body vom Kragen zum Schritt? Wie viele Knöpfe hat die Winterjacke? Von welcher Marke sind die feilgebotenen Schuhe? Wie oft wurde die Hose getragen? Man ist weitere Stunden damit beschäftigt, die Fragen zu beantworten. Danach wird alles einzeln verpackt, adressiert, frankiert und schließlich zur Post getragen. Wer jetzt glaubt, es ist geschafft, der hat sich noch nie an großen Auktionshäusern ausprobiert. Das Allerschlimmste ist nämlich das Ende: die Bewertungen. »Wucher! 10 Cent zu viel Porto gezahlt!«, »Schrecklich verpackt! So hat der Kauf gar keinen Spaß gemacht!« und »Ich habe 3 – in Worten DREI Tage – auf meinen ersteigerten Artikel gewartet. Bin sehr enttäuscht.«
Rechnet man die Arbeitszeit gegen den Ertrag, wäre es sinnvoller, die Sachen einfach, wie in Berlin durchaus üblich, in einer Kiste mit der Aufschrift »zu verschenken« auf die Straße zu stellen.
Da ich aber geizig bin, entschied ich mich dieses Jahr für den Flohmarkt.
Ich gehe nichts ungeplant an. Das sollte langsam bekannt sein. Ich habe mir im Vorfeld also zehn Flohmärkte angesehen und die Aussteller zu ihren Gewinnen befragt. Dazu habe ich die verschiedenen Verkaufsparameter systematisch erfasst und ausgewertet. Die Parameter, die am höchsten mit der Variable »Gewinn« korrelierten, habe ich optimiert und daraus eine Liste mit Dos und Don’ts generiert.
Deswegen hatte ich den strategisch besten Platz auf dem Flohmarkt, alle meine Sachen waren gebügelt und gestärkt, nach Größen und Themen sortiert und auf Ständern, Bügeln und in kleinen Stapeln ansprechend auf einer gemangelten Tischdecke platziert. Ich hatte Preisschilder befestigt, und über meinem Kopf hing ein Schild, welches meine Verhandlungsbereitschaft signalisierte.
Ich selbst hatte geduscht, meine Haare waren gekämmt, und ich verzog sogar die Mundwinkel nach oben.
Alles war perfekt.
Leider kamen dann die ersten Interessenten. Diese begannen in Sekundenschnelle militärisch exakt gefaltete Kleidungsstücke zu verknüseln und unsystematisch Gegenstände aufzunehmen, um sie an völlig unpassenden Stellen wieder abzulegen.
Andere nahmen feilgebotene Artikel in ihre bakterienbehafteten Hände und führten sie so nahe vor ihre Augen, dass sicherlich Abermillionen von Keimen direkt aus ihren Augen auf die Verkaufsstücke fielen oder ihr schlechter Atem sich an sie heftete.
Manche wagten es sogar, einzelne Gegenstände zu beschnuppern! Mit solchen obszönen Vorgehensweisen hatte ich nicht gerechnet und fiel fast in Ohnmacht.
Die Kinder hatte ich zum Beginn der Aufbauphase an Stühle hinter unserer Verkaufsfläche gebunden, weil sie sich nicht artig verhalten wollten. Die verzweifelten Blicke und schrillen Hilferufe wirkten sich jedoch nur mäßig verkaufsfördernd aus, und so entschied ich, den Kindesvater mit ihnen loszuschicken, sodass er sie beschäftigen möge.
Dreißig Minuten später hatte ich bereits die Hälfte unserer Waren verkauft und freute mich darauf, der Restfamilie von unseren Erfolgen zu berichten, während ich auf einen Haufen Kinderspielzeug blickte, der sich langsam wankend auf mich zu bewegte.
Als der Tandberg schließlich an unserem Stand stoppte und oben erst die Kinder und dann der Mann herauspoppten, ahnte ich, dass die Arbeitsanweisung »Geh und beschäftige bitte die Kinder« unpräzise formuliert war.
Es stellte sich heraus, dass der weichherzige Vater den Kindern genau den erwirtschafteten Betrag zum Erwerb von Losen überlassen hatte.
Gustav-Gans-gleich hatten sie bis auf den Hauptpreis alle Gewinne aus dem Loszettelkasten gefischt.
Da auch mir am Stand nebenan und gegenüber bereits interessante Gegenstände aufgefallen waren, lösten wir unsere Verkaufsstelle vorsichtshalber auf. Wir hatten die Anzahl unserer Artikel im Vergleich zum Flohmarktstart verdoppelt und fuhren etwas verwirrt nach Hause. Ab jetzt machen wir es also wie alle vernünftigen Berliner und nutzen die Kiste.
Dass man als Erwachsene den Kindern ein Vorbild ist, merkt man vor allem dann, wenn man Erwachsene und Kind mit vertauschten Rollen spielt: das Lieblingsspiel von Kind 1 im Kindergartenalter. Es wollte zum Beispiel sehr gerne auf dem Weg vom Kindergarten nach Hause Mama und Kind spielen. Das Kind war Mama, und ich musste das Kind sein. Dafür erhalte ich genaue Verhaltensanweisungen: »Du musst jetzt lamsam hinter mir herlaufen und dabei heulen!«
Ich trippel folglich jaulend und schniefend hinter dem Kind her, das in großen Schritten vorausgeht und dabei Dinge ruft, wie: »Komm jetzt endlich! Ich werde lamsam ungeduldig, oder muss ich erst die nervige Stimme machen?«
Spätestens da wird einem diese Vorbildsache schmerzlich bewusst, und ich fühle mich ein wenig peinlich berührt. Wenn ich all die Garstigkeiten nicht mehr aushalten kann, unterbreche ich das Kind: »Aber ich bin doch nicht immer so?!« Es schaut mich dann schweigend und ein bisschen mitleidig an und sagt streng: »Reiß dich zusammen, wir müssen noch einkaufen gehen!« Wenigstens bekomme ich am Ende unserer Ausflüge, wenn ich im Einkaufszentrum lieb war, eine halbe Bratwurst.
Zum Vorbildsein gehört auch Disziplin und Selbstkontrolle. Viele Dinge, die ich mit Vorliebe mache, darf ich nicht machen, wenn das Kind da ist. Dazu gehören:
mehr als zehn Stunden vor dem Computer sitzen,mich von Pizza, Eis und Schokolade ernähren,nicht rausgehen wollenundalle Klamotten sowie das gebrauchte Geschirr rumliegen und -stehen lassen.Das ist eine echte Herausforderung. Und so richtig klar war mir das nicht, bevor ich Kinder bekommen habe.
Das Schlimme ist, das Kind kommt einem immer wieder auf die Schliche. Wir haben dem Kind, um endlose Diskussionen zu vermeiden, beispielsweise verschwiegen, dass wir mittlerweile Internet haben. Ich habe also immer ein Worddokument offen, wenn ich surfe, und wenn das Kind kommt, tippe ich da Buchstaben rein.
Einmal aber schlich es sich von hinten an, und ich konnte nicht rechtzeitig umstellen. Es schaute mich sehr ernst an und sagte: »Aha! Ihr habt also doch Internet.« Ich schüttelte den Kopf, blickte dabei aber zu Boden. Es hieß mich, ihm das Worddokument zu zeigen. Da standen nur sinnlos aneinandergereihte Buchstaben. Es las vom Bildschirm »R F T T S T? Rfftst?«, schaute mich an, schüttelte den Kopf und ging wortlos aus dem Zimmer. Ich habe mich hinterher sehr geschämt.
Ein anderes Mal habe ich in unserer Speisekammer heimlich Schokolade gegessen. (Ich muss täglich mindestens 200 Gramm Schokolade zu mir nehmen, sonst sterbe ich. Ich esse sie aber heimlich, weil das Kind das nicht sehen soll.)
Genau fünfzehn Minuten nachdem ich aus der Vorratskammer gekommen war, las ich dem Kind ein Märchen vor, als es sich über meine Beine zu meinem Gesicht lehnte, an meinem Gesicht schnüffelte und sagte: »AHA! Du hast schon wieder Schokolade gegessen.«
Apropos Kind und Erwachsenenleiden. Wenn man Kinder hat, merkt man schnell, dass Selbsthilfegruppen zu diversen Themen helfen könnten. Ich habe unter anderem mal über eine Hörspielsucht-Selbsthilfegruppe nachgedacht. Eine andere, dringend notwendige Austauschmöglichkeit mit anderen Erwachsenen würde ich gerne zum Thema Brunnengucken schaffen. Es ist mir psychologisch völlig unklar, aber Kinder lieben Brunnen.
Und zwar Brunnen aller Art, vom leise plätschernden Zimmerbrunnen über den Gartenzierbrunnen bis hin zum ausgewachsenen Freiluft- oder Einkaufscenterbrunnen.
Immer – wirklich IMMER wenn wir beispielsweise im Einkaufscenter sind, müssen wir bei dem stinkenden, hässlichen Brunnen im Eingangsbereich stoppen und ihn bestaunen. Meistens mit Hinsetzen. Dort schaue ich dann jedes Mal in eine Runde verzweifelter Erwachsener, die ebenfalls Begeisterung für diese wasserzirkulierenden Pissoirs vorgaukeln müssen. Das ist so langweilig! Grauenhaft!
Wenn die Brunnen unterschiedliche Möglichkeiten haben, das Wasser rhythmisch zu verspritzen, muss man noch zusätzlich Fragen beantworten.
»Warum spritzt das Wasser nach oooben?«
»Warum macht das Wasser Booogen?«
»Warum gibt es eine Pumpe?«
»Warum ist jetzt in der Mitte Wasser, aber am Rand nihich?«
»Wie funksioniert eine Pumpe?«
Weil die Fragen sich wiederholen, habe ich sie bereits im Internet recherchiert und differenzierte Antworten parat. Doch wenn man dann antwortet, hören sie seltsamerweise gar nicht hin: »Es gibt verschiedene Arten von Pumpen. Membranpumpen arbeiten ähnlich wie Kolbenpumpen, nur dass statt des Kolbens eine Gummimembran hin- und herbewegt wird und somit ein Volumen alternierend größer und kleiner wird. Die Membran wird üblicherweise mit einem Exzenter bewegt, der wiederum auf einer Motorwelle sitzt. Das trifft aber nicht bei kleinen Brunnen zu. Da kommen eher Kreiselpumpen zum Einsatz. Schwingkolbenpumpen werden aufgrund des Krachs, den sie machen, eher selten für Brunnen eingesetzt.«
Das Kind geht dann wortlos einige Schritte in Richtung Brunnen, lächelt einem anderen Kind zu, und beide halten ihre Hände ins Wasser. Kind 2 ist auch schon mal komplett baden gegangen. Ich weiß nicht, wie das passieren konnte, ich hatte wirklich nur ganz kurz auf mein Handy geschaut, weil ich der Frage nachgegangen war, welche Arten von halbautomatischen Fensterputzrobotern zur Reinigung von Glasfassaden in Einkaufszentren in Deutschland derzeit eingesetzt werden. An dem Tag gab es keinen Nachtisch für mich, schließlich schaue man als angemessenes Vorbild nicht ständig auf sein Handy.
Wer unsere Wohnung gebaut hat, der muss Sinn für Humor gehabt haben und kinderlos gewesen sein. Während unsere Küche winzig ist und man kaum zu fünft reinpasst – geschweige denn dort gemütlich essen kann, ist unser Bad fast so groß wie das Wohnzimmer. Okay, das ist etwas übertrieben – aber es ist wirklich riesig. Beim Einzug, als alles noch leer stand, hallte es nicht nur, es gab sogar ein Echo.
Gerne würde ich jetzt darüber schreiben, wie toll so ein geräumiges Badezimmer ist. Kann ich aber nicht. Denn es gibt einen grundlegenden Konstruktionsfehler für Familien mit Kindern: Im Badezimmer ist auch die Toilette. Im Grunde ist damit das Restbad mit Waschmaschine, Badewanne und Waschbecken nicht zu benutzen. Außer vielleicht zwischen Mitternacht und 5 Uhr morgens. Aber wer will da schon baden?
Denn die Toilette nicht gesondert zu haben bedeutet, NIE alleine im Badezimmer sein zu können. Das Baderitual für Erwachsene sieht in unserer Familie wie folgt aus: Wenn einer von beiden baden möchte, dann ruft er: »Muss jemand auf Toilette? Ich gehe jetzt baden!«
Die Kinder antworten darauf im Chor: »Neeeeein!«
Man geht also ins Bad, macht die Heizung an, und wenn die Luft mollige 24 Grad erreicht hat und das Wasser eingelassen ist, rüttelt eines der Kinder verzweifelt an der Türklinke: »ICHMUSSMAL!!! ESISTDRINGEND! MAAAAMIIII!«
Die Tür wird aufgerissen, das Kind geht auf Toilette, es muss gelüftet werden, die Zimmertemperatur sinkt auf 18 Grad, und das Wasser kann auch nicht mehr als wohltemperiert bezeichnet werden.
Dieser Vorgang wiederholt sich je nach Anzahl der Kinder.
Ich habe schon überlegt, ob man vielleicht nur so tun sollte, als ob man baden wolle. Offensichtlich regt das den Stoffwechsel an, und wenn dann alle Kinder auf Toilette waren, geht man vielleicht wirklich baden.
Leider vergesse ich diesen Plan jedes Mal. Ich bade deswegen immer, wie wahrscheinlich Menschen in Island baden. Bei angenehmen vierzehn Grad Wassertemperatur. Dabei schaue ich auf die Goldfische, die von unserer Decke hängen und in der Zugluft beruhigend hin und her schwanken, während ich mich freue, dass unsere Kinder noch nicht vollständig im Teenageralter angekommen sind. Denn dann stehen plötzlich die Erwachsenen an der Tür und jammern, weil sie dringend mal auf Toilette müssen, so stelle ich mir das jedenfalls vor.
Ich weiß nicht, wie viele Jahre ich das noch aushalte. Vielleicht sollten wir einfach einen Kredit aufnehmen und die Wohnung komplett umbauen. Sie hat ja ohnehin einige Konstruktionsfehler. Die anderen Räume benötigt man doch im Grunde auch gar nicht. Kinderzimmer und Schlafzimmer getrennt zu haben? Das ist unnötig. Die Kinder wollen ohnehin im Elternbett schlafen. Überhaupt wollen Kinder IMMER da sein, wo die Erwachsenen sind, und nicht da, wo Platz ist. Es reicht also ein großer Wohn-Schlaf-Ess-Kinderraum und dann eben pro Person ein Badezimmer. Das wäre viel sinnvoller als umgekehrt.
Der Vorhang hebt sich. Ein weiß gekacheltes Badezimmer ist zu sehen. Ein Kind turnt auf einem grünen Hocker. In der einen Hand hält es eine Zahnbürste, in der anderen eine Tube Zahnpasta. Der Deckel ist bereits entfernt, die Zahnpasta quillt über den Tubenrand, mehrere Zahnpastaschlangen zieren das Waschbecken. Ein weiteres Kind liegt auf den weißen Kacheln und macht Schneeengel in die Wäscheberge. Das dritte Kind steht wankend am Badewannenrand.
Die Mutter betritt entschlossenen Schrittes die Szenerie und spricht zum hockerkletternden Kind: »Putz jetzt bitte die Zähne!«
Im Hintergrund zwei weitere Kinder: »Die Zähne sollst du jetzt putzen!«
Irritiert dreht sich die Mutter zu den anderen beiden Kindern im Schlafanzug: »Ihr sollt auch Zähne putzen!«
»Zäääähne putzen, Zääähne!«, ruft das erste Kind vom Waschbecken. Es wedelt wild mit der Zahnbürste und dreht dabei den Wasserhahn auf maximaler Stufe auf. Fünfzig Liter Wasser pro Sekunde stürzen in das Waschbecken und ergießen sich sprudelnd in einer Fontäne.
»Vorsicht! Dreh den Hahn nicht zu weit auf!« (Die Mutter, mahnend.)
»Pass auf! Pass auf! Das Wasser! Es spritzt!« (Die zwei Geschwisterkinder aus der anderen Zimmerecke.)
So ist das bei uns zuhause. Ich kann nichts sagen, ohne dass es ein Kinderecho gibt. Nach all meinen Vorerfahrungen versuche ich mich nur noch selten zu wehren und zu protestieren: »Ich bin die Erziehungsberechtigte! Ihr müsst nicht alles wiederholen, was ich sage!«
Kind 1: »Was ich sage!«
Kind 3: »Müssen wir nisch wiederholen.«
Kind 2: »Weil du die Erziiiiiehungsberechtigte bist!«
(Die Mutter seufzt.)
Geseufzt hat Aischylos vermutlich auch oft. Ich konnte nichts zur Anzahl seiner Kinder recherchieren. Nur dass er 525 vor Christus in Eleusis, Griechenland geboren wurde und der älteste der drei großen, griechischen Tragödiendichter war. Da er aber (Mit-)Erfinder des griechischen Theaterchors war, gehe ich davon aus, dass er so wie ich drei Kinder hatte – mindestens.
So konnte er die Idee des Chors entwickeln, der während des Theaterspiels eine Vielfalt von Hintergrundinformationen lieferte oder Geschehnisse an den zentralen Stellen nochmal wiederholte oder zusammenfasste. Das heißt, der Theaterchor hilft dem Publikum dabei, der komplexen Handlung zu folgen. Ich denke, diese Funktion übernehmen die Geschwisterkinder auf meiner Lebensbühne. Irgendeinen tieferen Sinn muss dieses Verhalten schließlich haben. Wer das Publikum ist, ist mir noch nicht ganz klar. Aber ich denke, darauf komme ich schon noch.
»Kommst du schon noch!«
»Du!«
»Wirst es noch erfaaaaahren!«