Sein der Pferde - Barbara Schönher - E-Book

Sein der Pferde E-Book

Barbara Schönher

0,0

Beschreibung

Ich bin der Frage nachgegangen, warum Pferde Menschen guttun. Wie machen Pferde das, dass es mir immer besser geht, wenn ich bei ihnen war? Warum ziehen Pferde mich in ihren Bann? Warum vergisst man immer die Zeit, wenn man beim Pferd ist? Ich machte mich auf, um die Geheimnisse der Pferde zu ergründen. Ich habe versucht, Worte dafür zu finden, für das, was Pferde mit Menschen machen. Ich habe Worte benutzt, um die Sprache ohne Worte, die Sprache des Gespürs, die Sprache der Pferde zu übersetzen. Dieses Buch ist eine Sammlung der bewegendsten Erlebnisse und der bedeutsamsten Erkenntnisse, die ich mit Pferden hatte. Ich habe unerwartete Entdeckungen gemacht und lebensverändernde Einsichten gehabt. Gänzlich unvermutet hat mich ein Aufenthalt im Sein der Pferde zu meiner philosophischen Selbstfindung geführt. Auf der Suche nach Heilung meiner Schlaflosigkeit, der Albträume und des Traumas stieß ich auf die mystische Bedeutung des weißen Pferdes als Mittler zwischen den Welten, als Bote aus dem Jenseits, Symbol für das Leben und den Tod. Ich begann mich zu fragen, ob ein solches Pferd wohl eine verlorene Seele retten könnte? Ich folgte der Spur des weißen Pferdes, erkannte mich selbst im Spiegel der Seele und spürte den Sinn des Lebens. Ich lernte Gespürgespräche zu führen, entdeckte die Ewigkeit, tanzte mit der Todesangst und übte mich in der hohen Schule des höchsten Selbst. Es ist wirklich erstaunlich, was ein Pferd aus einem Menschen macht. Ich widme dieses Werk den Pferden: Gefährten der Menschheit, Spiegel der Seele, Mittler zwischen den Welten.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 368

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



SEIN DER PFERDE

PHILOSOPHISCHE SELBSTFINDUNG MIT PFERD

- ODER: WIE ICH DIE EWIGKEIT ENTDECKTE, MEIN SEELE RETTETE UND DEN SINN DES LEBENS SPÜRTE

BARBARA SCHÖNHER

Copyright © 2024 by Barbara Schönher

Copyright of images © 2024 Katharina Schönher

All rights reserved.

Herstellung und Verlag: BoD - Book on Demand; Norderstedt

ISBN: 9783759799289

Sein der Pferde

* * *

Philosophische Selbstfindung

mit Pferd

* * *

- oder:

Wie ich die Ewigkeit entdeckte,

meine Seele rettete und

den Sinn des Lebens spürte

* * *

Barbara Schönher

* * *

Für Sammy Joe & Galante

* * *

Ich widme dieses Werk den Pferden:

Gefährten der Menschheit

Spiegel der Seele

Mittler zwischen den Welten

* * *

1

STADT DER PFERDE

Erinnerung in den Knochen

Pferde im Bewusstsein

Pakt der Pferde

Denkkrank

Geflügelten Herzens

Heilsame Gegenwart der Pferde

Ontologie und das Sein der Pferde

Demeter‘s Fohlen

Zwei Seelen

Pegasus‘ Quelle

2

ANIMA

Schlaflos

Die somatische Seele

Die verschlossene Pforte

Leere

Verlorene Seelen

Pegasus‘ Geburt

Knochen sammeln

Folge dem weißen Pferd

Seelenrückholung mit Pferd

Pakt der Seelengefährten

3

SEIN DER PFERDE

Die Entdeckung der Ewigkeit

Die Zeitreisende

Die mit dem Pferd spricht

Bei vollen Sinnen

Achtsamkeit statt Dominanz

Gespürgespräche

Co-Regulation des Reitens

Nervensystemtraining mit Pferd

Sozialsein

Rhythmus – der Puls des Lebens

4

SEELENREITEREI

Schattenreiter

Im Auge des Pferdes

Reiten mit blankem Vertrauen

Dämonen hüten

Tanz mit der Todesangst

Der Zorn des wilden Pferdes

Kindliches Glück

Die hohe Schule des höchsten Selbst

Das Streben nach Leichtigkeit

Seelenreiterin

5

DAS SEIN UND DAS LEBEN

Den Sinn des Lebens spüren

Urzustand

Das immerwährende gegenwärtige Sein

Der Hauch des Atems

Ritt zum Seelengrund

Lebensvertrauen

Die mit dem Pferd tanzt

Tanz der Pferde

Frauen, die mit Pferden tanzen

Galoppierenden Herzens

STADT DER PFERDE

Erinnerung in den Knochen

* * *

Nebel lag über der Themse. Dichte Nebelschwaden schwebten über den dunklen Wassern und erzeugten eine mystische Atmosphäre. Die Stadt war still – ungewöhnlich ruhig. Es war Sonntag, London schlief noch. Der Fluss war ruhig und schwarz, und floss lautlos stadtauswärts ins Meer hinaus. Über den schwarzen Wassern ragte der Westminster Palace empor. Ein dichter Nebelschleier verhüllte den Palast, nur hier und da waren die Türme zu sehen. Für einen Augenblick war der große Uhrturm, den die Londoner Big Ben nennen, sichtbar. Das Zifferblatt zeigte sechs Uhr dreißig.

Ich lehnte an der Mauer der Flusspromenade gegenüber des Westminster Palace und blickte gedankenversunken über den nebelverhangenen Fluss. Die Atmosphäre an diesem Novembermorgen war außergewöhnlich. Es war, als stünde man am Fluss des Lebens der unablässig, unaufhaltsam dahin strömte, während darüber Gedankennebel und Gefühlswolken schwebten – und hindurch erhaschte man hier und da einen Blick auf die Geschichte der Menschen, die aus Steinen, Schweiß und Vorstellungskraft dieses prächtige Gebäude erschaffen hatten.

Regungslos stand ich schon eine Weile an der Mauer und ließ diese Aussicht auf mich wirken. Auf einmal war es mir, als ob ich in der Ferne ein leises Klipp-di-klapp-di-klipp-di-klapp vernähme. Etwas regte sich tief in mir. Dieser Rhythmus erweckte etwas. Ich spürte eine Resonanz in meinem Körper. Es war, als ob meine müden Knochen von innen heraus belebt würden.

Ich starrte zur Brücke. Es war mir, als wäre das Geräusch von dort hergekommen. Man konnte die Westminster Bridge erahnen, denn es ragten blassgrüne Straßenlaternen aus den Nebelschwaden, die gelbe Kreise in den dichten Nebel schienen. Ansonsten war nichts zu sehen. Der Nebel war undurchsichtig. Nichts regte sich. Ich seufzte. Ich musste mich wohl verhört haben.

In dem Moment, als ich mich abwenden wollte, erschien ein weißes Pferd aus den sich lichtenden Nebelschwaden. Ich rieb mir die Augen und sah wieder hin. Ein weißer Pferdekopf mit dunklen Augen kam scheinbar aus dem Nichts. Es war keine Sinnestäuschung. Das weiße Pferd war echt. Ich war mir sicher. Nach und nach konnte ich das ganze Pferd erkennen. Gebannt schaute ich zu, wie das Pferd ruhig, gleichmäßig und rhythmisch über die Brücke schritt. Direkt daneben tauchte aus dem Nebel ein schwarzes Pferd auf. Im Gleichtakt schritten die Pferde ruhig und kraftvoll durch die Nebelschwaden über der Themse. Als sich der Nebel noch ein wenig lichtete, erkannte ich auch die Reiter der Pferde, die wie schwarze Schemen durch die Nebelschichten glitten. Es war eine berittene Polizeipatrouille.

Ich verharrte regungslos und beobachtete die Pferde und ihre Reiter, die so plötzlich wie sie aufgetaucht waren, wieder im Nebel versanken. Ich lauschte, als das gleichmäßige Hufgeklapper in der Ferne verschwand. Als es längst verklungen war, hallte das rhythmische Geräusch noch immer in mir nach. Diese innere Resonanz meines Körpers war faszinierend. Lange nachdem die Pferde und die Reiter wieder von dichten Nebelschwaden verhüllt worden waren, stand ich noch immer bewegungslos da. Es war wie eine Erscheinung gewesen, als das weiße Pferd aus den weißen Nebelschleiern aufgetaucht war. Es hatte etwas in mir geweckt. Der Anblick der Pferde hatte mich erfasst, gefesselt, berührt und bewegt. Ich war im Bann der Pferde.

Der Rhythmus des Hufgeklappers hatte eine Erinnerung geweckt. Ich erinnerte mich. Mein Körper erinnerte sich. Etwas bewegte sich in der Tiefe. Etwas Altes war erwacht. Ich stand mitten in London an einer Mauer am Fluss und eine Flut an Erinnerungen überkam mich. Mein Körper erinnerte sich plötzlich wieder an das Gefühl zu reiten. Dieser Rhythmus, die dreidimensionale Bewegung, das Getragenwerden, der Einklang, das Einswerden, das Gefühl mit dem Pferd zusammenzuwachsen und sich wortlos verständigen zu können, das Schnauben, die großen Augen, der Geruch, das Gefühl eine Bindung eingegangen zu sein, die ein Leben lang hält und diese unfassbare Kraft der Pferde – an all das erinnerte sich mein Körper klar und deutlich. Es war fast so, als wäre ich eben erst vom Pferd gestiegen. Dabei war es Jahre her, seit ich das letzte Mal im Sattel gesessen hatte.

Die Kraft der Pferde – es ist die Kraft der Muskeln, des Körpers und zugleich die Kraft des starken, edelmütigen, großzügigen Charakters, die Pferde so besonders macht. Aber Pferde haben nicht bloß außergewöhnliche Kräfte, sie verleihen auch Kraft. Sie weckten Kräfte, von denen ich nicht einmal gewusst hatte, dass ich sie hatte. Ich erinnerte mich an die Kraft, die Pferde mir gaben. Ich spürte, dass ich diese Kraft noch immer besaß. Sogar jetzt noch – Jahre nach dem Tod meines Pferdes – spürte ich, dass die Kraft, die das Pferd erweckt hatte, in mir war. Es war die Kraft des Pferdes, die einem Menschen übermenschliche Kräfte verlieh. Eigentlich hatte ich das immer gewusst, gespürt und geglaubt. Aber in letzter Zeit hatte ich es wohl vergessen. Jetzt erinnerte sich mein Körper wieder an die Kraft des Pferdes, und dann auch mein Geist. Etwas war wiedererwacht.

Auf einmal sehnte ich mich nach Pferden und diesem einzigartigen Gefühl, das Pferde umgab. Wenn man einmal im Bann der Pferde war, dann kam man nie mehr von ihnen los. Viele Menschen waren von Geburt an, seit ihrer frühesten Kindheit ein Leben lang im Bann der Pferde. So wie ich. Man konnte ohne Pferd leben, aber man war ihnen trotzdem verbunden. Plötzlich wurde mir klar, wie schmerzlich ich Pferde in meinem Leben vermisste. Ich ahnte, dass das Leben zu lang war, um es ohne Pferd zu leben.

Was war es, was Pferde mit Menschen machten, dass sie nie wieder von ihnen loskamen?

Es war zu jener Zeit – meiner pferdelosen Zeit in London – als ich mich mit der Frage zu beschäftigen begann, was es denn eigentlich war, was Menschen in den Bann der Pferde zog. Ich fragte mich, warum ich nicht von den Pferden loskam, warum sie mich nicht losließen, warum sie mir immer wieder begegneten, warum sie in meinen Träumen erschienen.

Jahre war es her, seit mein Pferd gestorben war. Seither lebte ich völlig ohne Kontakt zu Pferden. Trotzdem galoppierten sie durch meine Träume. Sie erschienen in meinem Bewusstsein – ohne Vorwarnung, wie das weiße Pferd im Nebel.

Es dämmerte mir, dass ein Leben ohne Pferd nicht für mich bestimmt war.

Pferde im Bewusstsein

* * *

Ich schlenderte gedankenversunken die Flusspromenade entlang. Irgendwo zwischen der Westminster Bridge und der Vauxhall Bridge setzte ich mich auf die Mauer am Fluss. Ich starrte auf das dunkle Wasser. Das Wasser strömte unablässig Richtung Meer. Ebbe hatte eingesetzt. Noch stand das Wasser bis hoch an die Flussmauern. Im dichten Nebel wirkte die Stadt anders als sonst. Das London, das sich shiny, rich und smart als Business und Banking Capital präsentierte, war einem mystischen London gewichen, geschichtsträchtig und doch von natürlichen Prozessen bestimmt – Nebel, Gezeiten, Pferde – mitten in der Großstadt. Wenn man an der Themse stand, konnte man spüren, dass sich hier Kulturgeschichte und Naturgewalten trafen. Ich mochte das Ambiente. Ich fühlte mich bewegt, wie das Wasser der Themse bei einsetzender Ebbe. Eine Weile lang saß ich einfach da.

Als ich wieder auf das dunkle Wasser des Flusses blickte, erspähte ich etwas Weißes in den Fluten. Da musste etwas im Wasser sein, das jetzt langsam zum Vorschein kam. Seltsam, was konnte das sein? Ich starrte auf das weiße Etwas im Fluss, aber egal, wie sehr ich auch versuchte, zu erkennen, was es war, es offenbarte sich mir nicht. Als ich einen Polizisten erspähte, sprach ich ihn auf das weiße Etwas im Fluss an. Er erwiderte: „Keine Sorge. Das ist Kunst. Lassen Sie sich überraschen.“

Als ich einige Zeit später wieder an der Stelle vorüber kam, wo ich vor ein paar Tagen das weiße Etwas erspäht hatte, hielt ich an. In der Zwischenzeit ragten Köpfe – Menschenköpfe und pferdeartige Köpfe – aus dem Wasser des Flusses. Es waren Skulpturen von Pferden und Reitern, die aus den Fluten auftauchten. Ich sah gebannt auf das Wasser. Ich konnte mich nicht losreißen. Ich stand eine ganze Weile so da und sah dem Wasser zu, wie es stadtauswärts Richtung Meer floss und Millimeter für Millimeter den Blick auf die Unterwasserstatuen frei gab.

Mit dem Wandel der Gezeiten leerte sich das Flussbett allmählich, bis die Steinstrände zu beiden Seiten des Flussufers zu sehen waren und die Themse nur noch ein Rinnsal war. Dann erinnerte nichts mehr an einen tiefen Fluss, auf dem Schiffe vom Meer hinauf bis nach London und weiter nach Oxford fahren konnten. Jetzt war Ebbe und am Ufer der South Bank mitten in London standen vier lebensgroße Statuen von Pferden mit Reitern auf ihrem Rücken. Große weiße Pferde standen am Flussufer, im Hintergrund der Westminster Palace, Big Ben, die Westminster Bridge, das London Eye und daneben das MI6. Es war eine beeindruckende Kunstinstallation. Diese weißen Pferde mit ihren Reitern, die aus dem Wasser des Flusses auftauchten, verfehlten ihre Wirkung nicht.

Als ich später bei Flut wieder an der Stelle vorbeikam, sah ich, wie die weißen Pferde mit ihren Reitern allmählich in den Fluten untergingen. Das Wasser stand den Pferden schon bis zum Hals. Das Wasser war aufgewühlt, dunkel, braun, grau, fast schwarz und es verschlang alles, was ihm im Weg stand. Eine Weile lang sah ich zu wie die Statuen der Pferde und Reiter allmählich im schwarzen Wasser untergingen. Ich fühlte mich auf eigenartige Weise berührt. Plötzlich wurde mir bewusst, dass das, was ich gerade mit ansah, eine Analogie zum Verschwinden der Partnerschaft von Mensch und Pferd aus der Stadt war.

Diese Installation, diese Skulpturen symbolisierten für mich das Bewusstsein der Stadt und der Menschheit. Was auch immer der Künstler sich dabei gedacht hatte, für mich symbolisierten die Statuen der Pferde mit den Menschen auf ihrem Rücken, die bei Flut im Wasser des Flusses untergingen, das Verschwinden der Mensch-Pferd-Partnerschaft aus der Gesellschaft. Wenn die Flut kam versenkten die schwarzen Wasser der Themse die Mensch-Pferd-Statuen. Sie verschwanden nach und nach im Wasser, bis sie gänzlich aus dem Stadtbild und aus dem Bewusstsein der städtischen Menschen verschwunden waren.

Aber die Gezeiten sind ein ewiger Kreislauf von Ebbe und Flut, und so, wie die Pferde verschwunden waren, tauchten sie auch wieder auf. Erst sah man nur die Köpfe aus dem Wasser ragen, dann die Körper und schließlich standen wieder große weiße Pferde mit Reitern am Flussbett der Themse mitten in London.

Diese Dimension des Verschwindens der Mensch-Pferd-Beziehung wurde meiner Ansicht nach durch diese Kunstinstallation dargestellt, wenn auch unbewusst. Damit zeigte die Kunstinstallation, dass Pferde noch immer im kollektiven Unbewussten der Menschen verankert waren. Pferde standen im tiefen Wasser des menschlichen Bewusstseins und tauchten immer wieder auf.

Die Pferde in meinem Bewusstsein waren wie die Statuen im Fluss. Mit dem Wandel der Gezeiten tauchten die Pferde im Bewusstsein der Stadt auf und verschwanden dann wieder im dunklen Wasser der Themse.

Als eine Welle schwarzen Wassers über die Köpfe der Pferd-Reiter Statuen schwappte und diese untergehen ließ, durchfuhr mich ein Schrecken. Ich hatte einen Kloß im Hals. Ich starrte auf das schwarze Wasser. Die Pferde und Reiter waren verschwunden, versunken, untergegangen in den Fluten. Ich sah nichts als schwarzes Wasser und hatte plötzlich eine Eingebung, die in meinem Inneren empor stieg. Das, was ich gerade mit ansah, war das Sinnbild meiner Seele. Dort waren früher auch Mensch und Pferd gemeinsam am Strand am Fluss des Lebens gestanden. Dann war der Tod gekommen und hatte mein Pferd mit sich gerissen, so wie die schwarzen Fluten die Pferde untergehen ließen. Seither war nur noch schwarzes Wasser, wo einst ein Strand am Fluss des Lebens war.

Mir wurde mit einem Mal klar, dass mit dem Tod meines Pferdes die Mensch-Pferd-Partnerschaft auch aus meinem Leben verschwunden war. Da stand ich nun – in London, einer Großstadt, fern von zuhause, ganz alleine, ohne Pferd. Ich war zu einer Städterin geworden, zu einem pferdelosen Menschen. Ich wusste, dass Pferde meiner Seele guttaten. Dennoch machte ich einen großen Bogen um sie. Das Schmerzgedächtnis erinnerte sich noch zu gut daran, wie weh es getan hatte, als mein Pferd starb. Wahrscheinlich war das der Grund, weshalb ich Pferde mied. Aber sogar hier – in der Großstadt – waren Pferde. Ausgerechnet in London holten mich die Pferde wieder ein und drangen erneut in mein Bewusstsein.

Ich fragte mich, ob ich mich von dem Schrecken, dem Schock, dem Trauma des Todes meines Pferdes je erholen würde. Ich fragte mich, ob ich mich jemals wieder auf Pferde einlassen konnte? Ob ich vielleicht deshalb so verloren war, weil ich nicht wirklich ich selbst war, wenn ich ein Leben ohne Pferd lebte?

Dunkelgraue Wolken türmten sich am Himmel. Nebelschwaden zogen über das dunkle Wasser. Es begann zu regnen. Erst nieselte es, dann begann es allmählich kräftig zu schütten. Ich stand wie angewurzelt da und starrte gebannt auf das schwarze Wasser. Ich starrte auf die Stelle, der meine Erkenntnis entsprungen war, so als ob ich hoffte, dass ich noch eine Eingebung aus dem schwarzen Wasser holen könnte. Aber das war alles. Es war bitter. An diesem Tag gestand ich mir selbst ein, dass ich Pferde in meinem Leben brauchte, dass ich mein Trauma noch längst nicht überwunden hatte, dass ich mir selbst im Weg stand. Auf einmal hatte ich das eigenartige Gefühl, dass ich eigentlich nicht wirklich wusste, warum ich hier war und was ich hier machte. Vielleicht war ich hier, weil ich vor meinen Albträumen geflüchtet war? In London konnte man sich gut ablenken. Vielleicht war ich hier, weil ich etwas suchte – etwas, von dem ich nicht wirklich wusste, was es war? Jetzt durchstöberte ich die Bibliotheken Londons und suchte, ohne zu wissen, was ich suchte.

Als ich am nächsten Tag an der Themse entlang radelte, tauchten Pferde und Reiter wieder aus dem Wasser des Flusses auf. Die Sonne schien und die Wasseroberfläche glitzerte. Die Gezeiten waren ein ewiger Kreislauf. So wie gestern Verzweiflung über mich gekommen war, stieg heute wieder Hoffnung in mir auf. Ich lächelte wissend, als ich den Fluss entlang radelte. Ich hatte das Gefühl, dass auch in meinem Leben wieder ein Pferd auftauchen würde.

Pakt der Pferde

* * *

In London steht an jeder Ecke eine Pferdestatue, Polizeipferde schreiten durch die Stadt, die Horseguards reiten durch den Park und stehen vor dem Tor des Palasts Wache, überall ist das Symbol des Pferdes oder des Einhorns oder des Pegasus auf Flaggen, Wappen und Schildern zu sehen. Ich begegnete Pferden überall. Eigentlich war es nicht verwunderlich, dass mir die Pferde nicht aus dem Sinn gingen, wenn es so viele Pferde im Bewusstsein der Stadt gab. Wie konnten sie da nicht auch im Bewusstsein der Menschen auftauchen?

Die Geschichte von Mensch und Pferd ist untrennbar miteinander verbunden. Das Pferd war über Jahrtausende hinweg der wichtigste und engste Gefährte des Menschen. Das Pferd hat für die Menschheit alles gegeben. Pferde haben Kutschen gezogen, Felder gepflügt, Vieh gehütet, Wild gejagt, Wasser und Holz getragen. Das Pferd hat die Grundversorgung der Menschen garantiert, Lebensmittel- und Wasserversorgung sicher gestellt, Beschaffung von Heiz- und Baumaterial ermöglicht, es hat Fortbewegung in einer neuen Dimension erlaubt. Das Pferd hat bei allem geholfen, bei der Ernte, beim Bau von Häusern und Straßen, beim Reisen, Transport und Überbringen von Nachrichten, im Krieg. Es hat all die Arbeit gemacht, für die der Mensch nicht die nötige Kraft, Schnelligkeit und Ausdauer hat. Pferde sind mit den Menschen tagtäglich zur Arbeit gegangen, haben Menschen auf die Jagd begleitet, sind mit den Menschen in Kriege gezogen, haben an der Seite der Menschen gekämpft und sind für die Menschen auf dem Schlachtfeld gestorben.

Das Pferd war der wichtigste Gehilfe der Menschen und hat zum Wohlstand der Menschheit mehr beigetragen als irgendetwas oder irgendjemand sonst. Das Pferd hat mehr aus dem Menschen gemacht, als er selbst war. Mit Hilfe des Pferdes haben Menschen mehr als Menschenmögliches geschafft. Mit dem Pferd hat der Mensch die Welt erobert. Mit dem Pferd hat der Mensch die Welt verändert. Mit dem Pferd hat die Menschheit Geschichte geschrieben.

Die Partnerschaft von Mensch und Pferd hat es der Menschheit ermöglicht, sich weit über die eigenen Fähigkeiten hinaus zu entwickeln. Es gab nichts, was einem Menschen mehr Macht verlieh als ein gutes Pferd. Darum wurde das Pferd in vielen Kulturen weltweit verehrt. Die Verehrung des Pferdes begann in frühzeitlichen Steppen. Bis heute finden sich in nahezu jeder Zivilisation Symbole für die Verehrung der Pferde. Früher haben die Menschen Pferde an die Wände von Höhlen gemalt. Dann haben die Menschen Statuen von Pferden gemacht. Die Statuen von Mensch und Pferd in jeder Stadt sind Denkmäler, die die gemeinsame Geschichte von Mensch und Pferd in Stein meißeln und verewigen. Es sind Erinnerungen an die bedeutsamste Inter-Spezies-Partnerschaft der Geschichte der Menschheit. Die Menschheitsgeschichte war in Wirklichkeit eine Geschichte der Co-Evolution von Menschen und Pferden.

Wenn man durch London wanderte, sah man viele Denkmäler, die Zeugnis dieser nach und nach in Vergessenheit geratenen, gemeinsamen Geschichte von Mensch und Pferd waren. Die Pferd-Reiter-Statuen erinnerten daran, dass das Pferd das Fundament der Menschheitsgeschichte war. Ich ging am Westminster Palace entlang und entdeckte die Statue von Richard I, König von England hoch zu Ross. Ich spazierte weiter durch die Stadt. Auf der Westminster Bridge blieb ich stehen und betrachtete die sich aufbäumenden Pferde, die auf einem Brückenpfeiler in den Himmel ragten. Direkt vor dem Westminster Palace steht dieses Denkmal einer keltischen Königin. Feurige Pferde zogen ihren Streitwagen. Die Königin und Heerführerin hatte einen Aufstand gegen die römische Besatzung geführt. Sie stand auf dem Streitwagen, beide Arme erhoben, den Speer in der Hand. Die Pferde bäumten sich auf den Hinterbeinen auf. Die steigenden Pferde vor dem Streitwagen verliehen der Statue der Königin eindrucksvolle Kraft, die ihre eigene bei weitem überstieg. Dieses Bildnis einer Frau auf dem Streitwagen, gezogen von sich aufbäumenden, ungezäumten Pferden war eindrucksvoll.

Auf dem Weg von Whitehall zum Trafalgar Square gab es einige Pferd-Reiter-Statuen. Ich ging jeder davon im Internet nach. Da waren Prinz George, Duke of Cambrige; Feldmarschall Garnet Wolseley; und Feldmarschall Frederick Roberts. Am Trafalgar Square findet sich eine Pferd-Reiter Statue von George III und Charles I, im St. James Park Edward VII hoch zu Ross, am St. James Square war William III auf seinem Pferd. Ich betrachtete jede Pferdestatue, wanderte dann weiter und hatte die Erkenntnis, dass die zahlreichen Pferdestatuen Londons Zeugnisse der gemeinsamen Geschichte der Menschen und der Pferde waren. Die Geschichte der Menschheit war von Pferdehufen getragen und vom Pferderücken aus geschrieben worden.

Lange Zeit war das tagtägliche Leben fest vom Zusammenleben mit Pferden bestimmt. Pferde lebten Seite an Seite mit Menschen. Jeder Feldherr, der siegreich aus einer Schlacht zurückkehrte, wusste, dass er den Sieg und sein eigenes Überleben zu einem guten Teil seinem Pferd zu verdanken hatte, das mit ihm in die Schlacht gezogen war und ihn nicht im Stich gelassen hatte. Jeder Feldherr, jeder König, jeder Kaiser ließ sich ein Denkmal errichten, von sich und seinem Pferd. Die Menschen wussten damals, wie viel sie den Pferden verdankten.

Dann kam eine Zeit, in der Maschinen und technische Entwicklungen nach und nach die Leistungen der Pferde übernahmen. Autos übernehmen den Transport, das Internet die Nachrichtenüberbringung, Traktoren arbeiten in der Landwirtschaft und Panzer fahren in den Krieg. Die Menschheit hatte ein kurzes Gedächtnis. Schnell vergaßen die Menschen, auf wessen Rücken der Fortschritt der Menschheit einst stattfand und von welchen Hufen die Menschheitsgeschichte getragen worden war.

Wie genau es vonstatten gegangen war, dass Menschen begannen Pferde zu reiten, war wissenschaftlich nicht geklärt. Für mich war es jedoch völlig klar, wie es begonnen haben musste. Eine Frau fand ein Fohlen, das bei seiner toten Mutterstute stand. Die Frau empfand Mitleid für das Fohlen und beschloss, es zu adoptieren. Das Fohlen fasste Vertrauen zu der Frau und folgte ihr nach Hause. Die Frau zog das Fohlen auf. Es wurde zum Pferd und treuen Gefährten. Eines Tages passierte es im Spiel, sie kletterte auf den Rücken des Pferdes und ritt mit ihm über das weite Land. Die anderen Menschen bewunderten und beneideten sie. Auf einmal hatte die Frau übermenschliche Kräfte bekommen. Sie konnte über das Land fliegen und wurde von ihrem Pferd getragen. Sie war stärker, schneller und ausdauernder durch die Kraft des Pferdes. Da wollten die anderen Menschen auch Pferde und so begann die Domestikation.

Der Pakt zwischen Mensch und Pferd veränderte den Lauf der Geschichte – Menschen und Pferde schrieben gemeinsam Geschichte, Mensch und Pferd entwickelten sich gemeinsam, miteinander, beschritten einen gemeinsamen Pfad. Obwohl das Pferd mittlerweile als Arbeitstier in den meisten Ländern Europas ausgedient hatte und die Haltung von Pferden aufwendig und kostspielig war, gab es heute noch geschätzte sieben Millionen Pferde in Europa.⁠1 Menschen hielten sich immer noch Pferde. Es gab Menschen, die dem Pakt treu blieben.

Vor dem Tor von Horse Guards standen die Lifeguards der Queen, die Leibwache der Königin. Es waren berittene Soldaten. Sie saßen bewegungslos auf dem Rücken ihrer Pferde. Die Pferde standen still wie Statuen. Die Reiter wirkten wie versteinert, wie lebendige Pferd-Reiter Statuen. Die Pferde waren schwarz und glänzten wie poliert. Das Fell, die Hufe, das Zaumzeug, alles blitzblank. Die Queen – Königin Elisabeth II – war eine Reiterin und ritt im Alter von 90 Jahren noch täglich. Sie kultivierte die Reitertradition und unterhielt eine Leibgarde, die selbstverständlich beritten war, wie sich das seit eh und je gehörte. Beim Wechsel der Wachen konnte man die Leibgarde zu Pferd bei Horse Guards Parade bestaunen. Es ist ein Spektakel, das tagtäglich stattfindet. Im St. James Park beobachtete ich den Wachenwechsel. Es kam mir vor, als lebte ich zu einer Zeit, in der das Pferd noch fester Bestandteil der Kultur war. In London wurde diese Tradition gepflegt. Es war eine lebendige Erinnerung an die gemeinsame Geschichte von Mensch und Pferd, durch die Menschen und Pferde untrennbar miteinander verbunden waren.

Die Königin stand zum Pakt der Pferde. Es war ein Pakt fürs Leben. Das war mir klar. Auch ich gehörte diesem Bündnis an. Auch ich würde zu dem Pakt stehen. Das beschloss ich in eben diesem Moment. Es war an der Zeit für mich, dass ich mich den Pferden wieder öffnete.

Die Pferdestatuen, die ich an jeder Ecke in London sah, waren Boten. Sie überbrachten mir die Botschaft, dass Mensch und Pferd zusammengehörten, dass Pferdemenschen immer Pferdemenschen blieben. Sie verkündeten lautlos den Ruf der Pferde. Sie erinnerten mich daran, wer ich eigentlich wirklich war. Ich war einer jener Menschen, deren Geschichte, Gegenwart und Zukunft untrennbar mit der der Pferde verbunden war. Ich hatte die Botschaft der Pferdestatuen entschlüsselt. Sie zwangen mich zur Besinnung. Ich musste mich dem stellen, was sich immer wieder in mein Bewusstsein drängte. Ich wusste, dass ich dem Ruf Folge leisten musste, wenn ich zu mir selbst finden wollte. Der Ruf der Pferde erreichte mich selbst hier in London.

Ich war eine Pferdefrau. Es war meine Bestimmung und sie war in Bronze gegossen, wie die Statuen von Londons Pferden.

Denkkrank

* * *

„Was ist dein Beitrag zum Wissen?“ Die Frage des Professors hing wie Damokles‘ Schwert über meinem Kopf. Nur ein Rosshaar hinderte das Schwert am Fall. Mein Leben hing an einem Rosshaar. Ich musste endlich eine Antwort finden. Die Zeit drängte. Das Geld war aus. Das letzte zulässige Einreichdatum rückte täglich näher. Ich musste meine Dissertation so bald wie möglich einreichen. Aber mittlerweile hatte ich so viel gelesen und so lange nachgedacht, dass ich überhaupt nicht mehr wusste, was ich wusste – geschweige denn, welchen Beitrag ich leisten wollte oder konnte. Ich wusste eigentlich nicht einmal mehr, was ich hier überhaupt machte. Warum war ich hier hergekommen?

Ich hatte das Gefühl, dass ich vor lauter lesen, lernen, studieren, forschen, denken, analysieren mich selbst verloren hatte und keine Ahnung mehr hatte, wer ich eigentlich war. Hatte ich mich verirrt? War ich hier gestrandet am Strand Campus des King’s College London? So in etwa fühlte ich mich – wie eine Wissenschafterin, die jahrelang über weites offenes Meer gesegelt war, getrieben von Wissensdurst und Selbstfindungsdrang. Aber die Suche nach neuen Ufern war ergebnislos verlaufen. Das Boot war im Sturm zerschellt und ich war an eine Holzlatte geklammert am Strand angeschwemmt worden. Ich war eine Schiffbrüchige. Mein Boot war im Meer des Wissens untergegangen.

„Was ist dein Beitrag zum Wissen?“ Der Professor hatte gesagt, es gehe darum, einen Beitrag zum Wissensschatz zu leisten, darauf aufzubauen, was andere Wissenschafter geschrieben hatten. Ich müsse meinen eigenen Beitrag leisten. Es sollte etwas Neues sein, etwas, was noch keiner vorher gemacht hatte. Aber wie sollte ich einen Beitrag zum Wissensschatz leisten, wenn ich nicht einmal wusste, was ich wusste oder glaubte? Wie konnte ich wissen, ob es neu war? Es war unmöglich, alles zu lesen, was schon geschrieben worden war. Und überhaupt, kann man Wissen erzeugen, wenn man nicht weiß, wer man ist? Ist Wissen entkoppelt vom Sein? Gibt es reines Wissen, das nur dem Verstand und der Logik entspringt – oder bestimmt das Sein, was wir denken, glauben, fühlen? Bestimmt unser Wissen, wer wir sind oder definiert das Sein alles, was wir sind? Fragen über Fragen – die Gedanken drehten sich endlos im Kreis.

Seit Wochen litt ich an einer Schreibblockade und brachte kein Wort zu Papier. Ich war unter Druck, in finanzieller Bedrängnis, in Zeitnot, aber ich litt auch unter selbstgemachter Belastung aus Perfektionismus und dem Wunsch, etwas Gutes zu schreiben. Versagensangst und Selbstzweifel lasteten schwer auf mir. Die Zeit für das Doktoratsprogramm war begrenzt. Wem es nicht gelang, die Doktorarbeit fristgerecht fertig zu stellen, der flog einfach so von der Universität – ohne Abschluss, ohne Titel im Sack, aber mit den gesamten Schulden des Studienkredits im Gepäck. Dann wäre alles vergeudete Zeit und verschwendetes Geld gewesen und würde nur eine große Lücke im Lebenslauf und ein tiefes Loch im Bankkonto hinterlassen. Je mehr ich daran dachte, desto mehr wuchs meine Angst zu versagen und umso größer wurde die Anspannung, die mich nachts nicht schlafen ließ. Ich war gelähmt vor Angst. Ich wusste nicht, wie ich meinen Schreibfluss wieder in Gang bringen konnte. Ich fühlte mich verloren. Ich war an dem Punkt, an dem ich mir selbst eingestand, dass ich auf meiner Irrfahrt gestrandet war. Da war ich nun – alleine, gestrandet in London, ohne Geld, ohne Plan, schlaflos, am Ende meiner Kräfte.

Auf der Suche nach Antworten und einem bestimmten Buch ging ich die Stufen bis zum obersten Stock des Gebäudes hinauf. Die Maughan Library ist ein schlossähnliches, großes, weitläufiges, verwinkeltes, altes Gebäude mit mehreren Türmen, vielen Treppen, zahlreichen Räumen und unzähligen Bücherregalen. Die vielen Räume waren voll mit Bücherregalen, die bis zur Decke reichten. Die Bücherregale waren mit Büchern prallvoll gefüllt. Das ganze Gebäude war vom Keller bis in die Turmspitzen voller Bücher. Die vielen, miteinander verbundenen Räume, die mit Bücherregalen verstellt waren, machten die Suche nach einem Buch zu einer Wanderung durch ein Labyrinth. Hier und da war einmal ein Schreibtisch. Manchmal ging man von Raum zu Raum und begegnete keiner Menschenseele. Dann wieder saß plötzlich irgendwo im entlegensten Winkel des Bücherlabyrinths ein Student vor seinen Büchern. Viele Räume hatten Galerien und Treppen, damit man zu den Büchern in den oberen Etagen gelangen konnte.

Mich faszinierte dieses Gebäude. So viel Wissen in einem einzigen Haus! Gleichzeitig symbolisierte es für mich das Labyrinth des Wissens wie nichts anderes. Hier konnte man sich auf der Suche nach seiner eigenen theoretischen Verortung hoffnungslos verirren.

Ich ging von einem Raum in den nächsten, wieder um die Ecke in einen weiteren Raum, dann eine kleine Treppe hinauf auf die Galerie. Immer weiter drang ich auf der Suche nach dem Buch in den entlegensten Winkel des Gebäudes vor. Ich folgte den angeschriebenen Nummern und tastete mich Raum für Raum, Regal für Regal, Reihe für Reihe und schließlich Rücken für Rücken an das gesuchte Buch heran. Die Zahlen auf den Buchrücken verrieten, dass ich immer näher kam. Ich ließ meine Finger über die Buchrücken gleiten und schließlich fand ich es. ‚Handbuch der Ontologie‘ stand auf dem Buchrücken. Ich nahm es heraus, und auch noch ein paar andere Bücher die daneben standen und interessant klangen, dann schleppte ich meine Beute zum nächstgelegenen Tisch. Dort setzte ich mich hin und begann zu lesen.

Als ich ein paar Stunden gelesen hatte und es draußen schon dunkel war, schaute ich auf. Da kam mir in den Sinn, dass man sich sogar Geschichten von PhD-Studenten erzählte, die sich so tief in der Maughan Library verlaufen – oder verlesen – hatten, dass sie den Weg heraus nie mehr fanden. Man sagte, dass es hier spukte. Ich hatte im Pub Ye Old Bank of England gehört, wie ein Lektor vom Philosophiedepartment den neuen PhD-Studenten solche Geschichten erzählt hatte. Es war wohl eine Warnung gewesen. Gewiss waren es die ruhelosen Seelen von PhD-Studenten, die sich in der Bibliothek verirrt hatten, die hier umher spukten. Sie hatten sich in Netzen von Theorie-Spinnereien verfangen. Schließlich hatten sie vor lauter Denken den Verstand verloren.

So fühlte es sich nun für mich an. Bei dem Versuch, mir Unmengen von Wissen anzueignen, unbewältigbare Stapel von Büchern zu lesen, Literatur zu recherchieren, zu erfassen und aus dem Gelernten reines Wissen zu erzeugen, das nur vom Verstand produziert wird, ausschließlich auf Argumenten und logischem Denken beruht, hatte ich irgendwie mich selbst verloren. Ich hatte mein Wohlbefinden verloren, Kopfschmerzen plagten mich, ich konnte meine Gedanken nicht mehr abstellen, ich war immer angespannt, ich konnte nicht mehr schlafen, obwohl ich so erschöpft war. Ich wusste, ich musste aus dieser Spirale aussteigen, sonst würde es ernsthafte gesundheitliche Folgen für mich haben.

Nur wie? Wie konnte ich mir selbst helfen? Wie konnte ich mich heilen? Wie konnte ich mein Wohlbefinden wieder erlangen? Wie konnte ich es schaffen, dass ich endlich wieder schlafen konnte?

Ich versuchte, mich zu erinnern, wie ich durch das Diplomarbeitschreiben gekommen war. Was hatte ich damals getan, wenn ich nicht mehr konnte, Kopfschmerzen hatte, Angstzustände oder Schlafstörungen?

Ich erinnerte mich, was mir früher immer geholfen hatte: ein Besuch beim Pferd.

Geflügelten Herzens

* * *

„Sammy,“ flüsterte ich. Das war der Name des Pferdes, der Stute, die mich von der Kindheit durch meine Jugendjahre bis ins junge Erwachsenenalter begleitet hatte. Sie hatte mir in allen Höhen und Tiefen des Lebens beigestanden, auch während der Zeit des Diplomarbeitschreibens. Wenn ich mich noch so verloren gefühlt hatte, am Ende meiner Kräfte völlig ausgebrannt gewesen war, wenn ich nicht weiter wusste oder konnte, wenn ich das Gefühl gehabt hatte, ich schaffte es nicht, dann war ich zum Pferd gefahren. Das Pferd hatte mich eine Runde durch den Wald getragen. Der Lebensmut und die Kraft des Pferdes taten mir gut. Ich wusste nicht wie und warum das geschah, aber es war für mich körperlich, geistig und seelisch heilsam, mit meinem Pferd lange Ausritte durch die Wälder und über weite Felder zu unternehmen. Sobald ich mit meinem Pferd umher streifte, hatte ich das Gefühl, dass mein Herz schwebte und in Glückseligkeit schwelgte. Wenn ich zurück war, merkte ich, dass ich wieder bei mir war. Ich war wieder bei Sinnen, bei Kräften, wenn ich vom Pferd abstieg, stand ich fest mit beiden Füßen auf dem Boden. Ich wusste nicht, wie das Pferd es schaffte, aber immer wenn ich mich verloren fühlte, brachte das Pferd mich wieder dahin zurück, wo ich sein sollte: zu mir selbst.

Das hatte ich damals gewusst. Aber wie das Pferd es machte, war mir rätselhaft. Früher hatte ich das auch nie hinterfragt. Das Pferd war immer da gewesen, seit ich ein Kind war. Wenn mir danach war, ging ich zum Pferd. Danach fühlte ich mich immer besser. Erst jetzt, als ich kein Pferd mehr hatte, begann ich mich mit dem Rätsel dahinter zu befassen.

Was war das Geheimnis der Pferde? Wie machten Pferde das, dass es mir besser ging, wenn ich bei ihnen gewesen war? Hatten Pferde wirklich Heilkräfte?

Als ich am nächsten Morgen aufwachte, sagte ich zu mir selbst: „Wake with a winged heart and give thanks for another day of loving.“ Es war ein guter Rat des Poeten Kahlil Gibran. Geflügelten Herzens zu erwachen war für mich das Lebensgefühl, das mir mein Pferd vermittelt hatte. Ich hatte meinem Pferd daher den Kosenamen „Winged Heart“ verliehen, weil sie mich lehrte, geflügelten Herzens zu leben. Ich nahm mir vor, wieder zu versuchen nach dem Motto des Pferdes mit geflügeltem Herzen zu leben. Ich nahm mir außerdem vor, das Geheimnis zu lüften, und mich auf die Spur des Heilrezepts der Pferde zu machen.

Ich stand auf und begann den Tag mit dem Sonnengruß. Ich versuchte, das Gefühl zu aktivieren, das ich früher so oft gehabt hatte: Das Gefühl, dass mein Herz vor Freude mit den Flügeln schlug und abheben wollte. Lebensfreude und Liebe erweckten dieses Gefühl im Herzen. Ich hatte es verloren. War es mit meinem Pferd gestorben? Konnte ich es auferwecken?

Früher hatte ich dieses freudige Gefühl der Dankbarkeit für den Moment und der Liebe zum Leben oft gespürt. Das Gefühl hatte mich begleitet, wie mein Pferd mich durch das Leben begleitet hatte. Sammy, das Pferd mit dem geflügelten Herzen, hatte mir dieses Gefühl verliehen. Aber konnte ich auch lernen, ohne Pferd mit diesem Gefühl durchs Leben zu gehen? Konnte ich lernen, mich so zu fühlen – in London, für mich allein, weit weg von Familie, alten Freunden, Heimat, ohne Pferd? Ich musste hinter das Geheimrezept kommen.

„Wie lasse ich das Gefühl des geflügelten Herzen entstehen,“ fragte ich mich.

Als ich auf dem Weg zum College eine Flagge mit dem Wappen des Vereinigten Königreichs im Wind wehen sah, kam mir in den Sinn, dass es Legenden gab, über die Heilkraft des Einhorns. Es war überliefert, dass das Herz des Einhorns gegen viele Krankheiten heilsam war. Sagen erzählten, dass blutrünstige Menschen daher darauf aus gewesen waren, dem Einhorn das Herz aus dem Leib zu reißen. Es gab alte Darstellungen von der Einhornjagd. Aber eigentlich war auch altbekannt, dass Mythen nicht wörtlich zu verstehen waren, sondern stets als Gleichnis, das man im übertragenen Sinne deuten musste. Für mich war klar, dass das Einhorn für die Magie der Pferde stand – es war ein Pferd mit magischen Kräften. Die Heilkraft des Herzens des magischen Pferdes erhielt man meiner Ansicht nach nicht dadurch, dass man das Pferd tötete und ihm sein Herz herausriss und es auffraß, sondern indem man versuchte, mit dem lebendigen Pferd in Einklang zu sein und sein Herz für sich zu gewinnen. Wenn man das Herz eines Pferdes für sich gewann – mit Geduld, Aufrichtigkeit und Ehrlichkeit – dann entstand ein Gefühl von Liebe und Verbundenheit im Herzen, das heilsame Wirkung entfaltete. Die Legende von den Heilkräften des Herzens des Einhorns war eine Allegorie für die Heilkraft des Herzens, der Liebe und des Mitfühlens. Es ging natürlich nicht um brutales Schlachten, Zerstückeln und Fressen. Ich wunderte mich über die Einfalt der Menschen. Für mich war es offensichtlich, was zu tun war. Es gab alte Darstellungen von einer jungen Frau und einem Einhorn, die in friedlicher Eintracht an einem Bach in einem Wald saßen. Der Mensch kam aber nicht auf die Idee, dass es dabei um eine Frau mit einem reinen Herzen gehen könnte, die das Vertrauen des Pferdes gewinnt, und so die heilsamen Kräfte des Herzens entdeckt. Nein, die Menschen wollten das Tier jagen, töten, ihm sein Herz herausschneiden, es fressen. Oder, wenn die Menschen auf die Idee kamen, es könnte doch allegorisch zu verstehen sein, dann hatte es etwas mit einer Jungfrau und Sexualität zu tun. Ich konnte nur den Kopf schütteln. Wieso verstanden manche Menschen nicht, worum es wirklich ging? Wieso war es für mich klar, dass es um die Ehrlichkeit des Herzens ging?

Vielleicht, weil ich es selbst erfahren hatte, dass es wahr war, was das englische Volk sagte: „Only the pure-hearted can ride the flying horse.“ Nur wer reinen Herzens ist, kann das fliegende Pferd reiten. Sammy war ein unzähmbares Pferd gewesen. Ich hatte die Lebens- und Leidensgeschichte des Pferdes erst später erfahren, als ich eine Frau kennenlernte, die das Pferd von früher kannte. Sie hatte erzählt, dass sie ein starkes, wildes Pferd gewesen sei, dass sie gebuckelt hatte und kein Mensch sich getraut hatte, sie zu reiten, dass ihr Sandsäcke auf den Rücken gebunden wurden und sie über Monate hinweg so lange longiert worden war, bis sie schließlich am Boden lag. Sie hatten mit allen Mitteln versucht, das Pferd zu brechen und reitbar zu machen. Irgendwann war es dann gelungen, das Pferd zu reiten. Aber es war nicht mehr das feurige Pferd, das es einst gewesen war. Es war ein Pferd, das keinerlei Lebensfreude zeigte, den Kopf hängen ließ und schließlich als untaugliches Sportpferd eingestuft wurde und als temperamentloses Freizeitpferd verkauft wurde.

Ich war noch ein Kind gewesen, als meine Mutter das Pferd gekauft hatte. Durch die ehrliche und aufrichtige Liebe einer Familie und eines Kindes hatte sich das gebrochene, depressive Pferd mit der Zeit wieder verwandelt – in ein temperamentvolles Pferd, das vor Lebenskraft nur so strotzte. Die Moral von der Geschichte war, dass man ein Pferd nicht mit Gewalt zu einem feurigen, freudigen Reitpferd machen konnte. Wer Gewalt am Pferd anwandte, brach es. Pferde, deren Herzen nicht ehrlich gewonnen worden waren, waren ausdruckslos, widerwillig oder willenlos und hatten leere Augen. Alles, was die Menschen an einem Pferd so faszinierte, verlor ein Pferd, dem Gewalt angetan wurde.

Ein geflügeltes Pferd konnte man nur haben, wenn man sein geflügeltes Herz gut behandelte und es für sich gewann. An die Heilkraft des Herzens des Einhorns konnte man auch nicht mit Gewalt kommen. Die junge Frau auf dem Bildnis machte vor, was zu tun war: Man setze sich auf die Wiese und warte, bis das Einhorn kommt. Man kann es nicht jagen, man muss warten, bis es selbst kommen will. Man kann die Heilkraft nicht aus ihm herausschneiden, man muss sich einlassen und warten, bis sie sich offenbart.

Heilsame Gegenwart der Pferde

* * *

Eine schmale Straße führte der Küste entlang hinauf auf Hügelkuppen, von wo aus man einen großartigen Ausblick hatte. Auf der einen Seite sah man über die Küste hinaus aufs Meer. Auf der anderen Seite breiteten sich grüne Hügel und weites offenes Land aus. Auf den Hügeln und an den steilen Hängen entlang der Küste waren überall braune Punkte zu sehen – die Exmoor Ponys.

Als ich schließlich auf einer Hügelkuppe anhielt, aus dem Auto stieg und in die Weite sah – über die grünen Hänge, an denen Pferde grasten, hinaus auf das weite Meer, bis zum Horizont, und darüber in den weiten Himmel – da merkte ich, dass es meinen Augen und meiner Seele guttat, in die Weite zu sehen und auch im Kopf löste sich etwas. Ich stand eine Weile lang einfach nur da, sah in die Weite und atmete tief die frische Luft ein. Ich spürte, wie sich meine Augen öffneten. Weitsicht spürte ich in den Augen, im Kopf und im Herzen. Die frische Luft tat der Lunge gut.

Meine Schwester war nach England zu Besuch gekommen und hatte mich in den Exmoor National Park entführt. Zum Glück! Ich konnte etwas frische Luft und Erholung gut gebrauchen. Zum Wandern war ich aber zu erschöpft. Darum schickte ich meine Schwester auf Expedition, während ich vorhatte nur ein paar Schritte zu gehen und mich zu erholen. Ich sah ihr nach, als sie loswanderte. Nach einer Weile beschloss ich, mich den Pferden zu nähern, die am Hang über der Meeresküste grasten.

Ich spazierte gemächlich in deren Richtung und achtete dabei darauf, mich nicht zielstrebig geradeaus auf die Herde zuzubewegen. Ich wollte die Pferde nicht in Unruhe versetzen. Ich schlenderte über die Wiese, sah mir die Gräser an, die da wuchsen, pflückte Blumen und sammelte Kräuter. So näherte ich mich langsam der Herde. In einiger Entfernung blieb ich stehen und setzte mich ins Gras. Ich beobachtete die Pferde beiläufig und war bemüht sie nicht anzustarren. Die Stuten hoben nur einmal kurz den Kopf, als ich näher kam, und grasten dann weiter. Die Fohlen spielten miteinander. Ein Hengst stand auf einer Anhöhe und wachte.

Ich saß einfach im Gras und ließ die Seele baumeln. Ich fühlte mich ausgelaugt und kraftlos vom Stress der letzten Zeit. Es war ein herrliches Gefühl, einfach nur sein zu können, ohne etwas zu müssen, ohne etwas zu wollen. Ich saß da und sah den Pferden beim Grasen zu. Die ruhige Präsenz der Pferde tat mir gut. Das gleichmäßige, rhythmische Rupfen grasender Pferde versetzte mich nach und nach in einen Zustand tiefer Entspannung.

Ich hörte das laute Schnauben der Pferde und seufzte tief. Ich atmete tief ein und aus und vertrieb mit jedem Atemzug Ängste, Stress und Sorgen aus meinem Inneren. Ich begann, wie die Pferde laut zu schnauben. Ich atmete tief ein und prustete die Luft aus meiner Lunge heraus. Es tat gut. Mit jedem Schnauben ließ ich los. Mit jedem Schnauben wich Anspannung aus mir. Es war als ob ich aus meinen Tiefen alles Belastende, das sich dort drinnen angesammelt hatte, hinaus schnaubte. Ich schnaubte mich frei. Es war wie eine innere Reinigung. Nachdem ich eine Weile lang geschnaubt hatte, fühlte ich mich erleichtert und befreit. Ich nahm mir vor diese Technik, die ich den Pferden abgeschaut hatte, von nun an öfter zu praktizieren und diese anzuwenden, wenn ich mich angespannt fühlte. Dann ließ ich mich rücklings ins Gras fallen. Ich schaute in den hellblauen Himmel, an dem Schäfchenwolken in riesigen Herden vorüber zogen. Ich schloss die Augen.

Als ich die Augen wieder aufmachte, dämmerte es und dicke, graue Wolken zogen über den Himmel. Ich blinzelte, setzte mich auf und sah mich um. Die Pferde standen jetzt nah beisammen. Einige Fohlen lagen im Gras und schliefen. Die Stuten dösten im Stehen. Ich stand langsam auf, streckte und räkelte mich. Ich verspürte ein Wohlgefühl, das meinen ganzen Körper erfüllte.

In diesem Moment hatte ich eine Erkenntnis: Die Gegenwart der Pferde ist heilsam. Wenn ich im Zustand des Gewahrseins bin – wie gerade eben in der Gegenwart der Pferde – dann hören die Gedanken auf zu rotieren, beruhigen sich und sind nur noch Schäfchenwolken am weiten Himmel. Angst löst sich auf, wenn ich in mich hinein spüre und wenn ich die Erde unter mir spüre. Spüren und Gewahrsein, Ganzheit und Einheit sind heilsam. In der Gegenwart der Pferde kann ich heil werden.

Meine Kopfschmerzen waren weg, die Angespanntheit war weg. Ich spürte, dass ich wieder bei mir war, im inneren Gleichgewicht, gänzlich in der Gegenwart, in einem gesunden Zustand. Wenn ich in der Gegenwart der Pferde geweilt hatte, fühlte ich mich danach ausgeglichen, zufrieden und gesund. Es brachte mich wieder ins Gleichgewicht. Wie durch ein Wunder verschwanden die Kopfschmerzen und mein nervöser Magen beruhigte sich. Bei Pferden zu sein war wie ein Reset-Knopf für mein Nervensystem. Danach war es wieder auf Normalbetrieb.