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Eduard von Keyserling

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Beschreibung

Der reiche Beinahe-Autor Magnus von Brühlen will zur schriftstellerischen Fingerübung ein Tagebuch mit seinen "Liebeserfahrungen" verfassen. Nur leider scheitert er allzu oft an verpassten Gelegenheiten. Eine lakonisch-nüchterne Novelle mit ironischen Spitzen, die schon ins Sarkastische reichen – mithin ein eher ungewohnter Keyserling. Null Papier Verlag

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Eduard von Keyserling

Seine Liebeserfahrung

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Seine Liebeserfahrung

Veröffentlicht im Null Papier Verlag, 2019 EV: S. Fischer, Berlin, 1909 (92 S.) 1. Auflage, ISBN 978-3-962814-42-7

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Seine Liebeserfahrung

3. Au­gust 1900

Jetzt muss­te ich das Buch schrei­ben, ich fühl­te es deut­lich. Die Ge­dan­ken be­gan­nen schwer in mir zu wer­den, zu drücken, wie rei­fe Früch­te auf die Zwei­ge drücken. Mit 32 Jah­ren ist eine Ent­wick­lung nicht ab­ge­schlos­sen. Der Strich, den ich jetzt un­ter mei­ne Wel­t­an­schau­ung set­zen muss, muss noch nicht de­fi­ni­tiv sein. Al­lein et­was ist fer­tig in mir und will hin­aus­ge­stellt sein, will als ein an­de­res ne­ben mir ste­hen. Ich muss es auf die Arme neh­men, wie die Mut­ter das Kind, das sie ge­bo­ren hat.

Gut! Ich woll­te mein Buch schrei­ben und rich­te­te mein Le­ben da­nach ein. In sol­chen Zei­ten müs­sen wir un­ser Le­ben so ord­nen, wie es Frau­en tun, die gu­ter Hoff­nung sind und wis­sen, dass sie nun nicht mehr nur für sich al­lein le­ben. Der Hoch­som­mer ist eine güns­ti­ge Jah­res­zeit. Die Stra­ße vor mei­nen Fens­tern ist still und voll grell­gel­ben Son­nen­scheins. Hun­de lie­gen auf den hei­ßen Stei­nen, stre­cken alle Vie­re von sich und schla­fen. Kin­der sit­zen auf den Schwel­len der Hau­stü­ren, die Hän­de um die nack­ten Bei­ne ge­schlun­gen und sind in der Hit­ze auch still und schläf­rig ge­wor­den. Die we­ni­gen Passan­ten drücken sich die schma­len Schat­ten­strei­fen an den Dach­vor­sprün­gen ent­lang. Die­ser un­er­träg­lich flim­mern­den Welt mit ih­rem hei­ßen, un­rei­nen Atem seh’ ich es so­fort an, dass ich in ihr nichts zu ver­säu­men habe.

Ich zie­he die gel­ben Vor­hän­ge vor mein Fens­ter, das gibt eine an­ge­neh­me gol­di­ge Däm­me­rung. Hie und da sticht durch eine Spal­te ein schar­fer, blan­ker Son­nen­strahl in die Däm­me­rung, und in die­sem Son­nen­strahl krei­sen ei­ni­ge Flie­gen brum­mend und un­er­müd­lich um­ein­an­der.

Ich höre das gern. Die­se end­lo­se übel­lau­ni­ge klei­ne Ge­schich­te, die sie sich er­zäh­len, be­ru­higt mich. Im Klub hat­te ich ge­sagt, dass ich ver­rei­se. Jo­sef hat­te den Be­fehl, kei­nen Be­such vor­zu­las­sen. Die meis­ten wa­ren ja oh­ne­hin fort aus der Stadt, wer soll­te kom­men! Mit Frau Mei­ri­ke hat­te ich ein Ge­spräch über den Kü­chen­zet­tel. In die­ser Zeit muss­te sie die schwe­ren, feu­ri­gen Sup­pen ver­mei­den, die sie so gut zu ma­chen ver­steht und die ich so gern esse. Mehr Bouil­lon, viel Ge­flü­gel, Spar­gel, zu­wei­len einen Fisch. Ei­nen leb­haf­ten Mo­sel habe ich mir für die­se Zeit an­ge­schafft. Der Schnei­der brach­te den An­zug aus blau­em Som­mer­fla­nell, ganz lose ge­macht. Mit Blu­men in den Zim­mern war ich vor­sich­tig, in mei­nem Ar­beits­zim­mer durf­ten kei­ne ste­hen. Aber im Ne­ben­zim­mer stand eine Scha­le vol­ler Zen­ti­fo­li­en, die­se ge­sun­den ro­ten Ku­geln, die einen fri­schen, star­ken Ro­sen­duft ha­ben, nicht die per­ver­se Mi­schung mit Tee oder Va­nil­le oder Ze­der­holz­düf­ten. Die bes­te Ar­beits­zeit ist der Vor­mit­tag. Nach­mit­tags zur Zi­gar­re muss­te ich et­was le­sen (statt der großen schwe­ren Hen­ry Clay rauch­te ich jetzt eine klei­ne blon­de Bock) und dazu hat­te ich den Li­vi­us ge­wählt. Der wür­de mich nicht stö­ren und er­zählt mit so schön be­ru­hi­gen­der Stim­me. Und al­les, was ge­schieht, er­scheint so or­dent­lich für sei­nen Zweck zu­ge­schnit­ten, wie die Holz­stück­chen ei­nes Ge­duld­spie­les, die ja doch alle in­ein­an­der pas­sen, um das Bild, die Grö­ße des Rö­mi­schen Rei­ches zu ge­ben. Das ver­leiht ein an­ge­nehm ge­ord­ne­tes Ge­fühl, da­bei kann man den Kopf nach hin­ten sin­ken las­sen und die Au­gen schlie­ßen … die Ge­dan­ken ver­ge­hen … Die­se De­ci­us mit der Fa­mi­li­e­nei­gen­tüm­lich­keit – sich zu op­fern – wie die Gicht in an­de­ren Fa­mi­li­en – sehr – ari­sto­kra­tisch. – Das ist sehr er­fri­schend. Wenn ich er­wa­che, dann kann ich wie­der bis zum Abend ar­bei­ten.

Wenn es un­ten auf der Stra­ße leb­haft wird, die Kin­der zu lär­men be­gin­nen, ein Ge­schwirr ganz ho­her schril­ler Stim­men wie von ei­ner Schar be­trun­ke­ner Vö­gel, und wenn bun­te Abend­lich­ter aus dem Ne­ben­zim­mer in mein Schreib­zim­mer kom­men, wenn der wei­ße Gips­kopf der Ma­ri­et­ta Stroz­zi er­rö­tet – dann ma­che ich mei­nen Spa­zier­gang – der Ge­sund­heit we­gen. Die Luft in den Stra­ßen ist eine be­drücken­de, stau­bi­ge Zim­mer­luft. Die Vor­stadt ist un­er­träg­lich mit ih­ren grau und rot ge­streif­ten Über­bet­ten, die sich in den ge­öff­ne­ten Fens­tern lüf­ten, mit ih­ren hei­ßen, damp­fen­den Men­schen. Drau­ßen set­ze ich mich in einen der klei­nen Bier­gär­ten. Das Buch spricht in mir wei­ter, und über mei­nem Schop­pen hin­weg sehe ich die Men­schen und die bun­ten Pla­ka­te an den Bäu­men und die Rad­fah­rer wie fer­ne frem­de Bild­chen, die mich nichts an­ge­hen. Wenn die La­ter­nen an­ge­steckt wer­den, bleich und gla­sig in der Däm­me­rung, gehe ich heim, und die gan­ze Nacht liegt vor mir für die Ar­beit. Ich kann das Fens­ter an mei­nem Schreib­tisch öff­nen. Un­ten auf der Stra­ße wird es im­mer stil­ler – ein »gute Nacht« höre ich zu­wei­len und das Zu­schla­gen der Haus­tür. Die Lich­ter in den Fens­tern er­lö­schen. Dort über die nied­ri­gen Dä­cher ragt ein hö­he­res Haus. Dort im vier­ten Stock ent­klei­det sich ein Mäd­chen bei of­fe­nem Fens­ter. Das Vier­eck des Fens­ter­rah­mens ist voll des gel­ben Lam­pen­lichts, und ich sehe eine wei­ße Ge­stalt, die vor ei­nem Spie­gel steht und ihr lan­ges, sehr schwar­zes Haar em­por­hebt, um es auf dem Schei­tel auf­zu­bin­den. Dann er­lischt auch die­ses Licht, und ich bin mit mei­nem Buch al­lein.

Ich habe mir für das Ma­nu­skript ein sehr ed­les Pa­pier an­ge­schafft, leicht gelb­lich ge­tönt, glanz­los, die he­ral­di­sche Li­lie als Was­ser­zei­chen. Auf dem Um­schlag habe ich mit veil­chen­far­be­ner Tin­te den Ti­tel ge­schrie­ben: »Die gol­de­ne Ket­te« – dar­un­ter den Vers der Ili­as, über den Pla­to so ge­heim­nis­voll spricht:

»Auf, wohl­an, ihr Göt­ter, ver­sucht, dass ihr all’ es er­kennt! Eine gol­de­ne Ket­te be­fes­ti­gend oben am Him­mel Hängt dann all’ ihr Göt­ter euch an und ihr Göt­tin­nen alle, Den­noch zö­get ihr nie vom Him­mel her­ab auf den Bo­den!«

So muss es ge­hen.

4. Au­gust

Klei­ne, ver­nach­läs­sig­te Ver­pflich­tun­gen kön­nen sehr stö­rend wer­den. Wir wol­len sie ver­nach­läs­si­gen, wir wol­len sie ver­ges­sen, aber sie ha­ken sich in uns fest, mel­den sich mit klei­nen flüch­ti­gen Sti­chen. Sie sind läs­tig wie die Som­mer­flie­gen, die wir im­mer ver­trei­ben und die sich im­mer wie­der uns ins Ge­sicht set­zen. Das ist nicht Pf­licht­ge­fühl – nur eine Un­voll­kom­men­heit in un­se­rem Vor­stel­lungs­me­cha­nis­mus.

Solch eine läs­ti­ge klei­ne Ver­pflich­tung ist mir heu­te zu­ge­fal­len.

Ich ging nach dem Es­sen aus, um mir eine gol­de­ne Fe­der zu kau­fen. Die Stra­ße war wie ein über­heiz­ter, stau­bi­ger Kor­ri­dor. Kaum ein Mensch, dem ich be­geg­ne­te, nur Hun­de, alte Schuh­soh­len, Pa­pier­fet­zen sonn­ten sich auf den hei­ßen Pflas­ter­stei­nen. Wie ich um die Ecke bie­ge, fährt ein Wa­gen an mir vor­über, ein hüb­scher, klei­ner Korb­wa­gen mit zwei fal­ben Po­nys be­spannt. Ein auf­fal­len­der kirsch­ro­ter Kut­scher sitzt auf dem Bo­cke und im Wa­gen ein Herr, der sei­nen Pa­na­ma schwenkt und »Ach – Herr von Brüh­len« ruft. Der Wa­gen hält, und ich muss her­an­tre­ten. Es ist der Baron Daah­len-Lie­se­witz, der alte Welt­rei­sen­de. Gera­de dem hät­te ich nicht be­geg­nen wol­len. Er war mit mei­nem Va­ter be­freun­det, und ich bin ihm einen Be­such schul­dig. Ich war ihm frü­her ein­mal be­geg­net und hat­te ihm ge­sagt, dass ich ver­rei­se – und nun –: »Wie­der hier«, sag­te der Baron – Ja, ich war wie­der hier, das ließ sich nicht leug­nen – »In Ar­beit« – mur­mel­te ich. »So? – Flei­ßig also!« mein­te der Baron. »Schön, schön. Aber die Aben­de sind frei – was? Jetzt muss man die Aben­de ge­nie­ßen. Mir – ja mir macht die Hit­ze nichts. Wenn man so’n tro­pi­schen Fie­ber­ba­zil­lus im Blut hat – der friert leicht und wird dann un­ru­hig. Wir se­hen Sie doch bei uns – be­stimmt? Ganz ohne For­men. Es ist hübsch da drau­ßen. Ich kün­di­ge Sie mei­ner Frau an. Wenn Sie mich im Stich las­sen, gib­t’s eine Ent­täu­schung – also?« – Ein star­ker Hus­ten­an­fall un­ter­brach ihn. Er­käl­tet hat er sich auch auf sei­nen Welt­rei­sen. Er drück­te mir die Hand und fuhr ab. Fa­tal!

Er schaut gut aus, der alte Bur­sche. Das Ge­sicht quit­ten­gelb. Sol­che Rei­sen­de sind im­mer le­ber­lei­dend. Das dich­te Haar und der Voll­bart sind schon grau, aber ein selt­sam far­bi­ges Grau, wie das Fell jun­ger Mäu­se. Dazu die fie­ber­blan­ken Au­gen. Er wohnt da drau­ßen vor der Stadt in sei­nem schö­nen Land­hau­se und lässt sich von sei­ner jun­gen Frau pfle­gen, der alte Ego­ist. Er mag sich den Ma­gen tüch­tig an den Genüs­sen der fünf Welt­tei­le ver­dor­ben ha­ben. Die Frau soll so et­was wie eine Schön­heit sein, sag­te Fred Spall, der ein Ver­wand­ter von ihr ist. Also ich gehe mor­gen hin, da­mit auch das ab­ge­tan ist – aber mei­ne Aben­de dort ver­brin­gen, o nein! Die kann ich bes­ser an­wen­den, als bei dem al­ten Daah­len mit sei­ner kran­ken Welt­le­ber zu sit­zen.

5. Au­gust

Ich habe das Ma­nu­skript mit der gol­de­nen Ket­te fort­ge­legt. Sei­ne Stun­de war doch noch nicht ganz ge­kom­men, das weiß ich jetzt. Et­was will noch er­lebt sein. – Es soll er­lebt wer­den, ganz – rück­sichts­los – bis zur Nei­ge. – Also

Der Gang durch die Vor­stadt war wie­der qual­voll. Wie rein­lich ist der Win­ter, der die Men­schen in ihre Häu­ser treibt. Und was nicht al­les jetzt auf die Stra­ße her­aus­kriecht und her­aus­schaut und sich breit­macht. Der Mensch ist ein Höh­len­tier und soll in sei­ner Höh­le blei­ben – nur abends auf Raub ins Freie hin­aus. In der lan­gen Kas­ta­ni­en­al­lee war es bes­ser. Viel gel­be, von der Hit­ze ge­trock­ne­te Blät­ter lie­gen schon auf dem Wege und ra­scheln und duf­ten herbst­lich. Auf den Bän­ken sit­zen Kin­der­mäd­chen, große er­hitz­te Ge­stal­ten, selt­sam von grau­grü­nen Schat­ten und grel­len Son­nen­lich­tern ge­fleckt. Von der Al­lee muss ich dann wie­der in den Son­nen­schein ab­bie­gen. Links und rechts Ha­fer­fel­der vol­ler Mä­her. In all dem Rot und Gold ste­hen Mä­her knie­tief in wei­ßen Lein­wand­ho­sen. Die Feld­gril­len lär­men wie toll, als woll­ten sie das Den­geln und Schwir­ren der Sen­sen über­tö­nen.

Mit­ten in dem schwe­ren Nach­mit­tags­licht – sehe ich vor mir das Daah­len­sche Haus, ein großer, fast ge­walt­sam dunk­ler Wür­fel mit kaf­fee­brau­ner Fassa­de. Über dem Por­tal auf den schrä­gen Gie­bel­sei­ten re­keln sich plum­pe Stein­frau­en, die ihre rie­si­gen, kaf­fee­brau­nen Brüs­te son­nen. Hin­ter dem Hau­se er­he­ben sich kühl und dun­kel die al­ten star­ken Bäu­me.