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Was das Verhältnis Mark Aurels zur Philosophie betrifft, so fällt es grundsätzlich schwer, zwischen kaiserlicher Selbstinszenierung und authentischer Neigung zu unterscheiden. Die stoischen Philosophen unter seinen Lehrern mögen entscheidend zu einer Wendung beigetragen haben, die er bereits als Zwölfjähriger genommen haben soll, als er sich in den Mantel der Philosophen kleidete und fortan auf unbequemer Bretterunterlage nächtigte, nur durch ein von der Mutter noch mit Mühe verordnetes Tierfell gepolstert. Hier hat offenbar eine Lebenshaltung ihren Anfang genommen, die in den auf Griechisch verfassten Selbstbetrachtungen der späten Jahre festgehalten wurde. Dabei dürften die Grundlagen der dort formulierten Überzeugungen bereits frühzeitig gegolten haben, denn sie fußten auf einer bald 500-jährigen und gleichwohl lebendigen Tradition stoischen Philosophierens.
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Seitenzahl: 205
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Selbstbetrachtungen
Marc Aurel
Inhalt:
Marc Aurel – Biografie und Bibliografie
Selbstbetrachtungen
Einleitung
Erstes Buch
Zweites Buch
Drittes Buch
Viertes Buch
Fünftes Buch
Sechstes Buch
Siebentes Buch
Achtes Buch
Neuntes Buch
Zehntes Buch
Elftes Buch
Zwölftes Buch
Selbstbetrachtungen, Marc Aurel
Jazzybee Verlag Jürgen Beck
Loschberg 9
86450 Altenmünster
ISBN: 9783849631192
www.jazzybee-verlag.de
Eigentlich Marcus Aurelius Antoninus., geb. 26. April 121 n. Chr., gest. 17. März 180, ein Verwandter Hadrians und des Antoninus Pius, aus einer vornehmen Familie Spaniens, wurde in Rom erzogen und gewann früh die Gunst Hadrians und des Antoninus Pius. Er hieß eigentlich Annius Verus, wurde aber auf Anordnung Hadrians von Antoninus Pius adoptiert und nannte sich nun Marcus Aurelius Verus A. Von Antoninus Pius wurde er nach seinem Regierungsantritt (138) zum Cäsar ernannt und nahm nun unter und neben seinem Adoptivvater, der ihm seine Tochter Faustina zur Gemahlin gab, an den Regierungsgeschäften tätig Anteil. Mehr noch beschäftigten ihn seine Studien; denn nachdem er in der Jugend unter dem berühmten Cornelius Fronto rhetorische Studien getrieben hatte, wendete er sich allmählich der stoischen Philosophie zu und blieb ihr auch treu, als er zur Regierung (161–180) gelangte. Den Lucius Verus, den Antoninus Pius ebenfalls adoptiert hatte, ernannte A., obwohl ihm sein ausschweifendes Leben mißfiel, aus Pietät zum Mitregenten. Indes war seine Regierung nicht so glücklich, wie es seine Gerechtigkeit, seine Milde und sein unermüdlicher Pflichteifer verdienten. Zwar in den ersten Jahren wurden nicht nur die Einfälle der feindlichen Nachbarn in Britannien und am Rhein abgewehrt, sondern es wurde auch gegen den Partherkönig Vologeses III. ein glücklicher Krieg (162–166) von den Feldherren des L. Verus geführt. Allein das aus dem Osten zurückkehrende Heer brachte von dort eine furchtbare Pest mit, die während der ganzen weitern Regierungszeit Mark Aurels das römische Reich verheerte. Auch durften die Einfälle der Quaden, Markomannen, Jazygen und andrer germanischen und sarmatischen Völker am Rhein und an der Donau, das Vorspiel der Völkerwanderung, nicht länger unbeachtet bleiben. Nach umfassenden Vorbereitungen übernahm A. selbst die Oberleitung dieses »Markomannenkrieges«, zuerst (von 167 an) mit Verus, nach dessen Tod (169) allein bis 175, wo ein Friede zu stande kam, der die Donaugrenze zu sichern schien. Der Aufstand des Avidius Cassius (175) in Asien war durch dessen Ermordung erstickt, ehe der Kaiser selbst herannahte. An der Donau aber rief seine Abwesenheit sofort wieder Unruhen hervor, die ihn von neuem (178) zum Kriege zwangen, den er zwar nicht unglücklich, aber doch ohne völlige Entscheidung bis zum Tode fortführte. Aus der innern Geschichte seiner Regierung werden uns nur Handlungen der Milde und Menschlichkeit berichtet. Er erweiterte die Stiftung Trajans für arme Kinder und gab ihr eine feste Einrichtung, ordnete das Vormundschaftswesen, milderte die durch Pest und Hungersnot entstandene Not durch reiche Spenden und den Erlaß rückständiger Abgaben. Auch dem Senat erwies er viel Ehre und sicherte sich dadurch ein dankbares Gedächtnis. Wie in seiner Regierung, so drückt sich seine reine, edle Sinnesweise auch in den zwölf Büchern seiner (griechisch geschriebenen) »Selbstbetrachtungen« aus, zuerst herausgegeben von Guil. Xylander (Zür. 1558), später von Casaubonus (Lond. 1643) und Gataker (Cambr. 1652), zuletzt von Stich (Leipz. 1882). Übersetzungen in fast allen europäischen Sprachen; neuere deutsche von Schneider (4. Aufl., Bresl. 1891) und Cleß (Stuttg. 1866). Seine äußere Erscheinung stellt uns namentlich die berühmte, jetzt auf dem Kapitol stehende Reiterstatue (s. Tafel »Bildhauerkunst V«, Fig. 2) dar. Eine bildliche Darstellung der Markomannenkriege besitzen wir in den Reliefs der Antoninsäule in Rom (s. Antoninianische Säulen).Vgl. Desvergers, Essai für Marc-Aurèle (Par. 1860); Renan, Marc-Aurèle et la fin du monde antique (das. 1882); Watson, Life of M. A. A. (New York 1884). – Über das Itinerarium Antoninum s. Itineraria.
Der Philosoph auf dem Kaiserthron gehört zu den bedeutendsten Männern des ausklingenden Altertums. Marcus Annius Verus wurde den 25. April des Jahres 121 n. Chr. Geb. zu Rom geboren wo seine Familie, seit der Urgroßvater aus Spanien eingewandert war, sich zu hohem Rang emporgearbeitet hatte. Sorgfältige Erziehung, gepaart mit großer Lernbegierde, erschlossen ihm die Wissenschaft seines Jahrhunderts, die in der Philosophie den höchsten, in unserem Sinn sogar den einzigen Ausdruck fand. Schon im zwölften Jahr nahm der kräftig aufblühende Jüngling den weißen Mantel und bekundete dadurch, daß er auch äußerlich zur Kaste der Philosophen gehören wolle.
Streng und ernst gab sich die Weltweisheit des zweiten Jahrhunderts. Entbehrungen, oft bis zum Übermaß gesteigert, wie sie später zur typischen Eigenschaft christlicher Asketen wurden, verlangten die Anhänger der Stoa und sahen in der Abkehr von allen Interessen, Zerstreuungen wie Freuden der Welt die einzig richtige Stellungnahme eines Weisen den vergänglichen Dingen gegenüber.
Zurückgezogen von seinen Altersgenossen, vielleicht ein wenig ostentativ in den weißen Mantel gehüllt, mit den Stoikern Rusticus, Apollonius, Claudius Maximus in anregend erzieherischem Gespräch, wandelte der Jüngling durch die stillen abgelegenen Gärten einer Villa, bis zu deren Mauern der Lärm der römischen Weltstadt brandete. Auf Bitten seiner Mutter, die mit Bangen bemerkte, daß ihr Sohn unter der Last selbstauferlegter Entbehrungen blasser und schmächtiger wurde, stellte er seinen Lebenswandel auf gesündere Basis und gesellte den geistigen Exerzitien nützliche, körperliche Übungen. Die Herrschaft des gesunden Menschenverstandes, die in den Taten und Schriften des späteren Kaisers so glücklich zum Ausdruck kommt, beginnt schon in den Jünglingsjahren, sobald der einseitige Einfluß allzu strenger stoischer Lebensanschauung gemäßigt erscheint. Den Anhängern der Stoa treten als Lehrer zur Seite Claudius Severus, der Peripatetiker und der Platoniker Sextus aus Chaeronea, ein Enkel Plutarchs. Epiktets nachgelassene, von Arrhianos gesammelte Schriften prägen sich der eindrucksfähigen jungen Seele ein und wirken bestimmend auf die ethische Entwicklung des still für sich Heranwachsenden.
Kaiser Hadrian fand Gefallen an dem ernsten, außerordentlich wahrhaften Philosophenschüler und veranlaßte im Jahr 136 dessen Verlobung mit der Tochter seines Mitregenten Verus. Als Folge dieser Verlobung ist dann die Adoptierung seitens Antoninus (eines Sohnes des Verus) zu betrachten, der selbst von Hadrian an Kindes Statt angenommen und zum Thronfolger ernannt war. Unter dem Namen Marcus Aelius Aurelius Verus trat der junge Denker aus der Verborgenheit auf den Schauplatz der großen Welt.
Sein Biograph berichtet, daß er nur ungern sein beschauliches Leben verlassen und einen Palast in der Stadt auf Hadrians Befehl bezogen habe. Doch im Treiben des Hofes, im bewegten politischen Frage- und Antwortspiel, auf dem Forum vor Gericht, bei den Mühen kriegerischer Unternehmungen wuchs und reifte erst die philosophische Saat des herben jugendlichen Frühlings zu reicher Ernte. Als Kaiser Hadrian am 10. Juli 138 zu Bajä starb, bestieg Antonin den Thron und berief sofort Marc Aurel an seine Seite, ihn in alle Geheimnisse der Regierungskunst einzuweihen. Die frühere Verlobung wurde aufgehoben und die Vermählung mit Faustina, der Kaisertochter, gefeiert. Nun war im römischen Reich jene Zeit angebrochen, die Platos Ideal vom Staate nach einer Richtung hin zu erfüllen schien. Zwei Philosophen herrschten gemeinsam, von edelster, einzig dastehender Freundschaft getragen und förderten während dreiundzwanzig friedlicher Jahre Wohlstand und Kultur in bemerkenswerter Weise. Gut bedachte soziale Maßregeln glichen manche Härten aus, es wurde für vornehm gehalten, gebildet, ja gelehrt zu sein und edle Duldsamkeit herrschte in den Fragen des Glaubens, soweit sie nur den Glauben, nicht aber die politische Betätigung betrafen.
Der gekrönte Apostel der Menschenliebe — wie Stuart Mill den Kaiser Marc Aurel genannt hat — hoffte nach dem Tod Antonins (im März 161) die friedliche, sonnige Zeit der Philosophenherrschaft weiter zu führen und sein Ideal eines Herrschers in sozialer Fürsorge zu verwirklichen. Aber das Schicksal, das ihm einen herrlichen Lebenssommer gewährt, gab ihm einen desto stürmischeren Herbst. Hungersnot und Pest suchten Rom und die römischen Provinzen heim, schwere Kriege mit den Parthern und Markomanen brachen aus, Aufstände wie derjenige in Ägypten vom Jahr 170 bildeten drohende Gefahren für das Reich. Dies alles lenkte von wohltätiger Friedensarbeit ab und zwang die Arbeit des Philosophenkaisers auf andere, ihm innerlich fremde Bahnen. Dazu kamen harte Mißstimmungen in der eigenen Familie. Faustinas üppiges, man sagt sogar ausschweifendes Leben stand in grellem Gegensatz zu Marc Aurels anspruchsloser Einfachheit und die ungerechten, oft auf willkürlicher Anmaßung beruhenden Handlungen seines Sohnes Kommodus führten zu schlimmen Befürchtungen in bezug auf die Zukunft des Reiches.
Stunden der Sorge und der stillen Einkehr im Feldlager oder im kaiserlichen Palast waren es, in denen der alternde Herrscher seine Gedanken niederschrieb zum eigenen Trost. Milde Gesinnung, strenge Gewissenhaftigkeit und Pflichttreue sind das Zeichen seiner Sinnesweise und haben die “Selbstbetrachtungen” zu einem Denkmal edler Menschlichkeit gemacht, das nie veraltet, weil es ein Bekenntnis ohne Pose, ohne zeitlich beschränkten Zweck und ohne Darstellung vergänglicher äußerer Tatsachen ist.
Die Handschriften, der Mode entsprechend in griechischer Sprache abgefaßt, trugen den Titel “
Ihr Ursprung läßt sich nicht verkennen. Als Tagebuch einer gesunden Seele, die stark und fest die Krankheiten des Körpers und die Schläge des Schicksals von sich abweist, geben sie Kraft und Frieden. Kurz und scharf, klar gefaßt und manchmal aufleuchtend wie ein Edelstein zeigen sie Ruhe des Herzens und Begeisterungsfähigkeit, Vernunft und aufrichtige Liebe für alles Tüchtige. “Sie offenbaren” — wie Hippolyte Taine sich ausdrückt — “die Seele eines großen Dichters, der sich bezwingt, die Augen vom Herrlichen gebannt und im Flüsterton voll Bewunderung sich selber sagt: ´Mensch, als Bürger dieser großen Stadt hast du gelebt; fünf oder drei Jahre, was ficht´s dich an!´”
Die Auffassung des Kaisers über den Wert des Lebens steht der des freigelassenen Sklaven Epiktet sehr nahe. Beiden liegen am innigsten jene Lehren der Stoa am Herzen, die sich mit sittlichen und religiösen Fragen beschäftigen. Nicht darauf kommt es dem Kaiser an, daß man möglichst viel Wissen anhäufe, sondern daß man mit dem Gott in der eigenen Brust sich verständige und ihm in Lauterkeit diene. Die Philosophie soll in stetem Wechsel der Ereignisse, im Wandel von Glück und Unglück, vergänglichen Sorgen und vergänglichen Freuden einen festen Halt bieten und ein Panzer sein gegen die Eitelkeiten der Welt. Ihre Aufgabe ist also die Bildung des Charakters und die Beruhigung des Gemüts. Sie erfüllt diese beiden Bedingungen, wenn ihre Anhänger die drei wichtigsten Punkte des stoischen Systems nie außer Augen lassen: die Lehre vom steten Wechsel, dem Dahinfließen aller Dinge, dann das Bewußtsein der Hinfälligkeit des Daseins und schließlich die Erkenntnis, daß Werden und Vergehen einen Kreislauf bilden, in dem ein Einzelnes nicht Bestand haben kann.
An solche Grundsätze knüpft Marc Aurel die Betrachtung, wie wenig eine Persönlichkeit, ganz einerlei ob sie bedeutend oder unbedeutend sei, im großen Strom des Daseins gelte. Deshalb ist es verkehrt, Vergängliches zu sehr zu lieben, sein Herz an Sterblichkeit zu hängen und Ruhm als heiliges Gut zu begehren.
Diesem Verneinen und Ablehnen steht als positiver Kern der Lehre die Pflichttreue gegenüber, trotz der Eitelkeit und Vergänglichkeit allen Strebens der Sterblichen. Seiner Lebensstellung und seinem kräftigeren Charakter entsprechend hält Marc Aurel nachdrücklicher an den Pflichten des Einzelnen der menschlichen Gesellschaft gegenüber fest, als es die Stoiker im allgemeinen und der phrygische Sklave Epiktet im besonderen getan. Aus diesem Grund lehnte er das Christentum vollständig ab, wenn er auch wie die Christen Duldung und allgemeine Menschenliebe verlangte. Er spricht fast immer von Göttern, manchmal von “dem Gott” und selten von “Zeus”, der ihm als Gesamtausdruck der Gottheit vorschwebt. Äußerlich hielt er streng an dem bestehenden öffentlichen Kultus fest, in dem er als Oberhaupt des römischen Staates eine politische Notwendigkeit sah, innerlich war er gottgläubig im Sinne der Philosophen, nahm “die Volksgötter” für Symbole und sagte sich, daß es nicht verlohne noch menschenwürdig sei, in einer Welt ohne Gottheit zu leben. Aus diesem seinem Glauben und aus einer festbegründeten politischen Überzeugung sah er im Gebaren der Christen Auflehnung gegen die Staatsgewalt, also eine Schädigung des Gemeinwohls und ging mit heftigen Verfolgungen gegen die Aufwiegler vor. Grundlosen Trotz nannte der milde Kaiser das Benehmen der Märtyrer.
Im sittlichen Leben des Menschen ruht der Schwerpunkt seiner Weltanschauung. Ihm, dem vielbeschäftigten, vom Tage vollauf in Anspruch genommenen Herrscher, liegt es fern zu forschen, dialektisch zu arbeiten oder überhaupt ein System aufzustellen. Seine Weisheit ist Lebenskunst. Er baut sie auf dem Wissen und den Erkenntnissen seiner Zeit, wie ein Emerson, ein Lubbok, ein Maeterlinck ihre Weltanschauung auf die Wissenschaft ihres Jahrhunderts stellten, ohne in der Theorie einen Fortschritt zu bedeuten. Vernünftige Arbeit ist ihm das Ziel, das ein vernunftbegabtes Wesen verfolgen muß und das allein Glück wie zeitliche Güter zu bieten vermag. Aber nur wer sich zu erheben vermag über jedes persönliche Interesse an Dingen und Menschen, wer mit jedem Wunsch und jeder Begierde fertig ist, mit der Gegenwart zufrieden und mit dem Tode vertraut erscheint, zeigt sich mit der Natur im Einklang und erfüllt die stille Pflicht, sich und sein Leben als belanglosen Teil des Ganzen zu betrachten.
Was in den Selbstbetrachtungen mit feierlicher Größe niedergelegt war, hat lange unbeachtet und vergessen in stillen Büchersammlungen überwintert, wie das Samenkorn im tiefgepflügten Feld. Unter den Wirren der Völkerwanderung und während der Jahrhunderte der Scholastik dachte niemand des Kaisers, der als Gefolgsmann der Stoa mit dieser Lehre christlicher Verachtung anheimgefallen war. Erst als die geistige Bewegung der Renaissance mit dem Humanismus einsetzte, begann außer Plato auch die Stoa beachtet zu werden, wenn sich auch die Wertschätzung zunächst auf Seneca beschränkte. Doch es war noch ein weiter Weg zurückzulegen, bis Spinoza in seinem Ideal des Weisen eine Gestalt schuf, die sich wohl mit Marc Aurel vergleichen läßt. In der Ethik sagt Spinoza “Der Weise ... wird in der Seele kaum beunruhigt sondern seiner selbst, Gottes und der Außenwelt mit einer gewissen Notwendigkeit bewußt. Er hört niemals auf zu sein und ist immer in tiefster Seele wahrhaft befriedigt.” Auch Leibniz benutzte die Gedankenreihen der Stoiker in der Theodizee, deren Aussprüche manchmal stark an die Selbstbetrachtungen anklingen. Daß Kant und nach ihm Fichte den Pflichtgedanken ähnlich wie ihn der kaiserliche Philosoph gefühlt, zu synthetischer Entwicklung brachten, ist bekannt, Verwandtes klingt in Schleiermacher, in Schopenhauer und in den modernen Denkern an, die abseits von dem Wirken der Fachphilosophen sich bemühen, der Gegenwart eine praktische Ethik zu geben.
In deutscher Sprache ist Marc Aurels Büchlein öfters an die Öffentlichkeit gekommen. Die vorliegende Neuherausgabe schließt sich an Schneiders vielgerühmte Übersetzung, die zum erstenmal im Jahr 1864 erschien und mehrfach aufgelegt wurde, die fehlenden Stellen (über 100 Nummern hat Schneider ausgelassen) sind zum Teil nach der Ausgabe von Cleß (aus dem Jahr 1866) ergänzt, zum Teil nach dem griechischen Text unter Vergleichung der Cleßschen Übersetzung neu hergestellt.
Der Gegenwart bietet das schlichte Selbstbekenntnis eines großen Mannes aus dem Altertum viel ernste Anregung und stärkt den Wunsch, in wohlbegründeter Weltanschauung Halt und Richtung zu finden.
Alexander v. Gleichen-Rußwurm
1.
Von meinem Großvater [Verus] weiß ich, was edle Sitten sind und was es heißt: frei sein von Zorn.
2.
Der Ruf und das Andenken, in welchem mein Vater steht, predigen mir Bescheidenheit und männliches Wesen.
3.
Der Mutter Werk ist es, wenn ich gottesfürchtig und mitteilsam bin; wenn ich nicht nur schlechte Taten, sondern auch schlechte Gedanken fliehe; auch daß ich einfach lebe und nicht prunke wie reiche Leute.
4.
Mein Urgroßvater litt nicht, daß ich die öffentliche Schule besuchte, sorgte aber dafür, daß ich zu Hause von tüchtigen Lehrern unterrichtet wurde, und überzeugte mich, daß man zu solchem Zweck nicht sparen dürfe.
5
Mein Erzieher gab nicht zu, daß ich mich an den Wettfahrten beteiligte, weder in Grün noch in Blau, auch nicht, daß ich Ring- und Fechterkünste trieb. Er lehrte mich Mühen ertragen, wenig bedürfen, selbst Hand anlegen, mich wenig kümmern um anderer Leute Angelegenheiten und einen Widerwillen haben gegen jede Ohrenbläserei.
6.
Diognet bewahrte mich vor allen unnützen Beschäftigungen; vor dem Glauben an das, was Wundertäter und Gaukler von Zauberformeln, vom Geisterbannen usw. lehrten; davor, daß ich Wachteln hielt, und vor andern solchen Liebhabereien. Er lehrte mich ein freies Wort vertragen; gewöhnte mich an philosophische Studien, schickte mich zuerst zu Bacchius, dann zu Tandasis und Marcian, ließ mich schon als Knabe Dialoge verfassen und gab mir Geschmack an dem einfachen, mit einem Fell bedeckten Feldbett, wie es bei den Lehrern der griechischen Schule im Gebrauch ist.
7
Dem Rusticus verdanke ich, daß es mir einfiel, in sittlicher Hinsicht für mich zu sorgen und an meiner Veredlung zu arbeiten; daß ich frei blieb von dem Ehrgeiz der Sophisten; daß ich nicht Abhandlungen schrieb über abstrakte Dinge, noch Reden hielt zum Zweck der Erbauung, noch prunkend mich als einen streng und wohlgesinnten jungen Mann darstellte, und daß ich von rhetorischen, poetischen und stilistischen Studien abstand; daß ich zu Hause nicht im Staatskleid einherging oder sonst etwas derartiges tat, und daß die Briefe, die ich schrieb, einfach waren, so einfach und schmucklos, wie er selbst einen an meine Mutter von Sinuessa aus schrieb. Ihm habe ich´s auch zu danken, wenn ich mit denen, die mich gekränkt oder sonst sich gegen mich vergangen haben, leicht zu versöhnen bin, sobald sie nur selbst schnell bereit sind, entgegenzukommen. Auch lehrte er mich, was ich las, genau zu lesen und mich nicht mit einer oberflächlichen Kenntnis zu begnügen, auch nicht gleich beizustimmen dem, was oberflächliche Beurteiler sagen. Endlich war er´s auch, der mich mit den Schriften Epiktets bekannt machte, die er mir aus freien Stücken mitteilte.
8
Apollonius zeigte mir, daß Geistesfreiheit eine Festigkeit sei, die dem Spiel des Zufalls nichts einräumt; daß man auf nichts ohne Ausnahme so achten müsse, wie auf die Gebote der Vernunft. Auch was Gleichmut sei bei heftigen Schmerzen, bei Verlust eines Kindes, in langen Krankheiten, habe ich von ihm lernen können. — Er zeigte mir handgreiflich an einem lebendigen Beispiel, daß man der ungestümste und gelassenste Mensch zugleich sein kann, und daß man beim Studium philosophischer Werke die gute Laune nicht zu verlieren brauche. Er ließ mich einen Menschen sehen, der es offenbar für die geringste seiner guten Eigenschaften hielt, daß er Übung und Gewandtheit besaß, die Grundgesetze der Wissenschaft zu lehren; und bewies mir, wie man von Freunden sogenannte Gunstbezeugungen aufnehmen müsse, ohne dadurch in Abhängigkeit von ihnen zu geraten, aber auch ohne gefühllos darüber hinzugehen.
9
An Sextus konnt´ ich lernen, was Herzensgüte sei. Sein Haus bot das Muster eines väterlichen Regimentes und er gab mir den Begriff eines Lebens, das der Natur entspricht. Er besaß eine ungekünstelte Würde und war stets bemüht, die Wünsche seiner Freunde zu erraten. Duldsam gegen Unwissende hatte er doch keinen Blick für die, die an bloßen Vorurteilen kleben. Sonst wußte er sich mit allen gut zu stellen, so daß er denselben Menschen, die ihm wegen seines gütigen und milden Wesens nicht schmeicheln konnten, zu gleicher Zeit die größte Ehrfurcht einflößte. Seine Anleitung, die zum Leben notwendigen Grundsätze aufzufinden und näher zu gestalten, war eine durchaus verständliche. Niemals zeigte er eine Spur von Zorn oder einer andern Leidenschaft, sondern er war der leidenschaftsloseste und der hingebendste Mensch zugleich Er suchte Lob, aber ein geräuschloses; er war hochgelehrt, aber ohne Prahlerei.
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Von Alexander, dem Grammatiker lernte ich, wie man sich jeglicher Scheltworte enthalten und es ohne Vorwurf hinnehmen kann, was einem auf fehlerhafte, rohe oder plumpe Art vorgebracht wird; ebenso aber auch, wie man sich geschickt nur über das, was zu sagen not tut, auszulassen habe, sei´s in Form einer Antwort oder der Bestätigung oder der gemeinschaftlichen Überlegung über die Sache selbst, nicht über den Ausdruck, oder durch eine treffende anderweite Bemerkung.
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Durch Phronto gewann ich die Überzeugung, daß der Despotismus Mißgunst, Unredlichkeit und Heuchelei in hohem Maße zu erzeugen pflege, und daß der Edelgeborene im allgemeinen ziemlich unedel sei.
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Alexander, der Platoniker brachte mir bei, daß ich mich nur selten und nie ohne Not zu jemand mündlich oder schriftlich äußern dürfe: ich hätte keine Zeit; und daß ich nicht so, unter dem Vorwande dringender Geschäfte, mich beständig weigern solle, die Pflichten zu erfüllen, die uns die Beziehungen zu denen, mit denen wir leben, auferlegen.
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Catulus riet mir, daß ich´s nicht unberücksichtigt lassen sollte, wenn sich ein Freund bei mir über etwas beklage, selbst wenn er keinen Grund dazu hätte, sondern daß ich versuchen müsse, die Sache ins reine zu bringen. Wie man von seinen Lehrern stark eingenommen sein kann, sah ich an ihm; ebenso aber auch, wie lieb man seine Kinder haben müsse.
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An meinem Bruder Severus hatte ich häuslichen Sinn, Wahrheits- und Gerechtigkeitsliebe zu bewundern Er machte mich mit Thraseas, Helvidius, Cato, Dio und Brutus bekannt und führte mich zu dem Begriff eines Staates, in welchem alle Bürger gleich sind vor dem Gesetz, und einer Regierung, die nichts so hoch hält als die bürgerliche Freiheit. Außerdem blieb er, um anderes zu übergehen, in der Achtung vor der Philosophie sich immer gleich; war wohltätig, ja in hohem Grade freigebig; hoffte immer das Beste und zweifelte nie an der Liebe seiner Freunde. Hatte er etwas gegen jemand, so hielt er damit nicht zurück, und seine Freunde hatten niemals nötig, ihn erst auszuforschen, was er wollte oder nicht wollte, weil es offen am Tage lag.
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Von Maximus konnte ich lernen, mich selbst beherrschen, nicht hin-und herschwanken, guten Mutes sein in mißlichen Verhältnissen oder in Krankheiten auch wie man in seinem Benehmen Weisheit mit Würde verbinden muß, und an ein Werk, das rasch auszuführen ist, doch nicht unbesonnen gehen darf. Von ihm waren alle überzeugt, daß er gerade so dachte, wie er sprach, und was er tat, in guter Absicht tat. Etwas zu bewundern oder sich verblüffen zu lassen, zu eilen oder zu zögern, ratlos zu sein und niedergeschlagen oder ausgelassen in Freude oder Zorn oder argwöhnisch — das alles war seine Sache nicht. Aber wohltätig zu sein und versöhnlich, hielt er für seine Pflicht. Er haßte jede Unwahrheit und machte so mehr den Eindruck eines geraden als eines feinen Mannes. Niemals hat sich einer von ihm verachtet geglaubt; aber ebensowenig wagte es jemand, sich für besser zu halten als er war. Auch wußte er auf anmutige Weise zu scherzen.
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