Selbstmordattentäter - Be Zoban Djojan - E-Book

Selbstmordattentäter E-Book

Be Zoban Djojan

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Beschreibung

Acht Kurzgeschichte INHALTSVERZEICHNIS 1. Oma und ihre Weinrebe 2. Kopfjagd 3. Selbsterkenntnis 4. Zwei für Eins 5. Selbstopferung 6. Selbstmordattentäter 7. Stein der Versöhnung 8. Überraschung

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Dank gilt Melusine Herrig für ihre großzügige und freundschaftliche Unterstützung

VORWORT

Du möchtest dem Rummel des Alltags entfliehen, dich verlieren, dich in das Wesen eines anderen inkarnieren.

In eine selbsterwünschte Isolation eintauchen, dich in deiner Fantasiewelt verhaften.

Das Leben, die Liebe vergessen und doch mit dem Leben, mit der Liebe lachen, Tränen vergießen, träumen - als lächeltest du für dich selbst, als vergössest du Tränen für dich, als träumtest du in dir.

Diese Anthologie bietet nicht nur eine Flucht vor dem Gewöhnlichen, sondern auch tiefe Einblicke über Kriege und Liebe.

Tauche ein, lache, weine und träume mit den Protagonisten, als würdest du ihre Geschichten selbst erleben.

GESCHICHTEN, DIE DU GERNE LIEST.

SELBSTMORDATTENTÄTER

E. Roshan

INHALTSVERZEICHNIS

1. Oma und ihre Weinrebe

2. Kopfjagd

3. Selbsterkenntnis

4. Zwei für Eins

5. Selbstopferung

6. Selbstmordattentäter (Mora und Quara)

7. Stein der Versöhnung

8. Überraschung

Mutter, ich habe dich immer geliebt!

OMA UND IHRE WEINREBE

Meine Oma ist das Wunderbarste, das ich je in Erinnerung habe. Ich weiß nicht einmal, wie sie mit ihrem Vornamen hieß. Wir durften auch nie danach fragen. Für uns hieß sie einfach Omachen, immer wenn wir von ihr Geschenke bekamen oder von ihr Süßigkeiten erbaten. Und sie war Oma, wenn wir sie vor Fremden riefen oder von ihr sprachen. Nun weiß ich, dass sie die beste Oma der Welt war.

Wie alt sie war, wusste sie wahrscheinlich selbst auch nicht. Vielleicht fünfundsechzig, vielleicht siebzig, schwer zu schätzen. Doch soweit ich es in Erinnerung habe, sah sie immer gleich aus. Sie hatte graues Haar, zahlreiche Falten im Gesicht, und Hände, die von vielen Jahren harter Arbeit, Sonne und Witterung gezeichnet waren. Ihr fehlten einige Zähne. Sie war emotional und leidenschaftlich, aber auch vernünftig und kühn. Manchmal erweckte sie den Anschein eines zitternden, fallenden Blattes, und manchmal wirkte sie wie ein stabiler, solider Baum, der jedem Sturm standhalten kann.

Sie ließ sich nie aus der Fassung bringen und trug ihre Bürden mit Würde. Wut und Jähzorn waren ihr fremd. Ich kann mich nicht daran erinnern, dass sie sich je über Menschen, Umstände oder Krankheiten beschwerte. Sie wirkte stets vollkommen zufrieden. Wenn wir als Kinder tobten und frech waren, bestrafte sie uns zwar, aber verriet es weder unserem Vater noch unserer Mutter. Besonders oft ärgerte ich sie und wartete immer mit großer Freude darauf, dass sie mir hinterherjagte. Doch konnte ich sie nie so weit bringen.

Uns war nie wirklich bewusst, wie sehr wir sie liebten. Ihre Anwesenheit war eine Selbstverständlichkeit, sie war ein Teil unseres Lebens, ein Stück von uns. Manchmal stritten wir miteinander, wer ihre Wasserpfeife reinigen und mit frischem Wasser auffüllen durfte. Ihre Gebete mochte ich aber nie, weil sie sehr lange dauerten, und oft bekam sie währenddessen feuchte Augen und manchmal weinte sie allein in aller Stille.

Ich vermute, dass sie nicht wusste, wie wir hießen. Für sie war mein Vater, ihr Schwiegersohn, ihr Kind, meine Mutter, die Mutter mehrerer Kinder, ihr Kind, jeder in der Familie war ihr Kind. Wir waren neidisch und eifersüchtig, als sie unsere Cousinen und Cousins, die scheinbar zu uns böse waren, auch „mein Kind“ nannte. In der Tat hasste sie keinen, redete kaum schlecht über jemanden und erinnerte sich an meinen verstorbenen Opa, der eigentlich zu grob und brutal war, immer respektvoll und inbrünstig.

Sie erzählte uns fast jede Nacht ein Märchen über Könige, Prinzen und Prinzessinnen, über Legenden und Mythen, die ich nie vergessen werde. Besonders in den Winternächten, wo wir Schulferien hatten, saßen wir alle rings um einen „Sandali“ und hörten ihr aufmerksam zu.

„Sandali“ ist eine traditionelle Heizung. Im Winter stellt man einen stabilen Tisch, bedeckt mit einer dicken großen Decke, in die Mitte des Zimmers. Unter den Tisch stellt man, genau in der Mitte, einen kleinen Ofen mit feuriger Glut, die mit Asche überschichtet ist, um die Wärme länger halten zu können. Statt des Feuerofens kann man einen kleinen elektrischen Ofen aufstellen. Offiziell sagt man, dass eine Heizung wie ein „Sandali“ sicherheitsbedenklich sei, mir sind jedoch kein Feuerbrand oder kein Stromkurzschluss bekannt.

Auf jeden Fall saßen wir rings um den „Sandali“, aßen Popcorn, Peanuts und Rosinen oder getrocknete Baumbeeren mit Walnüssen und gegarten gelben Erbsen und hörten Oma zu. Eine Unterbrechung kam nicht infrage. Es gab in der Tat keine Gelegenheit, um eine Frage zu stellen. Oma war eine Perfektionistin und wusste genau, wie man eine Geschichte spannend und interessant vortragen kann.

Ihr edles Gesicht und das feine, transparente Kopftuch, welches sie während der Erzählungen ab und zu zurechtrückte und damit ihr Haar bedeckte, sind noch immer wie ein lebendiges Bild in meinem Kopf einbetoniert.

Wir lebten in einem ziemlich großen zweistöckigen Haus, über welchem mein Vater, ein Bauingenieur, ohne Sondergenehmigung eine weitere Etage gebaut hatte. Der Hof war auch beachtlich. In einigen Ecken konnten wir Volleyball, Tischtennis, sogar Fußball spielen. Er war mit ein paar Blumenbeeten geziert. Stellenweise gab es Gras.

In einer Ecke wuchs eine riesengroße Weinrebe, die vielleicht genauso alt war wie Oma selbst. Der Baum war so hoch, dass seine Zweige die zweite Etage erreichten. Jedes Jahr im Herbst schnitt mein Vater seine Äste und Zweige, doch im Frühling brachte er neue Zweige und so wuchs und wuchs er.

Oma nähte immer wieder neue Beutel aus feinem Stoff für dessen Trauben, um sie vor Spatzen und anderen kleinen Vögeln zu schützen. Der Baum schenkte uns jedes Jahr unheimlich viele leckere, kernlose Weintrauben, sodass wir gar keine vom Markt zu kaufen brauchten. Wir schenkten sogar unseren Nachbarn und Verwandten davon.

Mein Vater bedeckte die unteren Äste, die voller Weintrauben waren, mit Heu und Stroh für den Winter. Die Beeren waren dann nicht mehr grün oder gelb, sondern bräunlich, etwas mollig, jedoch kalt, süß und lecker.

Im Frühling kochte Oma aus den jungen Blättern der Rebe mit Rinderhackfleisch eine delikate Spezialität.

Vermutlich liebte Oma diesen Baum genauso wie ihre Kinder. Zusammen mit dem Baum wuchsen wir, doch Oma blieb, wie sie war. Ich habe keine Veränderung an ihr feststellen können. Sie war nie krank, und im Krankheitsfalle hatte sie immer ein Heilungsrezept parat. Wir gingen davon aus, dass sie alles heilen konnte.

Einst brach sich meine Cousine ihr linkes Bein und Oma hat es ohne ärztliche Behandlung mit Hilfe von Lammfleisch, Lamm Fett, Kurkuma, einer Bandage aus schmalen, geraden Brettern, verbunden mit einer stinkenden klebrigen Masse aus Honig, Kräutern und Mumie und darüber weißen Tüchern, geheilt.

Die Zeit verging rasanter, als wir dachten, riss die schöne Seite des Lebens mit sich und raubte unsere Kindheit und Jugend. Das Unheil suchte sich heim in unserem Land, das friedliche Leben machte die Bühne für Rebellion und islamistischen Terror frei. Überall Tote und Verletzte, Schüsse und Raketen, kaputte Häuser, Straßen und Ortschaften. Unser Baum blieb auch nicht verschont davon. Er bekam einige Schusslöscher und Äste brachen ab.

Die Barbaren, religiöser Extremisten eliminierten jeden, der konventionell gekleidet war, keinen Bart trug oder etwas vom modernen Leben verstand. Mein Vater verlor seine Arbeit, die Schulen wurden geschlossen, Frauen und Mädchen durften überhaupt nicht aus dem Haus. Es wurden in allen Bereichen des Lebens Einschränkungen verhängt, es gab Ausfälle und Mängel in der Versorgung des Haushalts, es fehlten Lebensmittel, Gesundheitsvorkehrungen, Sicherheit, Strom und Wasser. Eine Katastrophe, ein Desaster.

Nach vielen Überlegungen entschied die Familie schweren Herzens, unfreiwillig, wie viele andere Menschen, das geliebte Land zu verlassen und nach Europa auszuwandern. Oma hatte jedoch Einwände und war damit nicht einverstanden. Sie argumentierte, dass im Fall ihres Todes sie ihre Überreste nicht in einem anderen, fremden Land heimatlos zurücklassen will und im Land ihres Urvaters begraben sein möchte. Die Islamisten würden ihr nichts tun und sie werde so lange auf das Haus und das Gut aufpassen, bis das Unheil vorüber ist und wir in das Land zurückkehren können. Obwohl sie den Baum nicht erwähnte, ahnten wir alle, dass sie sich von dem Baum nicht trennen konnte.

Wir schafften es endlich mit vielen Mühen, sie davon zu überzeugen, dass das Land, in das wir auswandern wollten, Germany heißt und wie ein Paradies auf Erden ist. Die Menschen dort sind verständnisvoll, nett und gastfreundlich. Letztendlich arbeitete mein Vater seit Jahren in einer Firma mit den Deutschen zusammen und pflegte nur Gutes über Deutschland zu berichten.

Wir redeten auf sie ein, dass es in Deutschland keinen Krieg, keinen Mord und keine Not gibt. Man verfügt über fließendes warmes Wasser, es gibt keine Stromausfälle, die Straßen sind sauber, es gibt weder ein Job-Problem noch Geldnot. Wir fanden noch tausende selbstgebastelte Komplimente.

Schließlich, als ein paar junge Mädchen aus der Nachbarschaft durch Islamisten entführt und geschändet worden waren und der unerwartete Tod an jeder Tür anklopfte, gab Oma nach und zwang sich, sich uns anzuschließen.

Mein Vater verkaufte das Haus und wir mussten alle unsere Habe, sogar Omas uralte Schmuckstücke, den Schleuserbanden, unseren wahren Helfern und Helden, aushändigen, um die Urkundenfälschungen und die anderen Kosten abzudecken. Wir sind alle zusammen in Deutschland eingereist.

Wir hatten Glück. Unser Flieger landete, nach einem Zwischenstopp in Bagdad und Istanbul, zu später Stunde eines Abends in Frankfurt. Der Himmel war bedeckt, doch die Sterne funkelten uns von unten an.

Oma, die fast nie aus der Heimatstadt herausgekommen war, war fasziniert, und trotz der Müdigkeit genoss sie die abenteuerliche Flucht. Sie beobachtete Frankfurt von oben und meinte begeistert, dass dies tatsächlich ein Paradies wäre. Solche Beleuchtungen hatte sie sich nur im Paradies vorgestellt. In dem Moment dachte Oma, dass bei der Landung irdische Engel auftauchen würden, die sie mit einer verständlichen Sprache ansprechen und ins Federbett begleiten würden. In der Tat dachten wir alle mehr oder wenige dergleichen und hatten hohe Erwartungen und Vorstellungen.

Jedoch was danach geschah, war nicht nur für Oma, sondern für uns alle mehr als ein Alptraum. Das Asylantenheim, die übliche Prozedur, Demütigungen in der Unterkunft und auf der Straße, ein Regen von hasserfüllten Blicken, Hektik, Missverständnisse und Nichtverständnisse, Einsamkeit, Mittel- und Machtlosigkeit und der Mangel an Wärme, Schutz und Zusammenhalt übertrafen unser Vorstellungsvermögen und machten das Klima unerträglich.

Die Rückzugsbrücken waren alle geschlossen, nach vorne konnten wir uns nicht schleppen und auf der Stelle stehenzubleiben war schwer und mörderisch. Wir begannen uns über die neue Entwicklung der Dinge zu beklagen, besonders mein Vater, der nur positive Vorstellungen hatte, fing an von Skepsis zu Pessimismus zu springen.

Oma tröstete uns, indem sie sagte, dass alles gut werden würde und wir müssten das Benehmen der Menschen nicht im Herz nehmen, da die normalen Deutschen, die kein Interesse an der Politik haben und sich nur auf die Freude am Leben und ihr eigenes Wohlhaben fokussieren, nicht wissen können, wie viel ihre Politiker mit ihrer fehlerhaften Politik und Desinformation dazu beigetragen haben, dass die Islamisten uns außer Landes jagten. Sie sagte weiter, woher soll den normalen Menschen interessieren, dass wir ein Recht hätten, uns irgendwo auf dem Planeten Erde zu beheimaten. Doch wir missachteten ihre Worte.

Mein Vater war zu alt, um einen passenden Job zu finden. Ich, der in einem amerikanischen College Architektur studiert hatte, musste mich als unqualifizierter Berufskraftfahrer zufriedengeben. Den anderen erging es noch schlimmer. Der Elektroingenieur musste als Maler arbeiten, der Technikingenieur vergnügte sich als Taxifahrer, der Germanist und Universitätsdozent musste in einer Jugendherberge tätig werden. Nur die kleinen hatten bestimmt eine Chance, sich eine Zukunft aufzubauen, vorausgesetzt, dass sie nicht der schlechten Seite der liberalen Freiheit zum Opfer fielen.

Unser Familiengefüge musste eine andere Richtung einschlagen, besser gesagt, sich in verschiedene Richtungen orientieren.

An einem Freitagnachmittag, als ich nach dreiwöchiger Tour im In- und Ausland, meine achtundvierzigstündige Ruhepause machen durfte, musste ich Oma, die nun als unbrauchbar galt, nach einem Zusammenbruch in die Notaufnahme begleiten. Es konnte keiner für sie da sein. Jeder war mit seiner Arbeit und seinem Leben beschäftigt, um für den Selbstunterhalt zu sorgen, um zu überleben. Nachdem wir die Formalitäten überstanden hatten, durften wir im Wartezimmer platznehmen. Im Warteraum warteten viele andere Patienten, deren Beschwerden von akuten Bauchschmerzen bis zu Knochenbrüchen reichten, auf eine Behandlung.

Fürsorglich und leidenschaftlich versuchte ich Oma, die noch nie bei einem Arzt gewesen war und sehr nervös wirkte, zu beruhigen und ihr auf unserer Heimatsprache alles zu erklären, als eine wartende ältere Dame mit einem vornehmen Gesicht, die vielleicht in Omas Alter war, ohne Vorwarnung und genervt rief, „hier wird deutsch gesprochen!“

Dieser Satz löste bei einigen Patienten, trotz ihrer Schmerzen, lautes Gelächter aus. Bei einigen anderen, die verständnisvoll waren oder deren Schmerzen es ihnen nicht erlaubte, laut zu lachen, war nur noch ein Lächeln zu erkennen. Daraufhin habe ich höflich gefragt, wo es geschrieben stehe, in welcher Sprache man sich unterhalten dürfe. Auf eine Antwort brauchte ich nicht zu warten.

Oma, die sich nie aus der Fassung bringen ließ und immer ein Lächeln auf den Lippen hatte, richtete ihren feinen Schleier zurecht und sagte mir, „sie macht sich bestimmt Sorgen um mich.“ Obwohl man aus dem Ton der älteren Dame ihre Absichten deutlich erkennen konnte.

Ich äußerte mich etwas irritiert, „ja, Oma, sie macht sich Sorgen um dich.“

Daraufhin offenbarte Oma der Dame ihre Dankbarkeit mit einem breiten Lächeln und einem wohlwollenden Kopfnicken.

Nach etwa vierstündiger Wartezeit, als wir gerade aufbrechen wollten, da Oma ihr Abendgebet erledigen musste, wurde unser Name gerufen. Der junge Arzt begrüßte uns sehr herzlich. Oma weigerte sich jedoch, ihm die Hand zu schütteln. In meiner Anwesenheit entkleidete sie sich auch nicht und bei jeder Berührung des Arztes zuckte sie zusammen, was auch für den verständnisvollen Arzt zu viel schien.

Der Arzt stellte einige Fragen, die ich weder ganz verstand noch richtig beantworten konnte. Er wirkte jedoch etwas besorgt und ordnete einige Maßnahmen an, die, wie wir später herausbekamen, sehr lebenswichtig waren, doch weil Oma sich mit aller Härte weigerte, sich untersuchen zu lassen, haben wir es mit der Zeit vernachlässigt.

In diesem Moment beruhigte ich Oma, indem ich ihr berichtete, dass sie kerngesund sei, aber sie müsse viel spazieren gehen. In der Heimat war es nicht üblich, dass die Ärzte oder Heiler den Patienten direkt ins Gesicht sagten, wie schlimm ihr Gesundheitszustand war, denn dadurch konnte der Patient entmutigt und psychisch belastet werden. In der Tat vermutete der Arzt, dass Oma, die unter Depressionen und einer Zuckerkrankheit litt, Nierenkrebs haben könnte. Wir hatten ihre Erkrankung auf die leichte Schulter genommen, wohl weil sie so vital wirkte.

Am Samstag beschloss ich, Oma zum Einkaufen mitzunehmen. Wir fuhren mit meinem VW Golf zum Discounter. Oma, die lediglich ein paarmal mit meiner Mutter zum Modeladen Einkaufen gegangen war und keine Ahnung hatte, wie das alles lief, ging davon aus, dass alle sie beobachteten, lächelte jeden Passanten an, was, mit einer netten Ignoranz, gar als Missverständnis aufgenommen wurde. Ihr Minderwertigkeitsgefühl war in dem Benehmen und der Körpersprache der einst stolzen Oma deutlich zu erkennen.

Bei den Backwaren übersah Oma die scherenförmige Zange und wollte ein Brötchen mit der Hand herausziehen. Eine Engelsgesicht Dame, die zufällig danebenstand, sah irritiert der Szene zu, schlug ohne Vorwarnung auf Omas Hand und sagte mit sichtlicher Verachtung auf Türkischdeutsch, dass sie es nicht anfassen dürfe. Um mich zu besänftigen und vor einer übermäßigen Reaktion zu bewahren, sagte die schockierte Oma unverzüglich zu mir, „das hat gar nicht weh getan, ihre Hand war zu weich.“

Nichtsdestotrotz mahnte ich mit meinem französischen Akzent die nette Dame, dass sie so etwas nicht tun dürfe, dass es Körperverletzung und strafbar sei. Daraufhin wandte sie uns ihren Engelsrücken zu, ohne sich zu äußern, und ging davon. Stattdessen erlaubte sich ein junger Mann in meinem Alter, zu sagen, dass es besser wäre, wenn die Ausländer in einem ausländischen Akzent reden würden. Ich fand zu meiner Bestürzung keine passende Antwort für ihn, habe mich bei ihm für seinen brüderlichen Rat auf Deutsch bedankt und ihm meinem Teufelsrücken zugedreht. Das angefasste Brötchen haben wir selbstverständlich gekauft.

Wir sind weiter durch den Laden gewandelt, und am Obststand wollte ich von den vielen exotischen Früchten aus der ganzen Welt, von Italien bis Brasilien und Asien, die türkischen Weintrauben, die ich nicht mit den bloßen Händen anfasste, sondern sorgfältig mit einer Plastiktüte entnahm, in den Einkaufswagen werfen, als Oma zu heftig auf meine Hand schlug und lächelnd sagte, dass wir keine Weintrauben brauchten.

Omas Aktion war mir todpeinlich, sodass ich hin und her äugte, ob jemand uns beobachtete, dann sah ich überrascht, wie sie kicherte und mir zufrieden zuzwinkerte. Ich war erstaunt, weil ich so lange auf Omas Schlag gewartet, jedoch nie einen kassiert hatte. Warum also jetzt, in aller Öffentlichkeit, im Supermarkt? Dann war ich froh darüber, dass Oma noch lernfähig war, mindestens etwas Zivilisiertes gelernt hatte und sich allmählich in die Gesellschaft integrierte.

Am Sonntagnachmittag, bevor ich zu meiner dreiwöchigen Schicht losfuhr, schlich ich wie gewöhnlich, ohne anzuklopfen in Omas Zimmer, um Abschied zunehmen. Oma saß wie immer auf ihrem Bett, starrte auf den Stachelbaum, der sich aufrecht und stabil direkt vor ihrem Fenster erhob und die Wege des Lichtes versperrte. Als sie meine Anwesenheit nicht bemerkte, flüsterte ich schmeichelnd, „Oma, lass mich einen Fernseher in dein Zimmer bringen.“

Schockiert drehte sie sich mir zu und ich sah zum ersten Mal, was ich bis dahin nicht gesehen hatte. Ich sah Tränen in Omas Augen, ich sah sie heulen. Ich sah Oma schluchzen. Außer während des Gebetes hatte sie niemand je Weinen gesehen. Sie war die stärkste von uns allen. Sie war ein Fels in der Brandung, an den wir alle uns anlehnten und Schutz suchten. Sie war ein Topf, wo wir uns die Augen ausweinten und in den wir die Tränen tropfen ließen. Nun weinte sie selbst, bald in aller Stille, bald schluchzte sie. Ein Dammbruch war geschehen. Zum ersten Mal ist mir aufgefallen, dass Oma alt war. Eine unerschütterliche Wahrheit, die ich zu übersehen pflegte.

Ich kann es nicht beschreiben, wie ich mich in dem Moment fühlte, ob ich überhaupt etwas fühlte. Wo ich stand, weiß ich nicht mehr. Ich weiß nur, dass ich mich plötzlich und ungewohnt in Omas Armen befand. Sie umarmte sonst niemanden, vielleicht nur meine Mutter, doch nun ließ sie es geschehen. Sie zitterte am ganzen Körper, wie ein dünner Baum im starken Wirbelsturm, wie ein naives Kind, das gerade aus dem kalten Wasser kam. Ihre Tränen befeuchteten meinen Nacken.

Ich merkte, dass auch ich unbewusst weinte, ich schluchzte laut, ohne zu wissen warum. Ich spürte Oma. Ich habe meine Oma verstanden und erahnte, dass Oma mich verstand. Nach einer Weile sagte ich spontan, aber entschlossen, „Oma, ich bringe dich heim, egal was es kostet.“

„Vielleicht nur meine Leiche, mein Kind, wenn sie in diesem Paradies keinen Platz findet“, sagte sie, während sie mich noch immer in ihren Armen, die nicht mehr zitterten, festhielt.

„Lass solchen Quatsch, Oma!“, sprach ich, indem ich versuchte, das Zittern in meiner Stimme zu verbergen.

Sie ließ mich los und fuhr fort, „versprech es mir, dass du von dem, was du eben gesehen hast oder was ich dir jetzt erzähle, solange ich noch lebe, keinem ein Wort sagst.“

„Ich verspreche es, Oma“, versicherte ich ihr, obwohl sie wusste, dass es nicht meine Art war, Dinge weiter auszuplaudern.

„Ich habe gestern Nacht geträumt, dass unsere Weinrebe ausgetrocknet ist“, sagte sie mir leise, als ob sie Angst hätte, dass jemand uns belauschte.

„Wir können eine neue anpflanzen, Oma“, sagte ich, ohne zu wissen, wann und wie.

„Vielleicht für dich und deine zukünftigen Kinder,“ nahm sie mich ernst.

Ich versuchte mich und auch sie weiter zu ermutigen, „nein, Oma, für dich, für uns.“

Sie musterte mich mit ernsthafter Miene und sprach ruhig und leise, „was denkst du, Kind? Denkst du etwa, dass ich das alles nicht merke? Ich spüre die Blicke und Körpersprache dieser Menschen, sie zeigen Hass und Verachtung. Ich bin alt, aber nicht dumm, mein Kind. Seit ich von zuhause weg bin, bin ich buchstäblich eine wandelnde Leiche. Ich bin nicht mehr ich selbst. Ich ahnte es schon damals, deswegen wollte ich nicht aus dem Land. Ich bin hier fehl am Platz, keiner versteht mich, keiner will mich verstehen. Das hat mit der Sprache nichts zu tun, sondern hat andere tiefe Gründe, tiefe Wurzeln. Wir sind anders aufgewachsen, aus anderem Holz geschnitzt. Geld ist nicht alles, was man fürs Leben braucht. Es fehlt für uns hier die Wärme, der Halt und der Schutz. Die Menschen hier wissen nicht, was sie uns antun. Sie können nichts dafür. Vielleicht würden sie sich genauso fühlen, wenn sie einsam und heimatlos wären. Deswegen lächele ich jedem zu und nehme es nicht übel, wenn sie mich nicht verstehen oder ignorieren. Denkst du, dass ich nicht verstanden habe, was die Frau gemeint hat?“

„Ach, Oma!“

„Schweige!“, befahl sie mir.

Ich lächelte und schwieg. Sie fuhr in ihrem Monolog fort, „zuhause kamen alle zu mir, respektierten mich, küssten meine Hände. Hier sind meine Hände dreckig. Ich bin eine ahnungslose, überflüssige alte Närrin. Ich habe dort mit jedem geredet, Geschichten erzählt, Märchen erzählt. Hier hat keiner Zeit für sowas, selbst meine Kinder haben keine Zeit für mich. Tagein, tagaus rede ich kein einziges Wort. Meine Tochter ist verwirrt, ihrem Ehemann geht es noch schlimmer. Sie streiten permanent miteinander. Sie machen sich gegenseitig Vorwürfe, dass der oder der oder eben ich daran schuldig war, dass wir von zuhause weg sind. Ich fand für alle Probleme einen Ausweg, eine Lösung, hier bin ich selbst ein Teil des Problems. Ich bete und rede mit Gott, er kann jedoch auch nichts dafür.“

Sie zwinkerte mir zu, richtete sich langsam auf, sah etwas erleichtert aus. Zum ersten Mal schaute ich intensiv in ihre Augen und ich musterte ihr Gesicht. Sie weinte nicht mehr, aber sah irgendwie zwanzig Jahre älter aus als ein Jahr zuvor. Sie ging zu ihrer Tochter, um Tee zu trinken. Ich verabschiedete mich schwermütig und ging, in Gedanken versunken, zur Arbeit. Mein Herz blieb bei Oma.

In meiner zweiten Ruhepause nach dieser Begegnung sah ich Oma zu schwach, zerbrochen und unbeweglich. Sie verständigte sich mit mir nur mit ihren Augen. Ihr berühmtes Lächeln war jedoch vorhanden. Sie fragte mich aus ihrem Unterbewusstsein heraus, wie in Trance, mit schwerverständlichen Worten nach ihrer Weinrebe, bevor sie murmelte, „Gott ist groß, es gibt keinen anderen außer Gott.“

Ich fühlte mich schuldig und lächerlich, als ich ihr die Lügengeschichten erzählte und leere Versprechungen machte.

In meiner darauffolgenden Schicht bekam ich die schockierende Nachricht. Ich wusste, dass sie alt war und ihr Tod eine natürliche Konsequenz, dennoch wurde ich durch diese Nachricht sehr benommen und ergriffen, denn, abgesehen von ihrem warmen Platz in meinem Leben, fühlte ich mich verantwortlich. Ich fühlte, dass wir sie getötet hatten.

Nach ihrer Beerdigung wurde uns allen bewusst, wie sehr wir Oma liebten. Ihr Platz blieb für immer leer, nur in unseren Herzen blieb sie lebendig. Oma fehlte uns für den Moment und für alle Ewigkeit.

Während ich gewaltige Tränen vergoss, sagte ich zu aller Bestürzung und Empörung, „wir haben sie umgebracht!“

*****

Ich verneige mich vor dir, Mutter! Ich verneige mich vor dir, Frau!

MUTTER

Als meine winzigen Finger

die raue Welt

nicht greifen vermochten,

lehrten mich deine zarten Hände,

was kalt, was heiß war.

Als meine kleinen,

unbeholfenen Schritte

eine Ewigkeit brauchten,

um meine Wiege zu erreichen,