Selbstsorge im Leben mit Demenz - Valerie Keller - kostenlos E-Book

Selbstsorge im Leben mit Demenz E-Book

Valerie Keller

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Beschreibung

In der medialen Öffentlichkeit besitzt das Thema Demenz hohe Präsenz. Menschen mit Demenz selbst kommen dabei aber kaum zu Wort. Diese vernachlässigten Stimmen bieten die Basis von Valerie Kellers kulturwissenschaftlicher Studie zur Selbstsorge bei Demenz. Anhand von Gesprächen mit Betroffenen zeigt sie auf, wie Menschen mit Demenz auf sich und andere einwirken, um mit zentralen Herausforderungen ihrer Situation umzugehen. Ohne Ängste, Zerrüttungen und Nöte zu verschweigen, legt sie dar, wie erfüllt ein Leben mit Demenz sein kann. Der Schlüssel dazu liegt nicht zuletzt in den sozialen Umfeldern, die die Selbstsorgebestrebungen von Menschen mit Demenz erkennen und unterstützen.

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Valerie Keller, geb. 1989, ist Dozentin für Populäre Kulturen am Institut für Sozialanthropologie und Empirische Kulturwissenschaft der Universität Zürich. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Alter(n) und Demenz, Herstellung von Normalitäten und Praktiken des Queering.

Valerie Keller

Selbstsorge im Leben mit Demenz

Potenziale einer relationalen Praxis

Die Open-Access-Ausgabe wird publiziert mit Unterstützung des Schweizerischen Nationalfonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung.

Die vorliegende Arbeit wurde von der Philosophischen Fakultät der Universität Zürich im Herbstsemester 2021 auf Antrag der Promotionskommission, bestehend aus Prof. Dr. Harm-Peer Zimmermann (hauptverantwortliche Betreuungsperson) und Prof. Dr. Simon Peng-Keller, als Dissertation angenommen.

Ein grosser und freundschaftlicher Dank geht an alle meine Interviewpartner*innen, die den Mut und die Kraft aufbrachten, mir von ihrem Leben mit Demenz zu erzählen.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Dieses Werk ist lizenziert unter der Creative Commons Attribution-NonCommercial-NoDerivs 4.0 Lizenz (BY-NC-ND). Diese Lizenz erlaubt die private Nutzung, gestattet aber keine Bearbeitung und keine kommerzielle Nutzung. Weitere Informationen finden Sie unter https://creativecommons.org/licenses/by-nc-nd/4.0/deed.deUm Genehmigungen für Adaptionen, Übersetzungen, Derivate oder Wiederverwendung zu kommerziellen Zwecken einzuholen, wenden Sie sich bitte an [email protected] Die Bedingungen der Creative-Commons-Lizenz gelten nur für Originalmaterial. Die Wiederverwendung von Material aus anderen Quellen (gekennzeichnet mit Quellenangabe) wie z.B. Schaubilder, Abbildungen, Fotos und Textauszüge erfordert ggf. weitere Nutzungsgenehmigungen durch den jeweiligen Rechteinhaber.

Erschienen 2022 im transcript Verlag, Bielefeld © Valerie Keller

Umschlaggestaltung: Maria Arndt, Bielefeld Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar Print-ISBN 978-3-8376-6401-0 PDF-ISBN 978-3-8394-6401-4 EPUB-ISBN 978-3-7328-6401-0https://doi.org/10.14361/9783839464014 Buchreihen-ISSN: 2700-7014 Buchreihen-eISSN: 2703-0377

Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff.

Besuchen Sie uns im Internet: https://www.transcript-verlag.de

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Inhalt

1Einleitung: Forschungsinteresse und Aufbau der Analyse

1.1Von der leeren Hülle zur sozialen Akteurin

1.2Diskurse der Tragödie und des guten Lebens

1.3Handlungsfähigkeit und Interdependenz

1.4Aufbau der Analyse

2Analysekategorien

2.1Die Demenz

2.2Die Selbstsorge

3Methoden und Quellen

3.1Quellenkorpus

3.2Problemzentriertes Interview mit Menschen mit Demenz

3.3Teilnehmende Beobachtung

3.4Textanalyse nach Grounded Theory

3.5Die Struktur der Verantwortlichkeit

4Das erschütterte Selbstbild

4.1Ich bin nicht mehr ich

4.2Stabilisieren der Relation zu sich selbst

4.3Herstellung eines positiven Selbstbilds

4.4Biografisches Verweben der Demenz

4.5Selbstsorge in Relation zu sich selbst

4.6Exkurs: Selbstsorge bei fortgeschrittener Demenz

5Zwischen Selbstständigkeit und Abhängigkeit

5.1Ich bin eine Belastung für andere

5.2Stärkung von Selbstständigkeit

5.3Annahme von Abhängigkeit

5.4Selbstsorge in Relation zu anderen Menschen

6Von Exklusionserfahrungen und Teilhabemöglichkeiten

6.1Stigmatisierung, Exklusion und Sinnlosigkeit

6.2Stigma-Management

6.3Neupositionierung

6.4Sinnfindung

6.5Selbstsorge in Relation zu gesellschaftlichen Strukturen

7Vom Verwelkungsverbot zum anderen Altern

7.1Ich darf nicht verwelken

7.2Die kleinen Wege des anderen Alterns

7.3Selbstsorge in Relation zur Physis

8Abschließende Überlegungen

8.1Selbstsorge als vielfach relationales Geschehen

8.2Selbstsorge als Prozess

8.3Ressourcen der Selbstsorge

8.4Selbstregulierung oder Selbstsorge?

8.5Ausblick: Selbstsorge ermöglichende Umfelder

Anhang

Abbildungsverzeichnis

Primärquellen: Literatur

Primärquellen: Filme

Sekundärliteratur

Internetseiten

Transkriptionsregeln

Quellentabellen

1Einleitung: Forschungsinteresse und Aufbau der Analyse

Wenn ich Menschen mit Demenz frage, was Demenz ist, wie es ist, mit Demenz zu leben, und wie sich eine Demenz bemerkbar macht, so erhalte ich als Antwort keine Erklärungen über Lewy-Body-Körperchen, über Alzheimer-Plaques, Neurofibrillen oder neuronale Gefäß-Schädigungen. Ich erhalte auch keine Einschätzung dazu, in welcher Krankheitsstufe sie sich gerade befinden oder welche Regionen in ihrem Hirn zur Zeit wie stark beschädigt sind. Was mir erzählt wird, sind Erlebnisse aus dem Alltag: Die Rede ist von eigenen und fremden Erwartungen an sich selbst und von äußerst anstrengenden Versuchen, diesen gerecht zu werden. Es wird mir erzählt, wie schwierig es im Leben mit Demenz sein könne, gewisse Vorhaben selbstständig durchzuführen, aber auch, wie schwierig es sein könne, Hilfe von anderen anzunehmen. Geschildert wird mir eine Situation, in der es ganz plötzlich zur großen Herausforderung wird, irgendwo dazuzugehören und Aufgaben oder Verantwortungen zu übernehmen, die dem eigenen Leben Sinn verleihen. Und doch ist auch von positiven Erfahrungen die Rede, von persönlichen Weiterentwicklungen und Erkenntnissen, von neuen Sichtweisen auf sich selbst und die Gesellschaft und von zuvor ungeahnten Möglichkeiten eines In-der-Welt-Seins. Wenn eine Demenz in Erscheinung tritt, so lassen sich die mir entgegengebrachten Aussagen betroffener Personen zusammenfassen, dann tut sie dies nicht primär in Form von körperlichen Beschwerden, sondern als eine Auffälligkeit an der Schnittstelle zwischen sich selbst und dem sozialen Umfeld.

Auffällig wird eine Demenz konkret, wenn etwa Namen von Personen vergessen werden,1 wenn einzelne Wörter entfallen und die Kommunikation dadurch erschwert wird,2 wenn bisher gut zu bewältigende Aufgaben – etwa bei der Arbeit3 oder in der Familie4 – nur noch mit zusätzlichem Zeitaufwand oder großer Anstrengung bewältigt werden können, oder wenn beispielsweise Termine5 und Haltestellen6 verpasst und rote Ampeln übersehen werden.7 Auffällig wird eine Demenz aber auch dann, wenn Personen aus dem eigenen Umfeld beginnen, einem nichts mehr zuzutrauen,8 einen zurechtzuweisen,9 einen aus gewissen Gruppen auszuschließen oder die eigene Identität in Frage zu stellen.10 Doch solange an der Schnittstelle zwischen sich selbst und dem sozialen Umfeld keine großen Auffälligkeiten entstehen, kann auch die eigene Demenzbetroffenheit relativ unbemerkt bleiben. Luisa Marquez,11 ehemalige Primarschullehrerin und Interviewpartnerin mit Demenz, erzählt mir, dass sie in ihrem Ruhestand »keine[n] so zwingende[n] Aufgaben«12 mehr nachzukommen habe, weshalb es für sie zum Zeitpunkt des Interviews schwierig sei zu beurteilen, wie sich die Demenz auf ihr Leben auswirke. Ganz anders sei es damals gewesen, als sie mit einer beginnenden Demenz für ganze Schulklassen verantwortlich gewesen sei und deshalb stets das Gefühl verspürt habe, auf »Zehenspitzen zu stehen«.13 Wie eine Demenz für betroffene Personen in Erscheinung tritt und inwiefern sie Reibungen, Schwierigkeiten und Widerstände im Alltag verursacht, hängt ganz wesentlich damit zusammen, in welcher Weise die betroffene Person in die Gesellschaft eingebunden ist, was das soziale Umfeld von ihr erwartet und welche Ziele die Person verfolgt. Folglich ist die Demenz nicht nur ein neurobiologisches, sondern zweifellos auch ein soziales und kulturelles Phänomen.

Auch wenn er im wissenschaftlichen Demenzdiskurs eher untervertreten ist, ist der Fokus auf soziokulturelle Aspekte der Demenz keinesfalls neu. Spätestens seit dem 1989 publizierten Aufsatz der US-amerikanischen Soziologin Karen A. Lyman Bringing the Social Back in: A Critique of the Biomedicalization of Dementia ist die Demenz nicht mehr nur Gegenstand des biomedizinischen Fachdiskurses. Lyman erweitert die Demenzforschung um eine sozialwissenschaftliche Sichtweise, wobei sie diejenige der Biomedizin teilweise kontrastiert. Im Fokus ihrer Kritik steht die einseitige Medikalisierung von Devianz: Wenn soziales Verhalten, wie etwa ein Umherwandern (wandering), zu einem medizinischen Problem gemacht werde, reduziere dies zwar Stressgefühle in der Pflegearbeit, weil dadurch eine gewisse Vorhersehbarkeit erreicht werde, jedoch würden damit jegliche soziokulturellen Einflüsse auf das Verhalten von Menschen mit Demenz ausgeblendet. Lyman plädiert deshalb dafür, die soziale Konstruktion von Demenz und die Wirkung der Pflege in die Forschung miteinzubeziehen.14 Ihrem Aufruf folgen seither einige sehr aufschlussreiche Studien in sozialwissenschaftlicher und pflegewissenschaftlicher Forschung, die das soziale Umfeld der Person mit Demenz in den wissenschaftlichen Diskurs um Demenz miteinbeziehen.15 Allen voran ist an dieser Stelle der englische Sozialpsychologe Tom Kitwood zu nennen, der in seinen Studien herausarbeitet, dass gewisse Schwierigkeiten von Menschen mit Demenz weniger Symptome einer Krankheit sind, sondern vielmehr Folgen von maligner, bösartiger Sozialpsychologie (malignant social psychology) darstellen.16 Auf die Ausführungen Kitwoods und auf weitere wichtige Stimmen aus dem soziokulturellen Demenzdiskurs wird später ausführlicher eingegangen. An dieser Stelle soll darauf verwiesen werden, dass die vorliegende Studie eine bereits eingeführte Sichtweise auf das Phänomen Demenz aufgreift und den damit verbundenen Diskurs der dementia studies17 weiterführt.

Im Fokus der vorliegenden Analyse steht nun das alltägliche Leben von Menschen mit Demenz. Es wird untersucht, was Demenzbetroffene über sich und ihr Leben mit Demenz erzählen: Welche Herausforderungen bringt ein solches mit sich? Wie reagieren betroffene Personen auf demenzbedingte Veränderungen und welchen Umgang finden sie damit? Wie wirken Menschen mit Demenz auf ihr Leben ein, wie formen und gestalten sie es mit und wie stellen sie für sich Lebensqualität her? Oder anders gefragt: Wie tragen Menschen mit Demenz Sorge um sich?

Diese Forschungsfragen deuten bereits an, welches Demenzbild der vorliegenden Studie zugrunde liegt: Kulturwissenschaftlichen Forschungsansätzen18 folgend gehe ich davon aus, dass Menschen mit Demenz selbstverantwortlich handelnde Personen sind, die ihre ganz eigenen Erfahrungen mit Demenz machen und die eine Stimme haben, die gehört werden kann. Zudem wird Demenz nicht wie so oft als allseitige Tragödie, als Bedrohung für die Gesellschaft oder als Verlust der eigenen Persönlichkeit oder gar des Menschseins gefasst,19 sondern als ein soziales und kulturelles Phänomen verstanden, dessen Komplexität anhand von unterschiedlichen Relationen zwischen betroffenen Personen und ihrer vielfältigen Umwelt untersucht wird.20

In den Kapiteln 1.1 bis 1.3 wird nun schrittweise aufgezeigt, wie die vorliegende Analyse an die bisher geleistete Forschung in den dementia studies anknüpft und wie sie diese erweitert. Darauffolgend wird in Kapitel 1.4 ein Überblick über den Aufbau der vorliegenden Arbeit gegeben.

1.1Von der leeren Hülle zur sozialen Akteurin

Eine Studie von Heinrich Grebe et al.,21 in der 250 Artikel aus deutschen Zeitungen, Magazinen und der Ratgeberliteratur im Zeitraum von 1990 und 2011 auf die metaphorische Konstruktion von Demenz hin untersucht wurden, zeigt auf: Im medialen Interdiskurs22 wird Demenz mit Metaphern umschrieben, die auf Abwesenheit, Verlust und Regression verweisen. Beschrieben wird Demenz wiederholt als ein Weg in eine fundamental andere Realität (the journey into the land of forgetfulness oder the way into no-man’s land), in der, einmal dort angekommen, der Geist für andere Menschen nicht mehr zugänglich ist.23 Zurückgelassen werde lediglich ein Körper, der forthin als »leere Hülle«24 existiere. Demenzbetroffene, so arbeiten Grebe et al. heraus, würden metaphorisch als »Phantome« beschrieben, die mit dem fortlaufenden Verlust ihres Gedächtnisses nicht nur den Bezug zur Realität, sondern auch ihre Persönlichkeit und ihr Selbstsein verlieren. Im untersuchten Quellenkorpus würden Demenzmetaphern zudem auf eine Rückentwicklung in Richtung kindlicher Stadien hinweisen, in der schrittweise vergessen werde, was im Leben erlernt wurde: Beschrieben würden Personen, die ihre Kompetenz, Unabhängigkeit und Selbstverantwortung immer mehr einbüßen. Grundsätzlich, so deuten die Metaphern an, gehe es im Leben mit Demenz bergab: Vom freien Fall ins Nichts sei die Rede oder vom Versinken in der Dunkelheit des Vergessens. Und schließlich werde das Gehirn einer betroffenen Person auch mit einer durchlöcherten Harddisk oder einem Friedhof von Nervenzellen verglichen.25 Demenz, so deute die metaphorische Konstruktion im medialen Interdiskurs an, laufe auf den Tod im Leben hinaus.26

Mit dem Gebrauch von Metaphern wird nach Grebe et al. zu erklären versucht, was Demenz ist, indem sie mit etwas anderem verglichen wird. Durch die kontinuierliche Wiederholung derselben Metaphern würden diese aber zu kollektiven Symbolen verfestigt, in deren Formen sie das Phänomen Demenz in unterschiedlichen Diskursen illustrieren.27 Den Kulturwissenschaftlern folgend ist demnach davon auszugehen, dass die sich wiederholenden, dystopisch anmutenden Demenzmetaphern wesentlich daran beteiligt sind, wie wir uns eine Person mit Demenz vorstellen. Zwar gebe es nach Grebe et al. in dem von ihnen untersuchten Quellenkorpus bereits einige Gegendarstellungen zu den erwähnten Metaphern, etwa wenn von einem Schlüssel die Rede ist, mit dem Türen in die Welt von Demenzbetroffenen geöffnet werden können.28 Dominant seien jedoch die Vergleiche von Demenz mit Abwesenheit, Verlust und Rückentwicklung, mit einer Entleerung und Umnachtung, weshalb Grebe et al. dazu aufrufen, neue Metaphern zu gebrauchen und neue Bilder zu entwickeln, die nicht bloß abschrecken, sondern dabei helfen zu verstehen, wie es ist, mit Demenz zu leben.29

Ein Grund, wieso Menschen mit Demenz als inkompetent und abhängig dargestellt werden, sieht Verena Wetzstein, Theologin und Germanistin, in einer einseitigen Übertragung von medizinischen Parametern auf den Menschen mit Demenz. Durch die Pathologisierung von Demenz, so Wetzstein, sei der Medizin die Rolle der Hüterin von Demenzwissen übertragen worden. Dies habe zu einer Monopolisierung der Demenzdebatte geführt, welcher kein anderes Konzept zur Verfügung stehe als die medizinische Beschreibung einer Krankheit und deren Symptome.30 »Was innerhalb der Medizin notwendig« sei, werde dann

»problematisch, sobald ihre Grundlagen und Aussagen unadaptiert in den öffentlichen Bereich übernommen werden. Aus einem methodisch bedingten Reduktionismus wird durch die Tradierung der medizinischen Konzeption in den öffentlichen Diskurs ein ontologischer Reduktionismus. In seinen Kernpunkten werden dabei bedeutsame Aspekte ausgeblendet.«31

Im öffentlich-medialen Diskurs, so könnte Wetzsteins Aussage weitergeführt werden, werden Menschen mit Demenz also nicht selten auf ein degeneratives Moment reduziert: Der Mensch mit Demenz wird selbst zur Krankheit, wobei das Menschsein in den Hintergrund tritt. Diesem ontologisch reduzierten Demenzbild wird in sozial- und pflegewissenschaftlichen Spezialdiskursen nun vermehrt ein Demenzbild entgegengestellt, welches das Menschsein von Menschen mit Demenz wieder in den Vordergrund rückt. In den folgenden drei Unterkapiteln wird deshalb herausgearbeitet, was die dementia studies bisher dazu beigetragen haben, Menschen mit Demenz wieder als Menschen zu sehen, als Persönlichkeiten und als Staatsbürger*innen, denen ein Recht auf Inklusion und Mitbestimmung zukommt, und die eine Stimme haben, die gehört werden muss.

1.1.1Das Personsein

Der Vorstellung von Demenz als Diebin, die der betroffenen Person Stück für Stück ihre Persönlichkeit raubt, bis davon nichts mehr übrig bleibt,32 setzte Kitwood Anfang der 1990er Jahren ein Konzept von Personsein (personhood) entgegen, welches nicht an kognitive Fähigkeiten eines Menschen gekoppelt ist. Viel eher versteht er Personsein als ein

»Stand oder Status, der dem einzelnen Menschen im Kontext von Beziehung und sozialem Sein von anderen verliehen wird. Er impliziert Anerkennung, Respekt und Vertrauen. Ob jemandem Personsein zuerkannt wird oder nicht: Beides hat empirisch überprüfbare Folgen.«33

Für Kitwood ist Personsein nicht unabhängig vom sozialen Umfeld zu sehen, das einem Menschen den Personenstatus durch Anerkennung dessen überhaupt erst ermöglichen kann. Eine Person ist nach Kitwood also, wem dieser Status gegeben wird. Dies bedeutet einerseits, dass eine Person mit Demenz ihr Personsein nicht verlieren muss, nur weil die Demenz ihre kognitiven Fähigkeiten immer mehr einschränkt. Solange das soziale Umfeld die betroffene Person als Person versteht und behandelt, bleibt ihr auch ihr Personsein erhalten. Andererseits birgt eine konsequent soziale Anschauung von Personsein auch die Gefahr, dass es jemandem durch das soziale Umfeld aberkannt werden kann. An diesem Punkt setzt Kitwood an und zeigt auf, dass das Personsein mittels sozialer Praktiken der Depersonalisierung bei Menschen mit Demenz systematisch untergraben wird:

»In vielen Kulturen hat sich eine Tendenz dahingehend gezeigt, Menschen mit schwerer körperlicher oder seelischer Behinderung zu depersonalisieren. Es wird ein Konsens geschaffen, in der Tradition verankert und in soziale Praktiken eingebettet, demzufolge die Betroffenen keine echten Personen sind.«34

Sobald Menschen aus dem sozialen Umfeld demenzbetroffener Personen zu akzeptieren beginnen, dass sie selbst Teil des Problems sind, wird es laut Kitwood möglich, etwas dagegen zu unternehmen. Das Wissen über die Intersubjektivität des Personseins sieht er deshalb als wichtigen Teil eines therapeutischen Bewusstseins.35 Auf Basis dieser Erkenntnis entwickelt er sodann Leitlinien für eine gute Pflege demenzbetroffener Personen, die er den »person-zentrierten Ansatz«36 nennt und die zum Ziel haben, das Personsein von Demenzbetroffenen zu erhalten. Einerseits zeigt er 17 verschiedene Handlungsweisen auf, die zur Depersonalisierung von Menschen mit Demenz beitragen, und fasst sie unter der Bezeichnung maligne, bösartige Sozialpsychologie zusammen.37 Andererseits zeigt er auf, was eine »positive Arbeit an der Person«38 bedeutet. Diese beinhaltet für ihn unter anderem, dass Vorlieben, Wünsche und Bedürfnisse der betroffenen Person erfragt werden.39 Dies sei auch ohne Sprache möglich, da in zwischenmenschlichen Prozessen auch Gefühle zum Ausdruck gebracht werden, denen in validierender Weise begegnet werden könne.40 Zudem dürfe die Pflege nicht »jemandem angetan« werden, sondern müsse als eine Zusammenarbeit verstanden werden, in der eine Aufgabe gemeinsam gelöst wird und in die die betroffene Person ihre Fähigkeiten einbringen kann.41 Insgesamt formuliert er zehn Punkte42 positiver Arbeit an der Person, anhand derer wiederum mithilfe der Methode des Dementia Care Mapping überprüfbar wird, inwiefern eine Pflege nach Kitwood person-zentriert ist.43

Kitwoods Vorschlag einer Pflegepraxis, die den Erhalt und die Unterstützung des Personseins von Menschen mit Demenz als eine ihrer zentralen Aufgaben versteht, bedeutet eine klare Abkehr von der Vorstellung, Demenz führe notwendigerweise zu einer radikalen Desintegration der Person44 beziehungsweise von der Vorstellung, Demenz sei ein »Tod, der den Körper zurücklässt«.45 Denn sobald wir anfangen, Menschen mit Demenz als Personen zu sehen, verliere auch Demenz als »begriffliche Entität […] die erschreckenden Assoziationen mit dem tobenden Irren im Asyl vergangener Tage«. Demenz werde dann »als menschlicher Zustand wahrgenommen, und die davon Betroffenen […] allmählich anerkannt, willkommen geheißen, umfangen und gehört«.46

Kitwood führte mit seinem Ansatz der person-zentrierten Pflege zu einer bemerkenswerten Veränderung in der Pflegepolitik. Wenn in den 1980er Jahren noch mehrheitlich auf das Erleichtern der Pflegearbeit geachtet wurde, begann man in den 1990er Jahren vermehrt, auch das Wohl von Menschen mit Demenz in die Pflegepolitik und -praxis miteinzubeziehen. Die Anerkennung von Menschen mit Demenz als Personen führte so zu mehr individuellem Verständnis für Betroffene.47

Der Status einer Person, so kritisieren Ruth Bartlett und Deborah O’Connor, sei jedoch ein apolitischer Status und verbessere die Lebenssituation von Menschen mit Demenz nicht hinsichtlich einer gesellschaftlichen und politischen Einbindung. Das Konzept der personhood anerkenne Menschen mit Demenz zwar als Personen, nicht aber als soziale Akteur*innen, die fähig sind, Macht und Einfluss auszuüben.48 Um das Verhältnis von Menschen mit Demenz zur Gesellschaft und zum Staat zu diskutieren und dabei die zivilen, politischen und sozialen Rechte von Menschen mit Demenz zu beleuchten, bringen sie den Begriff der citizenship in die Diskussion um Demenz ein.49

1.1.2Der Bürger*innen-Status

Laut der englischen Sozialwissenschaftlerin Anthea Innes tauchten erste Anliegen zur Anerkennung von citizenship demenzbetroffener Personen bereits Ende der 1990er Jahre auf. Etwa dann, wenn gefordert wird, dass Menschen mit Demenz ein Anrecht auf den Erhalt einer Diagnose sowie auf die Mitbestimmung haben, ob sie sich der wissenschaftlichen Demenzforschung zur Verfügung stellen wollen oder nicht.50 Eine klare Forderung nach Anerkennung von citizenship von Menschen mit Demenz wurde jedoch erst nach der Jahrtausendwende von Bartlett und O’Connor51 sowie von Tula Branelly52 (später in Zusammenarbeit mit Jean A. Gilmour) in den wissenschaftlichen Demenzdiskurs eingeführt. Im Übertragen des Begriffs auf die Situation von Menschen mit Demenz bewegen sich Gilmour und Branelly weg von einem traditionellen Verständnis von citizenship, in dem die Fähigkeit zur politischen Partizipation im Zentrum steht. Sie distanzieren sich auch vom Leitbegriff der Autonomie und der Vorstellung, dass Menschen überhaupt ihre Entscheidungen unabhängig von anderen Menschen treffen würden. Viel eher bedeutet citizenship für Gilmour und Branelly soziale Partizipation.53

In ihrem Artikel Citizenship and people living with dementia54 unterscheidet Branelly sodann drei verschiedene Arten von citizenship: citizenship als Relation zwischen dem Subjekt und dem Staat, citizenship als soziale Praxis und citizenship als Identität und Zugehörigkeit. Unter Ersterem versteht sie den Zugang zu staatlichen Unterstützungsleistungen, die den Bedürfnissen demenzbetroffener Personen gerecht werden. Wichtig sei dabei, dass keine vermögensbedingten Unterschiede in der Qualität der Versorgung entstehen und dass dem Pflegepersonal genügend Zeit zur Verfügung stehe, um die Bedürfnisse der betroffenen Personen zu erfragen. Mit dem Konzept der citizenship als soziale Praxis nimmt Branelly zwischenmenschliche Beziehungen in den Blick. Entscheidend sei darin die Möglichkeit für Menschen mit Demenz, Sorge nicht nur von anderen zu empfangen, sondern auch geben zu dürfen. Sie kritisiert dabei die Rollenteilung von Sorgeempfangenden und Sorgeleistenden, die dazu führe, dass eine Sorge erhaltende Person in der Identität des welfare subject erstarren und als passives Subjekt wahrgenommen würde – unfähig, selbst etwas zur Situation beizutragen. Um Menschen mit Demenz citizenship als Praxis zu ermöglichen, müssten deshalb Wahlmöglichkeiten in die Pflege miteinbezogen werden, sowie auf die Reaktionen von demenzbetroffenen Personen auf die ausgeführten Pflegeleistungen Bezug genommen werden. Unter citizenship als Identität und Zugehörigkeit beschreibt Branelly schließlich den Zustand gesellschaftlicher Teilhabe: Die Zugehörigkeit zu Gemeinschaften, in denen die betroffene Person eine Rolle erfüllen und ihrem Alltag einen Sinn geben kann.55

Citizenship wird nach Branelly folglich in Beziehungen zu anderen Menschen ermöglicht. Dies geschieht dann, wenn das Gegenüber die betroffene Person als Bürger*in (citizen) versteht, etwa als eine Person, die nicht nur Hilfe empfangen, sondern auch Sorge geben und sich in Beziehungen einbringen kann. Es geschieht auch dann, wenn das Gegenüber es als ein Recht der betroffenen Person versteht, dass ihre Bedürfnisse in die Pflege miteinbezogen werden und dass sie an Gemeinschaften teilhaben kann.56 Diesen Ansatz nehmen Pia Kontos et al.57 auf und entwickeln ihn weiter, indem sie den Begriff relationalcitizenship einführen. Citizenship als (soziale) Relation zu sehen, basiert zwar weiterhin auf Konzepten der Interdependenz und Reziprozität sowie auf der Vorstellung von Demenzbetroffenen als aktiven Partner*innen in der Pflege. Das Modell der relational citizenship bezieht aber zusätzlich den leiblichen Körper als Quelle des Selbstausdrucks mit ein und ermöglicht citizenship von Menschen mit Demenz auch in Momenten, in denen ihnen der sprachliche Selbstausdruck verwehrt bleibt.58 Kontos formuliert den Zusammenhang von embodied selfhood und relational citizenship wie folgt:

»Here, we wish to argue that embodied self-expression must be recognized as fundamental to the human condition and thus supported through a matrix of human rights (e.g. rights of privacy, freedom of expression, liberty, health, and human dignity). The proposed model of relational citizenship is particularly pertinent for supporting the rights of individuals with dementia because it recognizes embodied self-expression as fundamental to being human. Such expressions are not typically valorized within traditional (instrumental) models of citizenship that prioritize self-sovereignty and public forms of engagement.«59

Wenn Menschen mit Demenz – unabhängig davon, wie weit ihre Demenz fortgeschritten ist – der soziale und politische Status von Bürger*innen zuerkannt wird, wenn sie als soziale Akteur*innen wahrgenommen werden, die fähig sind, sich auszudrücken, an einer Gesellschaft teilzuhaben und Einfluss auf andere Menschen zu nehmen, dann scheint es naheliegend, dass ihre Stimme auch gehört und in den (wissenschaftlichen) Diskurs um Demenz integriert werden muss.

1.1.3Die Stimme von Menschen mit Demenz

1996 publizierte der schottische Pfarrer Malcolm Goldsmith eine explorative Studie mit dem Titel Hearing the Voice of People with Dementia. Darin kritisiert er, dass in der Demenzforschung fast ausschließlich Fachpersonal aus der Medizin und der Pflege zu Wort kommt. Neuerdings würden zwar auch Familienangehörige betroffener Personen befragt, doch Menschen mit Demenz selber kämen nicht zu Wort. Selbst Kitwood, der in seiner Vision einer neuen Pflegekultur für Demenzbetroffene erstmals die Aufmerksamkeit auf die Menschen mit Demenz legt, habe ihre Stimmen nicht gehört und nicht in seine Forschung integriert.60 Das Ziel von Goldsmiths Studie ist es sodann, aufzuzeigen, dass Menschen mit Demenz eine Stimme haben, dass diese gehört werden kann und dass sie in den Diskurs um Demenz integriert werden muss. Er zieht zur Beweisführung unterschiedliche Studien aus den Pflegewissenschaften heran, anhand derer Goldsmith ersichtlich macht, dass eine Kommunikation mit Demenzbetroffenen bis zu einem sehr weit fortgeschrittenen Stadium der Demenz möglich ist. Zudem lässt er auch immer wieder von Menschen mit Demenz verfasste Schriftstücke einfließen, die über ihre beginnende bis mittelschwere Demenz reflektieren und die ihre Stimme in den Diskurs um Demenz einzubringen suchen. In seiner Studie kommt Goldsmith zu dem Schluss, dass folgende drei Punkte erfüllt werden müssen, damit die Stimme von betroffenen Personen gehört werden kann: Grundsätzliche Voraussetzung sei erstens die Akzeptanz davon, dass Menschen mit Demenz eine Stimme haben. Zweitens müsse die Stimme hörbar gemacht werden (was er deshalb auch als eine Aufgabe der Pflege formuliert) und drittens müsse die Stimme aktiv gehört werden.61 Wenn Menschen mit Demenz nicht gehört werden, so folgert Goldsmith, liege dies nicht an ihrer eigenen Unfähigkeit, sich auszudrücken, sondern entweder an einem fehlenden Bewusstsein für die Existenz ihrer Stimme oder dem fehlenden Versuch, diese hörbar zu machen beziehungsweise überhaupt hinzuhören.62

Seinem Ruf, die Stimme von Menschen mit Demenz hörbar zu machen, folgen einige wissenschaftliche Studien zum Thema Demenz, deren Quellenmaterial in der direkten Kommunikation mit betroffenen Personen entstand. Zu nennen wären hier etwa die Analysen von Elizabeth Barnett,63 Renée Beard,64 Elisabeth Stechl,65 Deborah O’Connor et al.,66 Denise Tanner,67 Reingard Lange68 und Raphael Schönborn.69 Im Folgenden werden nun einige wichtige Erkenntnisse aus diesen Studien vorgestellt.

In dem 2009 publizierten Artikel Managing disability and enjoying life: How we reframe dementia through personal narratives der US-amerikanischen Soziologin Renée Beard et al. werden 27 Interviews mit demenzbetroffenen Personen ausgewertet. Befragt werden die Interviewpartner*innen erstens zur Beschaffenheit demenzbezogener Probleme in ihrem Alltag, zweitens zu ihrem Umgang damit und drittens zu von ihnen selbst unternommenen Schritten, um ihr Leben ganz allgemein zu bereichern. Beard et al. arbeiten anhand der Interviewaussagen heraus, dass Probleme im Leben mit Demenz nicht nur aufgrund von kognitiven Einschränkungen entstehen, sondern auch aufgrund der an die Betroffenen gestellten Anforderungen, die nicht erfüllt werden können. Ein wesentlicher Teil des Artikels beschreibt deshalb, wie Menschen mit Demenz auf ihr Leben einwirken, um nicht nur mit kognitiven Beeinträchtigungen, sondern auch mit dem von ihnen beschriebenen sozialen Druck umzugehen.

In ihrem umfangreichen Werk Living With Alzheimer’s von 2016 wiederum fokussiert Beard anhand von narrativen Interviews mit Demenzbetroffenen auf die Frage, wie sich der Erhalt einer Demenzdiagnose auf die eigene Identität auswirken kann. Sie arbeitet unter anderem heraus, dass Menschen mit Demenz die ihnen von der Ärzteschaft dargebotene Patientenidentität entweder bewusst ablehnen oder sie bewusst annehmen, wobei sie diese in unterschiedlichen Arten und Weisen in ihre bestehenden Identitäten einbinden. In der Aushandlung, inwiefern ein Patientenstatus für sich selbst angenommen oder abgelehnt wird, erkennt Beard sodann ein Potenzial, die eigene Situation im Leben mit Demenz aktiv mitzugestalten. Die Ergebnisse ihrer Studien bringen Beard schließlich dazu, Betroffene nicht als Opfer einer Krankheit, sondern als potenziell handlungsmächtige Personen zu verstehen.70 Sie spricht deshalb auch von Demenz als einer manageable disability.71

Die kanadischen Sozialwissenschaftlerinnen Deborah O’Connor, Alison Phinney und Wendy Hucko untersuchen in ihrem 2010 publizierten Artikel Dementia at the Intersections: A unique case study exploring social location den Einfluss von sozialer und kultureller Situiertheit auf das Erleben einer Demenz. Die Studie basiert auf Interviews mit einer demenzbetroffenen Frau, ihrer Partnerin und ihrer Tochter sowie auf Mitschriften aus teilnehmender Beobachtung ihrer Lebenssituation während eines Jahres. Anhand dieses Materials arbeiten sie heraus, dass die Art und Weise der eigenen sozialen und kulturellen Situiertheit entscheidend dafür ist, wie im Leben mit Demenz Sinn hergestellt wird. Anhand dieser Fallstudie zu einer jüngeren, wenig vermögenden, in einer gleichgeschlechtlichen Partnerschaft lebenden und von Aborigines abstammenden Frau zeigen sie auf, welche persönlichen Ressourcen ihr dabei helfen, ein sinnerfülltes Leben zu leben, und welche persönlichen Umstände und Intersektionalitäten sie darin behindern. Ähnlich wie die Studie von Beard macht auch die Analyse von O’Connor et al. deutlich, dass die Identität einer Person mit Demenz viel mehr ist als nur die einer Demenzpatientin. Und sie zeigt auf, dass das Leben mit Demenz nicht eine ganz bestimmte Erfahrung darstellt, sondern so divers erlebt wird, wie die eigenen Lebensumstände es sein können.

Mit der Verschiebung des wissenschaftlichen Fokus weg vom professionellen und familiären Umfeld demenzbetroffener Personen und hin zu Stimmen von Menschen mit Demenz, ist es möglich aufzuzeigen, dass Menschen mit Demenz keine passiven Opfer einer Krankheit sind, sondern Persönlichkeiten, die ihre Lebenssituation bewusst mitgestalten und die aktiv auf ihr Leben einwirken. Zudem wird herausgearbeitet, dass das Erleben einer Demenz eine heterogene Erfahrung darstellt und dass die Möglichkeit, ein subjektiv sinnvolles Leben zu leben, von persönlichen Ressourcen und von der sozialen und kulturellen Situiertheit einer Person abhängig ist.

Die eben beschriebenen Erkenntnisse helfen dabei, die Stimme und Handlungsmacht von Menschen mit Demenz anzuerkennen und zu fördern. Eine solche Entwicklung ist etwa da zu beobachten, wo Menschen mit Demenz in Entscheidungen, die sie selbst betreffen, miteinbezogen werden: Wenn sie etwa als Partner*innen in der Pflege fungieren, wenn sie im Vorstand einer Alzheimervereinigung tätig sind72 oder als Mitglied eines europäischen Zusammenschlusses demenzbetroffener Personen Einfluss auf demenzspezifische Entscheidungen in der Politik nehmen können.73 Die Vorstellung von Demenz als manageable disability und das Bild von Demenzbetroffenen als handlungsfähige Persönlichkeiten birgt jedoch die Gefahr, dass Personen, die keinen für sich stimmigen Umgang mit der eigenen Demenzbetroffenheit finden, persönliches Versagen unterstellt wird. Es bestehe also die Gefahr, so argumentieren Patricia McParland et al., dass von Menschen mit Demenz mehr Selbstverantwortung erwartet werde und diese dadurch verletzlicher gemacht würden.74 Auf diese Schwierigkeit im Umgang mit der Anerkennung der Handlungsmacht vulnerabler Personen soll nun im folgenden Kapitel näher eingegangen werden.

1.2Diskurse der Tragödie und des guten Lebens

Die Verschiebung der wissenschaftlichen Aufmerksamkeit auf die Stimmen von Menschen mit Demenz brachte nach McParland et al. in der sozialwissenschaftlichen Forschung einen living well-Diskurs hervor. Dieser verschaffe all jenen Menschen mit Demenz Gehör, die von sozialer Inklusion und positivem Lebenserfahren sprechen. Damit werde ein positiver Zugang zu Demenz geschaffen, der die bisherige Darstellung von Demenz als Tragödie aufbreche und durch Beispiele von kognitiver Rehabilitation, Bewältigungsstrategien und Selbstmanagement betroffener Personen erweitere. Ein positiver Zugang zu Demenz sei auch deshalb zu begrüßen, weil Menschen mitDemenz selbst auf Foren, Blogs und Konferenzen für die Inklusion und Anerkennung von Demenzbetroffenen als normale Menschen kämpfen würden. Trotzdem müsse dieserDiskurs problematisiert werden, da die Bemühung um Normalisierung von Demenz riskiere, die Verletzlichsten unter ihnen auszuschließen. Menschen mit einer weit fortgeschrittenen Demenz, die nicht dem Bild des living well-Diskurses entsprächen, würden also weiterhin »im Schatten leben« (living in the shadows).75 Zudem sei der darin verbreitete Ansatz zu kritisieren, Menschen mit Demenz seien deshalb wertvoll, weil sie noch immer aktiv etwas zur Gesellschaft beitragen könnten. Dies schließe alle aus, die sich im Leben mit Demenz nicht mehr in produktiver Weise betätigen.76

Die diskursiv hergestellte Spaltung zwischen Menschen, die trotz Demenz sozial engagiert und produktiv tätig sind, und Menschen, die »im Schatten lebend« auf die Hilfe von anderen Menschen angewiesen sind, erinnert an die von den Kulturwissenschaftlern Harm-Peer Zimmermann und Heinrich Grebe kritisierte, in deutschen Printmedien77 sichtbare Trennung von einem dritten und einem vierten Alter. Während das dritte Alter, so die Autoren, als eine Phase dargestellt werde, in der sich der alte Mensch fit fühle und sich aktiv betätigen könne, werde das vierte Alter beschrieben als Phase des physischen und mentalen Verlusts. Mit der Bewunderung von Hundertjährigen, die immer noch Marathons laufen, werde gleichzeitig eine Abwertung derer vollzogen, die altersbedingte Gebrechen aufweisen. Sie würden als gescheiterte Menschen erscheinen, die dem Ruf nach Fitness, Aktivität und Produktivität nicht nachgekommen sind und infolgedessen eine Last für die Volkswirtschaft darstellen. Diese Trennung zwischen einem erfolgreichen dritten und einem gescheiterten vierten Alter hat nach Zimmermann und Grebe zwei biopolitische Konsequenzen: Im Kontext von Empfehlungen und Ermahnungen in Bezug auf ein »gesundes Leben« erscheint der (alte) Mensch erstens selbst verantwortlich für seine gesundheitliche Situation und zweitens mitverantwortlich für die Gesundheit der Bevölkerung als Ganze.78

Angewendet auf die Situation von Menschen mit Demenz bedeutet dies Folgendes: Wenn als Resultat der Vorstellung von Demenz als Tragödie ausnahmslos alle Menschen mit Demenz als Vertreter*innen des vierten Alters verstanden werden, so ermöglicht der living well-Diskurs denjenigen Betroffenen die Zugehörigkeit zum dritten Alter, die sich diese mittels kognitiver Rehabilitation, Bewältigungsstrategien und Selbstmanagement »verdient« haben. Eine solch meritokratische Bewertung von Menschen mit Demenz stigmatisiert jedoch genau die Menschen, die am meisten auf die Unterstützung eines gesellschaftlichen und sozialen Umfelds angewiesen sind. McParland et al. fordern deshalb einen Gegenentwurf zu einem guten Leben mit Demenz, das gemessen wird an Normalität und einem Produktivitätswert. Dieser Gegenentwurf dürfe weder Schwierigkeit und Schmerz noch Freude und Befreiung im Leben mit Demenz ausblenden, sondern er müsse Gefürchtetes wie Freudvolles akzeptieren und so einen Diskurs zu Demenz ermöglichen, der das Risiko der Marginalisierung und der sozialen Exklusion betroffener Personen vermindert.79

1.3Handlungsfähigkeit und Interdependenz

Hier setzt das Erkenntnisinteresse der vorliegenden Studie an. Mit dem Fokus auf Stimmen von Menschen mit Demenz wird erstens herausgearbeitet, mit welchen emotionalen, körperlichen und strukturellen Herausforderungen Menschen mit Demenz in ihrem alltäglichen Leben konfrontiert sind. Zweitens wird aufgezeigt, welchen Umgang sie damit suchen – und unter Umständen finden –, um ein für sie stimmiges Lebensgefühl zu entwickeln. Dabei geht es nicht um die Frage nach Resilienz, wie sie der deutsche Kultursoziologe Ulrich Bröckling80 beschreibt, das heißt nach einer persönlichen Anpassungsleistung an unveränderbare Umstände, sondern um die Frage der Sorge um sich.81Wie sorgen sich Menschen mit Demenz um ihre Persönlichkeit und ihr Selbstbild, wie sorgen sie sich um Beziehungen zu anderen Menschen, wie sorgen sie sich um ihre soziale Einbindung und wie um ihre gesellschaftliche Positionierung? Untersucht werden damit Relationen von Menschen mit Demenz zu unterschiedlichen Dimensionen sozialer Ordnung, innerhalb derer betroffene Personen als soziale Akteur*innen im Sinne von relational citizenship verstanden werden. Mit einem Verständnis der Sorge um sich als relationale Praxis wird nicht nur die Person mit Demenz als soziale Akteurin innerhalb gesellschaftlicher Strukturen untersucht, sondern immer auch ein in der Praxis der Selbstsorge adressiertes Gegenüber miteinbezogen. Damit wird keine neoliberale Agenda verfolgt und zwischen erfolgreich und nicht erfolgreich selbstsorgenden Menschen unterschieden. Wenn eine konkrete Selbstsorgebemühung gelingt beziehungsweise nicht gelingt, wird die Erklärung dafür auch nicht lediglich bei der Person mit Demenz (oder sogar in der Beschaffenheit ihres Gehirns) gesucht, sondern im Zusammenspiel zwischen der Person mit Demenz und ihrem sozialen Umfeld. Dies wirft unter anderem Fragen nach einer Veränderung im Umgang mit Menschen mit Demenz auf.

Mit der Analyse von Selbstsorgebestrebungen von Menschen mit Demenz wird folglich ein Beitrag zum Diskurs der Handlungsfähigkeit und Interdependenz (discource of agency and interdependence)82geleistet, wie ihn die englische Pflegewissenschaftlerin Linda Birt et al. vorschlagen.83 In der vorliegenden Studie werden Menschen mit Demenz als Personen verstanden, als potenziell handlungsmächtige Bürger*innen, deren Stimmen gehört werden können und deren Aussagen als Quellenmaterial für eine kulturwissenschaftliche Analyse dienen. Dabei wird Demenz weder als Tragödie gerahmt noch wird diese Vorstellung mit best practice-Beispielen von aktiven und produktiven Demenzbetroffenen konfrontiert. Untersucht werden stattdessen emotional aufreibende und schmerzvolle Erfahrungen von Menschen mit Demenz, die in der Beziehung zu sich selbst, zu anderen Menschen, sozialen Gruppen oder gesellschaftlichen Strukturen im Zusammenhang mit der eigenen Demenzbetroffenheit auftreten und denen in einer Sorge um sich begegnet wird. Untersucht werden Menschen als relationale und soziale Wesen, die in vielfältige Interdependenzgeflechte eingebunden sind, in denen eine Demenzbetroffenheit Sorgen bereiten kann. Im Sichtbarmachen dieser Sorgen und der Versuche, damit einen stimmigen Umgang zu finden, werden gesellschaftliche und soziale Strukturen und ihr Einfluss auf ein Leben mit Demenz beleuchtet und kritisch befragt.

1.4Aufbau der Analyse

Anschließend an das vorliegende, einleitende Kapitel, in dem mein Forschungsinteresse anhand der bisher geleisteten Arbeit innerhalb der dementia studies hergeleitet wird, baut sich die Analyse wie folgt auf:

In Kapitel 2 werden die zwei zentralen Analysekategorien – die Demenz und die Selbstsorge – diskutiert. Es wird aufgezeigt, in welcher Bedeutung die Begriffe verwendet werden, welche Schwierigkeiten sie mit sich bringen und wieso es trotzdem sinnvoll ist, sie in der Analyse zu verwenden.

Kapitel 3 widmet sich dem methodischen Vorgehen der vorliegenden Studie. In einem ersten Teil wird der Quellenkorpus umrissen: Es wird vorgestellt, wer die Personen sind, die mir ihre Erfahrungen im Leben mit Demenz zur Verfügung gestellt haben, wie ich den Zugang zu diesen Personen gefunden habe und welche Grenzen der Korpus aufweist. In den darauffolgenden Teilen widmet sich das Kapitel der Beschreibung der Methoden. Erstens wird die Methode des problemzentrierten Leitfadeninterviews beschrieben und der Prozess von der Erstellung des Interviewleitfadens bis zum Verfassen eines Transkripts aufgezeigt. Ein Fokus liegt dabei auf den Besonderheiten, die Kontaktaufnahme, Planung und Interviewführung mit Demenzbetroffenen mit sich bringen kann. Zweitens wird auf die Methode der teilnehmenden Beobachtung eingegangen. Dabei werden vier unterschiedliche Selbsthilfe- beziehungsweise Selbstvertretungsgruppen für Menschen mit Demenz vorgestellt, in denen ich forschend teilnehmen durfte. Es wird beschrieben, welche Funktion ich in den Gruppen einnahm und wie das Material generiert wurde, das für die vorliegende Studie verwendet wird. Daran anknüpfend wird drittens dargelegt, wie das Datenmaterial aus den Interviews und den teilnehmenden Beobachtungen mithilfe der Textanalyse nach der Grounded Theory auf wiederkehrende Muster untersucht wird und wie die dabei entstehenden Cluster in die Struktur der vorliegenden Arbeit einfließen. Ein letzter Teil dieses Kapitels thematisiert schließlich die von Gayatri Chakravorty Spivak eingebrachte Struktur der Verantwortlichkeit,84 in die ich im Austausch mit Menschen mit Demenz einzutreten versucht habe.

Kapitel 4 bis 7 bilden die Analyse der empirisch erhobenen Daten und weisen alle denselben Aufbau auf. Jedes Kapitel widmet sich einer bestimmten Relation zwischen der Person mit Demenz und einer sie tangierenden Dimension sozialer Ordnung: Kapitel 4 behandelt den Selbstbezug von Menschen mit Demenz, Kapitel 5 untersucht Beziehungen zu anderen Menschen, Kapitel 6 widmet sich der Relation zu gesellschaftlichen Strukturen und Kapitel 7 nimmt den Bezug zum eigenen Körper innerhalb einer leiblich erfahrbaren Welt in den Blick. In jedem dieser Kapitel beschreibt das jeweils erste Unterkapitel gewisse Umstände der jeweiligen Relation, die den befragten Personen im Leben mit Demenz Sorgen (im Sinne von Besorgtsein) bereiten. Die darauffolgenden Unterkapitel zeigen auf, wie Menschen mit Demenz auf die besorgniserregenden Umstände reagieren und damit eine für sich stimmige Situation herzustellen versuchen. Das Bemerken besorgniserregender Umstände und die beschriebenen Arten und Weisen des Umgangs mit Herausforderungen im Leben mit Demenz werden als konkrete Formen von Selbstsorge verstanden und in einem jeweils abschließenden Unterkapitel in übersichtlicher Weise zusammengefasst.

Mit Kapitel 8 schließt die vorliegende Studie, indem die Analyse von einer Mikroebene auf eine Makroebene wechselt. Während in Kapitel 4 bis 7 einzelne Menschen, ihre Lebensumstände und konkreten Selbstsorgepraktiken im Zentrum der Untersuchung stehen, wird in Kapitel 8 ein den einzelnen Relationen übergeordneter Blick eingenommen. Es wird erstens herausgearbeitet, wie die vier untersuchten Relationen zueinander in Beziehung stehen, und aufgezeigt, inwiefern eine Selbstsorge bei Demenz in ihrer Praxis immer mehrere Relationen gleichzeitig durchdringt. Zweitens wird die Prozesshaftigkeit und Dynamik einer Selbstsorge bei Demenz beleuchtet. Dabei wird die Entwicklung einer Selbstsorge in einzelnen, aufeinander aufbauenden Phasen beschrieben sowie herausgearbeitet, inwiefern demenzbetroffene Personen eine Selbstsorgehandlung kontinuierlich an sich verändernde Lebensumstände und wechselnde Bedürfnisse anpassen. Drittens werden unterschiedliche Ressourcen für Selbstsorgehandlungen in den Blick genommen und ihr Gebrauch im Fortschreiten einer demenziellen Entwicklung diskutiert. Darauffolgend wird viertens das Verhältnis zwischen Selbstsorge und Selbstregulierung betrachtet, wobei versucht wird, Erstere von Letzterer abzugrenzen. Und schließlich wird fünftens ein Ausblick auf eine mögliche, die vorliegende Analyse weiterführende Forschung gegeben.

1Mitglieder der Selbsthilfegruppe Labyrinth diskutieren über das Vergessen von Namen (SLTB1).

2Ein Teilnehmer der Gesprächsgruppe erzählt, dass ihm die Wörter auf dem Weg zwischen Gedanken und Formulierung verloren gehen und er deshalb teilweise Mühe habe, mit anderen Menschen zu kommunizieren (GGLU1).

3Ein Teilnehmer der Selbsthilfegruppe Labyrinth erzählt von seinem Zusammenbruch aufgrund von Überarbeitung und einem dreimonatigen Aufenthalt in einer psychiatrischen Klinik (SLTB2).

4UFIV1.

5LMIV2.

6Ein Teilnehmer der Gesprächsgruppe erzählt, dass er ganz genau gewusst habe, bei welcher Station er aussteigen müsse, aber dann eben doch bei der falschen Station ausgestiegen und zu spät zu einer Beerdigung gekommen sei (GGLU2).

7FIIV1.

8RSIV1.

9UFIV1.

10FIIV2.

11Pseudonym.

12LMIV2.

13Ebd.

14Lyman 1989, 598-600.

15Vgl. Beard et al. 2009; Beard 2016; Sabat et al. 2004; McCormack 2004; Kontos 2005; Wetzstein 2006; Leibing 2006; Innes 2009; Grebe 2015a; Gebe 2015b; Grebe 2019; Wissmann/Gronemeyer 2008; Alison 2010; Kruse 2010; Wissmann 2010; van Gorp et al. 2012a; van Gorp et al. 2012b; Schröder 2014; McParland et al. 2017; Zimmermann 2018a; Wolf 2020.

16Vgl. Kitwood et al. 1992; Kitwood 2016 (1997); Kitwood 1998.

17Vgl. Innes 2009.

18Zimmermann 2018a, 10.

19Vgl. Grebe/Otto/Zimmermann 2013; Grebe 2015a.

20Nach der Kulturwissenschaftlerin Sabine Eggmann (2014, 284-285) fokussiert Kultur »die gesellschaftliche Komplexität auf eine ihr ganz spezifische Weise, nämlich in Form von Relationierungen zwischen Menschen und ihrer vielfältigen, sozialen Umwelt«.

21Grebe/Otto/Zimmermann 2013.

22Nach Jürgen Link ist der Interdiskurs ein Diskurs, der Expertenwissen aus den Spezialdiskursen mit Elementarwissen des Alltags zusammenführt und somit Subjektivierungsangebote bietet (vgl. Grebe 2019).

23Grebe/Otto/Zimmermann 2013, 95.

24Grebe 2019, 210.

25Grebe/Otto/Zimmermann 2013, 95-99.

26Grebe 2019, 205.

27Grebe/Otto/Zimmermann 2013, 92-93.

28Ebd., 103.

29Ebd., 103-104.

30Wetzstein 2006, 39.

31Wetzstein 2006, 43.

32Grebe/Otto/Zimmermann 2013, 100.

33Kitwood 2016 (1997), 31.

34Ebd., 38.

35Kitwood 1992, 274-275.

36Ebd.

37Kitwood 2016 (1997), 91-93.

38Ebd., 125.

39Ebd., 159.

40Ebd., 125.

41Ebd., 159.

42Nebst der Anerkennung (recognition) der Person, dem Verhandeln (negotiation) von Bedürfnissen und der Zusammenarbeit (collaboration) in der Durchführung von Aufgaben nennt er auch das Spielen (play), die Timalation (timalation), das Feiern (celebration), das Entspannen (relaxation), die Validation (validation), das Halten (holding) und das Erleichtern (facilitation) als weitere Aufgaben einer person-zentrierten Pflege (Kitwood 2016 [1997], 159-162).

43Vgl. Innes 2009, 16.

44Kitwood 2016 (1997), 122.

45Ebd., 22.

46Ebd., 231.

47Bartlett/O’Connor 2007, 110.

48Ebd., 110.

49Ebd.

50Innes 2009, 156.

51Bartlett/O’Connor 2007.

52Branelly 2004; Branelly 2007.

53Gilmour/Branelly 2010, 243.

54Branelly 2016.

55Ebd., 308-311.

56Branelly 2016, 308-311.

57Kontos et al. 2018.

58Ebd., 543.

59Ebd., 547.

60Goldsmith 1996, 12.

61Ebd., 161.

62Ebd., 163.

63Barnett 2000.

64Beard 2004; Beard 2016; Beard et al. 2009.

65Stechl 2006.

66O’Connor et al. 2010.

67Tanner 2012.

68Lange 2018.

69Schönborn 2018.

70Beard 2016, 228.

71Ebd., 235.

72Die deutsche Demenzaktivistin Helga Rohra wurde als Sprecherin von Demenzbetroffenen in den Vorstand der Alzheimer Gesellschaft München gewählt. Siehe dazu: https://www.deutsche-alzheimer.de/ueber-uns/25-geschichten/nr-5-helga-rohra.html (Abgerufen: 09.03.2021).

73Der Schweizer Thomas C. Maurer ist zusammen mit 14 anderen europäischen Vertreter*innen Teil der European Working Group of People with Dementia. Siehe dazu: https://www.alzheimer-europe.org/Alzheimer-Europe/Who-we-are/European-Working-Group-of-People-with-Dementia (Abgerufen: 13.10.2020).

74McParland et al. 2017, 260-261.

75McParland et al. 2017, 264.

76Ebd., 259-264.

77Untersucht wurden auflagenstarke Printmedien in deutscher Sprache, die zwischen 1990 und 2012 erschienen sind. Vgl. Zimmermann/Grebe 2014, 22.

78Zimmermann/Grebe 2014, 23-24.

79McParland et al. 2017, 265.

80Bröckling 2017, 113-139.

81Vgl. Kapitel 2.2.

82Birt et al. 2017, 199.

83Ebd.

84Spivak 2008 (1988), 129.

2Analysekategorien

In diesem Kapitel werden die titelgebenden Begriffe der vorliegenden Studie diskutiert: Die Demenz und die Selbstsorge. Dabei wird aufgezeigt, woher die Begriffe stammen, in welcher Bedeutung sie verwendet werden, welche Schwierigkeiten sie allenfalls mit sich bringen und wieso es trotzdem sinnvoll ist, sie als zentrale Analysekategorien zu verwenden.

2.1Die Demenz

Die Weltgesundheitsorganisation definiert Demenz als »a syndrome in which there is deterioration in memory, thinking, behaviour and the ability to perform everyday activities«.1Dieser Definition ist abzuleiten, dass Demenz an der Kombination unterschiedlicher Verhaltensauffälligkeiten erkannt und im medizinischen Kontext als solche diagnostiziert wird. Die spezifische Ausprägung der Demenz – etwa eine Alzheimer-Demenz, eine Lewi-Body-Demenz, eine Vaskuläre Demenz oder eine Frontotemporale Demenz – wird dann jeweils bestimmt, indem das Gehirn mittels bildgebender Verfahren untersucht wird. Mithilfe ausschließlich körperlicher Befunde kann jedoch keine Demenzdiagnose gestellt werden, da keine eindeutige Korrelation zwischen der physischen Beschaffenheit des Gehirns und gewissen Verhaltensauffälligkeiten besteht.2 Viel eher können erkennbare Abweichungen von einer »normalen« Hirnmasse einen Hinweis auf mögliche Ursachen von Verhaltensauffälligkeiten liefern, anhand derer wiederum eine Subkategorie der Demenz bestimmt werden kann.3

In der vorliegenden Analyse wird nun der Sammelbegriff »Demenz« verwendet, um betroffene Personen nicht anhand von gewissen Abweichungen ihrer Hirnmasse zu kategorisieren, sondern um stattdessen ein Phänomen zu beschreiben, das einerseits Verhaltensauffälligkeiten beschreibt, andererseits vielfältige soziokulturelle Ein- und Auswirkungen miteinbezieht. Der Gebrauch des Begriffs »Demenz« bringt jedoch eine schwerwiegende Problematik mit sich: Aus dem lateinischen Begriff dementia abgeleitet, bedeutet »Demenz« wörtlich »ohne Geist«4 und wird mit »Schwachsinn«5 oder »Wahnsinn, Torheit«6 übersetzt. Demenz ist folglich ein Begriff, der herabsetzende und entwürdigende Vorstellungen von Demenz unterstützt und der genau dem entgegenläuft, was in der vorliegenden Studie mit demenzbetroffenen Personen gemeint ist.

Um sich selbst nicht in geringschätzender Weise bezeichnen zu müssen, nutzen betroffene Personen gelegentlich andere Wörter, um ihre Situation zu beschreiben: Die Mitglieder von PROMENZ, deren Gruppenname bereits deutlich macht, dass sie nicht »ohne« Geist, sondern »für« den Geist leben, nennen sich selbst »Menschen mit Vergesslichkeit«.7 Niemand aus ihrer Gruppe lebe »ohne Geist«, versichert ein Teilnehmer an einem Roundtable zum Thema Demenz und Partizipation in Wien.8 Viel eher seien sie vergesslich. Sie sprächen lieber von »Promenz«, »Promensch« oder »de mens«, was auf flämisch so viel wie »der Mensch« bedeute.9 In Gesprächen mit betroffenen Personen werden demenzielle Veränderungen mitunter auch umschrieben, um sich selbst nicht der von Stigmatisierung betroffenen Kategorie »Demenz« zuordnen zu müssen: Erzählt wird etwa, dass der »Kopf […] bisschen beleidigt«10 sei, dass jemand »etwas im Kopf«11 habe, oder dass das »Hirn […] nicht mehr ganz [stimme]«.12 Weil das Wort »Demenz« verletzend sei und ihr jede Verwendung »einen Stich versetze«,13 bittet ein Mitglied von PROMENZ die Zuhörenden bei einem öffentlichen Auftritt darum, das Wort nicht mehr zu verwenden.

Indem ich den Begriff »Demenz« in meinen Ausführungen etliche Male verwende, indem ich es den Titel der vorliegenden Studie schmücken lasse, bestätige und normalisiere ich seinen Gebrauch und verletze damit demenzbetroffene Personen. Dass ich das Wort trotzdem gebrauche, hat folgende Gründe: Erstens habe ich mit meinen Interviewpartner*innen über die Verwendung des Begriffs gesprochen und bin gemeinsam mit ihnen daran gescheitert, eine andere Bezeichnung zu finden, die in der vorliegenden Studie verwendet werden könnte. Denn, und dies ist der zweite Grund, ich untersuche nicht den Geisteszustand gewisser Personen, sondern ein soziokulturelles Phänomen, das unter diesem Begriff überhaupt erst sichtbar wird. Ich untersuche Demenz als ein Phänomen, das sich zwar an gewissen Verhaltensauffälligkeiten von Personen, aber auch an ihrer Stigmatisierung festmacht. Beschreibungen wie etwa »Menschen mit Vergesslichkeit« oder »Menschen mit Hirnleistungsstörungen« erfassen demnach das soziokulturelle Phänomen Demenz nicht in all seinen Facetten. Der Begriff »Demenz« jedoch ist in seiner beleidigenden und verletzenden Form Teil des Phänomens, das untersucht wird. Statt ihn zu übergehen, wird er in der vorliegenden Untersuchung daher in seiner Wirkung thematisiert: Die Sorgen von Menschen mit Demenz in Bezug auf Stigmatisierungs- und Exklusionserfahrungen sind zentraler Gegenstand der Analyse. Drittens, so äußert sich eine Interviewpartnerin, würde mit der Erfindung eines neuen Begriffs auch Verwirrung gestiftet. Gerade im Leben mit Demenz sei sie froh, wenn sie für bereits Bekanntes keine neuen Wörter erlernen müsse. Viel wichtiger, als das Wort zu tabuisieren, sei es ihrer Meinung nach, seine Bedeutung zu verändern. Woher der Begriff stamme und was er etymologisch ursprünglich bedeute, werde dann nebensächlich, sobald sich die populäre Bedeutung des Begriffs verändert habe.14

Damit, dass ich den Begriff »Demenz« in der vorliegenden Studie verwende, dass ich die damit verbundene Problematik thematisiere und gleichzeitig versuche, stigmatisierende Blicke auf Menschen mit Demenz zu durchkreuzen, beabsichtige ich genau das – die Vorstellung von Demenz zu verändern und dadurch auch das Stigmatisierungspotenzial des Begriffs Demenz zu verringern. Vielleicht, so bleibt zu hoffen, kann ich auf diesem Wege einen Beitrag dazu leisten, das Wort »Demenz« irgendwann überflüssig werden zu lassen.

2.2Die Selbstsorge

Von einem relationalen Menschenbild ausgehend, in dem Menschen zueinander in Beziehung stehen, im alltäglichen Leben und Überleben aufeinander angewiesen sind und Sinnentwürfe in vielfältigen Bezügen zueinander herstellen, verstehe ich unter dem Begriff der »Sorge« mehr als nur einen einseitigen Transfer von Pflegeleistungen. Eingebunden in »Verhältnisse gegenseitiger Verantwortlichkeit und Anerkennung«15 sind Menschen auf wechselseitige Hilfe und Sorge umeinander angewiesen. In diesem Sinne verstehe ich unter »Sorgehandeln« immer auch ein Beziehungshandeln, in dem in einer Sorge umeinander aufeinander eingewirkt und auf Einwirkungen reagiert wird. Eingespannt in vielschichtige Beziehungsgeflechte wird so auch die Sorge um sich zu einer Beziehungspraxis, da sie einerseits auf Beziehungen einwirkt und andererseits in ihrem Gelingen auf andere Menschen angewiesen ist.

Michel Foucault, der das Konzept der »Selbstsorge« aus Schriften der klassischen Antike entlehnt und es in seine Untersuchungen zu »Sexualität und Wahrheit«16 einbringt, beschreibt die Sorge um sich als »reflektierte Praxis der Freiheit«.17 Ihm zufolge ist individuelle Freiheit eine Voraussetzung für das Erarbeiten von Ethik, wobei die Sorge um sich die ethische Praxis dieser Freiheit darstellt.18

Individuelle Freiheit, eine Voraussetzung der Sorge um sich, bedeutet nach Foucault wiederum die Abwesenheit von zweierlei Herrschaftsverhältnissen: einerseits von einer über einen selbst herrschenden Person oder Struktur, andererseits von eigenen, einen selbst beherrschenden »Begierden«.19 Erst die Abwesenheit beider Herrschaftsverhältnisse ermögliche eine »Macht der Führung«,20 in der »Souveränität über sich selbst«21 hergestellt werden könne. Auf die Situation von Menschen mit Demenz bezogen, würde dies bedeuten, dass die Möglichkeit zur Selbstsorge einerseits davon abhängt, ob sich die betroffene Person von eigenen, selbst auferlegten Zwängen freimachen kann, andererseits auch davon, ob andere Menschen und gesellschaftliche Strukturen ihr die zur Selbstsorge nötige individuelle Freiheit gewähren.

Ein Zwang über sich selbst kann etwa dann ausgeübt werden, wenn gewisse Wesenszüge von sich selbst als derart unveränderlich wahrgenommen werden, dass dies eine Selbstsorge im Sinne einer Aktualisierung oder bewussten Weiterentwicklung des eigenen Selbstbilds verunmöglicht.22 Menschen im Umfeld der Betroffenen wiederum können Selbstsorgepraktiken dadurch verhindern, dass sie diese als Symptome einer Krankheit verstehen und deshalb zu unterbinden suchen.23 Und schließlich können gesellschaftliche Strukturen gewisse Formen von Selbstsorge verunmöglichen, wenn normative Leitbilder und anzustrebende Ideale eine betroffene Person so stark beeinflussen, dass vielfältige Möglichkeiten im Umgang mit einer Demenzbetroffenheit auf eine einzige Möglichkeit reduziert werden: auf das Therapieren dieser.24

Eine Selbstsorge im Sinne Foucaults – einer ethischen Praxis der Freiheit – ist folglich nicht etwas, das unabhängig von anderen Menschen praktiziert werden kann. Einerseits wird sie überhaupt erst durch individuelle Freiheit gewährende Beziehungen ermöglicht, andererseits ist sie in Form einer ethischen Lebensführung ganz wesentlich auf die Gestaltung eines Miteinanders ausgelegt. Die Sorge um sich impliziert Beziehungen zu anderen Menschen »in dem Maße, in dem dieses ethos der Freiheit auch eine Weise darstellt, sich um andere zu sorgen«.25 Sie kann etwa dazu befähigen, »in der Gemeinschaft oder in den Beziehungen zwischen den Individuen den gebührenden Platz einzunehmen – sei es um ein öffentliches Amt auszuüben oder um Freundschaftsbeziehungen zu haben«.26 Sie ist folglich eine Praxis, mit der sich eine Person selbst lenkt, um damit in ethischer Weise auch auf andere Menschen und auf eine Gemeinschaft einzuwirken. Im Sinne einer Ausübung von individueller Freiheit ist Selbstsorge somit immer gleichzeitig Arbeit an sich selbst wie auch soziale und gesellschaftliche Praxis.27 Zudem impliziert die Sorge um sich

»die Beziehung zum anderen auch in dem Maße, in dem man, um sich gut um sich selbst zu sorgen, auf die Unterweisungen eines Meisters hören muss. Man bedarf eines Führers, eines Ratgebers, eines Freundes, jemandes, der einem die Wahrheit sagt. Somit ist das Problem der Beziehung zu anderen während der gesamten Entwicklung der Sorge um sich gegenwärtig.«28

Foucault zufolge entfaltet sich die Sorge um sich in einer in vielfältige Beziehungen eingebundenen Lebenssituation: Sie wird durch Beziehungen ermöglicht, in Beziehungen erarbeitet und wirkt auf Beziehungen ein.

Mit der Verwendung von »Selbstsorge« als Analysekategorie wird in der vorliegenden Studie nun Folgendes beabsichtigt: Erstens kann mit dem Fokus auf die Selbstsorge von Menschen mit Demenz die wissenschaftliche Aufmerksamkeit auf Demenzbetroffene als handelnde Personen gelegt werden. Indem konkrete Selbstsorgebestrebungen von Menschen mit Demenz herausgearbeitet werden, wird aufgezeigt, dass Demenzbetroffene nicht nur Sorge empfangende, sondern durchaus auch Sorge tragende Personen sind. Personen, die auf sich und andere Menschen einwirken, um zu einer Verbesserung der eigenen Lebensqualität und der Lebensqualität innerhalb einer Gemeinschaft beizutragen.

Zweitens hilft der Begriff der Selbstsorge dabei, vielfältige Interdependenzgeflechte zu beleuchten, in die Demenzbetroffene eingebunden sind und auf die sie einwirken, um zu einer für sie stimmigen Lebenssituation beizutragen. Mit der Auffassung von Selbstsorge als Beziehungshandeln wird Demenzbetroffenen zwar eine Mitverantwortung für ihre Situation attestiert, doch wird ein Gelingen oder ein Misslingen ihrer Bestrebungen nicht einzig in ihrer Verantwortung stehend gesehen. Viel eher wird die Ermöglichung von Selbstsorge bei Demenz als gemeinsame Aufgabe von Demenzbetroffenen und von ihrem sozialen und gesellschaftlichen Umfeld verstanden.

Drittens greift der Begriff der Selbstsorge auch dann, wenn in fortgeschrittenen Stadien einer Demenz kognitive Fähigkeiten immer mehr schwinden. Wie bereits in der Diskussion um citizenship erwähnt wurde und wie an späterer Stelle noch genauer ausgeführt wird,29 gehe ich davon aus, dass das Selbst mit dem Verlust kognitiver Fähigkeiten nicht verloren geht. Das Selbst, »jene[r] Teil [von uns] selbst […], mit dem [wir unsere] positiven Gefühle identifizier[en]«30 oder »von dem wir annehmen, dass wir selbst es sind«,31 kann Kontos folgend auch in leiblicher Form wahrgenommen und ausgedrückt werden. Im Sinne einer embodied selfhood32 können Menschen auch in fortgeschrittenen Phasen ihrer demenziellen Entwicklung als relational citizensverstanden werden – als in vielfältige Beziehungen eingebundene Bürger*innen, die die Welt in leiblicher Weise wahrnehmen, mit ihrem Körper auf andere Menschen und Dinge reagieren, sich anderen gegenüber darstellen und ihre Bedürfnisse äußern können.33 Vor diesem Hintergrund ist davon auszugehen, dass auch Menschen mit einer fortgeschrittenen Demenz die nötigen Ressourcen mitbringen, um Sorge um sich zu tragen.

Mit einem Fokus auf die Selbstsorge von Menschen mit Demenz kann folglich einer stigmatisierenden Vorstellung ein neuer Blick entgegengesetzt werden: Es kann aufgezeigt werden, dass Menschen mit Demenz ihr Selbst nicht automatisch verlieren und dass sie weiterhin Sorge tragende Personen bleiben können. In den Analysekapiteln 4 bis 7 wird deshalb systematisch herausgearbeitet, wie Menschen mit Demenz Sorge um sich tragen; wie sie konkret auf sich selbst und ihr Umfeld einwirken, um ihre in vielfältige Beziehungen eingewobene Lebenssituation zu verbessern, um darin subjektive Bedürfnisse zu verwirklichen und unangenehme Empfindungen abzuwehren. Und es wird herausgearbeitet, wie Demenzbetroffene in einer Sorge um sich auch Sorge um andere Menschen tragen und wie sie sich um die Zukunft der Gesellschaft und der Umwelt kümmern, in der sie leben.

1World Health Organization WHO: https://www.who.int/news-room/fact-sheets/detail/dementia (Abgerufen: 16.04.2021).

2Kitwood 2016 (1997), 57.

3Ebd., 50.

4Bundesministerium für Gesundheit: https://www.bundesgesundheitsministerium.de/service/begriffe-von-a-z/d/demenz.html (Abgerufen: 15.04.2021).

5Langenscheidt: https://de.langenscheidt.com/latein-deutsch/dementia (Abgerufen: 15.04.2021).

6PONS: https://de.pons.com/übersetzung/latein-deutsch/dementia (Abgerufen: 15.04.2021).

7PROMENZ: https://www.promenz.at/zweck (Abgerufen: 15.09.2020).

8Stefan Kübler (Pseudonym), Nutzer und Botschafter von PROMENZ, FDTB1.

9Beatrix Gulyn, Nutzerin und Botschafterin von PROMENZ, FDTB1; BGTB3.

10Luisa Marquez, SPTB4.

1WFIV1.

12UFIV1.

13APTB1.

14RSIV1.

15Zimmermann 2018b, 14.

16Foucault 1986 (1984).

17Foucault 2005 (1984), 356.

18Ebd., 879.

19Eine Bedingung, um frei zu sein, sieht Foucault darin, »nicht Sklave seiner selbst und seiner Begierden zu sein, was impliziert, dass man zu sich selbst eine bestimmte Beziehung der Beherrschung, der Bemeisterung herstellt, die man als arche, als Macht oder Führung bezeichnete« (2005 [1984], 883).

20Foucault 2005 (1984), 883.

21Foucault 1986 (1984), 305.

22Mit Aktualisierung des Selbstbilds ist eine Praxis angesprochen, in der die Demenzbetroffenheit in das Selbstbild integriert wird und davon ausgehend Handlungsanweisungen für die Zukunft entwickelt werden können. Unter einer bewussten Weiterentwicklung des Selbstbilds wird die Praxis verstanden, die Vorstellung von sich selbst unter den veränderten Bedingungen weiterzuentwickeln beziehungsweise das Selbst mit Demenz als eine sinnvolle Weiterentwicklung des bisherigen Lebens zu verstehen. Vgl. Kapitel 4.3.

23Das Bedürfnis, nach draußen zu gehen, leiblich mit der physischen Umgebung zu interagieren, um sich zu spüren und sich selbst zu erfahren, kann in der symptomatischen Rahmung wandering etwa dazu führen, dass betroffene Personen in Institutionen eingeschlossen werden. Vgl. Kapitel 7.2.3.

24Gemeint ist damit etwa der gesellschaftliche Appell, aktiv, produktiv und erfolgreich zu altern, der eine Person mit Demenz dermaßen beeinflussen kann, dass für sie lediglich eine Therapierung demenzieller Erscheinungen in Frage kommt und es ihr unmöglich ist, physisch degenerative Prozesse in lebensbejahender Form zu leben. In dieser Hinsicht wäre eher von einer Selbstdisziplinierung denn von einer Selbstsorge zu sprechen. Vgl. Kapitel 7 und 8.4.

25Foucault 1986 (1984), 883.

26Ebd., 883.

27Ebd., 71.

28Foucault 2005 (1984), 883.

29Vgl. Kapitel 8.3.

30Goffman 1986, 94.

31Swinton 2017, 198.

32Kontos 2005.

33Zu Formen leiblicher Partizipation vgl. Kapitel 7.2.3.

3Methoden und Quellen

In diesem Kapitel werden der Quellenkorpus der Studie und das methodische Vorgehen vorgestellt sowie ethische Fragen zur Forschung mit Menschen mit Demenz diskutiert. In einem ersten Teil werden die Interview- und Gesprächspartner*innen vorgestellt und die Eckdaten der gemeinsamen Gespräche benannt. Es wird einerseits hergeleitet, wie ich den Zugang zum Forschungsfeld und zu meinen Gesprächspartner*innen gefunden habe und andererseits aufgezeigt, welche Grenzen der beschriebene Quellenkorpus aufweist. In einem zweiten Teil rückt die Methode der Interviewführung in den Fokus. Darin wird erläutert, wie der Interviewleitfaden entwickelt und in welcher Form und Umgebung die Interviews durchgeführt wurden. Die Beschreibung der Methode der teilnehmenden Beobachtung in Selbsthilfe- und Selbstvertretungsgruppen ist Gegenstand eines dritten Teils, in dem die verschiedenen Gruppen vorgestellt und meine Rolle im Feld diskutiert wird. Weiter wird in einem vierten Teil auf das Verfahren der Auswertung der Interviewtranskripte und der Gesprächsprotokolle eingegangen und dargelegt, welche Methoden der Kodierung verwendet wurden. In einem fünften Teil wird auf die Struktur der Verantwortlichkeit1 eingegangen, in die ich im Forschungsprozess gemeinsam mit Menschen mit Demenz einzutreten versucht habe. Diese Grundhaltung der wissenschaftlichen Verantwortlichkeit geht auf eine Forderung Spivaks zurück, der ich hier folge.

3.1Quellenkorpus

Die in der vorliegenden Studie zitierten oder paraphrasierten Interview- und Gesprächspartner*innen sind Personen mit Demenz aus der Schweiz und aus Österreich. Die Interviewpartner*innen befanden sich zum Zeitpunkt der Datenerhebung in einer frühen Phase ihrer demenziellen Entwicklung, erlebten keine weit fortgeschrittenen demenziellen Beeinträchtigungen und konnten alle im Sinne eines informed consent2 in die Studienteilnahme einwilligen. Die befragten Personen sind zwischen 51 und 85 Jahre alt, weisen unterschiedliche sozialbiografische Hintergründe auf und leben bereits unterschiedlich lange mit der Diagnose »Demenz«: zwischen wenigen Monaten und 14 Jahren.

Im Zeitraum von August 2018 bis Mai 2019 wurden 13 Personen befragt, wobei mit vier Personen zwei Interviews durchgeführt wurden, sodass insgesamt 17 Interviews vorliegen. Ein einzelnes Gespräch dauerte zwischen 46 Minuten und knapp drei Stunden und fand wahlweise auf einem Spaziergang, auf einer Parkbank, bei den Gesprächspartner*innen zuhause, in einem Café oder einem Restaurant, in einem Sitzungsraum eines Krankenhauses oder einem Besprechungszimmer einer Universität statt. Die Lokalität für das Interview wurde von den interviewten Personen selbst gewählt und befand sich mehrheitlich in der näheren Umgebung ihres Wohnorts. Zusätzlich zu den Interviews fanden im Zeitraum von Juli 2018 bis Januar 2020 teilnehmende Beobachtungen in vier Selbsthilfe- und Selbstvertretungsgruppen für Menschen mit Demenz in Olten, Luzern, Bern und Wien statt. Die insgesamt 24 Gruppensitzungen, bei denen jeweils fünf bis neun Personen mit Demenz, eine Gruppenleitung und ich anwesend waren, dokumentiere ich in Form von Gesprächsprotokollen. Zudem durfte ich die Gruppen auf Ausflüge und zu festlichen Anlässen begleiten und einzelne Mitglieder in ihrem Zuhause besuchen. Das dabei Erlebte hielt ich jeweils nachträglich in einem Forschungstagebuch fest. Eine Übersicht über den Zeitpunkt, die Dauer, den Ort und die Lokalität der Interviews und der teilnehmenden Beobachtungen ist einer tabellarischen Auflistung im Anhang zu entnehmen.

Dem forschungsethischen »Prinzip der Nicht-Schädigung«3 folgend, sind die Namen der sprechenden Personen anonymisiert und als Pseudonyme gekennzeichnet. Ausnahmen dazu bilden die Namen von Personen, die mir gegenüber nachdrücklich den Wunsch äußerten, in der vorliegenden Studie mit ihrem richtigen Namen zu erscheinen. Grund dafür ist ihre Überzeugung, dass eine Demenz nichts sei, wofür sich Betroffene zu schämen brauchen. Die Bitte der Personen, mit dem richtigen Namen aufzutreten, zeigt ihren emanzipatorischen Wunsch, dem Stigma Demenz die Stirn zu bieten. Dieser Bitte entspreche ich nicht nur, um sie dadurch in ihrer Überzeugung zu unterstützen, sondern auch, weil sich die entsprechenden Personen auch an anderer Stelle als Demenzbetroffene einer Öffentlichkeit stellen, etwa in Form von Demenzaktivismus oder als Vertreter*innen einer öffentlichen Arbeitsgruppe von Menschen mit Demenz. Die Nennung ihrer Namen in der vorliegenden Studie setzt sie somit »keine[n] Nachteilen oder Gefahren aus«,4