Selbstzerstörung - Ume S. Winter - E-Book

Selbstzerstörung E-Book

Ume S. Winter

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Beschreibung

»Wächter haben bloß eine Pflicht: Unsere Welt zu beschützen.« Lys und Yu konnten einen Teilsieg gegen Helix erringen, doch die Gefahr ist nicht gebannt. Um weiteres Leid und Elend zu verhindern, muss Lys das Backup auf Meneva durchführen, um Helix endgültig zu vernichten. Auch wenn das ihren eigenen Tod bedeutet. Yu, der mit allen Mitteln versucht ihr Opfer zu verhindern, sucht in Europa nach Antworten und enthüllt dabei eine groteske Wahrheit. Wird es ihnen gelingen, die Welt neu zu starten oder werden sie am Ende alles zerstören?

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Copyright 2024 by

Dunkelstern Verlag GbR

Lindenhof 1

76698 Ubstadt-Weiher

http://www.dunkelstern-verlag.de

E-Mail: [email protected]

Coverdesign: Fabula Design

ISBN:

Alle Rechte vorbehalten

Es geht immer vorwärts.

Inhalt

ANMERKUNG

Playlist

<01 / Status>

<02 / Wechselwirkung>

<03 / Instabilität>

<04 / Der Laborkittel>

<05 / Komplexität>

<06 / Die Nachricht>

<07 / Die Trennung>

<08 / Manuelle Steuerung>

<09 / Systembezogenheit>

<10 / Die Konfrontation>

<11 / Die Perspektive>

<12 / Der Gefallen>

<13 / Ladevorgang>

<14 / Das alte Archiv in Asien>

<15 / Der Absender>

<16 / Das Geheimnis>

<17 / Die Entfremdung>

<18 / Die Enthüllung>

<19 / Singularität>

<20 / Ambivalenz>

<21 / Irreversibilität>

<22 / Das Erwachen>

<23 / Die Flucht>

<24 / Datenlöschung>

<25 / Die Unsichtbaren>

<26 / Hacking>

<27 / Zufälligkeit>

<28 / Zuversicht>

<29 / Finalisierung>

<30 / Ungerechtigkeit>

<31 / Gerechtigkeit>

<32 / Heldentod>

<33 / Toive-Alpha>

<34 / Fremdbestimmung>

<35 / Der letzte Älteste>

<36 / Die Verfehlung einer Wächterin>

<37 / Die Pflicht einer Wächterin>

<38 / Vendetta>

<39 / Stresstest>

<40 / Fragmente>

<41 / Erinnerung>

<42 / Kontrast>

<43 / Das alte Archiv in Europa>

<44 / Aufbruch>

<45 / Exposition>

<46 / Einmaligkeit>

<47 / Pflichterfüllung des Schriftstellers>

<48 / Alptraum>

<49 / Entscheidung>

<50 / Stimme>

<51 / Liebe>

<52 / Lichtfressendes Schwarz>

<53 / Ausgelöscht>

<54 / Himmelblau>

<55 / Verbindung>

<56 / Selbstzweck>

<57 / Selbstbestimmung>

<58 / Neustart>

Danksagung

<Synposis>

GLOSSAR

CONTENT NOTES

Eine Content Note sowie eine Zusammenfassung von Teil 1 <SELBST>/Korrektur findest du auf den hinteren Buchseiten.

ANMERKUNG

Die folgenden im Buch genannten Autorinnen und Autoren sowie deren Buchtitel sind frei erfunden. Dies gilt auch für Künstlerinnen und Künstler und deren Gemälde. Überschneidungen mit realen Personen oder Büchern sowie Kunstgegenständen sind rein zufällig und nicht beabsichtigt. Die Zitate aus diesen Büchern stammen von der Autorin dieses Buches.

Liberté Rakonti »Ein Wort ohne Bedeutung«

Quirin Kim Suzuki »Wissensdurst der Unmenschlichkeit«

Kerfie Lainkuuliainen »Das System der fragwürdigen Errungenschaften«

Dora Sagawa »Vom Finden der Wahrheit und die Revolution der Zerstörung«

Zima Maiyer »2169 – die Liebe stirbt«

Yu Kishida »Der Wald ohne Zugang«

Asa Bakki »Die Schimäre der Traumlosen«

Reka McAllister »Traum eines Quantencomputers«

Grey Jetlikkas »Der Algorithmus unserer leblosen Welt«

Nante Megan Nye »Der Beginn des schönen Zeitalters im Winkel dieses Zimmers«

Hikari Orton »Lichtleer, lieblos und leicht – die Leere als Zuversicht erkennen, eine Essay-Sammlung«

Kea Jewska Gemälde»Das Wunder des Lebens und sein Niedergang« sowie »Tag und Nacht«

Leonard Rumba Architektur und Landschaftsbau

Boh Flaren, Regisseur einer beliebten Nanotech-Serie im Jahr 2301 und 2302

Playlist

Das sind die wichtigsten Songs, die mich in vielen Szenen inspiriert haben. Die Reihenfolge gibt die Atmosphäre der Abschnitte im Buch wieder. Der letzte ist für mich wie das Einblenden des Abspanns. Viel Spaß beim Reinhören!

Amazarashi – Disaster ディザスタ

Yonezu Kenshi – Kanden感電

Yorushika – Tada kimi ni hare ただ君に晴れ

Amazarashi – Kimi wa mada natsu wo shiranai

君はまだ夏を知らない

Imagine Dragons – Natural

Amazarashi – 1.o

Yonezu Kenshi – Chikyūgi地球儀

Amazarashi – Life is beautifulライフイズビューティフル

Amazarashi – Kanashimi hitotsu mo nokosanaide 悲しみ一つも残さないで

WANIMA – For you 2024 ver.

<01 / Status>

<Starte Wiedergabe von Bild und Ton.

Qualität minderwertig. [Optimiere Bilddaten.]

/video_output:

»Liebe Mitmenschen, die Zeiten des Aufruhrs sind nun endlich vorüber. Hinter uns liegen Monate, die nicht nur den Verstand, sondern auch die Herzen mit Trauer und Sorge beschwerten.

Aber fürchtet euch nicht mehr. Diese Tage sind vorüber, dank den KI, den kontinentalen Ämtern für Sicherheit und Gesundheit und den Ältestenräten. Unermüdlich haben wir daran gearbeitet, Zerstörtes wieder aufzubauen, Beschädigtes zu reparieren und Finsternis zu erhellen. Gemeinsam werden wir dorthin zurückkehren, wo wir einst begannen. Lasst uns die terroristischen Attentate Alpha-Retexos und ihren angeblich ›freien Willen‹ nicht vergessen, stattdessen lasst uns diese düsteren Geschehnisse in Erinnerung behalten und eine Zukunft und Gegenwart gestalten, die unser aller Leben noch wunderbarer macht. Meine lieben Mitmenschen, lasst uns gemeinsam einen Neubeginn basierend auf der Vergangenheit und auf den Visionen der Zukunft wagen.«

Jason Redwood, 2301.12.31, letzter Aufenthaltsort, Backup-Zivilisation-Alpha, Consortium.

/ende

[Datei wird versiegelt.]

[Lege Ältesten Jason Redwood als verschollen seit 31.12.2301 in Akte ab.] Brauchst du sonst noch irgendwelche Infos, Skyla?>

»Lass mich kurz überlegen. Die einzigen Ältesten, die in Asien noch übrig sind, sind also Jason Redwood, der vermutlich im Consortium ist, und Rei Sagawa, dessen Aufenthaltsort nicht zu bestimmen ist.«

Sie verschränkte die Arme für einen Moment.

»Jetzt hab ich's!«

Ihre Finger legten sich auf die Konsole und sie tippte wie mit geschickten Händen einer Pianistin auf Klaviertasten.

»Fass mir bitte die aktuellen Daten zusammen, wie es der Zivilbevölkerung geht, und dann, Toive, suche mir eine gemeinsame Kontaktperson von Jason Redwood und Rei Sagawa. Wenn die noch lebt, finde ich beide, ohne mir viel Mühe machen zu müssen.«

<Tatsächlich denke ich, dass es dir guttun würde, dir mal mehr Mühe zu geben. Aber gut, wer bin ich schon, dir Ratschläge für dein Wohl zu erteilen? Ich fasse die gewünschten Daten zusammen.>

»Ich bin nach wie vor kein Fan davon, wenn du zwischen deiner zynischen Persönlichkeitssprache und deiner ›ich bin ein superschneller Computer‹-Sprache wechselst. Bitte entscheide dich für eine.«

<Meine Persönlichkeitsrechte stehen nicht zur Debatte. Wie gewünscht dein Statusbericht.

[Statusbericht vollständig geladen.]

Die aktuelle Bevölkerung hat sich von den Angriffen Alpha-Retexos mittlerweile gut erholt. Der sogenannte freie Wille ist jetzt ein bekanntes Konzept und wurde teilweise gut in das System implementiert. Andererseits führte es zu einer starken Erhöhung von Anomalien, sprich der Konsum der Droge Retr0 nahm stark zu, vor allem in Europa. Darum solltest du dich wirklich zügig kümmern, Skyla. Ich sollte die anderen Wächter wohl auch dafür mobilisieren.>

»Toive, das liegt nicht in deinem Ermessen. Du erfasst Daten. Wir werten sie aus und leiten entsprechende Maßnahmen ein. Ich sollte deine Basisprogramme wohl zeitnah prüfen. Deine Tendenz zu agieren ist ziemlich unnormal. Nur Meneva hat diese Funktion. Toive, zeig mir die Leistungsberichte der anderen KI an.«

<Wie du möchtest, aber ich finde, meine Entscheidungen und Priorisierungen tragen zu einem guten Outcome bei. Wenn du meine Prognosen befolgst, sollte das zu einem guten Ende führen, verstehst du?>

Skylas Herz schlug schnell.

»Toive, du wirst mir langsam unheimlich.«

<Hier sind deine gewünschten Daten, Skyla.>

»Jetzt filterst du also auch schon meine Fragen aus. Na ja, darum kümmere ich mich später. Warte, stopp. Geh nochmal zurück. Diese Werte … Das heißt, dass Aekwitas und Pacs kurz davor sind zu fallen? Und Menevas Leistung ist dramatisch zurückgegangen. Auch deine scheint zu sinken. Und was ist denn das für ein Datenwirrwarr?«

Skyla spielte an ihrem langen Ohrring.

»Dass die anderen KI in ihrer Leistung abfallen, ist schon merkwürdig genug, aber bei dir sollte das erst recht nicht der Fall sein. Immerhin bist du ja— Oh! Warte! Hat es damit zu tun, dass du für sie und die anderen KI gerade überbrückst?«

<[Daten verschlüsselt.] Die Daten sind nicht einsehbar.>

»Das kann nicht sein! Du bist der Datenknotenpunkt. Wieso kannst du nicht darauf zugreifen?«

Skylas Finger ruhten auf der Tastatur.

Was ist hier los?

»Toive, mach ein genaueres Screening der anderen KI.«

<Sicher. [Screening der Funktionalität der KI Aekwitas, Pacs und Meneva gestartet.] [Screening beendet.] Die KI Aekwitas und Pacs weisen im Vergleich zu den vorherigen Monaten einen starken Rückgang ihrer Leistung auf. [Prognose ihres Ausfalls wird errechnet.] Wenn die beiden gefallen sind, werden nur noch Meneva und ich übrig sein. Das reicht nicht, um die Sicherheit, den Frieden und das Wohlbefinden der Menschen zu gewährleisten. Außerdem … [Menevas Funktionalität wird erneut berechnet.] … schwankt Menevas Leistung seit einigen Wochen stark, tendenziell lässt ihre Leistung nach. Ich habe bereits erste Maßnahmen getroffen, um den Ausfall zu überbrücken, sodass die Zivilbevölkerung nicht in Gefahr ist.>

»Das übersteigt deine Leistungskompetenz, es sei denn …« Skyla schüttelte hektisch den Kopf und verwarf den Gedanken, der in ihr eine tiefe Furcht heraufbeschwor.

»Alle KI sind fast zeitgleich von einem Leistungsrückgang betroffen. Kannst du verfolgen, woran es liegt?«

<Negativ. Ich habe keinen Zugriff auf die anderen KI in der Tiefe, das weißt du eigentlich auch. Aber vielleicht tröstet dich das ja: Wenn du es schaffst, Meneva zu stabilisieren, könnte die Katastrophe, das heißt, der Untergang unserer Gesellschaft, wie wir sie kennen, abgewendet werden.>

»Das ist echt eine tröstende Nachricht.«

Sie spielte wieder an ihren langen Ohrringen.

»Toive, dann such bitte nach dem Verbleib der Kontaktperson zwischen Jason Redwood und Rei Sagawa.«

<Geht klar! [Suchvorgang gestartet.] [Suchvorgang beendet.] Tja, die Antwort wird dich ganz schön überraschen!>

Sie starrte fassungslos auf den Namen, der ihr auf dem Bildschirm angezeigt wurde.

Lys Deĵoro.

Skylas Herz raste.

»Wahnsinn! Sie ist soooo coool! Toive, schnell zeig mir ihren Verbleib! Dass sie auch die Verbindungsperson zwischen den beiden ist, macht alles viel leichter!«

<Sie ist die erste Wächterin, die ihre Identität enthüllt hat. Nicht gerade ein gutes Vorbild, Skyla. [Suchvorgang gestartet.] Ich konnte die gesuchte Wächterin nicht ausfindig machen. Wie soll ich jetzt weitermachen?>

Skyla schob die Finger ineinander und dehnte sie, bis ein Knacken ertönte.

»Gib die Suche an das asiatische ASG beziehungsweise an Danso Pham weiter und währenddessen suchst du nach einem Zugriff auf die Offline-Datenbanken und gibst mir die Koordinaten durch.«

<Okay. [Daten wurden an Danso Pham übermittelt.] [Suchvorgang nach letztem Zugriff der Offline-Datenbanken Menevas läuft.] Die Ergebnisse sind da, aber verschlüsselt. Ich versuche es weiter. [Dechiffrierung erfolgreich abgeschlossen.] [Koordinaten ermittelt.] Lys aktueller Aufenthaltsort ist nahe der Backup-Zivilisation-Gamma, in der Nähe der Metropole.>

Skyla sprang jubelnd vom Stuhl auf.

»Ich kann es kaum erwarten, dich endlich zu treffen, Lys Deĵoro.«

<02 / Wechselwirkung>

Er tastete neben sich, doch seine Hand streifte über ausgekühlten Bast. Zaghaft öffnete er die Augen.

Lys?

Yu setzte sich auf und wischte sich mit seinen Händen übers Gesicht.

Er blickte geradewegs durch die wogenden Vorhänge, die sich wie Seetang hin und her bewegten.

Schlaftrunken stand er auf und fand am Türrahmen Halt.

»Lys, wieso bist du schon wach? Komm, leg dich wieder hin.«

Sie saß am Rand der kleinen Schilfinsel und ließ ihre Beine vom kühlen Flusswasser umschmeicheln.

»Ich kann nicht so lange schlafen wie du.«

»Es ist gerade mal halb sieben«, er sah zur Sonne, »glaube ich zumindest.«

»Es ist halb sieben.«

Yu setzte sich neben sie, ohne seine Beine in den Fluss zu hängen.

»Was ist das eigentlich für eine merkwürdige Narbe, Yu?« Sie fuhr ihm mit einem Finger über die Brust.

»Ich weiß nicht mehr, wie ich zu ihr kam, aber ich weiß nur, dass ich mich nie wieder daran erinnern will.«

»Das verstehe ich. Ich will mich auch an vieles nicht mehr erinnern.« Ihre Hand rutschte weg und sie wandte sich wieder dem Fluss zu.

»Hey, sieh mich an, Lys.« Er legte sanft seine Hand auf ihre Wange und führte ihr Gesicht zu seinem. »Deine Augenringe sollten eigentlich verschwunden sein.«

Er strich ihr die Haare aus dem Gesicht.

Ihre Hand umklammerte seine. »Ich kann das alles nicht einfach ausblenden. Und viel schlimmer: Die Gedanken daran, dass Helix wieder erstarken könnte … Die Analysen von gestern Nacht zeigen eindeutig, dass Helix wieder aktiv ist, und da waren noch andere Werte, aber die könnte ich nur mit Menevas Hilfe zuordnen.«

In ihrer Stimme schwang Angst mit. »Weißt du, ich hab es mir so sehr gewünscht, Yu. Dass meine Analysen fehlerhaft sind, dass ich mich irre. Aber das tue ich nicht. Wir haben nach all den Wochen immer noch keine Ahnung, wo sich diese merkwürdige Backup-Zivilisation befinden könnte und, …«, endlich erwiderte sie seinen Blickkontakt, »und hier draußen bin ich nutzlos.«

Sie löste seine Hand von ihrem Gesicht. »Wir verlieren wertvolle Zeit, Yu. Die Welt um uns herum versinkt zu einer Hälfte im Chaos und erholt sich zur anderen Hälfte. Wir dürfen nicht zulassen, dass sich unsere Gesellschaft derart spaltet. Wir müssen Helix am Erstarken hindern. Jetzt, wo es noch möglich ist.«

Yus Brustkorb zog sich zusammen. »Lys, komm schon. Niemand wird dir je etwas vorwerfen. Du musst dich von dem letzten Backup mit Meneva erholen. Stell dir, vor du hättest es beendet … Du hattest wahnsinniges Glück. Wirf das nicht einfach weg.« Er zwang sich ein Lächeln auf. »Wir finden schon eine Lösung, aber viel wichtiger ist, …«, er legte seine Arme um sie, »dass wir zusammen sein können.«

»Dadurch retten wir aber nicht die Welt.« Sie drückte sich ein Stück von ihm weg.

Der warme Ton in seiner Stimme ebbte kurzzeitig ab. »Meine schon.«

»Ach Yu, ich wünschte wirklich, dass es so einfach wäre.« Sie zog ihre Beine aus dem Flusswasser. »Die Blaupausen sind fast verteilt. Morgen sollten wir die letzte Stelle befahren und die übrigen ausladen. Es wird Zeit, wieder zurückzukehren und zu Ende zu bringen, was wir begonnen haben.«

Yu drückte sie wieder näher an sich. »Du willst also lieber wieder Tod und Terror ins Gesicht blicken als mir?« Er ließ sie los.

»Ich komm ja ganz gut damit klar, dass du nicht so empfindest wie ich für dich, aber dass du … «, er wendete seinen Blick von ihr ab und winkte ab, »ach, vergiss es.«

»Das hat doch überhaupt nichts mit uns zu tun! Es war doch von Anfang an klar, dass wir uns durch Carnmas Notbetrieb bloß etwas Zeit verschafft haben. Mehr nicht!« Ihre Stimme war ungewöhnlich laut.

Yus Herz setzte für einen Moment aus. »Dich interessiert es nicht mal, dass ich dich liebe, oder?«

Lys sah verlegen auf den Boden. »Doch natürlich, aber ich kann mich darauf nicht ohne schlechtes Gewissen einlassen, wenn ich weiß, dass da draußen Menschen wegen uns leiden müssen. Verstehst du das denn nicht? Das fühlt sich falsch an. Es ist nun mal meine Pflicht, sie alle zu beschützen, und der komme ich gerade nicht nach.«

»Wir haben genauso wegen dieser Menschen gelitten. Ich finde, das spielt keine Rolle mehr.«

»Darin unterscheiden wir uns eben.« Eine kühle Brise ließ Lys mittlerweile lange Haare im Wind wehen.

»Darin unterscheiden wir uns, das ist richtig. Ich würde mich immer für dich entscheiden, aber würdest du dich je für mich entscheiden?« Yu löste seinen Blick von ihr und fixierte die vorbeiziehende Landschaft.

Lys streifte ihm beim Vorbeigehen und verschwand im Haus. Sie duftete wie am ersten Tag nach Zitronen.

Ganz gleich, wie oft er auch versuchte, sie davon abzuhalten, sich selbst für das Wohl aller zu opfern, es misslang ihm. Er atmete lange aus und tief ein. »Verstehst du nicht? Es macht mich fertig, dass du deinem eigenen Wohl keinen Wert zurechnest. Immer sind die anderen wertvoller als du –«

»Ich bin eine Wächterin, Yu.«

»Du warst eine Wächterin, Lys!« An ihrer flachen Atmung erkannte er, dass er ihre Geduld überstrapaziert hatte.

»Mein ganzes Leben drehte sich darum, dass Leben für andere lebenswert und einfach zu gestalten. Und das wird es weiterhin! Selbst ohne diesen Titel!«

»Was ich sagen will, ist, dass mir nichts anderes übrigbleibt, als das Leben aller auf diesem Planeten mit deinem gleichzusetzen. Nur so kann ich sicherstellen, dass ich dich nicht verliere.«

Lys streifte ihr dunkelblaues Leinenkleid über und stieß die Schublade der Kommode kraftvoll zu. »Das ist keine Begründung. Das ist Egoismus.«

Yus Herz schlug schnell. »Dass ich mir eine gemeinsame Zukunft mit dir wünsche, findest du egoistisch?«

»Du weißt, dass die Chancen für mein Überleben schlecht stehen, wenn wir Helix abschalten.«

Yu ertrug es nicht, dieses Zittern in ihrer Stimme zu hören.

»Besser, du gewöhnst dich jetzt an den Gedanken. Ich will nicht, dass du wegen mir leiden musst. Ich versuche nämlich, auch dich zu beschützen, Yu.«

»Denkst du ernsthaft, dass ich es zulassen werde, dass du dich für alle opferst? Oder für mich? Wir sind noch nicht mal annähernd an einem Plan dran wegen Helix und du ziehst jetzt schon eine sinnlose Lösung in Betracht!« Yu fuhr sich aufgebracht durch die Haare. »Du hast es einfach beschlossen. Ohne mich einzubeziehen oder deine Gedanken zu teilen?«

»Bisher gab es keine Option, in der ich am Ende überlebe, Yu. Es ist mein Schicksal. Das Schicksal eines Wächters eben. Wenn ich mich damit arrangieren kann, dann du auch.«

»Ich bin so wütend auf dich, dass ich dich am liebsten in den Fluss werfen würde!« Yu stürmte auf die Seite der Insel zu, auf der sich das Netz mit den letzten Flaschen und deren Botschaft befand. Sein Herz raste so sehr, dass er seinen Puls in den Ohren spürte. Er öffnete das Netz mit bloßen Händen und ließ die letzte Flaschenpost in den Fluss treiben.

Die darin enthaltene Anleitung, wie man mit dem freien Willen leben kann, machte sich auf den Weg in die Welt. Eine, die Alpha-Retexo für immer verändert hatte, zumindest hatte er das gehofft. Denn das wäre eine Welt gewesen, in der es keine Wächter mehr gebraucht hätte.

»Was soll das, Yu?! Wir haben die ausgewählte Stelle noch nicht erreicht!«

»Jetzt können wir schneller nach Hause fahren. Da kann ich dann mit den anderen deine Beerdigung planen und du kannst direkt zu Helix fahren, um dich zu opfern. Dann haben wir das hinter uns!« Yu sah Lys nicht mehr an. Seine eigenen Worte fühlten sich wie Nadelstiche an.

Er senkte den Kopf, schloss die Augen und atmete durch. »Lys, hör zu, ich –«

Sie biss sich auf die Unterlippe. »Na, scheinbar hast du es endlich kapiert. Ich ändere den Kurs. Mit der aktuellen Windgeschwindigkeit sollten wir in zwei bis drei Tagen wieder in der Nähe der Metropole und beim sozialen Netzwerk sein.«

Yu setzte sich hin und beobachtete die Flaschen im Fluss. Es hatte keinen Sinn jetzt weiter zu diskutieren. Er hatte keine Kraft mehr dafür.

*

Erst als die Nacht hereinbrach, wechselten sie wieder ein Wort miteinander.

Auf dem Feuer dampfte ein Kessel mit einem einfachen Fischeintopf. Lys rührte in der dürftigen Mahlzeit herum. Der Duft von Ingwer und Tomaten umhüllte sie.

»Ich will deine Rechenmodelle sehen, Lys. Alle.«

»Klar, ich zeig sie dir. Sobald sie komplett sind.«

»Wenn du dich opferst, opferst du auch mich. Kannst du das mit deiner Pflicht als Wächterin vereinbaren?«

Der Löffel glitt ihr aus der Hand und die Spritzer landeten auf ihrem Gesicht. Der Schmerz durch die Verbrennungen war auf einmal unwichtig und wurde von einem scharfen Stechen in ihrer Brust übertüncht.

Richtig, Yu ist vermutlich der einzige Mensch ohne das Implantat im Kleinhirn. Wenn er seinem Leben ein Ende bereiten wollen würde, könnte ihn Meneva nicht stoppen.

Sie wischte sich die Eintopfspritzer vom Gesicht.

»Oder ist mein Leben weniger Wert als das von fremden Menschen, denen du im Grunde komplett egal bist?«

»Natürlich nicht!«

Muss ich mich etwa zwischen ihm und der Welt entscheiden? Wie kann ich so eine Entscheidung treffen?

»Wieso sagst du nichts mehr?«

Sie sah ihn an. Seine Haare waren noch immer wie damals. Leicht zerzaust. Der Haarschnitt, den Louis ihm verpasst hatte, war glücklicherweise rausgewachsen. Seine Haut war von der starken Sonne leicht verbrannt und dennoch hatte er dieses Leuchten in seinen Augen. Diese Zuversicht, diesen Wunsch zur Veränderung, den Lys längst abgelegt hatte.

»Ach, Yu …«, sie ließ den Löffel in den Eintopf gleiten und setzte sich zu ihm. »Wir finden schon eine Lösung, das haben wir letztes Mal auch.«

»Nur damals hast du mir nicht ins Gesicht gelogen.«

Die Worte von Yu brachten schmerzhafte Erinnerungen hervor. Wie oft hatte sie ihn eigentlich schon belogen, ohne dass er es bemerkt hatte? Wieder spürte sie den kalten Griff jener dunklen Melancholie um ihr Herz.

Sie atmete tief ein und aus und setzte dann mit Mühe ein Lächeln auf. »Vielleicht schweigst du jetzt besser.« Sie streifte ihr Kleid ab und begann, die Kälte um ihr Herz mit einer wohligen Wärme zu umgeben.

<03 / Instabilität>

Lys öffnete zaghaft die Augen. Der Duft von Wald und Wasser weckte Erinnerungen an jenes Flussufer bei den Außenbezirken. Selbst jetzt stieg ihr der unangenehme Geruch der düsteren Unterführung in die Nase. Das feuchte Gras und der kühle Nebel vom Flusswasser rahmte die Bilder, die aus ihrem Gedächtnis hervorkrochen. Der Anschlag auf sie, den Gunnarson verübt hatte, wie sie damals von Yu aus dem Auto gezogen worden war, oder wie sie gemeinsam die Wasserleiche über den Deich in den Fluss geschubst hatten, um einen Vitalchip für Yu zu erlangen. Mittlerweile verband sie viele Erinnerungen mit diesem Ort und diesem Geruch.

Sie schob Yus Arm beiseite und setzte sich auf. Immer wieder kamen ihr Fragmente ihres gestrigen Streits in den Sinn. Gerne hätte sie ihm gesagt, dass es tatsächlich eine Möglichkeit gab, wie sie überleben und ihr Backup erneut – dieses Mal fehlerfrei – in Meneva hochladen könnte, ohne zu sterben. Leider gab es diese Option nicht. Immerhin verdankte sie ihr Leben allein der hohen Fehlerquote beim letzten Update. Allerdings wusste sie jetzt, wie sie diese reduzieren konnte. Sie biss sich auf die Unterlippe und umschloss ihre Knie. Aber konnte sie das wirklich tun?

Natürlich wollte sie nicht sterben. Sie wollte wissen, wie es wäre, ein gemeinsames Leben mit Yu zu führen. Ein richtiges Leben. Wie früher. Vor ihrer Zeit als Wächterin. Als sie noch Freunde hatte. Eine Familie. Diese Zeit wiederholen, in der sie gemeinsam neue Gegenden in der Metropole erkundeten oder einfach Mal in ein Naherholungsgebiet fuhren. Sie wollte das mit ihm teilen. Doch dieses Leben lag in der Vergangenheit und zugleich in einer unmöglichen Zukunft.

Nachdem Alpha-Retexo die Welt in Kenntnis über den freien Willen versetzt hatte, begannen viele, das System infrage zu stellen.

Was ist das Jetzt für eine Welt voller Zwietracht? Vielleicht kann der Mensch das Glück langfristig nicht ertragen?Vielleicht istdas Menschlichkeit?Der freie Wille ist unbequem und die Leute scheinen sich zurück nach den alten Werten zu sehnen.

Ihr Herz wog schwer.

Du bist hoffentlich nicht umsonst gestorben, Thomas.

Lys strich sich eine Strähne zurück, die ihr eine Brise ins Gesicht geweht hatte.

Genau deshalb wurden die KI konstruiert: damit die Menschheit endlich zusammenlebt und nicht gegeneinanderhetzt. Damit Frieden, Sicherheit und Gesundheit für alle möglich ist.

Über das soziale Netzwerk erreichten sie hin und wieder Informationen über die jetzige Welt. Aktuell schien es, als sei Europa der einzige Kontinent, der die geringsten Auswirkungen dieser Krise spürte. Er war auch der einzige Kontinent mit einer funktionierenden KI, Toive. Tatsächlich war Europa aber eher für seine rückständige Technologie bekannt. Dass ausgerechnet dieser Kontinent jetzt die Welt trug, widerstrebte Lys. Gleichzeitig wusste sie, dass Toive die modernste und leistungsstärkste KI war. Jedoch hielten sich die Vorurteile seit dem 22. Jahrhundert bis heute hartnäckig über die vergangenheitsgerichtete Technologie Europas. Auch bei Lys. Vermutlich lag es am strikten Umgang mit Daten und dem ersten Gesetz für KI-Regulierung, das je entworfen wurde. Die Ethik-Komitees Europas waren die strengsten, allerdings bremsten sie auch oft genug den technologischen Fortschritt aus. Zumindest lehrte man das Lys in ihrem Studium an der Akademie des ASG.

Sie schob ihre Smartphone-Halterung am Handgelenk zurecht und prüfte, ob sie noch einen Eintrag über Europa in den Offline-Datenbanken fand. Sie wurde im analogen Kompendium der öffentlichen Archive fündig:

<Europa war geprägt von einem Zwiespalt an Technologisierung und Ethik. Als letzter Kontinent kreierte es eine eigene KI: Toive. Wie konnte sich ein Kontinent derart lange von dieser Technologie abschotten? Heute ist Toive für die Medienfreiheit und die Mobilität verantwortlich. Sie ist das modernste KI-System der neuen Welt und das bestgeschützte.>

Mehr gab es nicht aus dem Jahr 2235, dem Jahr der Inbetriebnahme von Toive.

Lys war froh, dass sie nicht in Europa hatte aufwachsen müssen, denn obwohl es ihr Geburtskontinent war, bedeutete es für sie nichts außer den verstummten Erinnerungen an ihre Familie. Obwohl das europäische ASG ein Ultramarinblau als Farbe zierte, verband sie ausschließlich Rot mit Europa. Ein tiefes blutiges Rot. Die Abneigung und das flaue Gefühl im Magen, wann auch immer sie diesen Farbton sah, begann mit jenem holografischen Brief.

Sie schloss die Augen und fand sich im Geiste im Wohnzimmer ihres Elternhauses wieder. Das heitere Lachen ihrer Geschwister tönte vom Garten in den lichtdurchfluteten Raum. Noch heute spürte sie die warmen Sonnenstrahlen, die vom Panoramafenster auf jenes Hologramm fielen.

Lys versuchte, danach zu greifen, doch ihr Vater war schneller.

Er versuchte verzweifelt, den Hologramm-Brief zu löschen, bis er in die verschreckten Augen seiner kleinen Tochter blickte. Unter Tränen stürmte er hinaus. Auch ihre Mutter weinte. Sanft strich sie ihr übers Gesicht und kniete sich zu ihr. Sie sprach davon, nach Asien zu ziehen.

Ihre Stimmfarbe war vergessen, aber die beruhigende Wirkung hallte nach. Dunkel und angestrengt erinnerte sich Lys daran, dass sie als Kind häufig im Gesundheitshaus gewesen war. Ihr Körper war damals schwach gewesen und vieles, dass anderen Kindern leichtfiel, hatte ihr massive Probleme bereitet. Sie war ein kränkelndes Kind, das keinen Platz in einer hypergesunden Welt fand. Doch dank Meneva und der modernen Medizin wurde sie kerngesund. Deshalb musste sie umziehen, nach Asien.

Was machte mich damals so krank?

Bevor sie darauf eine Antwort fand, tauchte jene Erinnerung wieder in den Tiefen des Vergessens ab.

Lys atmete aus und öffnete ihre Augen wieder. Die zarte Berührung von Yu verwandelte die dunkelblaue Melancholie in einen Orangeton, der dem Sonnenaufgang glich.

»Guten Morgen, Lys.«

Lys löste sich von Yus Zärtlichkeiten und zog sich an. »Morgen.«

»Unser Streit gestern war sinnlos. Aber muss das direkt fortgeführt werden?«

Sie antwortete ihm nicht. Stattdessen ließ sie die Sorge in ihren Augen und die angespannten Schultern sprechen. Lys ging hinaus und sondierte die Umgebung. Gerade bei Sonnenaufgang glich der Millenium-Fluss einem schweigsamen Meer.

Endlich zu Hause.

»Lys! Würdest du mir endlich sagen, was mit dir los ist?«

Merkwürdig, dachte sie, während sie Yus aufgeregtes Gerede ausblendete. Sie war nicht mehr allein, aber gleichzeitig hatte sie sich nie stärker von der dunkelblauen Melancholie umklammert gefühlt als in den letzten Tagen.

»Hörst du mir überhaupt zu?«

Sie schüttelte den Kopf. »Yu, sieh doch. Die Metropole!«

Yu wandte seinen Blick genervt von ihr ab und betrachtete das imposante Panorama.

Da war die silberfarbene Skyline umschlossenen von Grünpflanzen. Der Himmel war fast frei von Drohnenwolken.

»Yu, wir streifen gleich einige Wohngebiete.«

»Ja, und?«

»Vielleicht solltest du dir etwas anziehen.«

Yu huschte in das kleine Haus und zog sich an, während Lys ein zartes Lächeln überkam, das genau wie die Morgenröte schnell verblasste.

Als Yu aus dem Fenster des Hauses sah und mit dem Zip-Fly-Verschluss seiner Jeans kämpfte, erkannte er von Weitem sein Haus. Er streifte sich sein Shirt über und ging näher ans Fenster. Ein Gebäude, das zahlreiche Erinnerungen beherbergte und jetzt fremd war. Er fragte sich, ob es wohl möglich wäre, mit ihr in diesem Haus ein normales Leben zu führen, in einer normalen Zukunft. Lys‘ Worte, dass ihr Tod sicher sei, jagten ihm einen kalten Schauer über den Rücken. Eine Zukunft ohne sie ergab keinen Sinn für ihn.

»Du hast dein Haus gesehen, oder?«

Er reagierte nicht. In seinem Kopf waren die Gedanken an den möglichen Tod von ihr zu präsent.

»Yu?« Lys ging auf ihn zu. »Yu? Jetzt schau nicht so traurig. Irgendwann wirst du sicher wieder dort wohnen können.«

»Ohne dich vermutlich.«

»Es ist eben, wie es ist.«

Er sah in die Ferne. »Ich kann diesen Streit nicht jedes Mal aufs Neue durchmachen, Lys.« Seine Stimme klang müde und dünn.

»Es ist dein Leben und deine Entscheidung. Dein freier Wille.« Seine Stimme verlor weiter an Kraft. »Wenn du lieber sterben willst, als nach einer Möglichkeit zu suchen, wie wir eine gemeinsame Zukunft haben, dann muss ich eben lernen, damit umzugehen.«

Er wandte sich wieder zu ihr und sah in ihr entsetztes Gesicht, das langsam in Zorn überging. »Ich frage mich nur, ob du meine Entscheidung auch akzeptieren würdest, wenn ich es wäre, der sich opfern würde.«

»Du bist es nun mal nicht.«

»Es ist viel einfacher zu sterben und den Rest den Scherbenhaufen aufkehren zu lassen. Man wird als noble Heldin gefeiert und der schwierigste Teil, nämlich das Ende einer erfolgreichen Revolution und die Pflicht, daraus eine funktionierende Gesellschaft aufzubauen – das überlässt man dann seinen billigen Handlangern. Wenn ich du wäre, würde ich vermutlich auch lieber diesen bequemen Weg gehen.«

»Ich kann nicht glauben, dass du das sagst –«

»Oh, bitte. Das ist wohl nichts im Gegensatz zu dem, was du mir gestern gesagt hast.« Yu bereute seine Worte sofort.

»Wir sind zurück. Lass uns darüber ein anderes Mal sprechen.« Lys wandte sich von ihm ab.

Yu nickte. »Sind das Mina und Louis?«

Die beiden neugewonnen Freunde des sozialen Netzwerks, mit denen sie Carnmas alte Digitalcomputer nutzten, um Helix zu schwächen, standen am Ufer der schwimmenden Schilfinsel.

»Mina! Louis!«

»Lys! Yu!« Mina hüpfte aufgeregt auf und ab, während sie mit einem Arm ausschweifend winkte. »Willkommen zu Hause!«

Louis stand ruhig daneben und schien sich vor allem über Mina zu amüsieren. Mit einem leichten Widerstand dockte die kleine Reise-Insel an der Hauptinsel an.

Mina fiel beiden um den Hals, während Louis einen höflichen Handschlag als Begrüßung vorzog. »Ich bin so froh, dass ihr gesund und munter zurück seid!«

»Danke, Mina. Es war eigentlich eine entspannte Reise.«

»Ja? Das klang gerade aber nicht so.«

Mina stieß Louis mit ihrem Ellbogen in die Seite.

»Man hat unseren Streit also bis hierher gehört?« Yu schob seine Hände in die Hosentaschen.

»Streit? Klang mehr wie die fehlgesteuerte Lautsprecherbox eines –«

»Wichtig ist jetzt, dass die beiden hier sind, Louis. Und wie wir wissen, war ihre Beziehung von Anfang an kompliziert, also mischen wir uns gar nicht erst ein.«

»So kompliziert ist es nicht, Mina. Lys hält mich bei der Stange, indem sie mir einen Hauch dessen gibt, was ich brauche. Und wenn sie mir Hoffnungen gemacht hat, entscheidet sie sich, lieber zu sterben.«

Yu zuckte mit den Achseln. »Wenn ihr mich entschuldigen würdet. Ich brauche ein bisschen Zeit für mich.«

Lys sah verlegen zu Boden. »Das ist nicht wahr, was er eben gesagt hat. Ich erwidere seine Gefühle. Aber es wäre falsch, sie zuzulassen und sie ihm zu zeigen.«

Louis und Mina entgleisten die Gesichtszüge, als sie Lys ungewohnt offene Worte hörten.

»Warte, was?!« Mina packte Lys an den Schultern. »Heißt das, du liebst ihn?«

»Vielleicht solltest du ein paar Bücher über Liebesbeziehungen lesen.« Louis versuchte, seine Verwunderung mit Rationalität zu überspielen.

Lys schob Minas Hände weg. »Das ist ganz sicher nicht das Problem, Louis.«

»Aber ich habe gehört, dass Wächter nicht fähig sind, Liebe zu empfinden.«

Lys versuchte, ihre Genervtheit nicht mitschwingen zu lassen. »Es gibt viele Gerüchte über Wächter. Aber wir sind sehr wohl fähig zu lieben. Es ist nur, dass wir angehalten sind, Gefühle zu eliminieren, die mit Liebe zu tun haben.«

»Das ist so grausam.« Mina sah traurig zu Boden. »Das letzte Mal, als ein Wächter sich verliebte, ist Helix entstanden.« Ein trübes Lächeln zierte ihre Mundwinkel.

»Wisst ihr, ich denke, wir passen gut zusammen. Die Sache ist nur, dass es keine Rolle spielt, weil ich, wenn ich die Welt retten will, sterben muss. Wenn ich das nicht tue, hat niemand eine Zukunft. So ist das als Wächter nun mal.«

»Wovon redest du da?« Louis Tonfall war ungewohnt laut.

»Wenn ich tot bin, versprecht mir, Yu im Auge zu behalten. Er hat mir mit Selbstmord gedroht, wenn ich –«

»Uns fällt sicher eine andere Möglichkeit ein.« Louis unterbrach sie scharf.

»Wie kannst du das jemandem sagen, der dich so sehr liebt, Lys?« Minas Stimme klang ungewöhnlich leise.

»Ich bin nicht die Böse hier. Glaubt ihr nicht, dass ich nicht viel lieber ein normales Leben führen würde? Mit Yu zusammen? Anstatt mich mit einer KI zu verbinden und zu sterben? Und wenn es alles schiefgeht, ist mein Bewusstsein auch in Meneva transferiert. Das heißt, ich ende dann vielleicht wie Henry.«

Lys Brustkorb zog sich zusammen. Das Atmen fiel ihr schwer.

»Mina, bleib bei Lys, ich sehe mal nach Yu.«

Mina nickte, während sie Lys tröstete.

***

»Yu? Bist du hier?«

Yu ignorierte das Rufen. Er zog das Buch in seinen Händen als aktuellen Gesprächspartner vor.

»Hier bist du also.«

Yu sah nicht von seinem Buch auf.

»Hör zu. Lys hat erzählt, was passiert ist.«

Mit Mühe überspielte Yu seine innere Furstration mit trockener Nüchternheit. »Sie hat gesagt, dass alles keine Rolle spielt, sie ist nun mal Wächterin und sie muss tun, was Wächter tun müssen. So oder so ähnlich lauteten ihre Worte, habe ich recht?«

»Ja, so ungefähr. Aber Yu meinst du nicht, dass —«

Erst jetzt schaute er ihn an. »Nein, meine ich nicht. Ich verstehe nicht, wieso sie denkt, dass ihr Tod uns alle retten könnte. Was ist, wenn sie bloß stirbt und niemanden damit rettet? Was wird dann aus uns allen?« Er blätterte zaghaft in dem Buch. »Aus mir?«

»Hast du dir die Rechenmodelle angesehen?«

»Die, die ich hacken konnte. Was nicht so einfach ist, da Lys eine ziemlich gute Programmiererin ist und ich ein ziemlich schlechter.«

»Ich habe selbst welche erstellt. Die Erfolgschance, jetzt ein Backup in Meneva zu laden, beträgt 43%.« Louis stand nun neben ihm.

»Dasselbe Ergebnis hatte auch Lys. 43% entscheiden über die Zerstörung von Helix. 43% des Backups muss Lys übertragen. Ansonsten ist Meneva nicht stark genug, um gemeinsam mit Toive Helix‘ Programmierung zu überschreiben. Allerdings sterben die meisten Wächter bereits beim Upload von 2%. 12% hatte Henry damals auf Helix hochladen können, ehe sein Körper versagte.« Yu klappte das Buch lautstark zu. »Als ich sie damals dort liegen sah. Als sie es versucht hatte. Es ist ein Wunder, dass sie überlebt hat, und ich denke, das lag vor allem daran, dass Meneva sie schützte und ein korrektes Backup verhinderte. Das wird sicher kein zweites Mal geschehen.« Yu legte das Buch auf den Tisch.

»Ich habe versucht, mich an einen Fall zu erinnern, in dem der Wächter den Rücktransfer des Backups überlebt hat. Aber auch in den Archiven habe ich außer den üblichen Aufzeichnungen nichts gefunden. Und seit Beginn der Wächter-KI-Verbindungen, seit Mitte des 22. Jahrhunderts, bedeutet es immer den sicheren Tod des Wächters. Deswegen wird ihnen das derart eingebläut. Auch Lys ist der Gehirnwäsche zum Opfer gefallen, diesen Heldentod sterben zu müssen.« Yu seufzte. »Es ist aber auch die einzige Möglichkeit, die Welt zu bewahren. Leider.«

»Aber es muss eine Alternative geben. Ich meine, was wäre, wenn alle Wächter sterben würden? Man muss das Backup doch noch irgendwie anders hochladen können.«

In Yus Augen funkelte seit langem wieder Zuversicht. »Du hast recht! Es muss noch ein weiteres Sicherungsprotokoll geben.«

»Die anderen im sozialen Netzwerk kennen jemanden, der uns beim Finden des Sicherungsprotokolls helfen kann. Er ist schon hier und meinte, du seist ein alter Freund.«

»Das ist unmöglich, die meisten sind während der Revolution von Alpha-Retexo gestorben.«

Leise Schritte kündigten den Erlöser an.

»Lange nicht gesehen, Yu.«

»Du? Aber das ist unmöglich.«

<04 / Der Laborkittel>

»Etienne? Wie kannst du hier sein? Wie konntest du das Consortium verlassen?«

Da stand der Hüne wieder vor ihm. Mit der alten Brille,den verblassten Jeans und dem Laborkittel, der an Strahlkraft eingebüßt hatte.

Etienne steckte seine Hände in die Taschen seines Kittels und sah sich im Raum um. Er ging an den Bücherregalen entlang, während Yu zurück auf den Stuhl fiel. »Das war keine Flucht. Primus, du erinnerst dich vielleicht an den alten Herren?«

»Ich hole lieber mal Lys dazu.«, unterbrach Louis und verließ den Raum.

»Wie könnte ich den alten Mann vergessen?« Yu legte seine Hände auf den Tisch und atmete kaum wahrnehmbar durch.

»Er hat Elea, Tumai und mich mit dem Katamaran fortgeschickt.«

»Wieso sollte er das tun?«

»Nun ich war ebenfalls verwundert.« Etienne kratzte sich an seinem dünnen Bart und fuhr fort. »Er sagte, Helix sei außer Kontrolle und müsse gestoppt werden, und nur wir vom Consortium wüssten wie, aber weil er lediglich von außen gestoppt werden kann, müssten Menschen fortgeschickt werden, die nicht mit ihm verbunden oder von ihm selektiert wurden.«

»Das heißt, Elea und Tumai leben?«

»Nicht mehr. Elea sollte ein Sicherungsprotokoll auf Aekwitas installieren und Tumai auf Pacs.«

Etienne senkte den Kopf.

»Bedauerlicherweise hatten beide wohl keinen Erfolg. Letzten Monat ist Aekwitas abgestürzt und vor einiger Zeit hat Pacs auch den Geist aufgegeben. Das bedeutet, dass die Sicherungsprotokolle nicht installiert wurden und sowohl Tumai als auch Elea beim Versuch starben.«

Ein trüber Ausdruck in Etiennes Augen ließ Yu erschauern. »Heißt das, dass Helix die Kontrolle über diese Kontinente eingenommen hat?«

»Korrekt. Nur noch Toive ist aktiv mit 73% und Meneva hält sich aktuell bei 24%. Erstaunlicherweise müsste Meneva längst überschrieben sein, doch ihr Abwehrsystem scheint über Feinheiten zu verfügen, die sie gut vor Fremdangriffen schützen.«

»Tumai und Elea sind also tot.« Yu strich sich mit den Händen übers Gesicht. Diejenigen, die sie retteten, starben beim Versuch, alle zu retten. Sein Magen krampfte. Die Übelkeit war unerträglich. »Etienne, es gibt da etwas, was –«

Etienne kehrte Yu den Rücken zu. »Ich weiß davon. Ich bin an seinem Grab vorbeigekommen.« Er zog eine Taschenuhr aus seiner Kitteltasche und ließ sie von seiner Hand baumeln. »Diese Taschenuhr … die gibt es schließlich bloß einmal.«

Yu sprang auf. »Es tut mir unendlich leid, Etienne! Ich weiß nicht, wie ich –«

Auf Etiennes Lippen lag ein vages Lächeln. »Es war ein Unfall. Ich gebe weder dir noch Lys Schuld am Tod meines Sohnes.«

Yus starrte abwesend die maroden Dielen an.

»Wie gesagt, euch trifft keine Schuld. Manchen Schicksalen kann man nicht entkommen. Das müsstest du nur zu gut wissen, nicht wahr, Kishida?«

Yu zuckte zusammen. Was wollte er ihm mit diesem eiskalten Unterton sagen?

Etienne schob seine Brille hoch. »Übrigens, dein Haus in den Stadtbezirken … Ich bewohne es derzeit mit meiner neuen Frau und ihrer Tochter Kea.«

»Wirklich?« Yu huschte ein Lächeln über die Lippen. Irgendwie war er erleichtert, dass sein Haus nicht zu einer Ruine verkommen war. Gleichzeitig fühlte es sich an wie ein Messerstich ins Herz.

Etienne zog einen der leeren Stühle vom Tisch weg und setzte sich. »Du hast dich verändert, Yu. Deine Selbstsicherheit. Sie scheint verblasst zu sein.«

»Was willst du mir damit sagen?«

»Sicher erinnerst du dich nicht mehr an unser Gespräch in meinem Labor. Der freie Wille hat die Welt nun eingenommen, doch wie du siehst, ist jeder von uns zurückgekehrt zu seiner Funktion des Uhrwerks. Allerdings manche mit einer Fehlfunktion. Du weißt ja, was mit diesen Personen geschieht.«

Ein Klopfen erklang.

»Ich unterbreche euch ungern, aber Louis meinte, ich solle schnell herkommen. Jetzt verstehe ich auch, warum.«

Diese kühle Stärke gepaart mit rationaler Schärfe erinnerte Yu an ihre erste Begegnug mit ihr..

»Lys, die ruhmreiche Wächterin. Bis auf die Länge deines Haares hast du dich nicht verändert.«

»Wie konntest du vom Consortium fliehen?«

»Etienne haben wir vor einem Monat am Flusslauf südlich von hier entdeckt.« Louis drängte sich an Lys vorbei, die in der Zarge verharrte, und zog einen Flexibildschirm hervor. »Er war dehydriert und stammelte immer nur: ›Das Backup ist beschädigt. Das Backup ist beschädigt.‹«

»Das kann nicht sein!« Lys setzte sich neben Yu.

»Du bist wahrlich so eine gute Wächterin, wie man sich erzählt, Lys Deĵoro.«

Lys senkte den Kopf.

Louis projizierte ein dreidimensionales Hologramm auf den Tisch. In einem Kubus erschienen dort verschiedene Artikel, Bilder und Videos.

»Das sind die Aufzeichnungen der Backup-Zivilisation, die wir hacken konnten und die Etienne uns mitgebracht hat.«

Yu sank deprimiert in sich zusammen. »Das ist das Consortium.«

Louis erklärte betrübt die Sachlage. »Richtig. Das Consortium wurde vor zweihundert Jahren ausgesucht, um als Backup-Zivilisation zu dienen. Es sollte eine isolierte Insel sein. Eine KI sollte dort als Notschalter dienen. Man glaubte, dass Helix außer Betrieb war, nachdem man ihn mit Henry verbunden hatte und das gesamte Experiment kläglich gescheitert war.«

»Das ist es also, was wirklich hinter den extrahierten Black-Boxen steckte.« Lys zitterte leicht. »Sie dienten als Backup-Speicher für das Consortium.«

Yu sah sie verblüfft an. »Heißt das, nicht mal du als Wächterin wusstest das?«

»Ich wusste, dass man sie aus der Metropole schafft, aber nicht genau, wohin. Es hieß, sie kommen in eine Art Refugium.«

»Das heißt, das einzige Backup ist nicht länger in Takt?«

Etienne sah Yu scharf an. »Korrekt. Und das bedeutet, dass auch du jemanden opfern wirst, den du über alles liebst, Yu Kishida.«

Yu knirschte mit den Zähnen. »War das eine Drohung, Etienne?«

»Aus mir spricht nicht der Groll, aber Lys Backup ist die einzige Option, Helix jetzt noch zu stoppen.«

Yu sprang wütend auf. Er knallte seine geballte Hand auf den Tisch. »Ich muss hier raus. Ich kann so nicht nachdenken.« Er schenkte Lys einen flüchtigen, aber schmerzerfüllten Blick, bevor er hinausstürmte. Seine schnellen, schweren Schritte verhallten augenblicklich in den staubbedeckten Räumlichkeiten.

Lys atmete tief ein und lange aus. »Also Etienne, erzähl mir alles, was du über Helix neuste Updates weißt.«

Etienne schwieg sie an. Ein Hauch von Bewunderung blitzte auf. »Wieso sagst du ihm nicht, dass du ihn liebst?«

Lys verschränkte die Arme und begann, leicht mit ihrem Stuhl zu wippen. »Das geht dich nichts an. Also erzähl mir, was du weißt.«

»Du kennst die Lösung bereits. Das beschädigte Satellitennetz war dein Verdienst, schätze ich. Helix ist geschwächt. Wenn du jetzt das Backup in Meneva transferierst, stehen die Chancen gut, ihn zu vernichten.«

»Du weißt noch mehr. Niemand, der unwissend ist, verlässt das Backup.«

Etienne kratzte sich wieder am Bart, aber seine Bewegung wirkte verkrampfter. »Ich glaube du vergisst, dass ich auf eurer Seite stehe.«

»Ich glaube dir nicht. Etwas an dir weckt mein Misstrauen, seit wir uns begegnet sind.« Lys stand elegant vom Stuhl auf und zog aus ihrer hinteren Hosentasche die minimalisierte Transkriptor hervor, die sie in einer filigranen Bewegung zu ihrer normalen Größe transformierte. »Ich weiß, dass du Henrys bester Freund warst.«

Etienne verharrte in seiner Position.

Lys hielt ihm die Waffe auf Augenhöhe entgegen. Sie beugte sich leicht vor und flüsterte: »Dein Sohn war ein Verbrechen an der Menschheit, das du mit Henry begangen hast. Ich habe nämlich nicht nur Wahrscheinlichkeitsrechnungen gemacht, sondern auch nachgeforscht.«

Etiennes Pupillen weiteten sich. »Wie kannst du, das wissen?«

»Ich bin eine Wächterin. Ich beschütze, indem ich alles über meine Ziele ermittle. Du erzählst mir also jetzt, was ich über Helix wissen muss.«

Etienne löste sich langsam von seiner Starre, so dass seine Worte zunächst stockten. »Diese Akten sind speziell geschützt, wie konntest du ohne Meneva auf sie zugreifen?«

»Dass dein Sohn den Unfall nicht überlebt hat, war dein Ziel. Du wolltest, dass wir alle sterben. Ich weiß nur nicht, warum. Also warum, Etienne?«

»Es reicht!« Etienne schlug keuchend auf den Tisch.

»Erzählst du mir endlich die Wahrheit über Helix?«

<05 / Komplexität>

Lys dehnte ihren Nacken. Wie lange hielt sie die Transkriptor bereits in dieser Höhe? Ihr Arm wurde schwer. Die spitzen Rillen gruben sich in ihre Hand. Die Schwielen würden morgen sicher deutlich zu sehen sein. »Erzähl endlich, Etienne.«

»Wo soll ich beginnen? Das meiste scheinst du bereits zu wissen.«

»Dann erzähl mir doch erst mal, was am Tag des letzten Diskurses passiert ist.«

»Dieser Tag«, er sah betrübt zu Boden, »war der Beginn des Endes der Menschheit.«

»Ich brauche nur Fakten. Keine ausschweifenden Erzählungen.«

Etienne lächelte traurig. »Bist du immer so kühl, wenn du deine Wächtertätigkeit auslebst?« Ein Schatten tauchte hinter ihm auf. Lys linste durch den türlosen Rahmen. Sie wusste, dass es Yu war, der lauschte. Kurz spürte sie einen dumpfen Schmerz in ihrer Brust, der in konzentrischen Kreisen von ihrem Innersten durch den ganzen Körper pulsierte und sie lähmte. Sie biss sich auf die Unterlippe, um sich zu sammeln. »Es gibt keine Sonderbehandlung für dich. Also Etienne, erzähl endlich.«

»Der Tag ereignete sich nach eurer Flucht. Elea, Tumai und ich – wir alle vom Consortium begaben uns ins Zentrum zu jenem Springbrunnen.« Er seufzte. »Dort waren die Ältesten versammelt. Gemeinsam liefen wir zu Helix.«

»Ihr seid in diese Halle gegangen, in der ihr Lys und mich empfangen habt, richtig?« Yu trat aus dem schummrigen Licht hervor und setzte sich neben Etienne, wobei er Lys einen flüchtigen Blick schenkte.

»Das ist korrekt. Wir trugen jene zeremoniellen Kutten und die Kerzen brannten hell. Auf dem Altar aktivierte Primus einen Mechanismus.«

»Einen Mechanismus?«

»Zugegeben, es musste sich wohl um eine Art Protokoll handeln.«

»Könnte es ein Sicherungsprotokoll gewesen sein?«

Lys sah Yu verwirrt an. »Es gibt keine allgemeingültigen Sicherungsprotokolle, nur Wächter kennen sie spezifisch für die KI, mit der sie verbunden sind.«

Etienne nickte. »Das ist theoretisch richtig. Ich würde das auch nicht als Sicherungsprotokoll bezeichnen, denn als Primus den Mechanismus initiierte, zuckte ein greller, kraftvoller Lichtblitz durchs Consortium. Als Tumai, Ela und ich zu uns kamen, waren alle um uns herum tot.«

»Eine Selbstzerstörung?« Yus Stimme bebte.

»Sowas kann es nicht geben! Das ist illegal!«, entfuhr es Lys.

Etienne lachte. »Lys, dein Glaube an unser System ist bewundernswert. Aber diese friedvolle Welt ist auf einem mit Blut getränkten Fundament gebaut.«

»Und neues Blut zu vergießen, ist darum unvermeidbar?«

»Das sage ich nicht, aber was auch immer das für ein Mechanismus war, er hatte eine Wirkkraft von 99%.«

Yu stützte das Kinn auf seiner Hand ab. »Vielleicht war es ein Reset.«

»Helix resetten?« Etienne kratzte sich am Bart. »Nun, tatsächlich wäre das eine Erklärung, aber sie wäre genauso gut wie jede andere.«

Yu musterte erst Etienne, anschließend das Bücherregal. Der Titel ›Vom Finden der Wahrheit und die Revolution der Zerstörung‹ von Dora Sagawa fiel ihm ins Auge. »Natürlich! Man kann es umkehren!«

»Wovon redest du, Yu?«

»Lys! Was ist, wenn man den Reset in ein Sicherungsprotokoll umschreiben könnte?«

Etienne lachte. »Man merkt, dass du keine Ahnung hast, wie die KI funktionieren, Kishida.«

»Es ist eine sehr ungewöhnliche Herangehensweise, das stimmt. Aber unmöglich wäre es nicht«, entgegnete Lys trocken.

Yu sprang auf und drückte sie an sich. »Das ist unsere Chance, Lys! Eine neue Möglichkeit, um alle zu retten, ohne dass du dich opfern musst.«

Etienne schmunzelte. »Vielleicht ist es eine Möglichkeit.«

Lys stand auf und strich Yu sanft über die Wange. »Es ist ein sehr abstrakter Ansatz, aber wir können es versuchen.«

Er umklammerte ihre Hände und ließ die Euphorie in seinen Worten zum Ausdruck kommen. »Etienne, erzähl mir alles über das Protokoll.«

»Das kann ich leider nicht. Ich verfüge über keine Erinnerung daran. Jedoch soll es in den europäischen Archiven Aufzeichnungen geben.« Etienne verschränkte die Arme. »Dennoch solltest du dir keine großen Hoffnungen machen, Yu. Das uns das gelingt, ist höchst unwahrscheinlich.«

»Unwahrscheinlich bedeutet nicht unmöglich.«

<06 / Die Nachricht>

In dem staubigen Raum herrschte Stille. Hatte er tatsächlich eine Lösung gefunden, um die Welt aus dem Chaos zu führen, in das er sie gestürzt hatte, und dabei Lys zu retten? Oder war das bloß ein Traum?

Er sah Lys an. Sie spielte nervös am Ärmel ihres Kleides herum. Wenn er nur wüsste, was ihr jetzt durch den Kopf ging. Von Erleichterung oder Hoffnung las er nichts in ihrem nachdenklichen Gesichtsausdruck.

Lys gab seinem fordernden Blick nach und antwortete ihm schwermütig. »Es ist trotzdem nicht umsetzbar.«

»Was meinst du damit, Lys?«

»Sie ist eine Wächterin, Yu«, warf Etienne ein. »Verstehst du es denn nicht? Sie muss jetzt handeln, solange Helix geschwächt ist. Solange eine realistische Chance besteht.«

Yu seufzte. »Natürlich. Wie konnte ich das vergessen.« Er hoffte, dass sein sarkastischer Unterton unbemerkt blieb.

Lys atmetete durch und legte dann die gewohnte Kühlheit in ihre Worte. »Yu, für dich ist das ein Schock, aber ich wurde mein Leben lang auf diesen Moment vorbereitet. Als Wächterin war mir klar, dass ich irgendwann dieses Schicksal tragen muss. Das hat mir Meneva gezeigt.«

»Wie kann sie es dir zeigen?«

Lys legte ihre Hände auf den Tisch und sah Yu mit ernster Miene an. »Erinnerst du dich nicht mehr? Wenn wir uns mit den KI verbinden, dann zeigen sie uns ein höchstwahrscheinlich eintretendes Zukunftsszenario, in dem wir eine tragende Rolle spielen. Deshalb weiß ich es.«

Yu fehlten die Worte für eine Antwort. Stattdessen stand er auf und verließ den Raum. Er atmete tief durch, strich sich durch die Haare und blickte auf die antike Buchdruckmaschine vor sich.

Wie oft hatte er seine Manuskripte umgeschrieben? Das müsste auch mit einem Protokoll für eine KI gelingen, oder?

Festen Schrittes betrat er den Raum wieder. »Ich fahre nach Europa und werde dieses Protokoll suchen. Egal wie gering die Chance ist, dass es funktioniert, ich werde sie nutzen. Und ich werde nicht zulassen, dass du dich opferst.«

Ein einsamer Beifall hallte durch den Raum. »Alleine kommst du nicht weit, Kishida. Ich begleite dich.«

»Ich brauch deine Hilfe nicht, Etienne.«

»Lys! Lys!« Louis stürzte herein. »Es ist schlimm! Hier.« Er projizierte eine Nachricht in den Raum:

<EmergencyMessage>%Le!z!e w@chtßr/

»Wenn Ihre terroristische Organisation diese Nachricht empfängt, dann liegt es daran, dass Sie im Besitz der letzten Wächterin Asiens sind und wir mit Ihnen kooperieren wollen.«

»Das ist das Logo des ASG.« Lys biss sich auf die Lippe.

Mina tauchte neben Louis auf.

»Ich habe die Nachricht dechiffriert. Sie ist vom afrikanischen ASG.« Mina tippte auf der Hologramm-Tastatur vor sich und jetzt erschien die Nachricht für alle.

<EmergencyMessage> Letzte Wächterin

/text:

<Wir vom ASG Afrika haben seit einiger Zeit mithilfe des europäischen ASG das ASG Asiens wieder aufgebaut. Allerdings stellt die Tatsache fehlender Wächter ein großes Problem dar, im Angesicht der erneut aufkommenden Bedrohung durch die AGI Helix. Darum wurde beschlossen, dass sich die verbleibenden ASGs zusammenschließen, um massive Verluste in Amerika und Asien zu verhindern, wie es sie beim letzten Versuch, Helix zu stoppen, gab. Wir bitten Ihre Organisation deshalb eindringlichst um die Freilassung der Wächterin Lys Deĵoro, damit die zivile Ordnung wieder komplett hergestellt werden kann und erhalten bleibt.

Sollten Sie unserer Bitte nachkommen, erlassen wir allen Ihren Anhängern, sowie dem systemkritischen Schriftsteller Yu Kishida und natürlich Wächterin Lys Deĵoro, sämtliche Anklagepunkte und verleihen Ihnen politische Immunität.

Wir erwarten Ihre Antwort innerhalb der nächsten 24 Stunden.

Danso Pham,

Wächter ASG Afrika.>

Yu beobachte die ganze Zeit Lys. Die zunehmende Anspannung mit jeder Zeile, die sie las, beunruhigte ihn. »Lys, wir sollten nach Europa aufbrechen. Jetzt.«

Sie schüttelte den Kopf. »Du gehst nach Europa. Ich muss zurück in die Metropole. Vielleicht kann ich mithilfe der Wächter Afrikas und Europas noch eine Lösung finden, um Meneva zu stabilisieren.«

»Aber, Lys!«

Etienne legte eine Hand auf Yus Schulter. »Toive würde sie blockieren, Kishida. Sie könnte gar nicht nach Europa fliegen.«

Louis setzte sich auf Etiennes Platz. »Toive ist die KI für die Mobilität unserer Welt, oder?«

»Genau. Deswegen werde ich morgen aufbrechen und in die Metropole fahren. Die Nachricht von diesem Danso Pham klingt nach einem Haftbefehl. Toive kontrolliert außerdem alle Medien und Kommunikationsmittel. Wir haben also keine Wahl.«

Yu spürte eine hitzige Wut in sich aufsteigen. Er presste die Zähne zusammen und schluckte sie hinunter. Diesen Blick kannte er bereits. Immer, wenn sie nicht mehr von einem Gedanken abzubringen war, dann sah sie ihn mit dieser Schwere in den Augen an. »Na schön. Aber versprich mir, dass du dich nicht opfern wirst. Bitte gib mir zumindest eine Woche.«

»Einverstanden. Du solltest allerdings jemanden mitnehmen, der etwas von Programmierung versteht. Sonst würdest du das Protokoll nicht erkennen, selbst wenn du es in Händen hältst. Und leider gibt es nur eine Person, die dafür infrage kommt.«

Etienne kratzte sich am Bart. »Ich verstehe, deswegen hat Primus mich also hierhingeschickt.«

Louis räusperte sich. »Mina, Etienne, wir sollten alles für den Aufbruch vorbereiten. Mina, scann schon mal nach einer Personendrohne.«

Mina und Etienne folgten Louis in stiller Zustimmung.

Yu wartete, bis die drei den Raum verlassen hatten. Er fühlte einen Würgegriff um sein Herz, während er Lys betrachtete und sie ihm eines ihrer erzwungenen Lächeln schenkte.

»Du musst es mir versprechen, Lys.«

»Keine Sorge, ich habe auch nicht vor zu sterben. Ich habe gehört, dass die europäischen Wächter speziell sind und sich nicht unbedingt ans Regelwerk des ASG halten. Vielleicht haben sie längst einen anderen Weg gefunden.«

Yu spürte ihre kalten Fingerspitzen an seiner Wange. »Das ist das erste Mal, dass du von Hoffnung sprichst.«

»Deine Träumerei hat wohl abgefärbt.«

In ihren glasigen Augen sah Yu zum ersten Mal Angst. In seinem Kopf überschlugen sich all die Gedanken, die er ihr mitteilen wollte, doch selbst ein einziger kostete ihn Kraft, die er nicht hatte. Stattdessen legte er seine Lippen auf ihre und strich ihr die widerspenstige Strähne hinter ihr Ohr.

<07 / Die Trennung>

Ihr Körper fühlte sich schwer an. Sie drückte sich mit ihrem rechten Arm nach oben. Die Wärme, die sie oft beim Aufwachen verspürte, fehlte heute. Zaghaft stand sie auf.

Ein letztes Mal in Freiheit.

Die Bürste glitt durch ihre dünner werdenden Haare. Die Schere auf ihrer provisorischen Kommode funkelte sie an. Sie machte sich einen Zopf und schnitt ihn ab. Damit waren sie wieder so lang wie in dem Moment, als sie Yu das erste Mal begegnet war. Aus einer maroden Kiste zog sie ihren lichtfressenden, schwarzen Blazer hervor. Ein drückendes Gefühl breitete sich in ihrer Brust aus. Gleichzeitig hatte sie wieder jene Energie aus ihrer Zeit als Wächterin. Mühsam strich sie die Falten aus dem Kleidungsstück. Sie hielt den Blazer vor sich.

Immerhin, gegen Ende konnte ich all das abwerfen.

***

Im Zentrum der großen Schilfinsel duftete es bereits nach Tee und Ei. Alle saßen versammelt um das Feuer. Die Gespräche verstummten, als Lys sich setzte.

Ein bedrückendes Schweigen, serviert zu Käseomeletts.

Lys legte ihr Besteck auf den leeren Teller. »Ihr wollt also nichts sagen?«

Mina wischte sich die Tränen ab. »Was sollen wir schon sagen? Dass das alles falsch ist? Dass das alles nicht fair ist?«

»Mina.« Lys atmete tief durch. »Ja, diese Fragen stelle ich mir auch oft, aber als Wächterin und als eure Freundin weiß ich immerhin, warum ich so weit gehen kann.«

»Ich bewundere dich ja für diese Stärke. Ich hätte sie nicht, aber deshalb bist du die Wächterin und nicht ich.« Louis klopfte nervös mit den Fingern auf den Tisch.

Etienne kratzte sich am Bart und sah Lys genau an, bevor er sprach. »Keine Sorge, Lys, du bist nicht wie Henry. In keinster Weise! Euer Schicksal scheint ähnlich, dennoch bedeutet das nicht, dass euch dasselbe widerfahren muss.«

»Lys wird sich nicht für Meneva und das ASG opfern. Wir haben einen Plan, der sie retten kann. Also hört auf, von Abschied zu sprechen.« Yu stocherte in seinem Essen herum.

Lys lächelte betrübt, dann blickte sie zum Horizont, auf dessen Höhe die Sonne nun lag. »Es wird Zeit.«

»Ich werde es schaffen, Lys.«

»Ich weiß.« Und das ist hoffentlich meine letzte Lüge.

Lys und Yu hatten sich geeinigt, den Abschied kurz zu halten. Deshalb verschwand Yu mit einem aufgezwungenen Lächeln zusammen mit Etienne im Wald.

Zeitgleich begleiteten Mina und Louis Lys zum Boot. »Bitte kümmert euch um Yu. Falls ich doch zum letzten Mittel greifen muss.« Die Luft blieb ihr weg. »Versprecht es mir.«

»Versprochen … «

Lys stieg ins kleine Boot aus Bast und winkte den beiden, bis sie sich zu kleinen Punkten am Horiztont wandelten.

Die Außenbezirke der Metropole säumten das Ufer. Lys Gedanken lösten sich widerwillig von Yu. Ihre Brust schmerzte. Dann zuckte sie heftig zusammen.

Dieses Brummen und dieser Schatten: eine Harvester-Drohne!

Lys blieb regungslos. Sie hatte dieses Mal keine EMP-Waffe dabei. Ein rotes Licht legte sich auf sie. Nach dem Scan machte die Drohne kehrt und verschwand in Richtung Metropole.

Da war sie. Ihre geliebte Stadt.

Beim Anblick der vertrauten urbanen Landschaft verspürte Lys gleichzeitig eine wohlige Wärme und eine klirrende Kälte. Nach einer Weile dockte sie am Flussufer der Außenbezirke an. Ein Hauch Nostalgie überkam sie. Hier hatte Gunnarson versucht, sie zu töten. Hier hatte Yu sie gerettet.

Einmal tief durchatmen.

Es war lange her, dass sie die Metropole betreten hatte. Sie genoss es, das weiche Gras unter den Füßen zu spüren. Den steilen Deich hinaufzugehen und gleich einen Blick auf die moderne Zivilisation zu erhaschen, auf die sie im sozialen Netzwerk verzichten musste.

»Lys Deĵoro, letzte Wächterin Asiens, hiermit werden Sie befehligt, unverzüglich im ASG-HQ Report zu erstatten.«

Eine kleine Drohne flog um sie herum. Lys versuchte zu erkennen, um welches Modell es sich handelte, doch die Sonne blendete sie.

»SHH! Du hohle Drohne! So begrüßt man doch keine Legende! Also echt! Hier in Asien hat man wirklich keinen Sinn für besondere Momente.«

Lys folgte der ungewöhnlich lauten Stimme, die sich die Mühe machte, eine Drohne zurechtzuweisen. Sie ordnete sie der zierlichen Silhouette oben auf dem Deich zu.

»Frau Deĵoro!« Jubelnd hatte noch nie jemand ihren Namen gerufen.Lys hielt sich die Ohren zu, nicht mal die quälende Sirene der Drohne schmerzte ihr dermaßen wie das Gekreische der Unbekannten.

Die Qualtonerzeugerin kam etwas schwerfällig den Hang hinab und stand wenig später unbeholfen direkt vor ihr. Es war eine Frau, etwas jünger als sie selbst, aber ebenfalls kleiner als der Durchschnitt, weshalb sie sich buchstäblich auf Augenhöhe begegneten, trotz der Schieflage, auf der sie standen.

Lys blickte in die weitaufgerissenen Augen ihres Gegenübers. Blau wie der Ozean reflektierte ihre Iris das graue Flusswasser, betont durch eine blaue Haarsträhne, die der Frau im Gesicht hing und die diese nervös immer wieder versuchte wegzupusten. »Ich kann das nicht glauben!« Sie faltete die Hände vor ihrem Gesicht und verbarg ihr breites Grinsen dahinter.

»Wer sind Sie –«

»Dass ich – ich! – einmal mit der legendären Lys Deĵoro zusammenarbeiten würde! Das ist der Wahnsinn! Oh, Mann!« Sie wandte Lys blitzschnell den Rücken zu, machte ein paar kurze Atemübungen und murmelte ein Mantra vor sich hin. Dann starrte sie der ehemalig letzten Wächterin Asiens ins Gesicht und kreischte kurz. »Ich bin so mega erfreut Sie kennenzulernen!«

Lys wich etwas verstört zurück. »Wer sind Sie, bitte?!«

Ernsthaftigkeit, die allmählich zu Schock überging, machte sich auf dem fremden Gesicht breit. »Wie konnte ich vergessen, mich vorzustellen?! Man sagte, dass Ihr FOKUS nur noch eingeschränkt IDs lesen kann. Und die europäischen brauchen sowieso eine Erlaubnis des Ministeriums und bis Toive das freigibt, blabla, Sie wissen ja, wie das ist.«

»Ich verstehe kein Wort von dem, was Sie da sagen.«

Die uniformierte Frau räusperte sich. »Ich heiße Skyla Versala, 26, Wächterin des ASG Europas und hocherfreut, von Ihnen zu lernen und mit Ihnen zu arbeiten, Frau Lys Deĵoro.« Sie salutierte ganz in der Manier des europäischen ASG, einen Fuß nach vorne gestreckt, einen Arm hinter den Rücken gelegt und die rechte Hand mit drei gespreizten Fingern auf Mund und Nasenhöhe, sodass Daumen und kleiner Finger einen Ring bildeten.

Lys nahm Skyla deren Hand vom Gesicht. Sie hasste diese militante Pose. »Wir salutieren im ASG Asien nicht.«

»Oh, machen wir in Europa auch nicht mehr so oft, aber weil Sie es sind, dachte –«

»Hör zu, du scheinst nett zu sein – extrem überdreht, aber nett – doch diese Aufgeregtheit kann ich gerade nicht ertragen und du musst mich nicht siezen. Lys ist okay.«

Skyla hielt die Luft an und konnte sich ein freudiges Quietschen nicht verkneifen. »Hab’ verstanden, Lys! Ich reiße mich zusammen.« Skyla drehte sich wieder um und hüpfte freudig.

»Danke, Skyla. Sagtest du, dein Nachname ist Versala? Der kommt mir irgendwie bekannt vor.«

»Ja, Versala ist richtig. Ach, das ist ein echt häufiger Nachname.«

»Vielleicht in Europa.«

Lys rollte leicht mit den Augen, als hätte dieses Quietschen eine Migräne heraufbeschworen.

Die in Ultramarin Gekleidete warf einen ernsten Blick über ihre Schulter. »Du musst mich allerdings wirklich zum ASG begleiten.«

»Deswegen bin ich hier. Ich will zum ASG.«

»Du willst also wieder zurück als Wächterin?«

»Nein, ich will nur zu Ende bringen, was ich als Wächterin begonnen habe. Das geht nur, wenn ich der Nachricht von Danso Pham folge.«

Skyla hielt die Luft an und presste ihre Daumen in Fäusten zusammen. »Du bist so cool! Und dieses schicke lichtfressende Schwarz! Ach, ich bin so neidisch! In Asien sieht eure Uniform einfach so viel cooler aus!«

»Ich mag euren ultramarinen Farbton lieber.«

Skyla zog ihren Blazer zurecht. »Wirklich?« Sie lächelte vergnügt. »Der ist unfassbar altmodisch und kotzhässlich. Passt zu gar nichts!«

Lys fasste sich wieder an die Stirn. Sie war diese schrille Lebhaftigkeit nicht gewohnt und etwas überfordert damit. So viel Lebensfreude war ihr vor allem nach den letzten Monaten befremdlich. »Skyla, wieso ist eine Wächterin aus Europa wirklich hier?«

Die Angesprochene schüttelte den Kopf. »Nicht nur aus Europa. Es ist auch noch ein Wächter aus Afrika hier. Asien ist unsere letzte schwächelnde Instanz gegen Helix. Deshalb wurden Danso Pham und ich hierher beordert.« Sie fasste sich mit der linken Hand an die Taille und spielte mit der rechten an ihrem langen Ohrring. »Dass wir dich lebend gefunden haben, gibt Grund zur Hoffnung.«

»Das weiß ich bereits aus der Nachricht. Erzähl mir bitte die Wahrheit. Was ist eure Aufgabe? Ihr seid nicht mit Meneva verbunden. Das ist doch Zeitverschwendung und macht keinen Sinn. Außerdem vernachlässigt ihr dann Toive und Pacs.«

Skyla ließ von ihrem Ohrring ab und verschränkte ihre Arme. »Wir rekalibrieren Meneva. Also größtenteils mach ich das allein, da Danso eher andere Stärken als Programmierung vorzuweisen hat. Ah, dazu sollte ich dir noch sagen, dass ich die beste Drohnenpilotin der Welt bin. Ich war auf dem Gebiet schon eine buchstäbliche Überfliegerin als ich fünfzehn –«

»Komm zum Punkt. Was meinst du mit Neukalibrierung?«

»Es ist nur so aufregend! Ich meine, man trifft nicht oft sein großes Idol und ich will einfach nur –«

»Skyla.«

»Ah, richtig! Also, Neukalibrierung. Meneva scheint sonderbare Programme generiert zu haben, deswegen ist es gut, dass wir dich nun wiederhaben. Du kannst uns helfen, die alten Protokolle zu rekonstruieren, um damit ein Reset von Meneva zu starten.«

»Ihr wollt Meneva resetten? Ist das überhaupt möglich?«

Hat Yu vielleicht doch eine Chance mit seiner träumerischen Idee?