Selma - Jürg Arquint - E-Book

Selma E-Book

Jürg Arquint

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Beschreibung

Das Engadin! Für viele Unterländer, wie Engadiner die Gäste bezeichnen, die ennet dem Flüela wohnen, ist es ein Sehnsuchts-Ort. Für sie ist es ein Ort mit wunderbarer Landschaft und einzigartigen, historischen Dorfzentren. Die Einheimischen sprechen eine für sie unverständliche Sprache und gehen alles ein wenig gemütlicher an als im hektischen Unterland. Engadin heisst für sie: Berge, Schnee, ultrablauer Himmel, Ferien. Dass man aber vor nicht allzu langer Zeit im Engadin jeden Frühling froh gewesen war, den langen Winter überlebt zu haben, ist heute kaum mehr vorstellbar. Auch Sandra erfährt immer wieder von ihrem Vater, aber auch von ihren Grosseltern Geschichten, wie man «damals» im Engadin lebte. Sie will mehr über ihre Vorfahren erfahren. Als der Wetterbericht ein verregnetes Wochenende ankündigt, meldet sie sich kurzentschlossen bei ihrer Grossmutter, mit der Idee, mehr über diese zu erfahren. Ihre 1934 im Engadin geborene Nonna, wie sie ihre Grossmutter nennt, kramt für Sandras Besuch Notizen hervor, die ihr verstorbener, älterer Bruder über ihre Familie zusammengetragen hatte und erzählt ihrer Enkelin die Geschichte ihrer gemeinsamen Vorfahren. Was Sandra da erfährt, übersteigt fast ihre Vorstellungskraft. Das man damals so ärmlich aufwachsen und überleben konnte, ist für Sandra kaum vorstellbar.

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Seitenzahl: 657

Veröffentlichungsjahr: 2024

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dieser Roman basiert auf einer wahren Geschichte, so unglaublich sie sich teilweise anhören mag

in Gedenken an meine Mutter, die am 8. September 2024

90 Jahre alt geworden wäre

Inhaltsverzeichnis

Prolog

Teil 1 – Elisabeth, Habsburg 1814 – Zürich 1820

Teil 2 – Jsaak, San Gimignano 1833

Teil 3 – Mengia Sent 1892 – 1926

Teil 4 – Aita, Ftan 1909 – Zürich 1941

Epilog

Prolog

Mein Name? «Selma». Ich kenne kaum jemanden, der auf einen kurioseren Namen getauft wurde, ausser natürlich meinen Mann «Iggi». In seiner Identitätskarte steht zwar «Ignatius1», aber alle nennen ihn nur Iggi. Auch für ihn haben seine Eltern mangels Fantasie am Tag seiner Geburt im «Chalender Ladin» den Namenstag für den 31. August hervorgesucht, seinem Geburtstag, und ihn so genannt, was dort zu lesen war: «Ignatius».

Mein Pech, dass ich an einem 22. Oktober des Jahres 1934, übrigens an einem Montag, das Licht der Welt erblickte. Der Namenstag? Du kannst das selbst nachblättern, je nach Kalender. Meine Eltern hatten anscheinend einen deutschen Kalender konsultiert. Ich habe nachgeschaut. Es hätte mich noch schlimmer erwischen können. Je nach Kalender wäre sogar der Name «Cordula» möglich gewesen.

Meine Enkelin Sandra hat kürzlich mit ihrem Computer in diesem Internet recherchiert, wo mein Name entstand und was er bedeuten könnte. Bereits nach wenigen Sekunden hatte sie mich schelmisch angegrinst und gemeint: «Huch, Nonni2, Du stammst wohl von Arabern ab». Von Arabern! Ich war schockiert. Dann aber hatte sich ein süffisantes Lächeln über ihre Lippen gelegt und sie hatte ergänzt, dass der Name in keltischer Sprache «schöne Aussicht» bedeutet hatte, also bereits vor Christi Geburt vergeben worden sei. Das tröstete mich nicht sonderlich, vor allem auch deshalb nicht, weil Sandra kurz darauf nochmals laut losprustete und erklärt hatte: «in türkischer Sprache soll Dein Name «Harmonie und Frieden» bedeuten, also doch irgendwie arabisch, nicht, Nonni?» Sie hatte weiter auf ihrer Tastatur herumgetippt und gemurmelt, dass man den Namen auch in Skandinavien häufig hören würde und er in Deutschland öfters vorkäme. Zum Schluss ihrer Nachforschungen wollte sie mich mit dem Hinweis aufmuntern, dass eine mexikanische Schauspielerin, die meinem Sohn, also ihrem Vater, sehr gefallen würde, sich ebenfalls «Selma» nennen würde: Selma Hayek. Auf mein Nachhaken hin hatte sie nicht bestätigen wollen, dass dies nur ein Künstlername sei. Ich kenne jedenfalls keinen anderen Menschen, der so genannt wird. Ich weiss nur, dass die Kuh meines Onkels in Scuol so hiess, wo ich einige Monate meiner Kindheit verbringen musste. Aber das ist eine andere Geschichte.

Ich wurde also Ende Oktober des Jahres 1934 in Scuol geboren, im Hause des heutigen Hotel Conrad, welches direkt an das Hotel Gabriel grenzt, eigentlich mit diesem zusammengebaut ist. Eine Kuriosität, die man im Engadin nur in Scuol findet: zwei Hotels im selben Gebäude. Vor Jahren befand sich dort noch ein Kino, mitten in Scuol. Iggi, der damals in Scuol eine Lehre als Polsterer und Dekorateur absolvieren durfte, hatte an der Polsterung der Kino-Sessel mitgewirkt. Aber das war erst Jahre nach meiner Geburt, sogar nach dem Krieg.

Meine Familie war damals erst kurz vorher von Sent nach Scuol gezogen, nicht in dieses Haus, sondern in ein anderes Gebäude oberhalb des Straduns. Wenige Wochen später zogen wir dort wieder aus, weil mein Vater wieder einmal die Miete nicht bezahlen konnte und wir weiterziehen mussten, an meinen Geburtsort. Aber auch da durften wir nicht lange bleiben, aus demselben Grund. So führte uns unsere Odyssee damals wieder zurück nach Sent, dann nach Thusis, nach S-chanf, nach Laax und weiss ich wohin. Aber auch dazu später mehr.

Am Tag meiner Geburt war meine ältere Schwester Carla noch nicht einmal ein Jahr alt, mein älterer Bruder Jon knapp zweijährig. Meine Mutter Aita, Jahrgang 1909, war siebzehn Jahre jünger als mein Vater, was zu damaligen Zeiten in unserem Tal besonders aussergewöhnlich war, ja als moralisch verwerflich gedeutet wurde. Du fragst Dich vielleicht, weshalb eine völlig verarmte Frau im Engadin einen siebzehn Jahre älteren Mann geheiratet haben könnte. Warum wohl? Ich sehe vor meinem geistigen Auge, wie es in Deinem Gehirn rotiert und rumort. «Klar» wirst Du sagen «sie wollte wohl raus aus ihrer Armut, raus aus dem dunklen Haus mit den winzigen Fenstern und den dicken Mauern, wo man im Winter Eisblumen von den Fenstern kratzte. Sie wollte wohl weg vom immer selbigen, ärmlichen Essen, weg vom Hunger. Sie wollte wohl ihre armseligen Kleider ablegen und sich anständig einkleiden. Sie wollte wohl endlich abends in ein eigenes Bett kriechen, welches sie nicht mit ihrer älteren Schwester teilen musste». Und dann dürftest Du einmal schlucken und noch ergänzen: «und daher wird sie wohl in den sauren Apfel gebissen und sich einen zu der Zeit «alten» Mann geangelt haben». Richtig? Habe ich Deine Gedanken so in etwa korrekt zusammengefasst? Ja, damals sah man mit fast vierzig Lebensjahren bereits so aus, wie heute ein Fünfundsechzig-Jähriger. Wenn man aber so arm, ja armselig aufwuchs wie meine Mutter, dürfte das wohl keine Rolle gespielt haben. Hauptsache, man konnte dieser Armut entfliehen. Raus, einfach raus aus dieser Misere, war wohl die Devise.

Das mit solchen Cliches ist aber so eine Sache. Oft stimmen sie, manchmal aber liegt man damit völlig falsch oder mindestens irgendwie falsch oder verkehrt. Im Falle meiner Mutter war es irgendwie so…, oder auch nicht, oder etwas dazwischen. Aber dazu später mehr.

Dass ich in Scuol geboren wurde und nicht etwa im Aargau, meinem Bürgerkanton, oder in Deutschland oder gar in Italien, verdanke ich einigen kuriosen Wendungen im Leben meiner Vorfahren. Aber auch dazu später mehr.

mit Sandra…

«Nonni? Mein Vater hat mir mal erzählt, dass Du gar nicht Bündnerin, also keine Engadinerin warst, bevor Du Bazegner3 Iggi geheiratet hast, obwohl Deine Muttersprache Romanisch ist und Du in Scuol das Licht der Welt erblicken durftest», begann meine Enkelin Sandra auf ihr eigentliches Thema einzulenken. Ich war in meinem Lieblings-Sessel der Marke «Stressless» eingenickt und schreckte auf

«Oh, habe ich Dich geweckt, Nonni?»

«Schon gut, Sandra. Ich wollte sowieso nicht zu lange schlafen. Du weisst ja, dass ich in letzter Zeit nachts öfters wach liege und wenn ich tagsüber ein zu langes Nickerchen mache…» Sandra hatte sich kurzfristig übers Wochenende angekündigt. Sie würde gerne wieder einmal vorbeischauen, hatte sie gesagt. Iggi und ich hatten uns sehr über ihre Anfrage gefreut, sie aber am Telefon darauf hingewiesen, dass für das kommende Wochenende schlechtes Wetter angekündigt sei. Darauf hatte sie begeistert erwidert, dass sie das prima fände. Wie ich ja wisse, könne sie stundenlang Geschichten von früher lauschen, eingepackt in eine warme Decke, vor dem knisternden Schwedenofen. Bei ihren letzten Besuchen sei es vor allem Bazegner Iggi gewesen, der von früher erzählt hatte. Dieses Mal wolle sie mehr von mir hören, wie es damals war

«Was wolltest Du von mir wissen?» ich war wieder wach und erhob mich etwas schwerfällig aus meinem Sessel. Sandra aber schob mich sanft in die sitzende Haltung zurück

«Ich mach’ uns einen Tee und dann setze ich mich zu Dir»

Etwas verwirrt, dass sie ihre Frage nicht wiederholte, wollte ich protestieren

«Sie ist eigentlich Bürgerin von Habsburg» antwortete stattdessen mein Mann, ohne dass ich richtig verstanden hatte, was meine Enkelin vorhin von mir wollte «im Kanton Aargau» Iggi schrie die letzten drei Worte, weil Sandra bereits das Wohnzimmer verlassen hatte, um Wasser aufzusetzen. Von der Küche aus rief sie zurück

«Dann waren Deine Vorfahren gar Österreicher?»

«Ähm, nein, nicht Österreicher. Unsere Vorfahren sollen aus Deutschland zugewandert und ein Ur-Ur-irgendwie-Grossvater in Habsburg sesshaft geworden sein, wo sie eine Zimmerei geführt haben sollen», schrie ich in die Küche zurück.

Sandras Kopf erschien im Türspalt.

«Oh, tschuldigung» meinte sie etwas verlegen «wie war das mit Deinem Ur-Ur…»

«Aber Dein Ur-Ur-Grossvater soll doch im frühen neunzehnten Jahrhundert nach Italien ausgewandert sein» mischte sich Iggi erneut in unser Gespräch ein «so will es doch Dein Bruder Jon herausgefunden haben»

«Ja, aber vorher waren wir doch aus Deutschland…»

«Stopp, stopp, stopp!» unterbrach uns unsere Enkelin «Österreich, Deutschland, jetzt auch noch Italien, aber eigentlich Engadin… - das geht mir alles etwas zu schnell und ist ziemlich verwirrend»

«Siehst Du» sagte ich leicht vorwurfsvoll zu meinem Mann «immer musst Du Dich einmischen, alles besser wissen. Sandra hat mich gefragt, nicht Dich»

Ich betonte das «mich» mit einem Fingerstubs auf seine Brust «und schliesslich durftest Du Sandra bereits bei ihren letzten Besuchen stundenlang von den Abenteuern Deiner Vorfahren erzählen. Jetzt bin ich mal dran!»

«Ich wollte ja nur helfen…»

«Helfen?» begehrte ich etwas zu heftig auf «mich korrigieren wolltest Du, wie immer…»

«Stopp!» wiederholte Sandra

Sie sah erst mich, danach Iggi mit einem strengen Blick an, der uns beide beschämt werden liess. Sie seufzte

«Ich wollte nur eine Einleitung finden, wie ich auch Dich einmal dazu bewegen könnte, über Deine Vorfahren zu erzählen» ihr Blick zu mir verriet etwas Unsicherheit «ich wollte damit keinen Familien-Streit auslösen»

«Das Wasser kocht» gab Iggi stattdessen ein wenig schmollend zurück «macht nur weiter. Ich gehe uns den Tee zubereiten»

Mit zu Boden gerichtetem Blick drängelte er an Sandra vorbei hinaus zur Küche. Meine Enkelin trat mit schuldbewusster Miene wieder in unsere gemütliche Arven-Stube ein, sich verlegen die Hände reibend.

«Ach, er ist manchmal schon ein sturer Bock» liess ich sie immer noch leicht verärgert wissen «komm zu mir, mein Schatz. Also, was genau wolltest Du von mir vorhin wissen?»

Sie trat auf mich zu und legte ihre Hand auf meinen Arm. Sie sah kurz hoch zur Decke, genau dorthin, wo ich jeweils blicke, wenn ich mich zu einem Mittags-Nickerchen hinlege. Dorthin, wo man mit etwas Fantasie im Arvenholz-Täfer ein Gesicht eines Koboldes sehen kann. Sandra schien dieses aber nicht zu sehen

«Weisst Du, die langen Erzählungen von Bazegner und seinen, ja unseren Vorfahren, haben mich immer wieder beschäftigt. Von Dir und Deinen, ja daher auch meinen Vorfahren grossmütterlicherseits, weiss ich nur, dass Du einen Bürgerort aus dem Kanton Aargau hast»

«Habsburg, ja»

«Von meinem Vater aber weiss ich, dass nicht nur Du, sondern auch Deine Eltern, ja auch Deine Grosseltern Romanisch sprachen, also hier gelebt hatten. Wie, wann und warum sind sie aus dem Aargau hierhergezogen? Und vorhin sagtest Du sogar, dass unsere Vorfahren aus Deutschland zugezogen wären?»

«Nun ja, es ist noch etwas komplizierter» gab ich geheimnisvoll zurück «das mit Italien stimmt eben auch»

Ich unterbrach, um gleich noch präzisieren zu können

«Italien ist auch nicht ganz richtig, weil die Toskana bis zum Jahre 1861 zum Habsburgischen Reich gehörte und sich erst danach Italien anschloss»

«Zwischenzeitlich war es gar französisch» wusste Sandra «zur Napoleon-Zeit. Damit haben wir schon fünf Länder, in die Deine, also unsere Vorfahren verwickelt waren. Jetzt wird es aber spannend. Woher willst Du das übrigens so genau wissen?»

«Bazegner hat es vorhin erwähnt. Mein Bruder Jon ist der Älteste unserer Familie. Er hat sich vor seinem Tod sehr intensiv mit unserer Geschichte befasst. Dabei ist er auch auf das Geheimnis Deiner Frage gestossen» ich legte meinen Kopf an die Stuhllehne «aber das ist eine längere Geschichte»

Sandra lächelte und setzte sich neben mich

«Genau deshalb wollte ich Dich besuchen»

1 Siehe Buch «Ignatius», Jürg Arquint, ISBN 9 783750 413900 BoD

2 romanischer/italienischer Begriff für «Grossmutter»

3 romanischer Begriff für «Grossvater»

Teil 1

Elisabeth

Habsburg 1814 – Zürich 1820

Habsburg, Bad Schinznach – 1814

Noch bevor es geschah, sah Hans-Ulrich vor seinem geistigen Auge, was demnächst unweigerlich passieren würde. Antonio, sein bester Freund, hatte eben noch geschrien

«Zieh! Hans-Ulrich zieh! Ich kann es nicht mehr lange halten»

Hans-Ulrich zog mit aller Kraft an der Seilwinde, musste aber verzweifelt feststellen, dass er nicht weiter rückwärtsgehen konnte, weil hier der Raum endete. Anstatt sich mit seinem gesamten Körpergewicht Schritt für Schritt nach hinten zu bewegen, wollte er die eine Hand loslassen, um nach vorne zu greifen, damit er fester am Seil ziehen konnte. Das erforderte noch mehr Kraft, die ihm langsam auszugehen drohte. Antonio stand etwa zwei Armlängen vor ihm und stemmte sich verzweifelt gegen die drohende Katastrophe. Er bewegte sich nicht mehr und konnte sich nur noch an das fingerdicke Seil klammern. Der schwere Kehlbalken bewegte sich langsam immer weiter in die falsche Richtung, mit seinem darauf sitzenden Vater. Im selben Augenblick, als Hans-Ulrich seine Rechte vom Seil löste, ging ein Ruck durch Antonios Körper. Mit einem lauten Ächzen kippte er nach rechts weg und liess das Seil los. Das gesamte Gewicht zog nun an Hans-Ulrichs linker Hand, womit auch er überfordert war. Er legte blitzschnell seine Rechte auf das straff gespannte Seil, aber es war zu spät. Er versuchte noch mit einem Schritt nach vorne das Unheil abzuwenden, stolperte aber über den bereits am Boden liegenden Antonio und stürzte. Aus dem Augenwinkel sah er den über zehn Meter langen Dachbalken auf sie zuschiessen. Er sah noch die geweiteten Augen seines Vaters, seinen Mund zu einem stillen Schrei aufreissend. Dann wurde es um ihn herum schwarz.

Hans-Ulrich kam wieder zu sich. Im ersten Augenblick wusste er nicht, wo er war und wie lange er sein Bewusstsein verloren hatte. Es war erstaunlich hell, zu hell in einem Innenraum. Erst jetzt nahm er wahr, dass er nass war, nass vom niederprasselnden Regen. Er sah nach oben. Das Dach war verschwunden, er befand sich unter freiem Himmel. Kaum eine Handbreit neben ihm sah er den ellendicken Kehlbalken liegen. Er spürte ein Zerren an seinem linken Arm. Antonio stand in gebückter Haltung neben ihm

«Bist Du verletzt?»

Hans-Ulrich wollte antworten, fand aber keine passenden Worte

«Hans-Ulrich! Was ist?»

Antonio zerrte weiter an seinem Arm. Hans-Ulrich sah sich zögernd um. Überall lagen Bretter und Balken, kreuz und quer. Wie durch ein Wunder hatte ihn keines der herunterstürzenden Hölzer erwischt.

«Lass’, ich schaffe es allein» fand er endlich seine Stimme wieder und erhob sich ächzend.

Als er sich auf dem neben ihm liegenden Dachbalken abstützte, durchfuhr ihn ein Schmerz in der Handfläche. Er sah auf seine Hände. Sie waren blutverschmiert. Hautfetzen hatten sich gelöst, dort wo das raue Seil durch seine Finger geglitten war. Ein Stöhnen liess ihn aus seiner Erstarrung aufhorchen. Direkt neben Antonios Fuss, der sich vor ihn hingekniet hatte, lugte eine Hand unter dem schweren Kehlbalken hervor. Den stechenden Schmerz in seinen Handflächen spürte er nicht mehr. Er schob sein Bein über den Dachbalken, dann sah er ihn. Sein Vater lag parallel neben dem Balken, sein rechter Arm verschwand darunter, etwa dort, wo auf der anderen Seite des Trägers die Hand ersichtlich war.

Ihre Zimmerei hatte in letzter Zeit kaum Aufträge erhalten. Daher war Hans-Ulrichs Vater umso erfreuter gewesen, als er endlich eine grössere Arbeit an Land hatte ziehen dürfen. Die Hauptgebäude im Bad Schinznach sollten abgerissen und durch eine Kolonnade mit einem Speisesaal ersetzt werden. In den vergangenen Jahren hatte der Bäder-Tourismus in Bad Schinznach immer mehr Zuspruch erfahren, vor allem von einer kaufkräftigen Kundschaft, die immer anspruchsvoller wurde. Seit mehreren Generationen schickte auch das Berner Inselspital skrofulöse und gelenkleidende Patienten hierher zur Kur, teilweise auf abenteuerlichen Reisen mit einem niedrigen Boot, auf welchem die Kranken auf Stroh gebettet wurden. Diese Reise dauerte zwei Tage und erforderte eine Übernachtung in Solothurn. Aber immer häufiger trafen Patienten ein, die es sich leisten konnten, sich einer drei bis fünfwöchigen Kur zu unterziehen, die mehr daraus bestand, sich zu erholen, gut zu essen und Lust zu wandeln, als um zu baden und Wässerchen zu trinken. Mit dem Ausbau wollte man Dampfbäder anbieten, aber auch Trinkwasser zur Verfügung stellen. Die Gäste sollten sich auch duschen können. Das beliebte Bad Schinznach, im Volksmund auch Bad Habsburg genannt, sollte daher von Grund auf modernisiert werden, um der immer grösser werdenden Konkurrenz Paroli bieten zu können.

Der ansonsten immer mürrische Johannes war vor wenigen Tagen in die Werkstatt getreten, die er am Morgen grusslos verlassen hatte. Hans-Ulrichs Mutter hatte nur gewusst, dass er ins benachbarte Bad hinunter gegangen war, eine halbe Stunde Fussmarsch von Habsburg, wo sie ihre Zimmerei betrieben.

«Morgen müssen wir früh raus» hatte er ohne Einleitung und ohne Gruss gesagt «geh schnell zu Antonio hinüber und hol ihn hierher»

Hans-Ulrich war es gewohnt, den Anweisungen seines Vaters widerspruchslos Folge zu leisten. Er hatte den Hobel zur Seite gelegt, seine Hände an seinem Lederschurz abgewischt und wollte umgehend die Zimmerei verlassen, als sein Vater ihn aufhielt

«Willst Du Deine Schürze nicht ausziehen?»

Etwas verdutzt hatte Hans-Ulrich seinen Vater angesehen und feststellen dürfen, dass dieser seit langem wieder einmal lächelte.

Antonio, sein bester Freund, war vor mehr als einer Dekade mit seiner Familie aus der fernen Toskana zugezogen, weil sein Vater vor den in Florenz einrückenden Truppen von Napoleon Bona parte geflüchtet war. Einige Tage später hatte Antonio an einem späten Nachmittag in ihrer Zimmerei vorbeigesehen, dem einzigen Betrieb im kleinen Dorf, welcher nicht als Bauernbetrieb geführt wurde. Anfänglich verstanden sich die beiden nicht, Hans-Ulrich und Antonio. Antonio sprach ausschliesslich Toskanisch, den italienischen Dialekt, dem Hans-Ulrich nicht mächtig war und das später zur offiziellen Sprache in Italien werden sollte. Bereits nach wenigen Minuten hatte Hans-Ulrich aber verstanden, dass Antonio mithelfen wollte, weil er sich langweilen würde. Hans-Ulrich hatte ihm gezeigt, wie sie gemeinsam an der grossen Zwei-Mann-Säge ziehen sollten und sie hatten einen grossen Balken in kürzester Zeit zersägt und dabei grossen Spass gehabt. Hans-Ulrichs Vater war für kurze Zeit ausser Haus gewesen und war bei seiner Rückkehr auf den neuen Gast aufmerksam geworden. Da sein Sohn und sein Besuch mit ihrer Arbeit beschäftigt gewesen waren, hatten sie seine Ankunft nicht bemerkt. So hatte er sie eine Weile beobachten können, wie sie gemeinsam mit der Säge hantierten, als würden sie bereits seit Jahren zusammenarbeiten. Die beiden Fünfzehnjährigen hatten erschrocken aufgesehen, als Johannes sich bemerkbar gemacht hatte. Erstaunt hatte Johannes zur Kenntnis genommen, dass dieser Gast sie überhaupt nicht verstehen konnte. Hans-Ulrich hatte fast ängstlich gefragt, ob er Antonio wegschicken sollte. Sein Vater aber hatte gelassen reagiert und ihn beauftragt, gemeinsam mit Antonio die Arbeit zu vollenden. Als sie das kurz vor dem Eindunkeln erledigt hatten, hatte Antonio einen Besen in die Hand genommen und die auf dem Boden verstreuten Späne zusammen gewischt. Wie oft schon hatte Johannes seinem Sohn auftragen müssen, dies bei Arbeitsschluss zu tun? Danach hatte sich Antonio mit einer Verbeugung von den Beiden verabschiedet und war in der Dunkelheit verschwunden. Hans-Ulrich hatte noch hinterhergerufen «kommst Du morgen wieder?», aber keine Antwort erhalten.

Als Hans-Ulrich und Johannes am frühen Morgen von der Küche in die Zimmerei heruntergestiegen waren, hatte Antonio bereits vor dem Haus gewartet. Sein Vater hatte ihn ohne Worte reingebeten und ihm ein Lederschurz umgebunden. Er hatte Hans-Ulrich beauftragt, gemeinsam mit seinem neuen «Mitarbeiter» an seiner gestrigen Aufgabe weiterzuarbeiten. Sie sollten Dach-Sparren vorbereiten, die sein Vater mit den notwendigen Kerven ausnehmen wollte. Er hatte das mit einer Selbstverständlichkeit getan, als wäre Antonio seit Jahren für seine Zimmerei tätig gewesen. Antonio war auch am Folgetag und am Tag darauf im Betrieb erschienen und hatte mitgearbeitet, immer genau beobachtend, was Hans-Ulrich ihm vormachte. Auch Johannes hatte begonnen, seinem neuen «Lehrling» Handgriffe beizubringen, die Antonio innert kürzester Zeit beherrschte. Während der Arbeit hatte Antonio immer wieder gefragt, wie man Dies oder Das in deutscher Sprache nennen würde und dabei mit Handzeichen und toskanischen Worten aufzuzeigen versucht, was er meinte. Hans-Ulrich hatte begeistert mitgespielt und ihn mehr und mehr in die deutsche Sprache eingeführt. Als Nebeneffekt lernte er selber den einen oder anderen Begriff aus Antonios Muttersprache. Viel rascher als es Johannes erwartet hätte, hatte sich Antonio vom Hilfs-Mitarbeiter zum vollwertigen Angestellten ihrer Zimmerei entwickelt. Bald waren Hans-Ulrich und Antonio in der Lage ohne Unterstützung von Johannes Arbeiten durchzuführen. Vorher hatte er seinen Sohn kaum je allein in der Werkstatt mit Aufgaben beschäftigt. Zu Dritt hatten sie viel effizienter auf den Baustellen arbeiten können, wo früher oft eine zusätzliche Hand gefehlt hatte. Es hatte sich bald in der Umgebung herumgesprochen, dass die Zimmerei «Hofmann» aus Habsburg als eingespielte Truppe qualitativ hochwertige Arbeit leisten würde. So war es auch nicht verwunderlich, dass sie immer öfter angefragt wurden, ob sie wohl hier oder da handanlegen könnten. Dies war auch beim grossen Auftrag aus den Bädern in Schinznach der Fall, wo sie das Dach der alten Hauptgebäude demontieren und später das neue für den prächtigen Speisesaal aufrichten sollten.

Hans-Ulrich kniete neben seinem Vater und fuhr ihm mit seiner blutigen Hand unter seinen Kopf

«Vater…» murmelte er verzweifelt «Vater, hörst Du mich?»

«Dio mio, was ist mit Johannes?»

Antonio hatte sich neben Hans-Ulrich niedergekniet, inzwischen pitschnass vom niederprasselnden Regen.

«Er atmet, ist aber nicht bei Bewusstsein. Sein Arm ist unter diesem verdammten Balken eingeklemmt»

«Dio mio» wiederholte Antonio «was machen wir nun?»

Hans-Ulrich sah kurz zu seinem Freund. War er vom Regen so nass oder weinte er gar? Er erhob sich und zupfte seinen Freund am Ärmel.

«Wir müssen diesen Balken irgendwie anheben, damit wir Vater befreien können. Bist Du verletzt?»

Antonio schien ihn nicht wahrzunehmen. Er starrte nur auf Hans-Ulrichs Vater, auf dessen blutverschmiertes Gesicht.

«Antonio!» Hans-Ulrich wurde leicht ungehalten «reiss Dich zusammen!»

Antonio löste sich aus seiner Starre und erhob sich nun ebenfalls

«Wir müssen einen Dottore holen»

«Wir müssen ihn rasch möglichst aus dieser misslichen Lage befreien, bei dieser Kälte und diesem Regen» entgegnete Hans-Ulrich «bis wir einen Doktor gefunden und hierhergebracht haben, holt Vater sich den Tod»

«Aber wie machen wir das? Der ist doch viel zu schwer»

Hans-Ulrich sah sich um. Er spürte bereits die eindringende Kälte, die durch seine nassen Kleider kroch. Ein Teil des Daches war noch intakt. Nur der Bereich rund um sie herum und um den weggebrochenen Kehlbalken befand sich unter freiem Himmel. Er packte seinen Freund am Arm

«Komm, wir nutzen den Seilzug»

Er stolperte über die kreuz und quer verstreuten nassen Bretter zum Ende des Kehlbalkens, wo immer noch die Schlinge des Seils um den Balken gewickelt war. Antonio blieb stehen, zuerst zu Hans-Ulrich blickend, dann auf Johannes. Hans-Ulrich sah, dass er einige Dachsparren und Bretter der Unterkonstruktion würde wegräumen müssen, damit er den Seilzug für seine in ihm aufkeimende Idee verwenden konnte. Als er die Hand unter den ersten Sparren schob, um ihn anzuheben, musste er feststellen, dass er diesen allein nicht hochheben konnte

«Komm schon, verdammt. Hilf mir!»

«Johannes wacht glaube ich auf»

Hans-Ulrich vernahm ein leises Stöhnen. Rasch entschied er, dass er weitermachen musste und nicht unnötig Zeit verlieren wollte, um seinem Vater zu helfen, aus seiner Bewusstlosigkeit zu erwachen.

«Egal, wir müssen ihn jetzt befreien. Ich schaff es nicht alleine»

Antonio zögerte einen Augenblick, dann schien auch er begriffen zu haben, dass er besser Hans-Ulrich helfen würde, als weiterhin neben seinem Meister zu jammern. In drei Sätzen war er bei Hans-Ulrich, der bereits am Sparren zerrte. Mit vereinten Kräften konnten sie diesen anheben und zur Seite wuchten. Mehrere Bretter der Dach-Unterkonstruktion konnten sie so freibekommen und ebenfalls weg vom Kehlbalken schieben. Einen weiteren Sparren hievten sie fast mühelos weg, danach noch einige weitere Bretter

«So, jetzt müssten wir es schaffen» meinte Hans-Ulrich «ich klettere jetzt hier hoch. Du reichst mir das Seil nach»

Hans-Ulrich zeigte auf den Seilzug direkt dort, wo Antonio sich befand. Behände wie eine Katze stieg er auf einen vor ihm befindlichen Bock, zog sich an einem noch am richtigen Ort befindlichen Dach-Sparren hoch und wuchtete sich darüber. Antonio war ihm mit dem Seil in der Hand gefolgt. Kaum war Hans-Ulrich oben angelangt, wurde ihm bereits das Seil zugeworfen. Mit einer routinierten Bewegung schlang er es um den Sparren und sprang wieder hinunter auf den Dachboden. Im selben Augenblick hörten sie beiden das laute Aufstöhnen des aus seiner Ohnmacht erwachenden Vaters.

«Wir müssen…» wollte Antonio zu ihm hineilen, aber Hans-Ulrich behielt kühlen Kopf

«Nicht jetzt! Zieh…! Verdammt»

Hans-Ulrich zerrte am Seil, um im selben Augenblick aufzuschreien. Er liess das Seil los und schüttelte seine blutigen Hände.

«Lass mich» rief Antonio und nahm das Seil-Ende in seine Hände.

Er zog. Sein Gesicht zeigte Entschlossenheit, dann Ratlosigkeit. Der Kehlbalken bewegte sich keinen Millimeter. Hans-Ulrich sah auf seine blutverschmierten Hände, dann zu Antonio, dann zum Seil. Ohne weiter zu überlegen, zog er sein nasses Hemd aus, zerriss es in zwei Stücke und wickelte die Stofffetzen um seine versehrten Hände. Dann stellte er sich hinter Antonio, packte das Seil und schrie

«Zieh, Antonio, zieh!»

Ihre gemeinsamen Anstrengungen wurden dahingehend belohnt, als sich der Kehlbalken etwas bewegte, um vielleicht einen finger breit.

«Aahhgrrr!» entfuhr es seinem Vater, der nun wieder voll bei Bewusstsein war

«Ich…, ich kann nicht…»

Antonio sackte in sich zusammen, gleichzeitig mit Hans-Ulrich. Der Balken senkte sich erneut in die ursprüngliche Position. Der Aufschrei seines Vaters liess sie beide erschaudern. Schwer atmend mit starrem Blick nahm Hans-Ulrich wahr, dass sein Vater sein Bewusstsein wieder verloren hatte. «Zum Glück» dachte er. Antonio neben ihm begann zu heulen

«Was machen wir jetzt?» schniefte er

Ein Poltern hinter ihnen lenkte Hans-Ulrichs Aufmerksam weg von seinem Freund.

«Was ist denn hier los?» rief ihm der Maurer etwas weiter hinten beim Treppenaufgang zu, der unten am Eingang an der Aussen-Treppe gearbeitet hatte.

Johannes verfügte wohl über ein reduziertes Schmerzvermögen. Anders konnten es sich die Drei nicht vorstellen, wie er mit dem zerschmetterten Arm und dem lädierten Schädel selbst die Treppe runter gehen konnte. Gemeinsam mit Walti, so hiess der Maurer, hatten sie Johannes rasch aus der misslichen Lage befreien können. Die ganze Aktion hatte nur einige Sekunden gedauert. Walti und Antonio hatten mit dem Seilzug den Kehlbalken erneut kaum einen fingerbreit anheben können, aber das hatte gereicht, damit Hans-Ulrich den Arm seines Vaters darunter hervorziehen konnte. Bereits nach einigen weiteren Sekunden hatte Johannes auf seinen lädierten Arm geblickt und gemurmelt «…und wer richtet nun das Dach fertig auf?» Die Drei hatten sich nur fragend angesehen. Walti hatte als erster reagiert und entschieden «erst bringen wir Dich zum Doktor hinüber, dann sehen wir weiter». Hans-Ulrich war durch das Wort «hinüber» aufmerksam geworden und fragte den Maurer, wie er das meinen würde. Dieser erklärte, dass in den Bädern immer ein Arzt herumstolzieren würde. Er hätte noch vor wenigen Minuten den Typen gesehen, der immer dabei sei, wenn das flache Schiff mit den Kranken aus Bern ankäme. Sie hatten sich gefragt, wie sie Johannes die steile Leiter heruntertragen konnten, als dieser auf einmal neben ihnen gestanden war und bemerkte «gehen wir endlich oder wollt ihr noch lange philosophieren?».

Bevor einer der Helfer reagieren konnte, drehte sich Johannes beim Abgang am oberen Ende der angelehnten Leiter um und ging vorsichtig rückwärts die Stufen runter, sich mit der gesunden Hand immer wieder stützend. Unten angekommen wurden aber die Schmerzen doch noch zu stark. Johannes setzte sich auf einige Bretter, die dort aufgestapelt waren und bückte sich über seinen kaputten Arm.

«Von hier aus geht es besser» meinte Walti, der sich kurz neben ihn setzte «hier können wir die normale Treppe benutzen»

Als sie auf der gegenüberliegenden Seite des Geländes vor dem niedrigen Gebäude eintrafen, wo Walti den Doktor lokalisiert hatte, fuhr gerade ein leichter Phaeton vor, welcher von einem eleganten schwarzen Pferd gezogen wurde. Da es immer noch regnete, war das Verdeck hochgeklappt. Der Herr mit Zylinder, der die Zügel in der Hand hielt, knallte kurz mit der Peitsche und fuhr knapp an den vier Handwerkern vorbei. Hans-Ulrich glaubte noch, eine Bemerkung von ihm gehört zu haben, die klang wie «Gesindel, geht zur Seite!». Kaum einen Steinwurf weiter, hielt die leichte Kutsche an, direkt vor dem Eingang zum «medizinischen Zentrum». Walti hielt Johannes auf der linken Seite, Antonio hatte sich vorsichtig auf der anderen Seite, derjenigen mit dem zertrümmerten Arm bei Johannes untergehakt. Hans-Ulrich ging mit nacktem Oberkörper schräg vor ihnen etwa einen Schritt voraus, immer wieder zurückblickend. Er sah hinüber zum Gefährt und bemerkte, dass der Herr mit Zylinder um den Phaeton herum ging, anscheinend um einer weiblichen Person vom Kutschbock herunter zu helfen. Im selben Augenblick, als sie dort eintrafen, stieg die junge Frau vorsichtig und etwas umständlich die zwei Stufen hinunter, die Hand des Herrn mit Zylinder haltend. Sie war ganz in weiss gekleidet, mit einem weiten Rock, der sich beim Heruntersteigen an der oberen Stufe bei der Halterung verfing. Da sie in der anderen Hand einen ebenfalls weissen Regenschirm hielt, verlor sie das Gleichgewicht. Hans-Ulrich, der kaum drei Armlängen von ihr entfernt war, sprang geistesgegenwärtig heran, packte sie an den Hüften und setzte sie sanft auf den Boden. Der Herr mit Zylinder hatte viel zu langsam reagiert. Wäre Hans-Ulrich nicht eingeschritten, läge die junge Frau nun wohl im nassen Matsch. Dies schien den Herrn mit Zylinder nicht zu beeindrucken. Er schrie Hans-Ulrich an

«Was fällt Ihnen ein, junger Mann. Lassen Sie sofort meine Tochter los…»

Hans-Ulrich aber hörte ihn nicht. Er sah nur in wunderschöne, grüne Augen und sog den Duft eines verführerischen Parfüms ein. Sie lächelte. Hatte sie kurz auf seinen muskulösen Oberkörper geblickt? Hinter ihm stöhnte sein Vater auf, weil Antonio sich ungeschickt von ihm gelöst hatte, um selbst helfen zu können. Der Vater der jungen Frau zeterte weiter

«So eine Frechheit…»

Gleichzeitig veränderte sich der Gesichtsausdruck der jungen Frau. Hans-Ulrich bemerkte, wie sie an ihm vorbei sah, hinüber zu seinen beiden Kollegen und seinem Vater.

«Das ist ja schrecklich» entfuhr es ihren süssen Lippen.

Sie legte ihre behandschuhte freie Hand auf ihren Mund und wollte sich abwenden. Hans-Ulrich aber hielt sie immer noch mit seinen verbundenen Händen an ihren Hüften fest. Sie stockte und sah erneut kurz hinunter, dann wieder in Hans-Ulrichs Augen

«Sie können mich nun wieder loslassen, vielen Dank» meinte sie, erneut ein scheues Lächeln aufsetzend «aber was ist denn mit diesem Mann dort geschehen?»

Erst jetzt sah sich auch der Herr mit Zylinder um. Völlig aufgebracht rief er

«Oh, mein Gott. Das ist ja…»

Hans-Ulrich sah jetzt auch, wie schrecklich sein Vater aussah. Die klaffende Platzwunde seitlich über seinem Ohr blutete stark. Sein Hemd war über und über mit Blut besudelt. Seine Rechte hing herunter wie eine Fahne bei Windstille, ebenfalls vollständig mit Blut überzogen.

«Wir müssen ihn umgehend zu einem Doktor bringen» gab die junge Dame zu bedenken und trat auf Johannes und seine Helfer zu.

«Elisabeth! Das geht uns nichts an» rief ihr Vater und hielt sie am Arm zurück.

«Aber Papa, Du siehst doch…»

«Wir sind bei diesem Sau-Wetter von Bern hierhergefahren, weil wir Dein Unwohlsein heilen lassen wollten» protestierte er «komm jetzt»

Er wollte sie von diesen blutverschmierten Gestalten wegzerren, sie aber hob ihren Arm und löste sich aus seiner Umklammerung

«Das ist jetzt nicht wichtig, Papa. Zuerst müssen wir diesen armen Mann verarzten lassen»

Sie liess ihren Vater stehen und ging auf Johannes zu. Dieser sah auf und grinste schief, obwohl ihn die Schmerzen zu übermannen drohten.

«Können Sie gehen?» fragte sie

«Geht schon» gab Johannes zurück

«Er hat es bis hierhergeschafft» mischte sich auch Walti grinsend in das Gespräch ein «er wird die letzten Meter wohl auch noch schaffen, vielen Dank Fräulein»

Die junge Frau machte kehrt und steuerte mit strammem Schritt zur Eingangs-Türe. Sie drückte sie auf und rief

«Einen Arzt! Wir benötigen dringend einen Arzt»

Die anderen folgten ihr, Antonio und Walti mit Johannes im Schlepptau, der Herr mit Zylinder mit seinem schwarzen Schirm, leise Verwünschungen ausstossend. Hans-Ulrich aber war im Regen stehen geblieben und blickte der Schar nach. Er sah immer noch diese grünen Augen, fühlte das leichte Gewicht ihres Körpers und nahm im Geiste die Körperwärme ihrer Hüften wahr.

Walti hatte sich anerboten, die Drei auf dem Marsch nach Habsburg zu begleiten. Johannes aber hatte ihm versichert, dass sie es auch ohne ihn schaffen würden. Er bat Walti am kommenden Sonntag vorbeizukommen, um bei ihnen das Mittagsmahl einzunehmen. Der Arzt hatte zuerst die Blutung am Kopf gestillt, indem er den etwa daumenlangen Riss mit einigen Stichen zugenäht hatte. Danach hatte er einen dicken Verband angebracht, der fast den gesamten Kopf bedeckte. An diesem drückte bereits wieder Blut durch. Der Arzt hatte aber beschwichtigt und gemeint, dass es dramatisch aussähe, aber nur eine lästige Platzwunde sei, die bald heilen würde. Mehr Sorge hatte ihm der Arm und das Handgelenk bereitet. Er hatte erst vorsichtig, aber kräftig an der Hand herumgezerrt, aber als er feststellen musste, dass die Schmerzen für Johannes zu stark wurden, damit aufgehört. Danach hatte er den Arm mit einigen schmalen Hölzern fixiert und dick eingebunden. Mit einem Tuch hatte er ihn um den Hals und um die Brust am Körper befestigt und Johannes aufgetragen, diesen in den kommenden Tagen nicht zu bewegen.

Der Marsch nach Habsburg dauerte normalerweise etwa eine halbe Stunde. Der verletzte Johannes musste mehrmals pausieren, so dass sie erst beim Eindunkeln in der Zimmerei eintrafen. Hans-Ulrich hatte auf der gesamten Strecke kein Wort gesprochen. Er dachte nur an Elisabeth. Sie war es gewesen, die dem gelangweilt heranschlendernden Doktor die Leviten gelesen hatte. Sie hatte darauf bestanden, mit ins Behandlungs-Zimmer zu kommen. Sie hatte dort das Wort geführt und dem etwas hochnäsig dreinblickenden Arzt rasch klar gemacht, dass mit ihr nicht zu spassen war. Energisch hatte sie den Arzt auf die beiden Verletzungen hingewiesen und ihn angetrieben, einen Zacken zuzulegen. Einen Einwand ihres Vaters, sie wären doch ihretwegen den langen Weg hierhergefahren, hatte sie mit einer ungeduldigen Handbewegung weggewischt und weiter auf den Doktor eingeredet. Als der Doktor mit seiner Behandlung begonnen hatte, hatte sie Hans-Ulrich angesprochen und dabei erneut gelächelt «Sie sind wohl der Sohn dieses Herrn». Hans-Ulrich war so perplex gewesen, dass dieses wunderbare Fräulein ihn angesprochen hatte, dass ihm nur ein verlegenes «äähm» aus seinem Mund entsprungen war. Da hatte sie ihm ihre warme Hand auf seine nackte Schulter gelegt und tröstend bemerkt «das wird schon! Ihr Papa scheint ein zäher Bursche zu sein». Hans-Ulrich hatte sie nur schief anlächeln können, was bei ihr ebenfalls eine leise Verlegenheit ausgelöst hatte. «Wie heisst den Ihr Papa?» hatte sie nach einer kurzen Pause gefragt und danach «wie heissen Sie und was ist eigentlich passiert?» Das hatte Hans-Ulrichs Blockade gelöst. Hastig hatte er den Hergang des Unfalls erklärt und auch darauf hingewiesen, dass es ihm und Antonio nicht gelungen war, diesen schweren Balken anzuheben und dabei auf seine immer noch mit seinem Hemd verbundenen Hände geblickt. «Ohh» hatte sie besorgt gesagt «Sie sind ja selber verletzt» und seine Hände in ihre genommen. «Nein, nein, das ist nur vom Seil» hatte er beschwichtigend abwinken wollen. Sie aber hatte den Arzt in seiner Tätigkeit unterbrochen, um ihn darauf hinzuweisen, er müsse sich nach der Verarztung von Johannes gleich noch um Hans-Ulrich kümmern. Dieser sei ähnlich schwer verletzt. Als der Arzt sich erdreistet hatte zu fragen, ob denn diese Leute die Behandlung auch bezahlen könnten, war sie richtig laut geworden. «Was fällt Ihnen ein, Sie impertinenter Mensch? Machen Sie Ihre Arbeit. Sind Sie ein Arzt oder ein Halsabschneider?» Johannes hatte über seine Schulter zu ihr gesehen und schmunzelnd gemeint «wir sind zwar nur schmutzige Zimmerleute nach getaner Arbeit, sind aber problemlos in der Lage, für eine Behandlung zu bezahlen». Während der ganzen Zeit hatte Elisabeth Hans-Ulrichs Hände gehalten, so als würden ihm diese abfallen, wenn sie diese losgelassen hätte. Zwischendurch hatte sie immer wieder auf seinen nackten Oberkörper geblickt, dann aber scheu lächelnd den Blick wieder abgewandt. Normalerweise hätte sich Hans-Ulrich geschämt, wenn man sich wegen einer solchen Lappalie so um ihn gekümmert hätte. Von Elisabeth aber hätte er sich gerne noch viel länger betreuen lassen wollen. Aber nachdem der Arzt den Arm seines Vaters fixiert hatte, war sie auf diesen mit Hans-Ulrich im Schlepptau zugetreten und hatte darauf bestanden, dass er die lädierten Handflächen ebenfalls behandeln sollte. Dann aber war der Augenblick gekommen, bei welchem sie seine Hände hatte loslassen müssen. Das hatte sie mit einem solch wunderbaren Lächeln getan, dass Hans-Ulrich den Befehl des Doktors nicht wahrgenommen hatte, er solle sich setzen. Elisabeth hatte es stattdessen wiederholt und damit ausgelöst, dass er auf dem Schemmel Platz genommen hatte, wo vorher sein Vater verarztet worden war. Sie war im Zimmer geblieben, bis Hans-Ulrich mit beiden Händen in dicken Bandagen vom Arzt entlassen worden war. Als sie gemeinsam das Behandlungs-Zimmer verlassen hatten, war sie unsanft von ihrem Vater von Hans-Ulrich weggezerrt worden. Sie hatte über die Schultern zurückgeblickt und gerufen: «auf Wiedersehen, Hans-Ulrich, kommen Sie gut heim»

«Sie hat meinen Namen gerufen», fuhr es ihm immer wieder durch den Kopf, auch noch, als seine Mutter die Türe öffnete und besorgt rief

«Mein Gott, was ist denn mit Euch Beiden»

Auch die darauffolgende Woche regnete es fast permanent. Hans-Ulrich und Antonio arbeiteten ohne Johannes am Dach in Bad Schinznach weiter. Sie waren die ganze Zeit mit Aufräumarbeiten des Teil-Zusammensturzes der Konstruktion beschäftigt gewesen. Nun standen sie vor der Frage, wie sie zu zweit am Projekt weiterarbeiten konnten. Zudem mussten sie den von Johannes geplante Aufbau des Daches neu überdenken, um zu vermeiden, dass es erneut zu einem Debakel kommen konnte. Da es kurz vor Mittag war, beschlossen sie, sich erst einmal in der Küche des Bades eine warme Suppe zu holen, um beim Essen darüber zu beraten, wie sie weiterfahren wollten.

Das Bad war bekanntlich nicht nur für Gäste konzipiert, die über das nötige Kleingeld verfügten, sondern auch für solche, die von einer gemeinnützigen Organisation oder von einer Verwaltung zugeführt wurden. Beim Essen trennte sich aber die Spreu vom Weizen. Vornehme speisten an der Table d'hote. Andere verpflegten sich an der Gesindetafel. Noch billiger war das Abholen von Suppe und Fleisch in der Küche. Von dieser Dienstleistung profitierten auch Handwerker, welche am Umbau des Bades mitarbeiteten. Hans-Ulrich und Antonio waren etwas früher dran als alle anderen Gäste. Hans-Ulrich trat als Erster in den kleinen, schmucklosen Vorraum, dort wo man anstehen musste, um sein Mittagessen beziehen zu können. Dieser war sauber weiss gekalkt, der Boden mit Steinplatten belegt. An der Aussenwand bei den hohen Fenstern war eine Art Regal angebracht, aber keine Stühle. Das hatte man so erstellt, damit man dort seine Mahlzeit kurz abstellen, hier aber nicht essen konnte. Eine Durchreiche auf Brusthöhe liess einen Blick in die geschäftige Küche zu. Direkt neben der Öffnung befand sich eine Schiefertafel, auf welcher das Tages-Menü notiert war. Gegenüber sah man durch einen Rundbogen in einen Saal, wo lange Tische und einfache Bänke aufgestellt waren. Für die Handwerker war der hinterste Tisch reserviert. Es wurde ihnen aufgetragen, sich ruhig und anständig zu verhalten, die Gäste nicht zu stören und das Lokal umgehend wieder zu verlassen, wenn sie ihre Mahlzeit zu sich genommen hatten. Hans-Ulrich stellte sich vor die Schiefertafel mit dem Menu und las, dass heute ein Eintopf mit Schweinefleisch geboten wurde. Fleisch bekam man nicht täglich. Als er noch in seiner Börse nachzählte, ob er ausreichend Geld bei sich trug, vernahm er eine ihm bekannte Stimme

«Oh, Hans-Ulrich!»

Er sah auf, direkt in wunderschöne, grüne Augen.

«Was…, was machen Sie denn…»

Antonio drängelte Hans-Ulrich, auch ihn an die Essensausgabe heranzulassen. Dann sah auch er erstaunt zu Elisabeth, die hinter der Durchreiche stand. Sie trug eine einfache, weisse Schürze, ihr lockiges Haar wurde durch eine weisse Haube bedeckt.

«Oh, das schöne Fräulein» sagte er fröhlich «Sie arbeiten hier?»

«Darf ich Euch eine Portion von unserem wunderbaren Eintopf ausschenken?» ging sie nicht auf die Frage ein.

Sie blickte sich kurz um, lehnte sich danach etwas näher zu den Beiden vor und bemerkte mit etwas leiserer Stimme

«Ich gebe Euch eine Extra-Portion Fleisch»

«Da sage ich nicht nein» gab Antonio selbstbewusst mit breitem Lächeln zurück und hielt ihr seinen leeren Teller hin. Elisabeth schöpfte ihm eine besonders grosse Portion, so dass diese über den Tellerrand schwappte.

«Huch» meinte sie mit einem verlegenen Lächeln «man merkt wohl, dass ich es nicht gewohnt bin in der Küche zu hantieren, was?»

Sie sah sich nach einem Tuch um, um ihr Missgeschick aufzuwischen. Antonio wiederholte keck

«Werden wir Sie hier in Zukunft öfters sehen dürfen?»

«Oh, ich weiss nicht» antwortete sie schüchtern «wenn ich mich gleich bei den ersten Gästen so ungeschickt anstelle»

Sie putzte den Tellerrand mit dem Tuch ab und reichte ihn Antonio, wobei erneut etwas über den Rand lief. Sie wollte den Teller zurückziehen, um ihn nochmals zu reinigen, aber Antonio war schneller und hielt ihn fest

«Entschuldigen Sie, wenn ich neugierig bin» fragte er weiter «aber wie kommt ein so edles Fräulein dazu, hier…?»

Er zeigte mit seiner freien Hand um sich herum. Sein Blick blieb an Hans-Ulrich hängen, der stumm neben ihm stehen geblieben war und Elisabeth mit einem verklärten Lächeln anstarrte. Elisabeth folgte seinem Blick und sprach stattdessen Hans-Ulrich an

«Für Sie…, auch?»

Statt einer vernünftigen Antwort drang nur ein krächzendes «häckchm» aus seiner Kehle.

Elisabeth stockte. Ein breites Lächeln überzog ihren wunderbaren Mund.

«Heisst das ja?»

«Ohh» Hans-Ulrich räusperte sich umständlich «sehr gerne, es ist nur…»

Sie sah ihn mit einem Blick an, der seine Knie weich werden liess. Er stützte sich kurz mit der linken Hand auf der Durchreiche ab. Elisabeth sah kokett weg und murmelte

«Möchten Sie lieber von jemand anderem bedient werden, der sich weniger ungeschickt anstellt?»

«Oh, ganz im Gegenteil» Hans-Ulrichs Starre löste sich

«Ich kann mir kaum vorstellen, von einer noch reizenderen Person…» er stockte.

War er mit dieser Aussage zu weit gegangen? Erst jetzt wallte in ihm auf, dass er hier mit einer Person sprach, die sich gesellschaftlich wohl weit über seinem Stand befand. Aber was tat sie hier in dieser einfachen Küche, bei der Essensausgabe für die einfachsten Gäste? Bevor er seinen vermeintlichen Fauxpas korrigieren konnte, legte ihm Elisabeth sanft ihre Hand auf die seine

«Ich fühle mich geschmeichelt. Ich hätte nicht gedacht, dass ich bereits von den ersten beiden Gästen Komplimente erhalte, zumal ich mich so ungeschickt…»

Sie begannen zu lachen, zuerst Hans-Ulrich, dann Elisabeth und schliesslich auch Antonio, der förmlich losprustete. Dabei verschüttete er erneut einen Teil seines Essens. Hans-Ulrich krümmte sich vor Lachen und zeigte mit seiner freien Hand auf Antonio, der den Teller auf die Durchreiche stellte und sich lachend umsah. So rasch, wie alle losgeprustet hatten, so rasch wurde es wieder still im Raum. Elisabeth sprach wieder als erste

«Soll ich Ihnen noch etwas nachschenken?» Antonio grinste

«Geben Sie mir bitte das Tuch rüber, damit ich mein Missgeschick aufwischen kann»

Hans-Ulrich sah zu Elisabeth hinüber. Sie hielt immer noch ihre Hand auf der seinen. Ihre Blicke trafen sich erneut. Zögernd liess sie seine Hand los, um Antonio nachzuschenken. Während sie den Teller von Hans-Ulrich entgegennahm, wagte sich Antonio nochmals nachzuhaken

«Also, Fräulein Elisabeth. Ich weiss, es geht mich zwar nichts an, aber…»

«…wieso ich mich hier in dieser einfachen Küche beschäftige», fiel ihm Elisabeth mit einem grossen Augenaufschlag ins Wort «wo ich doch vor wenigen Tagen in einem so noblen Phaeton vorgefahren bin?»

Vorsichtiger als vorhin bei Antonio schöpfte sie eine fast ebenso grosse Portion in Hans-Ulrichs Teller. Erneut sah sie mit ihren strahlenden, grünen Augen zu Hans-Ulrich und übergab ihm sein Essen.

«Wissen Sie, mein Vater bestand darauf, dass ich meine gelegentlichen Schwächen hier behandeln lassen sollte» begann sie mit wieder gesenktem Blick zu erzählen «die Bäder hier sind ja sehr entspannend und es geht mir eigentlich ganz gut, aber die Zeit zwischen den Bädern ist schon sehr langweilig»

Sie sah erneut Hans-Ulrich an, ja sie musterte ihn

«Mein Vater hat bereits am ersten Abend einen Schach-Partner gefunden und spielt seither mit ihm in jeder freien Minute. Ich hingegen kann bei diesem Dauer-Regen nicht einmal spazieren gehen und so habe ich die Räumlichkeiten inspiziert und bin hier gestrandet»

«Und da dachten Sie, Sie könnten bei der Essensausgabe mitmachen?» fragte Antonio spontan

«Nicht direkt. Als ich vorhin hier eintraf, hörte ich, wie der Chef dort» sie zeigte mit einem Kopfnicken in den hinteren Bereich der Küche «dass Martha nicht zur Arbeit erschienen sei und daher einer der Köche diese Aufgabe hier hätte übernehmen müssen»

Sie lächelte erneut Hans-Ulrich an, der in derselben Stellung verharrt war, wie er den Teller mit dem Eintopf übernommen hatte

«Der Koch schien darüber nicht sehr amüsiert und so trat ich in die Küche und bat um eine Schürze»

«Einfach so?»

«Einfach so, wieso denn nicht?»

Sie hob dabei beide Hände und lachte erneut auf, dieses Mal etwas verlegen. Hans-Ulrich hätte am liebsten sein Essen hingestellt und sie erneut an den Hüften gepackt, um sie an sich zu ziehen. Eine raue Stimme hinter ihm liess diese Idee zerplatzen

«Kriegen wir auch etwas!» rief ein bärtiger Kerl, der zusammen mit drei weiteren Kollegen hereingekommen war.

«Schön einer nach dem anderen» sagte Elisabeth sanft «es ist genug für alle da»

Hans-Ulrich blickte sich kurz um, dann wieder zu Elisabeth

«Also wenn Sie hier fertig sind und sich immer noch langweilen…, wir sind gegenüber im Dachgeschoss»

Noch nie hatte ihm ein Eintopf so gut geschmeckt wie an diesem Tag. Noch zwei Stunden später, als sie bereits wieder vom Regen durchnässt an einem Balken sägten, spürte Hans-Ulrich in Gedanken ihre warme Hand auf seinem Handrücken. Antonio weckte ihn aus seinem Tagtraum

«Mann, Hans-Ulrich, pass doch auf!»

Er hatte zu tief ins Holz gesägt, er, der immer so exakt arbeitete. Das war ihm seit langem nicht mehr passiert.

«Du bist irgendwie nicht bei der Sache» meinte Antonio grinsend «ist es das hübsche Fräulein?»

«Ach, hör’ schon auf»

«Ich kenn’ Dich doch. Sie ist hübsch»

Hans-Ulrich unterbrach seine Tätigkeit und sah hinauf in den grauen Himmel. Der Regen hatte etwas nachgelassen. Mit nachdenklichem Blick und mehr zu sich als zu Antonio redend

«Ja, und dazu noch so freundlich…, zu uns…, einfachen Arbeitern. Und dennoch für uns Normal-Sterbliche…, unerreichbar»

Auch Antonio unterbrach seine Arbeit und sah ihn etwas erstaunt an

«Wie meinst Du das? Du glaubst doch wohl nicht, dass… Nein, Hans-Ulrich, Du bist verliebt!»

Hans-Ulrich senkte den Blick und liess seine Arme hängen. Im selben Augenblick hörten sie hinter sich von der steilen Leiter her ihre feine, aber klare Stimme

«Halloooh! Ist jemand daaahh?»

Antonio hielt sie kniend an der Hand, um sie heraufzuziehen. Hans-Ulrich war zu ihr heruntergestiegen, um ihr zu zeigen, wie man diese steile Leiter hochklettern kann. Mit ihrem langen Rock war das gar nicht so einfach gewesen, daher hatte sie ihn mit einem tiefen Blick gefragt, ob er sie wie damals unterstützen könne, als er ihr aus der Kutsche geholfen hatte. Das war so nicht möglich, aber einen kurzen Augenblick hatte er sie dennoch an den Hüften gehalten und ihr verschmitzt gesagt «so, in etwa?». Darauf hatten beide gelacht. So blieb Hans-Ulrichs Unterstützung dabei, dass er hinter ihr die Leiter hochgeklettert war und sie sanft an ihrem Po schubste, während Antonio sie oben in Empfang nahm. Elisabeth wollte alles wissen, sich alles zeigen lassen. Sie liess sich die Konstruktion des Daches erklären, wiederholte die ihr erklärten, einzelnen Fachbegriffe, nahm jedes Werkzeug mit prüfendem Blick in die Hand. Danach liess sie sich den Unfallhergang mit Johannes erläutern und begann mit den Beiden über dessen Ursache zu diskutieren. Schliesslich wollte sie zusehen, wie sie mit ihren Stechbeuteln die neuen Kerven in die Dachsparren trieben, um bald einmal Hans-Ulrich anzustupsen mit der Bitte

«Darf ich auch mal probieren?»

Hans-Ulrich antwortet etwas verunsichert

«Ähm, ich weiss nicht. Sie mit Ihren feinen Händen, wenn Sie einmal mit dem Hammer daneben schlagen, dann…»

«Ach, es macht einfach Spass, Euch bei dieser wunderbaren Arbeit zuzusehen und…, Sie haben recht, wenn ich mich ähnlich ungeschickt verhalte wie bei der Essensausgabe vorhin…»

Erneut lachten alle auf, Antonio am lautesten

«Ja, und wenn Sie uns hier eine falsche Kerve reinhauen, können wir diese nicht einfach mit einem Tuch wegwischen, wie in der Küche»

Und da war es geschehen. Sie war fast einen Kopf kleiner als Hans-Ulrich, daher musste sie an ihm aufblicken, wenn sie ihm in die Augen schauen wollte. Sie stand direkt vor ihm, sah auf und mit einem Mal schlang sie ihre Arme um seine Hüften und legte ihren Kopf an seine Brust. Hans-Ulrich war so baff, dass er nicht sofort reagierte und erst nach kurzem Zögern seine Arme um sie legen wollte. Doch bevor er seine Absicht in die Tat umsetzen konnte, liess sie ihn wieder los, drehte sich abrupt um und stürzte zur steilen Leiter hinüber.

«Elisabeth, passen Sie auf!» rief ihr Antonio hinterher und legte einen Spurt hin, um sie noch abzufangen.

Hans-Ulrich reagierte weniger rasch und rannte hinterher. Mit ihrem langen Rock war Elisabeth langsamer als die beiden durchtrainierten Männer. Sie fingen sie kurz vor der Öffnung im Dachboden ab, wo die Leiter herunterführte. Sie blieb stehen und sah durch das Loch ins untere Geschoss hinunter. Hans-Ulrich ging vor ihr auf die Knie und hielt ihre Hände

«Elisabeth» sagte er mit leiser Verzweiflung in der Stimme «was ist denn?»

Sie wischte sich eine Träne aus ihrem Auge, sagte aber mit brüchiger Stimme

«Ach, dieser permanente Regen macht einen schon zu schaffen»

Dann sah sie Hans-Ulrich an, der ihr immer noch die Hände hielt.

«Können Sie mir herunterhelfen, bitte, ich schaffe das nicht mit diesem…»

Sie zeigte auf ihren langen Rock.

«Geh Du wieder voran» rief Antonio hinter ihm «ich halte sie von oben»

Es gelang besser als der Aufstieg. Als Hans-Ulrich sie unten an der Leiter genauso in Empfang nehmen konnte, wie damals vom Phaeton herunter, sah sie ihn erneut mit ihren grünen Augen an. Jetzt war er sicher, dass er Tränen in ihnen erblickte und keine Regentropfen. Einen Augenblick lang standen sie so da, er ihre Hüften haltend. Dann erhob sie sich auf ihren Zehenspitzen und küsste ihn sanft auf seine Wange. Danach aber wandte sie sich abrupt ab und steuerte raschen Schrittes zum Treppenabgang, ohne sich nochmals umzusehen.

In den folgenden Tagen waren sie ausnahmslos jeden Tag in der Küche gewesen. Vergeblich. Das Essen schmeckte wieder, wie früher, mehr mässig als gut, kein Vergleich zum Tag, als Elisabeth sie bedient hatte. Sie war nicht mehr erschienen, weder in der Küche noch im Dachgeschoss. Es verging kaum ein Tag ohne Regen. Eines Abends, es dämmerte bereits, war eine weitere Ladung Holz für sie eingetroffen. Gerade als ihm der Lieferant ein weiteres Brett vom Wagen herunterreichte, glaubte Hans-Ulrich am gegenüberliegenden Fenster Elisabeth gesehen zu haben. Er liess das Brett fallen, welches mit dem spitzen Eck genau auf seinem linken Fuss landete. Er fluchte kurz auf und sah auf seinen Fuss. Er bückte sich und durfte nach wenigen Sekunden feststellen, dass er keine Verletzung erlitten hatte. Als er sich wieder erhob, war die Gestalt hinter dem Fenster verschwunden.

Als er am Folgetag im Morgengrauen vor das Haus trat, befand sich Antonio noch nicht wie sonst üblich bereits vor der Werkstatt. Das war ungewöhnlich. Normalerweise sass er auf der Holzbank, die sich direkt neben dem Eingang befand. Hans-Ulrich sah die Strasse hinunter, wo Antonio herkommen würde. Sie war völlig verlassen. Er beschloss ihm entgegenzugehen, obwohl das die falsche Richtung war, um nachher nach Bad Schinznach hinunterzumarschieren. Er erreichte das Haus, wo Antonio noch bei seinen Eltern wohnte, ohne dass er einer Menschenseele begegnet wäre. War er zu früh dran? Er wollte soeben anklopfen, als die Türe sich öffnete und Antonios Mutter den Kopf rausstreckte

«Antonio heute nicht komme könne» sagte sie mit ihrem starken Akzent

«Was ist den los?» fragte Hans-Ulrich etwas besorgt

«Err Fiebe habe und ganze Nacht huste» sie griff sich mit ihren Händen um ihre Schultern und bewegte sie auf und ab «er friere, obwohl Decke um Schulter»

«Oh, das tut mir leid. Kann ich ihn noch kurz sprechen?»

«Er endlich schlaffe, vor eine halbe Stunde, müsse wecke» sagte sie, öffnete aber die Türe ganz.

«Nein, nein, lassen Sie ihn schlafen. Er soll sich ausruhen und wieder gesund werden. Kann ich etwas für Sie tun?»

«Danke, wir alles habe. Ich schauen auf Antonio»

Hans-Ulrich bat sie noch, Antonio gute Besserung zu wünschen und zog los. Etwas mehr als eine halbe Stunde später traf er an seinem Arbeitsort ein. Er warf einen Blick auf das Fenster, an welchem er gestern die Gestalt von Elisabeth zu sehen geglaubt hatte, aber der Vorhang war zugezogen und das Zimmer dahinter dunkel. Etwas enttäuscht stieg er die Treppen hoch und zum Schluss die steile Leiter. Erst als er oben eintraf, begann er zu überlegen, was er überhaupt anpacken wollte, ohne die Unterstützung von Antonio. Irgendwie lustlos begann er einige lose herumliegende Bretter von der Süd-Seite auf die Nord-Seite hinüberzutragen, um dort einen geordneten Stapel zu bilden. Als er diese Arbeit beendet hatte, sah er zur Stelle hinüber, wo sie die weiteren Dachsparren anbringen sollten. Wie aber sollte er das allein schaffen?

«Ich Idiot» sagte er halblaut, begleitet von einem leisen

Fluch

«Ich finde nicht, dass Du ein Idiot bist» hörte er eine leise Stimme hinter sich, die ihn zusammenfahren liess.

Er fuhr herum. Sie stand etwa drei Armlängen von ihm entfernt vor ihm. Sie hatte eine schwere Decke um ihren Körper gewickelt, die sie mit beiden Händen vor ihrer Brust zusammenhielt. Hans-Ulrich bemerkte, dass sie barfuss in ihre Schuhe gestiegen sein musste, da unter der Decke ein Stück ihrer nackten Beine hervorlugte. Er trat einen Schritt auf sie zu

«Elisabeth!»

Mehr konnte er nicht mehr sagen. Sie liess ihre Decke zu Boden fallen, machte einen Satz auf ihn zu und schlang ihm ihre Arme um den Hals. Sie trug nur ihr Nachthemd.

mit Sandra…

«Uiii, spannend» rief Sandra aufmerksam «und was geschah dann? Gell, Nonni, diese Elisabeth war dann wohl meine Ur-ur-…?»

«Phu, frag mich nicht, wie viele «Ur» Du aufzählen musst, aber ja, das war diese Elisabeth» bestätigte ich

«Okay, aber was geschah dann, sag’ schon?»

«Nun, neun Monate später erblickte Dein Ur-Irgendwas mit dem wohlklingenden Namen Jsaak das Licht der Welt. Was wird dann wohl in diesem Dachstock des späteren Speisesaals von Bad Schinznach geschehen sein?»

Ich musste grinsen, weil Sandra anscheinend mehr Details erwartet hatte

«Ja, aber so wie Du erzählst, war diese Elisabeth anscheinend aus besserem Haus. Ging die effektiv da im Negligé hinauf in den Dachstock, um mit meinem Ur-Irgendwas Hans-Ulrich eine kleine Nummer zu schieben?»

«Mehrbessere sind auch nur Menschen, meine Liebe» gab ich zu bedenken «sie hatte sich unsterblich in Hans-Ulrich verliebt, wirklich verliebt, nicht nur so ein Abenteuer. Ihre Vernunft riet ihr, es zu lassen, daher hatte sie das Zwischenspiel mit der Küche nicht weitergeführt bis zum Tag, als ihr Vater ihr verkündete, dass sie morgen zurückreisen würden»

«Und da hat sie wohl an diesem Morgen im dunklen Zimmer am Fenster gestanden und gesehen, dass Hans-Ulrich alleine aufgetaucht war…»

«…und die Gelegenheit wahrgenommen, sich von ihm zu verabschieden»

«Und dann sind ihre Pferde wohl mit ihr durchgegangen, als sie meinen strammen Ur-Irgendwas vor sich stehen sah, vermutlich noch mit nacktem, verschwitztem Oberkörper…»

«Also Sandra, jetzt gehen bei Dir die Pferde durch» protestierte ich halbherzig

«Ach, tu’ nicht so prüde, Nonni, es dürfte doch so oder ähnlich abgelaufen sein. Dann hat sie sich wohl ihr durchsichtiges Spitzen-Nachthemd vom Leib gerissen und es mit ihm getrieben wie die Karnickel»

Ich musste auflachen. Wenn ich ehrlich war, hatte ich es mir auch in etwa so vorgestellt. Was ich meiner Enkelin noch nicht erzählt hatte, war ja die Sache mit ihrem Verlobten

«Weisst Du, meine Liebe, da war noch was»

«Jetzt bin ich aber gespannt»

Sandra lehnte sich aus ihrem gemütlichen Sessel vor, näher an mich heran

«Zuhause in Bern wartete ihr langweiliger Verlobter»

«Waaas?»

Sandra war nun höchst aufmerksam

«Ja, er soll Offizier gewesen sein, ein richtiger Gockel, ebenfalls aus besserem Hause. Elisabeth war durch die Aussicht, bald wieder mit diesem Typen zusammen sein zu müssen, in Panik geraten. Die Zeit in Bad Schinznach hatte ihr mehr als deutlich aufgezeigt, dass sie mit ihrem bornierten Gockel nicht den Rest ihres Lebens verbringen wollte. Sie hatte ihn in Bad Schinznach keine Minute vermisst. Ihr wurde aber ebenso bewusst, dass sie Hans-Ulrich sehr vermissen würde»

«Aber Nonni, sie hat ihn doch kaum gekannt»

«Ist Liebe denn immer vernünftig?»

«Hmm, ich weiss nicht» Sandra lächelte «aber dann, wie ging das weiter. Sie musste das wohl noch irgendwie ihrem Vater verklickern, oder?»

«Phu, das war dann noch das kleinere Problem» antwortete ich vorsichtig «es kam noch viel dicker»

Habsburg – 1815 - 1816

Im noch jungen Kanton Aargau, der erst vor einem Dutzend Jahre durch Napoleon gegründet worden war, kannte man zwar eine gewisse Rechtsprechung. Wenn aber ein kleiner Handwerksbetrieb wie die Zimmerei Hofmann gegen einen Auftraggeber wie die regional bedeutenden Bäder in Schinznach klagen wollte, war das ein nahezu aussichtsloses Unterfangen. Zudem hatte man andere Sorgen, die durch den erst vor wenigen Monaten beendeten Völkerkrieg in Sachsen ausgelöst wurden. Zwar waren die Siegermächte gerade in Wien dabei, eine neue europäische Ordnung zu bilden, die aber noch keine Lösung für die hunderttausenden, arbeitslosen Soldaten brachte. Die unterlegenen Franzosen hatten sich auf ihrem Rückzug fächerförmig nach Süden und Westen verzogen, wo etliche zehntausend abgekämpfte, mittellose Männer, teilweise nur in ihren Lumpen gekleidet auch im neuen Kanton Aargau gestrandet waren – hungernd und ohne Aussicht auf eine Zukunft. Die Menschen im Kampfgebiet hatten grösstenteils alles verloren. Die Mutigsten und Stärksten wanderten ebenfalls aus, um ihr Glück in der Fremde zu suchen. Die vielen Neuzuzüger machten der einheimischen Bevölkerung nicht nur die Arbeitsplätze abspenstig, sondern wollten auch am karg «gedeckten Tisch» teilhaben. Die Gerichtsbarkeiten im Kanton Aargau waren mit einer enormen Belastung durch Kleinkriminalität, Diebstahl, ja auch Morden belastet und mit der Situation völlig überfordert. Zudem waren Ernteausfälle durch die miserablen Wetterverhältnisse zu beklagen, was die Bevölkerung zusätzlich belastete, die schon vorher jedes Jahr ums nackte Überleben hatte kämpfen müssen.

Hans-Ulrich konnte auf der Baustelle in Bad Schinznach vorerst nicht mehr effizient weiterarbeiten. Antonio war schwerer erkrankt, als seine Mutter zuerst gedacht hatte. Aus dem schweren Husten hatte sich eine Lungenentzündung entwickelt, die seinen bereits schlanken Körper um dreissig Pfund abmagern liess. Wenig hätte gefehlt und Antonio hätte die Krankheit nicht überstanden. Er war mehr als drei Monate nicht mehr in der Lage, sich aus seiner bescheidenen Bettstatt zu erheben. Hans-Ulrich stellte bereits am nächsten Arbeitstag fest, dass er allein, ohne seinen Vater und ohne seinen Freund das Dach kaum in der geforderten Zeitspanne würde vollenden können. Er hantierte in den darauffolgenden Tagen immer hoffnungsloser auf der Baustelle herum, ohne wirklich Fortschritte erzielen zu können. Der Zufall wollte es aber, dass er mitbekam, wie eine Menschenansammlung vor dem medizinischen Zentrum für Aufruhr sorgte. Da er sowieso mit seiner Arbeit nicht richtig weiterkam, näherte er sich dem Tumult und vernahm, dass mehrere fremde Soldaten vom Arzt etwas verlangten, wogegen dieser sich zu wehren schien. Einer der Soldaten hatte Hans-Ulrich entdeckt und ihn in einer für ihn fremden Sprache angesprochen. Hans-Ulrich, der dem toskanischen Dialekt schon recht mächtig war, glaubte zu verstehen, dass diese Menschen einen Kollegen zum Arzt bringen wollten, damit dieser dessen Verletzung behandeln sollte. Hans-Ulrich begann für den Arzt zu übersetzen, was die auf ihn einredenden Soldaten meinten. Dieser aber weigerte sich einfach, ging zurück in seinen Behandlungsraum und verbarrikadierte die Türe. Währenddessen aber war der betroffene Soldat an seinen Verletzungen gestorben, direkt vor der Türe des medizinischen Zentrums des Bades. In seiner Verzweiflung hob einer der Männer einen Stein auf und schlug damit die Fensterscheibe des Behandlungsraumes ein. Die anderen Soldaten versuchten ihn zu beruhigen, auch Hans-Ulrich. Die Lage wurde immer unübersichtlicher, weil weitere Menschen hinzukamen, teilweise um den Soldaten zu helfen, den rasenden Kollegen zu beruhigen, teilweise einfach um zu gaffen, was da vor sich ging. Als wenig später der Landjäger eintraf, zerstreute sich die Menge. Da Hans-Ulrich der einzige Augenzeuge war, der mit dem Landjäger sprechen konnte, wurde er ins Behandlungszimmer des Arztes geführt, wo er vom Landjäger vernommen wurde. Als er eine halbe Stunde später das Lokal verlassen durfte, ging er nochmals zur Baustelle zurück, wo er zu seiner grossen Überraschung auf vier zerlumpte Soldaten traf, die sich dort versteckt hatten. Hans-Ulrich brachte es nicht übers Herz, sie dem Landjäger zu übergeben. Im Gegenteil, er übergab ihnen sein aus Habsburg mitgebrachtes Mittagessen, welches diese wie Tiere verschlangen. Danach setzte er sich zu ihnen und begann mit ihnen in einer Mischsprache aus Toskanisch, Deutsch und Handzeichen zu diskutieren. Dabei fand er heraus, dass zwei von ihnen in ihrer Heimat einen Tischler-Beruf ausübten, bevor sie in Napoleons Armee eingezogen worden waren. Hans-Ulrich kombinierte sofort: Antonio würde länger ausfallen, er kam allein kaum mit seiner Arbeit weiter, hier vor ihm standen vier ausgehungerte Menschen, wovon zwei beruflich mit Holz arbeiteten. Ohne zu überlegen, bot er ihnen an, mit ihm nach Habsburg zu kommen, um ihm am nächsten Tag auf der Baustelle zu helfen.

Als er am Abend in Habsburg eintraf, gelang es ihm erst einmal nicht, seine Mutter zu überzeugen, dass die vier Gäste in der Werkstatt übernachten sollten und sie diese auch noch verköstigen müsse. Dies erreichte er erst, nachdem er seinen Vater von der Idee überzeugen konnte. Johannes, immer noch der Herr im Hause, trug seiner Frau ultimativ auf: «Frau, so sei es! Jetzt geh’ in die Küche und bereite uns ein währschaftes Mahl».